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Wilhelm Altmann – Ein Leben für die Kammermusik

70 Jahre sind seit dem Tode des Historikers und Bibliothekars Wilhelm Altmann (1862–1951) vergangen. Als leidenschaftlicher Kammermusiker unternahm er es, die Literatur für Kammerensembles zu sichten und in mehreren Handbüchern den Streichquartett-, Klaviertrio-, Klavierquartett- und Klavierquintettspielern vorzustellen. Es ist an der Zeit, an diesen verdienten Mann zu erinnern, dessen Bücher einen Springquell musikalischer Anregungen darstellen.

Wilhelm Altmann 1905 als Oberbibliothekar in Berlin

Wilhelm Altmann wurde als Sohn eines Pfarrers am 4. April 1862 in der Kleinstadt Adelnau geboren, die damals zur preußischen Provinz Posen gehörte und heute unter dem Namen Odolanów Teil der Woiwodschaft Großpolen ist. Seine Eltern waren musikliebende Menschen, denen es selbstverständlich war, ihren Sohn von klein auf mit der Tonkunst in Berührung zu bringen. Der Junge erlernte Bratsche und Violine, spielte frühzeitig Kammermusik und wirkte während seiner Primanerzeit in Breslau als Orchestergeiger an Opernaufführungen mit. Nach dem Schulabschluss entschied er sich für eine Laufbahn als Historiker und studierte in Marburg und Berlin Geschichte, Philologie und Staatswissenschaften. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, wurde er 1885 Assistent des greisen Leopold von Ranke und promovierte im selben Jahr über Die Wahl Albrechts II. zum römischen Könige. Anschließend war er an den Universitätsbibliotheken in Breslau und Greifswald tätig. In Greifswald habilitierte er sich 1893 und arbeitete als Privatdozent. Er genoss bald den Ruf eines Spezialisten für die Geschichte des späten Mittelalters und wurde mit der Herausgabe der Urkunden Kaiser Sigmunds betraut, die 1896–1900 in der renommierten Reihe Regesta Imperii erschienen.

Während all dieser Jahre hatte Altmann die Musik keinesfalls zurückgestellt. Im Gegenteil: Jede sich in seiner Freizeit bietende Gelegenheit zu musikalischer Betätigung wusste er am Schopfe zu packen. Dies beschränkte sich nicht nur auf das Kammermusikspiel. So gründete er 1890 in Greifswald ein Liebhaber-Orchester und dirigierte es bis 1895. Um die Jahrhundertwende schließlich begann der musizierende Bibliothekar sich zu dem Musikbibliothekar und Musikschriftsteller zu entwickeln, als der er in bleibender Erinnerung geblieben ist. Regelmäßig veröffentlichte er nun Rezensionen neu erschienener Kammermusikwerke, die er zuvor gemeinsam mit befreundeten Amateur-, aber auch Berufsmusikern, aus eigener Praxis kennen gelernt hatte. Im Jahr 1900 wurde Altmann zum Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin ernannt, seit 1905 durfte er sich Professor nennen. In dieser Position begann er, ein Projekt ins Werk zu setzen, für das er mit seinem 1903 in der Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft veröffentlichten Vortrag „Öffentliche Musikbibliotheken – Ein frommer Wunsch“ warb. Altmanns Ziel war die Einrichtung einer „Reichs-Musikbibliothek“, die „zum mindesten alle in Deutschland erschienenen musikalischen Werke in ihrer Urgestalt enthält, damit es endlich einen Ort gibt, wo man die Werke wenigstens jedes deutschen Komponisten, hoffentlich auch der meisten außerdeutschen, einsehen kann“. Die Musikverleger kamen seinem Aufruf, freiwillig Exemplare der bei ihnen erschienenen Musikwerke nach Berlin zu schicken, in solchem Maße nach, dass Altmann neue bibliothekarische Ordnungssysteme entwickeln musste, um das eingesandte Material effektiver einarbeiten zu können. 1906 konnte er die Gründung der „Deutschen Musiksammlung bei der Königlichen Bibliothek“ am Schinkelplatz verkünden. Als die Sammlung 1915 offiziell zur Musikabteilung der Bibliothek wurde, ernannte man Altmann zu ihrem Direktor. Dies blieb er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1927.

Seiner Dienstpflichten ledig, konnte er sich nun ganz auf die Musik konzentrieren und gab noch 1927 in Max Hesses Verlag, Berlin, sein Handbuch für Streichquartettspieler heraus. Den beiden Bänden, die die Quartettliteratur von Johann Sebastian Bach bis zu Günter Raphael und Kurt Thomas abdecken, folgte im Februar 1929 ein dritter Band über Streichtrios, -quintette, -sextette, und -oktette, Ende 1930 ein vierter zur Literatur für Streicher und Bläser. Zum Teil trug Altmann für diese Bücher Kritiken aus früherer Zeit zusammen, zum Teil sind sie die Frucht des intensivierten Musizierens, das dem Pensionär nun möglich war. „Daß ich schon jetzt diesen [dritten] Band vorlegen kann“, schreibt er 1929, „kommt nicht bloß daher, daß ich seit dem 1. Januar 1928 von allen Amtsgeschäften frei bin, sondern daß ich schon früher manche Vorarbeiten erledigt und in der glücklichen Lage mich befunden habe, selbst für die Oktette ohne weiteres geeignete Kräfte heranziehen zu können.“ Dem vierten Band schließlich gingen eineinhalb Jahre praktische Beschäftigung ausschließlich mit Musik für Streicher und Bläser voran.

Im Vorwort des Handbuchs legt Altmann ausführlich dar, was ihn zu dieser Arbeit bewog, und blickt zugleich auf sein Leben als nicht-berufsmäßiger Musiker zurück. Diese Ausführungen geben einen solch lebendigen Eindruck von der Persönlichkeit ihres Autors, daß im Folgenden ein längerer Auszug daraus wiedergegeben werden soll:

„Schon als ich in der Untertertia des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau saß, hatte ich im väterlichen Hause als Bratschist u. a. sämtliche Haydnsche Quartette mitgespielt und mit besonderer Aufmerksamkeit damals und auch die nächsten Jahre den Quartettaufführungen gelauscht, die der leider später eingegangene Verein für klassische Musik vom 1. Oktober bis Ostern regelmäßig alle Wochen einmal durch tüchtige Künstler veranstaltete. Wenn ich in der Studentenzeit auch nicht ganz regelmäßig zum Quartettspielen gekommen bin, so habe ich es doch nie unterlassen; mitunter, da ich auch allmählich für die erste Geige herangereift war, habe ich das regelmäßige Wochenquartett möglichst durchgeführt, auch als ich 1900 nach Berlin übergesiedelt war und mich mehr und mehr als Musikkritiker und Musikschriftsteller betätigte; wenn ich Zeit hatte, habe ich auch gern in anderen Quartetten ausgeholfen. So mancher liebe Quartettgenosse und auch eine Künstlerin, die mit größter Hingebung bei mir zweite Geige jahrelang gespielt hat, ruht schon im Grabe. Allen aber, die mit mir durch „dick und dünn“, durch die Klassiker selbst bis zu den Atonalikern gegangen sind, kann ich gar nicht genug dankbar sein. Wir haben auch sehr viele in Vergessenheit geratene Werke gespielt und sind wohl an keinem, das irgendwelche Bedeutung hatte, vorbeigegangen.

Der Wunsch, den zahllosen Dilettanten-Quartettvereinigungen meine Erfahrungen mitzuteilen, ebenso auch Künstlerquartette, die oft von der einschlägigen Literatur viel weniger Kenntnis als Musikfreunde haben, auf beachtenswerte vergessene Werke hinzuweisen, trieb mich zur Abfassung des vorliegenden Werkes, das keinesfalls als eine wissenschaftliche Leistung angesehen und beurteilt werden darf. Es soll nur ein praktischer Führer sein, nicht etwa eine Geschichte des Streichquartetts, wenngleich ich es chronologisch nach dem Geburtsjahr der einzelnen Komponisten geordnet habe. […]

Meine zum Teil aus ganz verschiedener Zeit stammenden Urteile über die einzelnen Werke sollen durchaus als subjektive bewertet werden. Ich bin mir bewußt, daß manches Quartett, das ich als besonders wertvoll empfehle, von andern als belanglos beiseite geschoben wird. Trotzdem ich daran festhalte, daß die Klassiker, zu denen ich auch Brahms rechne, nach wie vor den größten Schatz des Quartettspielers bilden, habe ich doch stets den Quartetten wie überhaupt den Schöpfungen der lebenden Tonkünstler größtes Interesse gewidmet, den Auswüchsen der sogenannten Atonalitätsapostel gegenüber mich freilich ablehnend verhalten. Mag man mich deshalb als senil ansehen! Ich will und kann’s ertragen, umso mehr, als ich andererseits glaube, manchen lebenden Tonsetzer doch gefördert zu haben. […]

Vollständigkeit zu erstreben lag mir fern, ist auch kaum zu erreichen. Werke, die ich nicht gehört oder selbst gespielt habe, habe ich nur ausnahmsweise nach der Partitur besprochen, obwohl für mich ein bloßes Lesen, ohne den Klang zu hören, kein richtiges Bild abgibt.“

Dem Streichquartettspieler-Handbuch schlossen sich in den nächsten Jahren gleichartige Handbücher für Klaviertriospieler (1934), Klavierquartettspieler (1936) und Klavierquintettspieler (1937) an. 1935 gab Altmann zudem Albert Tottmanns in letzter Auflage 1902 erschienenen Führer durch den Violin-Unterricht, den er im Handbuch für Streichquartettspieler gelegentlich zitiert, in einer erweiterten Fassung, die auch die seit 1901 neu erschienenen Werke berücksichtigt, als Führer durch die Violin-Literatur neu heraus.

Altmann stand im 71. Lebensjahr, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Seine publizistische Tätigkeit blieb von den veränderten politischen Umständen zunächst unberührt. So würdigte er nach wie vor in seinen Büchern die Leistungen von Komponisten jüdischer Abstammung wie Felix und Arnold Mendelssohn, Friedrich Gernsheim, Robert Kahn, Erich Wolfgang Korngold, wobei er Anton Rubinstein vorsichtigerweise im Handbuch für Klaviertriospieler als „arischen Sibirier“ etikettierte. 1940 allerdings machten die nationalsozialistischen Autoren Herbert Gerigk und Theophil Stengel in ihrem Lexikon der Juden in der Musik publik, dass Altmann jüdische Vorfahren hatte und nach NS-Terminologie als „Halbjude“ zu gelten habe. Infolge dessen wurde ihm Publikationsverbot erteilt. Altmann gelang es jedoch zu erreichen, dass der Präsident der Reichskulturkammer, Propagandaminister Goebbels, ihm eine Sondererlaubnis zur weiteren schriftstellerischen Betätigung erteilte, die ihn bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vor weiteren Repressalien schützte. 1945 siedelte Wilhelm Altmann aus dem zerstörten Berlin in das niedersächsische Dorf Wesseln über. Er starb am 25. März 1951, kurz vor seinem 89. Geburtstag, in Hildesheim.

Altmanns Handbuch für Streichquartettspieler, Ausgabe von Heinrichshofen’s Verlag 1972

Die Musik war die lebensspendende Ader in Wilhelm Altmanns Dasein. Über Jahre mag sie verdeckt im Untergrund geschlagen haben, doch trat sie nach und nach immer stärker hervor, bis sie zuletzt sein Leben voll und ganz bestimmte. So sind auch seine Bücher Zeugnisse innigster Liebe zur Musik und zum Musizieren. Bereits vom Umfang her beeindruckt dieses Textkorpus, und noch größer wird die Achtung vor seinem Verfasser, bedenkt man, dass er den allergrößten Teil der Werke, die er darin bespricht, aus eigener praktischer Erfahrung kannte. Die Kammermusik-Handbücher sind somit auch Zeugnis einer lebenslang nie versiegenden Wissbegier. Altmann wollte möglichst viel Musik kennen und möglichst viel guter Musik helfen, zum Erklingen zu kommen. Die Besprechungen zeigen ihn als grundehrlichen Charakter, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält und deutlich ausspricht, was ihm zusagt und was nicht. Oft legt er dabei auch ein gutes Wort für solche Werke ein, die ihm nicht der öffentlichen Aufführung wert erscheinen, die er jedoch zum häuslichen Musizieren durchaus für geeignet hält – und mehrfach kann man sein Bedauern spüren, wenn er feststellen muss, dass sich ein Meisterwerk neuerer Zeit aufgrund zu hoher spieltechnischer Herausforderungen Dilettantenkreisen nicht mehr empfehlen lässt.

Altmanns Interesse erstreckte sich immer auch auf die Musik seiner Zeitgenossen. Der jüngste im Handbuch für Streichquartettspieler besprochene Komponist, Erwin Dressel, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des entsprechenden Bandes 20 Jahre alt, 47 Jahre jünger als Altmann selbst. In der Beurteilung zeitgenössischer Werke zeigt sich freilich, dass Altmann keineswegs einem radikalen Avantgardismus das Wort redete. Modernes Empfinden war für ihn unlösbar mit der Tradition verbunden, und Musik, in der er diese Verbindung nicht finden konnte, fand vor seinen Ohren keine Gnade. War es ihm allerdings möglich, sich in den Stil eines zeitgenössischen Werkes hineinzuversetzen, bejahte er es ausdrücklich. So gestand er etwa Artur Schnabel zu, in seinem Ersten Streichquartett „harmonische Wege ein[zuschlagen], die möglicherweise die Musik und ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiterbringen“. Angesichts des „polytonalen, von Intonationsschwierigkeiten strotzenden“ Dritten Quartetts von Frank Bridge fragte er sich zwar: „Was würde wohl Meister Joseph Joachim über dieses Quartett zu Bridge gesagt haben, der in seinem Londoner Quartett eine Zeit Bratsche gespielt hat?“, erblickte jedoch „seelische Werte“ in dem Stück und empfahl Künstlervereinigungen, nicht daran vorüberzugehen. Auch über Bartók, Wellesz, Toch, Milhaud, Jarnach und Hindemith äußerte er sich anerkennend, wenngleich nicht in jedem Fall völlig zustimmend. Arnold Schönberg, Anton von Webern und Ernst Krenek dagegen blieben ihm fremd.

Altmann hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er über die Kompositionen, die er in seinen Büchern vorstellt, ganz subjektiv urteilt. Weder bei den „modernen“, noch bei den älteren Werken braucht man immer mit ihm einer Meinung zu sein. Aber man nehme seine Bücher als Anregungen, die Werkbesprechungen als Empfehlungen eines ungemein erfahrenen Musikers, der in seinem Leben viel gehört und viel gespielt hat! Darin besteht der immense Wert des Lebenswerkes, das uns Wilhelm Altmann hinterlassen hat.

Zur Zeit sind das Handbuch für Klaviertriospieler, das Handbuch für Klavierquartettspieler und das Handbuch für Klavierquintettspieler nur antiquarisch oder über Bibliotheken verfügbar. Keines dieser Bücher wurde bislang neu aufgelegt. Die vier Bände des Handbuchs für Streichquartettspieler wurden 1972, 45 Jahre nach der Erstausgabe der beiden ersten Bände, von Heinrichhofen’s Verlag, Wilhelmshaven, in zweiter Auflage herausgebracht, und sind heute über den Verlag Florian Noetzel GmbH zu beziehen.

[Nobert Florian Schuck, März 2021]

Kraftvolle Töne eines Stillen im Lande

KKE Records, KKE 20001; EAN: 4270001 262509

Für KKE Records macht die Hamburger Camerata unter der Leitung von Gustav Frielinghaus mit zwei Orchesterwerken Kurt Albrechts bekannt: der Symphonie für Streichorchester und Pauken und der Partita für Kammerorchester nach einem Motiv von Heinrich Schütz. Als Violinist spielt Frielinghaus im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots eine Chaconne Albrechts.

Blättert man in Erich H. Müllers Deutschem Musiker-Lexikon von 1929, einer den damals lebenden Tonkünstlern gewidmeten Überblicksdarstellung, oder in der von Müller und seiner Ehefrau Hedwig von Asow als Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954 herausgebrachten Neuauflage dieses Buches, so stößt man auf die Namen zahlreicher Komponisten, die weder zu Lebzeiten, noch danach sonderliche Berühmtheit erlangt haben, und deren Wirkungskreis weitgehend lokal geblieben ist. Manche von ihnen haben auf Nachfrage der Herausgeber ihr vollständiges Werkverzeichnis angegeben. Man liest von einer enormen Anzahl an Kompositionen, die diese „Stillen im Lande“ hinterlassen haben, Werke, die teilweise nie gedruckt, teilweise gar nicht aufgeführt worden sind. Zu Recht, zu Unrecht? Wer wagt es, den Stab über Musik zu brechen, die er nicht kennt?

Dass es sich sehr lohnen kann, entsprechende Nachlässe genauer anzusehen, belegt die vorliegende, bei KKE Records erschiene CD mit Musik Kurt Albrechts. Durch diese unter Leitung des Geigers und Orchesterleiters Gustav Frielinghaus zustande gekommene Einspielung lüftet sich nun ein wenig der Schleier über dem Schaffen eines Komponisten, der nicht einmal in den oben genannten Nachschlagewerken vertreten ist. Nach dem zu urteilen, was man über Albrechts Leben weiß, war er tatsächlich ein „Stiller“: „Selbstzeugnisse sind nur wenige überliefert. […] Das Erfinden von Musik war sein Weg, sich auszudrücken. Ins Rampenlicht hat es ihn dabei nie gedrängt“, heißt es im Begleittext. 1895 in Ricklingen bei Hannover geboren, wurde Albrecht frühzeitig von seinem Vater, einem Pastor, ans Orgelspiel herangeführt. Er lebte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und ging 1925 als Organist nach Dresden. 1928 nach Stuttgart übergesiedelt, wirkte er dort vor dem Siegeszug des Tonfilms als Kinokapellmeister und ließ sich im Rundfunk regelmäßig an Orgel, Cembalo oder Klavier hören. Im Zweiten Weltkrieg wurde Albrechts Wohnung durch einen Luftangriff zerstört, wobei ein anscheinend nicht geringer Teil seiner Kompositionen verbrannte. 1971 starb der Komponist in Rommelshausen nahe Stuttgart.

Wie viel Musik Kurt Albrecht insgesamt geschrieben hat, lässt sich aufgrund der Kriegsverluste nicht mehr genau bestimmen. Es scheint aber glücklicherweise noch viel erhalten zu sein. Aufnahmen zweier Streichquartette, Nr. 2 und Nr. 3, brachte der Sohn des Komponisten nach dessen Tod als private LP-Pressung heraus (Wer sie antiquarisch findet, der greife zu!). Im Beiheft der neuen CD liest man von „zahlreichen kirchenmusikalischen Stücken“, einer Symphonie in f-Moll, die Albrecht 1948 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Stuttgart aufnahm, sowie „Werken für großes Orchester“ aus seinen letzten Lebensjahren. Wann die drei für KKE Records eingespielten Kompositionen entstanden sind, weiß man nicht. Die Chaconne für Violine und Klavier trägt die Opuszahl 33, während die Symphonie für Streichorchester und Pauken ebenso unnummeriert geblieben ist wie die Partita für Kammerorchester über ein Motiv von Heinrich Schütz.

Dass Albrechts Musik größere Beachtung verdient als sie – aus welchen Gründen auch immer – zu Lebzeiten ihres Schöpfers gefunden hat, zeigt sich vor allem anhand der Streichersymphonie, einem viersätzigen Werk von 40 Minuten Dauer. Bereits in den ersten Takten zeigt sich, dass Albrecht bevorzugt polyphon denkt und die Stimmen mit Vorliebe in scharfe Dissonanzreibungen hineinsteuert. Im Verlauf des 17-minütigen Kopfsatzes kommt es zu schroffen Wechseln zwischen eruptiven und zurückhaltenden Abschnitten. Genau in der Mitte erklingt, gewissermaßen als Ruhepunkt, ein archaisierender Kantionalsatz. Die leise Musik des Anfangs leitet über zu einem kurzen, flackernd vorüberhuschenden Scherzo. Bezaubernd introvertiert klingt der langsame dritte Satz, dessen chromatische Kontrapunktik sich immer wieder in altmeisterliche Kadenzen und sprechende Pausen auflöst. Als Finale dient eine energisch voranschreitende Passacaglia.

Albrechts Vorliebe für barocke Satztechnik zeigt sich noch deutlicher in der Partita für Kammerorchester. Den sechs kurzen Sätzen, die zusammen nur 13 Minuten dauern, liegt sämtlich ein Motiv aus Heinrich Schützens Lukas-Passion zugrunde, das Albrecht den typischen Charakteren barocker Suitensätze gemäß variiert und durchführt. Auf ein Präludium in der Art einer französischen Ouvertüre folgen Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte und Gigue. Stilistisch ist das Werk der Streichersymphonie nahe verwandt, doch zeigt sich Albrecht hier von seiner humorigen Seite.

Die zehnminütige Chaconne op. 33 für Violine und Klavier komponierte Albrecht „nach einem Motiv von Dr. K. Kremers“, einem befreundeten Chemiker, der ein begabter Amateurgeiger gewesen sein muss. Verglichen mit den beiden Orchesterkompositionen fällt die kaum alterierte d-Moll-Tonalität auf, was die Frage aufwirft, ob es sich bei der Chaconne um ein Frühwerk handelt. Vielleicht hat Albrecht, wie der gleichaltrige Hindemith, nur in jungen Jahren eine Opuszählung verwendet? Es wäre auch vorstellbar, dass der Komponist auf einen hausmusikalischen Rahmen Rücksicht genommen hat, oder dass er den Einfall Dr. Kremers‘ möglichst stilrein verarbeiten wollte. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Chaconne um ein hörenswertes Stück. Ihr Thema ist ungewöhnlich lang, die Zahl der Variationen entsprechend klein. Am Ende klingt sie beruhigt in Dur aus.

Gustav Frielinghaus bewährt sich gleichermaßen als Geiger im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots, wie als Konzertmeister der ohne Dirigenten spielenden Hamburger Camerata. Angesichts der fehlenden Aufführungstradition der dargebotenen Werke ist es sehr erfreulich, dass sie hier in qualitativ durchweg hochstehenden Einspielungen erstmals auf Tonträger gebannt worden sind. Möge diese CD dazu ermutigen, dem Schaffen des Komponisten Kurt Albrecht weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken!

[Norbert Florian Schuck, März 2021]

Gesanglich und nobel

Aparté, AP238; EAN: 5 051083 162159

Fabrizio Chiovetta hat für Aparté die drei letzten Klaviersonaten Ludwig van Beethovens (E-Dur op. 109, As-Dur op. 110, c-Moll op. 111) aufgenommen.

Nachdem er in den letzten Jahren je eine CD mit Werken Bachs, Mozarts und zeitgenössischer osteuropäischer Komponisten vorgelegt hatte, widmet sich der schweizerische Pianist Fabrizio Chiovetta mit der vorliegenden Einspielung erstmals dem Schaffen Ludwig van Beethovens. Das Programm besteht aus den um die Jahreswende 1821/22 kurz hintereinander entstandenen drei letzten Klaviersonaten opp. 109–111.

In den Sonaten op. 109 und op. 110 gelingen Chiovetta sehr ausgewogene Kopfsätze, was nicht zuletzt an seiner Fähigkeit zu kantablem Spiel liegt. Sein Anschlag ist nie grob, auch die kraftvoll vorzutragenden Abschnitte wahren die Noblesse. Die langen Melodiebögen im Moderato des op. 110 entfalten sich unter seinen Händen ungezwungen und ganz natürlich. Im Kopfsatz des op. 109 begreift er Beethovens Tempowechsel zwischen Vivace (Anfangsthema) und Adagio (Seitensatz) völlig zurecht nicht als Aufforderung, dem Stück ein zerrissenes Erscheinungsbild zu verleihen. So richtet er die Eingangstakte gezielt derart aus, dass sie im Beginn des Seitensatzes ihren Höhepunkt finden, und hält in den Adagio-Takten die Spannung aufrecht, indem er das metrische Schwer-Leicht-Gefälle hörbar macht. Chiovettas dezente Rubati verwischen nie das jeweilige Grundtempo und wirken im Kontext stets geschmackvoll. Die raschen Mittelsätze beider Sonaten haben den nötigen Schwung. Zu Beginn des Allegro molto von op. 110 ließe sich der „Frage-und-Antwort“-Effekt noch etwas stärker herausgearbeitet denken. Dafür überzeugt der rezitativische Beginn des Schlusssatzes der gleichen Sonate umso mehr. In der Fuge behält Chiovetta durchweg die Übersicht über das polyphone Geschehen.

Angesichts der andernorts so trefflich eingesetzten Gesanglichkeit verwundert die Art ein wenig, mit der Chiovetta die Themen der finalen Variationssätze von op. 109 und op. 111 vorträgt. Beide wirken vergleichsweise statisch, da dem Pianisten die einzelnen Zählzeiten der Takte offenbar wichtiger sind als die Gewichtung der Takte untereinander. Allerdings verschwindet in beiden Sätzen dieser Eindruck sofort mit der ersten Variation, wenn der Komponist beginnt, die Melodie mit stärkerer Binnenbewegung zu füllen. Ansonsten lässt sich über Chiovettas Darbietung der Variationen nur Gutes sagen. Dies gilt auch für den ersten Satz des op. 111. Im Bezug auf die Einleitung ist namentlich der Spannungsaufbau in der zweiten Hälfte samt zielgerichteter Überführung ins Allegro zu nennen. Im Allegro selbst zeigt sich der Pianist erneut als meisterhafter Tempogestalter, der die sanfteren Episoden bruchlos in ein ansonsten unwiderstehlich stringentes Gesamtgeschehen einzufügen weiß.

Im Großen und Ganzen bietet Fabrizio Chiovettas Auseinandersetzung mit den letzten Beethoven-Sonaten also sehr erfreuliche Ergebnisse. Die Anfang 2020 aufgenommene und im Herbst desselben Jahres erschienene CD gehört ohne Zweifel zu den gelungenen Beiträgen zum Beethoven-Jubiläum.

[Norbert Florian Schuck, März 2021]

[Rezensionen im Vergleich 3] Natürlich kontrapunktisch

Aldilà Records, ARCD 014; EAN: 9 003643 980143

Das Trio Montserrat, bestehend aus Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello), hat für Aldilà Records eine Anthologie kontrapunktischer Meisterwerke für Streichtrio eingespielt. Es erklingen drei Fugen aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Clavier, arrangiert und mit Einleitungen versehen von Wolfgang Amadé Mozart, Paul Büttners Triosonate in sieben kanonischen Sätzen, die Kammersonate von Heinz Schubert und das Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling.

Wer die Veröffentlichungen von Aldilà Records aufmerksam verfolgt hat, wird gemerkt haben, daß das Werk Johann Sebastian Bachs ebenso zu den Schwerpunkten der verdienten Münchner Musikproduktion gehört wie die Erkundung der Spuren, die die Beschäftigung mit Bach im Schaffen späterer Komponisten hinterlassen hat. Letztere hat erfreulicherweise zu einer Anzahl Einspielungen (z. T. Ersteinspielungen) von Werken Heinrich Kaminskis (1886–1946) und seiner beiden wichtigsten Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) und Heinz Schubert (1908–1945) geführt, und auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu geleistet, der musikalischen Öffentlichkeit den Wert dieser drei hochbedeutenden Komponisten und ihrer expressiv-kontrapunktischen Musik ins Gedächtnis zurückzurufen. So erschien 2018 Hugo Schulers Einspielung der Goldberg-Variationen gekoppelt mit Klavierwerken Kaminskis und Schwarz-Schillings. Christoph Schlürens 2019 mit den Salzburg Chamber Soloists entstandene Aufnahme der Kunst der Fuge enthielt auch Schwarz-Schillings dreistimmige Studie über B-A-C-H. 2020 wurde das Solo-Album Gateway Into the Beyond des Geigers Lucas Brunnert veröffentlicht, auf welchem Bachs a-Moll-Sonate BWV 1003 von Werken des 20. Jahrhunderts umrahmt wird, darunter Heinz Schuberts Phantasie für Geige allein. Die nun vom katalanischen Trio Montserrat vorgelegte Streichtrio-Anthologie German Counterpoint schließt nahtlos an diese Reihe an: Wieder bildet Bach den Ausgangspunkt der Programmgestaltung, und wieder ist, mit Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling, der Kaminski-Kreis vertreten (von Kaminski selbst existiert kein Streichtrio); hinzu kommt mit Paul Büttner ein Meister aus einer anderen deutschen Kontrapunktiker-Tradition, der Schule Felix Draesekes.

Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) beginnen die Vortragsfolge mit drei der Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier (I: es-Moll, II: Fis-Dur und fis-Moll), die von Wolfgang Amadé Mozart für Streichtrio gesetzt und mit langsamen Einleitungen versehen wurden. Mozart, der die Fugen aus einer Auswahl-Abschrift kannte, die die originalen Präludien nicht enthielt, ging seine Aufgabe gewissenhaft an, bemüht den Meisterstücken Bachs jeweils ein ihnen würdiges Vorspiel voranzustellen. Das Resultat ist höchst reizvoll, denn Mozart ist selbst eine so in sich gefestigte Künstlerpersönlichkeit, dazu auch zu sehr von anderen Ausgangsbedingungen geprägt, als dass ihm eine völlige stilistische Angleichung an Bach gelingen würde. So stehen hier zwei Meister verschiedener Epochen einander Auge in Auge gegenüber, ihre Zuhörer zu aufmerksamem, stilvergleichendem Hören einladend.

Dass der nächste Programmpunkt Paul Büttner gewidmet ist, dessen Geburtstag sich im Dezember 2020, wenige Tage vor dem Beethoven-Jubiläum, zum 150. Male jährte, ist zunächst schon allein deswegen erfreulich, da Büttner bislang auf CD nur durch eine einzige Veröffentlichung mit historischen Aufnahmen seiner Vierten Symphonie und der Heroischen Ouvertüre (Sterling) repräsentiert war. Mit der Einspielung seiner Triosonate wurde nun nicht nur zum ersten Mal eines seiner Kammermusikwerke auf Tonträger vorgelegt, sondern überhaupt erstmals eine Komposition Büttners direkt für die CD aufgenommen. Man kann nur wünschen, dass dies ein Anfang ist, denn die geringe Anzahl der bisherigen Veröffentlichungen steht in eklatantem Missverhältnis nicht nur zur Qualität der Büttnerschen Musik, sondern auch zu dem Ansehen, dass der Komponist zu Lebzeiten nachweislich genoss: Zwischen 1915 und 1933 waren seine vier Symphonien in ganz Deutschland regelmäßig zu hören, berühmte Dirigenten wie Arthur Nikisch, Paul Scheinpflug, Carl Schuricht, Fritz Busch und Paul van Kempen setzten sich für ihn ein. Dass diese Rezeption jäh abbrach, hat politische Gründe: Als Sozialdemokrat und Ehemann der jüdischen SPD- bzw. ASPS-Politikerin Eva Büttner wurde Paul Büttner nach jahrelanger Tätigkeit als künstlerischer Direktor des Dresdner Konservatoriums, Kompositionslehrer, Musikkritiker und Arbeiterchorleiter von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern gedrängt. In erzwungener innerer Emigration starb er 1943. Nach dem Krieg bewahrte ihm die DDR zwar ein ehrendes Andenken, seine Werke wurden noch gelegentlich in Ostdeutschland aufgeführt, doch galt er als altmodischer Spätromantiker, als nicht mehr „zeitgemäß“; auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten setzte damals nicht ein.

Wer Büttner von der Sterling-CD her als hervorragenden Gestalter groß dimensionierter symphonischer Architektur kennt, wird vielleicht angenehm überrascht sein, ihn in der Triosonate von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen, nämlich als ebenso meisterlichen Miniaturisten. Es handelt sich weder um ein barockisierendes oder bachisierendes Stück, noch um eines in traditioneller Sonatenform, sondern um „Kanons mit Umkehrungen im doppelten Kontrapunkt der Duodezime“, wie der Komponist im Untertitel vermerkt. Die Bezeichnung „Sonate“ ist dahingehend zu verstehen, dass die sieben kurzen Sätze (sie dauern zwischen 39 Sekunden und 3 ¾ Minuten) keine Sammlung darstellen, sondern einen Zyklus bilden – was durch dezente Anspielungen untereinander ebenso bestätigt wird wie durch die tonale Gruppierung um das Zentrum G. Mit diesem Werk demonstriert Büttner, welch souveränes kontrapunktisches Handwerk er sich als Meisterschüler Felix Draesekes erworben hat, und legt ein Kabinettstück vor, dem man durchaus in der Geschichte des „deutschen Kontrapunkts“ einen Ehrenplatz zugestehen darf. Allen Sätzen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Zwei Stimmen spielen im Kanon, die dritte ergänzt freie Töne. Aber es herrscht nicht akademische Prinzipienreiterei in diesem Werk, sondern die Phantasie eines großen Künstlers. Zunächst zeigt sich diese in den verschiedenen Charakteren der einzelnen Sätze und der geschickten Ausnutzung der klanglichen Möglichkeiten der Streichinstrumente. Für Abwechslung sorgen weiterhin technische Kunstgriffe wie Stimmentausch oder Änderung des Einsatzintervalls. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass Büttner die Sätze unterschiedlich streng anlegt. Stellt etwa in Nr. 2 und Nr. 4, worin die Imitation im Abstand eines Taktes erfolgt, die kanonische Konstruktion den entscheidenden musikalischen Gedanken dar, so erscheint sie in den beiden langsamen Sätzen Nr. 3 und Nr. 5 beinahe zu einem bloßen Wandern der sich über mehrere Takte erstreckenden Melodien von Stimme zu Stimme gemildert und tritt an Bedeutung gegenüber dem „vollen Gesangston“ (Vortragsanweisung im dritten Satz) zurück. Auch tragen die nicht-kanonischen Takte und die freie dritte Stimme Wesentliches zum Gesamteindruck bei.

Wenige Jahre trennen Büttners wahrscheinlich um 1930 entstandene Triosonate von der zwischen 1934 und 1937 komponierten Kammersonate des eine Generation jüngeren Heinz Schubert. Formal und stilistisch unterscheiden sich beide Werke stark. Lässt sich Büttners Stück insgesamt als heiter und extravertiert charakterisieren (der Freund des werktätigen Volkes lässt es sich auch im strengen Stil nicht nehmen, gelegentlich volkstümliche Töne anzuschlagen), so wirkt in Schuberts Sonate jeder Ton von der Welt abgewandt. „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ bildet in chromatischer Verschärfung die Grundlage für den chaconneartigen Mittelsatz. Ob es sich um einen Kommentar zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der Entstehungszeit des Werkes handelt? Es fällt jedenfalls auf, dass Schubert später in seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs komponierten Hymnischen Konzert ausgerechnet die „Heerscharen“ (Sabaoth) des Te-Deum-Textes nicht vertont und seinem Ambrosianischen Konzert für Klavier und Orchester, dem letzten Werk, das er vor seinem Kriegstod vollendete, der Choral „Verleih‘ uns Frieden gnädiglich“ zugrunde liegt.

Am Anfang der Kammersonate steht ein Stück, das wie eine Improvisation anhebt, präludierende Figurationen wechseln mit Tonrepetitionen ab, wie sie auch Schuberts Vorbild Heinrich Kaminski häufig verwendet. Während sie allerdings bei Kaminski in der Regel an das ehrfürchtige Stammeln eines verzückten Beters erinnern, stellt sich dieser Eindruck hier nicht ein; eher möchte man an das Atemholen eines zutiefst Erschütterten denken. Wie Schubert in diesem Satz, ohne irgendwelchen vorgefertigten Schemata zu folgen, mittels polyphoner Interaktion der Stimmen das Geschehen immer weiter verdichtet und der Musik zunehmende Stringenz verleiht, ist schlicht faszinierend. Eine strenge, unablässig vorangetriebene Introspektion scheint hier Musik geworden zu sein. Am Schluss des Werkes steht eine Fuge, deren Thema während des Verlaufs variiert wird, wobei das Tempo allmählich zunimmt. Der Schluss berstet schier vor Ausdruckskraft. Schuberts Harmonik basiert auf einfachen tonalen Grundverhältnissen, er erkundet in seinem Schaffen jedoch ausgiebig die Möglichkeiten dissonanter Linienführung. Eine diesbezüglich besonders aufschlussreiche Passage aus der finalen Steigerung wurde zur genaueren Veranschaulichung noch einmal separat und und in Zeitlupentempo aufgenommen und dem eigentlichen CD-Programm als Anhang beigegeben. Auch wurden die entsprechenden Noten im Beiheft abgedruckt.

Im Gegensatz zu Heinz Schubert war es Reinhard Schwarz-Schilling vergönnt, ein Spätwerk schaffen zu können, zu welchem sein 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, komponiertes Streichtrio gehört. Es besteht nur aus zwei Sätzen, einer mäßig bewegten Rhapsodie und einem langsamen Notturno, die zusammen etwa 10 Minuten dauern. Sie gehören zum Edelsten und Abgeklärtesten, das sich in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts finden lässt. Kein Ton ist zuviel, keiner zu wenig. Alles klingt hier entrückt, als ob das Stück sich gar nicht darum zu kümmern schiene, ob jemand zuhört oder nicht. Gelassen und vollkommen in sich ruhend entfaltet es seine klingenden Phänomene. Die stilistischen Grundlagen sind ganz ähnliche wie in Schuberts Kammersonate, doch wie anders klingt diese späte Musik Schwarz-Schillings!

Die drei Musiker des Trio Montserrat sind einander perfekte Partner. Technisch ist ihnen nichts zu schwer, wie man etwa an der makellosen Ausführung der raschen Flageoletts im Vierten Satz des Büttner-Trios hören kann. Zugleich ist sich jeder der Bedeutung seiner Stimme völlig bewusst, was gerade für das Streichtriospiel von essentieller Wichtigkeit ist, kommt es ja hier noch stärker auf jeden einzelnen Ton an als beim Musizieren in Quartett- und größeren Besetzungen, in denen die Vielstimmigkeit von den Ausführenden zwangsläufig erfordert, zwischen „Vordergrund“- und „Hintergrund“-Geschehen zu unterscheiden. Dieses Gespür für das Zusammenwirken der Stimmen ermöglicht dem Trio Montserrat nicht nur ein tadelloses Zusammenspiel, die Musiker bedenken offenbar auch in jedem Moment den Gesamtverlauf der einzelnen Stücke. Sie entwickeln zielstrebig die Phrasen auf die tonalen Schwerpunkte hin – besonders schön zu hören in den Mozart-Präludien –, wodurch sich die jeweilige musikalische Handlung ganz ungezwungen, wie von selbst entfaltet. Keiner der hier zu hörenden Komponisten betrachtete Kontrapunkt als bloße akademische Disziplin. Er war ihnen allen Stilmittel poetischen Ausdrucks, etwas Natürliches, das selbstverständlich zur Kunst dazu gehört. Das Trio Montserrat bringt diese Natürlichkeit zum Klingen.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Musik eines fast Verschollenen

Musikverlag Müller & Schade, M&S 5103/2; EAN: [-]

Diese im Musikverlag Müller & Schade erschienene CD präsentiert mit einer Klaviersonate, zwei Liedern und einer Violinsonate den Großteil des heute noch bekannten Schaffens von Adolphe Veuve (1872–1947), einem Schweizer Komponisten, dessen Nachlass nach seinem Tode spurlos verschwand. Es musizieren und singen: die Pianisten Simon Bucher und Alexander Ruef, die Sopranistin Maya Boog und der Geiger Stefan Meier.

„Die toten Meister heben ihre Hände, / Sie rufen aus dem Grabe: ‚Rette, rette, / Ach, wer errettet unsere Musik? / […] / Mit unsern Werken schwindet unsre Seligkeit!‘ / Lässt Euch das auch in Ruh’?“ So fragt in Pfitzners Palestrina der Kardinal Borromeo den Titelhelden, ihm die drohende Entsorgung des Notenbestands der päpstlichen Kapelle vor Augen führend. Jedes Mal, wenn ein Kunstwerk unwiederbringlich verloren geht, stirbt mit ihm ein Teil seines Schöpfers den zweiten Tod. Namentlich aus älterer Zeit wissen wir von vielen Werken selbst hochbedeutender Meister nur noch, dass es sie einst gegeben hat. Es sind freilich genug Fälle bekannt, in denen ein Werk nach jahrzehntelanger, ja jahrhundertelanger Verschollenheit wieder ans Licht kam. Man denke etwa daran, wie Joseph Haydns C-Dur-Cellokonzert vor 60 Jahren aus dem Reiche der Totgeglaubten ins Leben zurückkehrte.

Es darf also auch im Falle des Schweizers Adolphe Veuve (* Cernier, 7. Dezember 1872; † Lausanne, 5. August 1947) gehofft werden. Bis vor kurzem war Veuve ein völlig vergessener Komponist, einer von jenen, die nur noch eine papierene Existenz in alten Quellen zu führen scheinen. Aus diesen kann man erfahren, dass er zu den Gründern des Conservatoire de Neuchâtel gehörte, zu Lebzeiten einer der angesehensten Pianisten der Suisse Romande war und seit 1926 auch Rundfunkkonzerte gab (von denen sich kein Mitschnitt erhalten hat). Bekannt ist, dass er wenigstens ein Klavierkonzert (sein letztes Werk), ein Streichquartett, eine Klaviersonate, mehrere Violinsonaten, Orchestersuiten, Klavierstücke, Lieder und Chorwerke komponierte. Vier dieser Opera sind durch Drucke auf die Nachwelt gekommen: die Klaviersonate d-Moll op. 2, Trois Morceaux pour piano op. 3 (Ignacy Jan Paderewski gewidmet), Deux Mélodies op. 4 und eine Gavotte für Klavier ohne Opuszahl. Von den Manuskript gebliebenen Werken tauchte jedoch bislang nur die Erste Violinsonate C-Dur op. 5 wieder auf. Was aus den restlichen Stücken wurde, ist unbekannt. „All seine Kompositionen sind von Originalität und manchmal einer sehr modernen Inspiration geprägt, obwohl mit sehr großem Respekt vor den Formen entworfen“, heißt es in einem Nachruf, der kurz nach dem Tode des Komponisten in einer französischsprachigen Neuenburger Zeitung erschien.

Der Berner Musikverlag Müller & Schade, der auch den Erstdruck der Violinsonate op. 5 herausbrachte, hat mit der vorliegenden CD nahezu eine Gesamtaufnahme des verfügbaren Schaffens von Adolphe Veuve veröffentlicht. Lediglich die vier kürzeren Klavierstücke fehlen (aus Platzgründen? Die CD dauert 60 Minuten). Die Violinsonate, das einzige datierte Werk, entstand laut Manuskript 1915/16, womit angesichts der Opuszahlen im Falle der anderen Stücke eine frühere Entstehungszeit anzunehmen ist. Wenn der Autor des Nachrufs Veuve als „sehr modernen“ Komponisten charakterisiert, so muss man sich in Erinnerung rufen, dass damals durchaus noch Musik, die man heute „spätromantisch“ nennen würde, als „modern“ gelten konnte. Veuve ist, den bekannten Werken nach zu urteilen, jedenfalls kein „Impressionist“, „Expressionist“ oder „Neoklassizist“. Dass er sich bemühen würde, im Stile bestimmter Vorbilder zu schreiben, kann man nicht sagen. Wenn der Einführungstext zur CD seiner Tonsprache eine „eigene Prägung“ attestiert, so ist das keine Floskel. Er schließt sich weder deutschen, noch französischen Traditionen ganz an, hat aber offensichtlich von beiden gelernt. So mag etwa der kompakte Klaviersatz zu Beginn der Sonate op. 2 mit seinen Dreiklangsbrechungen und Oktavierungen an Brahms gemahnen, die Deux Mélodies op. 4 erinnern dagegen eher an französische Meister der Franck-Schule. Veuves Stärke liegt vor allem im Harmonischen. Er liebt es, Harmonien schrittweise durch chromatische Stimmführung zu verwandeln, was in Verbindung mit den gern verwendeten synkopischen Rhythmen den Eindruck einer starken Verdichtung der musikalischen Ereignisfolge hervorruft. Der oben erwähnte Respekt vor den Formen sorgt dafür, dass das Geschehen stets überschaubar bleibt. Die viersätzige Klaviersonate dauert etwa so lang wie Beethovens op. 7 oder op. 22, die dreisätzige Violinsonate überschreitet die Dimensionen einer Brahms-Sonate nicht. Simon Buchers Aufführung der Klaviersonate zeichnet sich durch feine Abstufung der Dynamik, sicheres Gespür für den Rhythmus und ausgeprägten Sinn für die große Form aus. Bucher ist genau der richtige Musiker, diesem Werk neues Leben einzuhauchen. Er ist auch in den beiden Liedern zu hören, die Maya Boog sehr expressiv vorträgt. Das dunkle Timbre der Sopranistin passt zudem gut zur melancholischen Stimmung dieser Gesänge. Weniger gut gelingt die Aufführung der Violinsonate. Zwar steht die Leistung des Pianisten Alexander Ruef derjenigen Buchers nicht nach, doch scheint sich Violinist Stefan Meier weniger gut in seiner Stimme zurechtzufinden als sein Partner am Klavier. Die Phrasen der Violine wirken zu oft bloß aneinandergereiht, große Entwicklungszüge bleiben aus, Steigerungen geraten zu mühsam. Am besten gelingt insgesamt der letzte Satz, dessen Hauptthema liedhaft schlicht anhebt.

Trotz diesen Einschränkungen handelt es sich um eine empfehlenswerte CD. Es ist schön zu sehen, dass hiermit einem sympathischen Komponisten, der fast gänzlich verschollen schien, wieder eine Stimme gegeben, und damit auch ein weiteres Schlaglicht auf die Musikgeschichte der französischsprachigen Schweiz geworfen wurde. Gleichermaßen sollte sie dazu ermahnen, sich auf die Suche nach den verschwundenen Kompositionen Adolphe Veuves zu machen. Der Fund der Violinsonate nährt immerhin die Hoffnung, dass auch die weiteren ungedruckten Werke nicht endgültig verloren sind.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Farbenspektrum der Minimalistik

conditura records, conrec012; EAN: 4 260401 710199

Unterstützt von Luna Martina Pracht (Klangschalen), Annette Winker (Fagott) und Katharina Uzal (Violoncello) führt Ute Schleich (Blockflöten) auf diesem bei conditura records erschienenen Album die Vielfalt der Minimal Music wie des Blockflötenklangs vor Ohren.

„Colors of Minimal Music“ präsentiert die Blockflötistin Ute Schleich auf ihrer gleichnamigen CD. Der Titel ist trefflich gewählt, lässt er sich doch gleich auf mehrere Aspekte beziehen, die dem Programm und den Darbietungen ihr Gepräge geben. Zunächst einmal zeugt die Auswahl der Kompositionen von Ute Schleichs profunder Kennerschaft des Spezialgebiets Minimal Music. Es finden hier Stücke von insgesamt sieben zeitgenössischen Komponisten verschiedenen Alters zusammen. Zwar sind alle Werke mehr oder weniger von der Idee des reduzierten Tonsatzes und der repetitiven Melodik bestimmt, unterscheiden sich in ihrer jeweiligen individuellen Gestalt jedoch voneinander ziemlich stark. Dieses Programm lädt dazu ein, die Kompositionen vergleichend zu hören, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Ein breites Farbspektrum zeigt sich auch in den Besetzungen, die auf der CD zu hören sind. Die zahlreichen kürzeren Stücke sind Soli für Blockflöte, die drei längeren hingegen Duos, die die Blockflöte jeweils mit einem anderen Instrument zusammenbringen: Violoncello, Fagott und Klangschalen. Nicht zuletzt sorgt Ute Schleich mit den von ihr verwendeten Instrumenten für klangfarbliche Abwechslung: So erklingen in den 65 Minuten des vorliegenden Albums nicht weniger als neun verschiedene Blockflöten (1 Sopran, 5 Alt, 2 Tenor, 1 Bass).

Unter den Solowerken erscheinen die beiden Stücke Hin- und Her und Signale aus Frans Geysens Sammlung City of Smile (2001) am strengsten minimalistisch gestaltet. Sie basieren beide auf einfachsten diatonischen, regelmäßig getakteten Motiven, die ständig wiederholt und dabei nach und nach von Verzierungen umrankt werden – was einige reizvolle dialogische Effekte einschließt, die sich zwischen hohen und tiefen Lagen ergeben. Bei Hin- und Her verschiebt sich im Laufe dieses Prozesses auch der metrische Schwerpunkt. Philip Glass, einer der Gründerväter der Minimal Music, ist mit der Arabesque in Memoriam (1988) vertreten, einem kapriziösen Stück, das mit Ausweichungen in Nebenharmonien arbeitet, die die Grundtonalität unterschiedlich beleuchten. Während man hier aus den raschen Figurationen einen akkordischen Satz heraushört, beginnt das Yamamoto Perpetuo Nr. 1 von Michael Nyman mit einer langen Monodie. Es geht über in einen Tanz, der im Yamamoto Perpetuo Nr. 3 wieder aufgegriffen wird. Beide 1993 entstandene Stücke hat Ute Schleich aus der ersten Violinstimme des Vierten Streichquartetts von Nyman für die Blockflöte gewonnen. Nyman und Glass sind Widmungsträger der beiden hier zu hörenden Minimal-Preludes von Karel van Steenhoven (2010). Wer dem schlicht Glass betitelten Stück Vorbild gewesen ist, lässt sich anhand einer Gegenüberstellung mit Glass‘ Arabesque leicht feststellen. Den Bezug unterstreicht Ute Schleich übrigens dadurch, dass sie zum Vortrag dieser beiden Werke Altblockflöten mit einer Stimmung von a=415 hz verwendet, für die übrigen jedoch Instrumente, die auf a=440 hz gestimmt sind. Das Nyman gewidmete Just a Song zeigt sich in der Verarbeitung seines Hauptgedankens durch geschickte Andeutung mehrerer Stimmen barocker Sololiteratur verwandt.

Ute Schleich stellt in all diesen Stücken im wahrsten Sinne des Worten unter Beweis, über welch langen Atem sie verfügt. Man hört hier nicht bloße Abfolgen kurzer Motive in variierten und nicht variierten Wiederholungen, sondern Melodien, die sich auf minimalistische Weise entfalten. Schleichs Gespür für melodischen Zusammenhang, melodische Entwicklung erfüllt jede dieser Miniaturen mit Leben.

Dies kommt auch den drei Duos zugute, die sämtlich Ute Schleich die Anregung zu ihrer Entstehung verdanken. Klanglich von besonderem Reiz sind dabei Ulli Göttes images (2012) für die höchst seltene, wenn nicht einmalige, Besetzung Blockflöte und Klangschalen. In den beiden äußeren Abschnitten spielt die Flötistin eine Tenorblockflöte, wohingegen die beiden Mittelsätze eine Bass- bzw. Altblockflöte verlangen. Auch kommen im Verlauf des Stückes verschiedene Klangschalen zum Einsatz. Wie Luna Martina Pracht es versteht, die Tonerzeugung auf diesen Instrumenten stets spannungsvoll zu gestalten, verdient besondere Erwähnung. Die vier Sätze wirken sämtlich ritualhaft, doch hat Götte jedem durch melodische und rhythmische Eigenheiten ein charakteristisches Profil gegeben und den Dialog zwischen dem Blasinstrument und den Klangschalen abwechslungsreich zu gestalten gewusst. Im dritten Satz, einem zuerst verhalten, dann ausgelassen tänzerischen Stück, gibt es zudem eine Passage, in der die Blockflöte vom Klatschen der Hände begleitet wird.

Auch in seinen dialogen für Blockflöte und Violoncello (2016) komponiert Götte mit sehr schlichtem melodischem Material, nutzt aber die Möglichkeiten zur polyphonen Gestaltung, die ihm zwei Melodieinstrumente bieten, sehr wohl aus. Zwei rhythmisch pulsierende Tanzsätze, in denen die beiden Instrumente durchaus auch „aufstampfen“ dürfen, rahmen zwei langsamere, aber nicht unbedingt ruhigere Sätze ein. Gerade der dritte Satz, in dem Blockflöte und Violoncello in freien Imitationen ein in sich kreisendes Motiv durchführen, steckt voller Nervosität. Katharina Uzal am Violoncello ist Ute Schleich bei der Aufführung eine zuverlässige Partnerin, die dem Klang der Blockflöte gerade in den leiseren Passagen genügend Raum zur Entfaltung lässt. Als Duo sind beide trefflich aufeinander eingespielt.

Jens Josefs Duettino für Blockflöte und Fagott (2017/18) kann man als das konstruktivistischste Stück dieser Anthologie bezeichnen. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass der Kontrapunkt hier eine deutlich größere Rolle spielt als in Göttes dialogen. Die Instrumente scheinen zunächst völlig unabhängig voneinander zu spielen. Im weiteren Verlauf ist es, als würden sie nach und nach einander bemerken und auf unterschiedliche Weise aufeinander reagieren. Teils gibt das Fagott, teils die Flöte die Impulse. Unter klanglichen Gesichtspunkten wirken diejenigen Passagen problematisch, in denen die Blockflöte in ihren tiefen Registern spielt, da sie hier kaum aus dem Schatten des tonstärkeren Fagotts zu treten vermag. Der Effekt mag allerdings beabsichtigt sein, um den Kontrast zum Schlussteil zu verstärken, in dem durchweg die oberen Register der Blockflöte zu hören sind. Den technischen Herausforderungen des Duettinos sind Schleich und ihre Partnerin am Fagott, Annette Winker, jedenfalls völlig gewachsen.

Ute Schleich beschließt dieses Programm aus Soli und Duos mit Louis Andriessens Ende (1981), das sie gleichzeitig auf zwei Altblockflöten spielt. Gleichermaßen Solo wie Duo ist dies der effektvolle Abschluss einer geglückten CD.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Formvollendete Eleganz

Toccata Classics, TOCC 0561; EAN: 5 060113 445612

Das Duo Praxedis – Praxedis Hug-Rütti (Harfe) und Praxedis Geneviève Hug (Klavier) – legt bei Toccata Classics die erste Folge der sämtlichen Duos für Harfe und Klavier von John Thomas vor.

Der Waliser John Thomas (1826–1913) war einer der Großen in der Geschichte des Harfenspiels. Die in ihrer Ausführlichkeit vorbildliche Kurzbiographie, die Martin Anderson, der Gründer von Toccata Classics, nach Vorarbeiten der Harfen-Historikerin Ann Griffiths für die vorliegende Veröffentlichung geschrieben hat, lässt deutlich werden, welch vielseitige Künstlerpersönlichkeit Thomas gewesen sein, und welchen Eindruck er bei seinen Zeitgenossen hinterlassen haben muss. Der Sohn eines Schneiders und Amateurmusikers erlernte frühzeitig die Walisische Tripelharfe. Mit einem seiner ersten öffentlichen Konzerte zog er die Aufmerksamkeit der Mathematikerin Ada Lovelace, auf sich, deren finanzielle Unterstützung ihm mit 14 Jahren ein Studium an der Royal Academy of Music in London ermöglichte. Dadurch nun auch mit der Pedalharfe vertraut geworden, wurde er nach Abschluss seiner Ausbildung Harfenist an der Royal Italian Opera sowie am Theater Ihrer Majestät und unterrichtete selbst an der Akademie. Konzertreisen durch Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Russland machten Thomas international bekannt. Kenner rühmten ihn wegen seiner in beiden Händen gleichermaßen gut entwickelten Technik – letztlich eine Folge seiner Herkunft von der Tripelharfe, die seitenverkehrt zur Pedalharfe gespielt wird. Ihren äußeren Höhepunkt erreichte seine Laufbahn, als ihn Königin Viktoria 1872 zum Hofharfenisten ernannte. Für Hector Berlioz stellte John Thomas schlichtweg das Ideal eines Harfenspielers dar. 1854 bekannte der Großmeister der Klangfarben in einem Zeitungsartikel, dass er, wäre er reich, sich den Luxus leisten würde, einen Virtuosen wie Thomas zu beschäftigen, dessen ebenso nobles wie leidenschaftliches Spiel ihn magnetisiert hatte. Nicht nur als Virtuose, Komponist, Bearbeiter und Pädagoge stellte Thomas sein Leben in den Dienst seines Instrumentes, sondern auch als Historiker: 1901 trat er mit einer History of the Harp: From the Earliest Period Down to the Present Day hervor.

Thomas‘ internationaler Ruhm, sein Wirken als Hofmusiker und Akademie-Professor – mithin als offizieller Repräsentant des institutionalisierten britischen Musiklebens –, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zeit seines Lebens ein Grenzgänger zwischen zwei Welten blieb. Weder bei Hofe, noch in den mondänen Salons und Konzertsälen der Großstädte vergaß er je seine Wurzeln in der Volksmusik. Seine ersten Erfolge hatte er auf eisteddfodau, jährlichen Wettbewerben der walisischen Barden und Spielleute, errungen, und er ließ es sich auch nicht nehmen, sich auf den Musikfesten seiner alten Heimat hören zu lassen, als er schon längst in der „großen Welt“ lebte und wirkte. Auf dem eisteddfod von Aberdare 1861 wurde ihm schließlich den Titel eines Pencerdd Gwalia verliehen. Damit hatten ihn seine Kollegen ganz offiziell als Obersten Musiker von Wales anerkannt. Seine herausgehobene Stellung im englischen wie im walisischen Musikleben wusste er völkerverständigend einzusetzen. So kam es, dass in einer Zeit, als die Waliser von Seiten der dominierenden Engländer einem enormen Assimilationsdruck ausgesetzt wurden, welcher sich beispielsweise in einem gezielten Zurückdrängen der walisischen Sprache in den Schulen äußerte, der Londoner Hofharfenist und Professor John Thomas in England für die Verbreitung walisischer Volkslieder sorgte, die er in vier Bänden mit walisischem und englischem Text herausbrachte.

Ein großer Teil der Kompositionen von John Thomas ist für Harfe und Klavier geschrieben und stellt damit ideale Originalliteratur für das Duo Praxedis dar, das es sich seit gut zehn Jahren zur Aufgabe macht, Werke dieser Besetzung ins allgemeine Bewusstsein der musikalischen Welt zurückzurufen. Die Harfenistin Praxedis Hug-Rütti und ihre Tochter, die Pianistin Praxedis Geneviève Hug, haben nun die erste Folge einer Gesamtaufnahme der Thomasschen Duos bei Toccata Classics herausgebracht. Die aufgenommenen Stücke teilen sich in drei Gruppen: das Grand Duet, eine dreisätzige Sonate in es-Moll, mit knapp 20 Minuten Spieldauer das umfangreichste Werk, ist die einzige Komposition, in der Thomas nur eigene Melodien verarbeitet; dazu kommen Bearbeitungen von Beethovens Adelaide, einer Gigue aus Händels Wassermusik und Gounods Marche solenelle, sowie fünf Werke, in denen Thomas gleichermaßen Bearbeiter wie Komponist genannt werden kann. Souvenir du Nord, geschrieben nach einer Russland-Reise, besteht aus brillanten Variationen über Alexander Aljabjews beliebte Romanze Die Nachtigall, das Duett über Themen aus Bizets Carmen ist dem damals sehr beliebten Genre der Opernfantasien und -potpourris zuzuordnen. Bei den drei Welsh Duets handelt es sich um jeweils dreisätzige Suiten über walisische Volkslieder.

All diese Stücke sind Salonmusik, d. h. sie verdanken ihre Entstehung der Salonkultur des 19. Jahrhunderts. Und Salonkultur, auf die Musik bezogen, ist Vortragskultur. Schon die Strophenlieder Reichardts und Zelters, die ganz wesentlich von der Vortragskunst des Sängers leben, zeugen davon. Auch John Thomas denkt in seinen Duos eine bestimmte Anschlags- und Klangkultur immer mit. Zwar war Thomas ein technisch enorm beschlagener Virtuose, aber an allen hier eingespielten Werken zeigt sich, dass ihm Fingerfertigkeit nie Selbstzweck gewesen ist. Dass sein Ideal „Kantabilität“ hieß, kam nicht von ungefähr: Er entstammte einer Volksmusiktradition, die selbstverständlich auf dem Gesang gründete, und war später eng mit dem Opernbetrieb der Weltstadt London verbunden, wo er Gelegenheit hatte, große Sänger aus aller Welt zu hören. Seine Liebe zur Oper äußerte sich nicht zuletzt in mehreren eigenen Opernkompositionen.

An seiner intensiven Hinwendung zur Besetzung Harfe und Klavier mag der Umstand seinen Anteil haben, dass damals ein Klavier in jedem Salon stand, Thomas also mit derartig besetzten Duos nahezu überall auftreten konnte. Aber er sah offensichtlich auch eine Herausforderung darin. Bekanntlich gehören Harfe und Klavier nicht zu denjenigen Instrumenten, die hinsichtlich ihrer Klangerzeugung der menschlichen Stimme besonders ähnlich sind. Die große Kunst des Harfenisten John Thomas, die Urteile wie dasjenige von Berlioz erst möglich machte, dürfte vor allem darin bestanden haben, dass er die Harfe zum Singen zu bringen vermochte. Es reizte ihn somit wohl auch, Musik zu schreiben, die den Interpreten Gelegenheit gibt, ihre Kunst der Fingerfertigkeit zu zeigen, wie Belcanto-Sänger ihre Kehlfertigkeit unter Beweis stellen, und ihnen gleichzeitig die Aufgabe stellt, deutlich zu machen, dass Singen (mit Telemann gesprochen) „das Fundament der Musik in allen Dingen“ ist.

Wenn dies tatsächlich die Intention des John Thomas war, so hätte er wohl an den Darbietungen des Duos Praxedis seine Freude gehabt. Dass beiden der vokale Hintergrund der Thomasschen Kompositionen bewusst ist, hört man daran, dass sie, auch wenn brillante Figurationen zu spielen sind, die großen Linien nicht vergessen. Besonders rühmen muss man die Achtsamkeit, mit der Mutter und Tochter aufeinander reagieren. Thomas hat seine musikalischen Einfälle durchaus so auf die Instrumente verteilt, dass sie, im „Singen“ wie im Brillieren, als gleichberechtigte Partner zusammenwirken. Das Klavier fungiert als Begleiter der Harfe, wird aber auch oft von ihr begleitet. Da das Klavier der deutlich tonstärkere Partner ist, muss stets darauf geachtet werden, dass die Harfe nicht übertönt wird, wo sie dominieren, und noch zu hören sein muss, wo sie untermalen soll. Die hervorragende Durchhörbarkeit der Kompositionen ist in der vorliegenden Einspielung nicht nur auf eine tadellose Aufnahmetechnik zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass Pianistin und Harfenistin durch kluge Rücksichtnahme aufeinander alle Balanceprobleme meistern. Dabei entsteht der Eindruck formvollendeter Eleganz, den der Komponist nur gewünscht haben kann, nahezu von selbst.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Boris Tschaikowskij zum 25. Todestag

Ich halte ihn für ein Genie. […] Und ich glaube, eines Tages werden die Leute bemerken, daß es zwei große Komponisten gibt, die den gleichen Namen tragen.“ Der Name, von dem Mstislaw Rostropowitsch hier spricht, lautet „Tschaikowskij“. Der eine der beiden Komponisten ist der berühmte Tonsetzer aus dem 19. Jahrhundert. Der andere ist Boris Alexandrowitsch Tschaikowskij, dessen Todestag sich heute zum 25. Male jährt.

In dem Vierteljahrhundert seit seinem Tode ist Boris Tschaikowskij, dessen erste größere Werke Mitte der 1940er Jahre entstanden, zu einem der international bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden, und gehört mittlerweile zu den diskographisch am besten erschlossenen. Bis auf wenige Nebenwerke liegt nahezu sein ganzes Instrumental- und Vokalschaffen auf CD vor. Zu Produktionen aus sowjetischer Zeit treten dabei zahlreiche Einspielungen jüngeren Datums. Die seit der Jahrtausendwende rasch ansteigende Veröffentlichung von Aufnahmen seiner Musik trug wesentlich dazu bei, dass auch für Musikfreunde außerhalb Russlands das Bild der Künstlerpersönlichkeit Boris Tschaikowskij immer stärker an Kontur gewann. Man konnte nun erkennen, dass dieser Komponist, der zunächst vor allem als Schostakowitsch-Schüler oder -Nachfolger wahrgenommen wurde und in seinen letzten Lebensjahren, was öffentliche Aufmerksamkeit betraf, im Schatten der etwas jüngeren Avantgardisten um Alfred Schnittke stand, einer der begabtesten und auch eigenständigsten Meister seiner Zeit gewesen ist.

Boris Tschaikowskij wurde am 10. September 1925 als Sohn eines Wirtschaftsgeographen und einer Medizinerin in Moskau geboren. Im Alter von neun Jahren begann er seine musikalische Ausbildung an der Gnessin-Musikschule und wurde 18-jährig Schüler des hervorragenden Symphonikers Wissarion Schebalin am Moskauer Konservatorium. Als Dmitrij Schostakowitsch 1946 begann, am Konservatorium zu unterrichten, empfahl ihm Schebalin, Tschaikowskij in seine Kompositionsklasse aufzunehmen. 1947 vollendete Tschaikowskij seine Erste Symphonie, die Schostakowitsch so begeisterte, dass er sie Jewgenij Mrawinskij zur Aufführung empfahl. Die bereits angesetzte Premiere kam 1948 jedoch nicht zustande. Als im Zuge der „antiformalistischen“ Kampagne von Stalins rechter Hand Andrej Shdanow auch Schebalin und Schostakowitsch öffentlich scharf kritisiert und ihrer Lehrämter am Moskauer Konservatorium enthoben worden waren, weigerte sich Tschaikowskij, der Aufforderung nachzukommen, sich von seinen Lehrern zu distanzieren. Sein bisheriges Schaffen wurde deshalb ebenfalls als „kontaminiert“ betrachtet, die Uraufführung der Symphonie Nr. 1 erst 1962 nachgeholt. Weitgehend unbeachtet schloss Tschaikowskij 1949 sein Studium bei Nikolai Mjaskowskij ab und wurde dadurch zu einem der letzten Schüler des Begründers der sowjetischen Symphonik. Folgendes Zeugnis Mjaskowskijs belegt, dass Tschaikowskij auch der Stolz dieses Lehrers war: „Boris Tschaikowskij ist ein sehr begabter junger Komponist mit guter Kompositionstechnik und einer unzweifelhaft bedeutenden schöpferischen Individualität.“

Nach dem dramatisch abgebrochenen Beginn seiner Laufbahn führte Tschaikowskij zunächst ein unauffälliges Leben als Mitarbeiter in der Musikabteilung des All-Unions-Rundfunks. 1952 gab er diese Stelle auf, um nur noch als freischaffender Komponist zu arbeiten. Seine besondere Fertigkeit auf dem Gebiet der angewandten Musik sprach sich herum und wurde offensichtlich hoch geschätzt, sodass er seinen Lebensunterhalt zum großen Teil aus den mehr als ein halbes Hundert Theater-, Hörspiel- und Filmmusiken bestreiten konnte, die er bis 1987 komponierte. Als nach Stalins Tod 1953 die staatliche Gängelung der Künstler nach und nach gelockert wurde, begann auch Boris Tschaikowskij, im sowjetischen Musikleben allmählich bekannt zu werden, wobei er sich der Unterstützung namhafter Dirigenten und Solisten wie Alexander Gauk, Kirill Kondraschin, Rudolf Barschai, Wladimir Fedossejew, Mstislaw Rostropowitsch und Viktor Pikaisen erfreuen konnte. 1968 wurde er, auf Empfehlung Schostakowitschs, von Georgij Swiridow ins Komitee des Russischen Komponistenverbandes berufen, eine Position, die er bis 1973 – auf eigenen Wunsch ehrenamtlich – einnahm. In ähnlicher Funktion war er während der 1980er Jahre auch im Sowjetischen Komponistenverband tätig. Durchaus von Seiten des Staates geehrt (Staatspreis der UdSSR 1969 für die Symphonie Nr. 2, Volkskünstler der UdSSR 1985), gehörte er jedoch nie zu den bevorzugt von der Partei geförderten Komponisten. Auch liegen keine politisch konnotierten Kompositionen von ihm vor. 1989 erhielt Tschaikowskij eine Kompositionsprofessur an der Russischen Gnessin-Musikakademie in Moskau, die er bis zu seinem Tode am 7. Februar 1996 inne hatte. Der Pflege seines Andenkens und der Verbreitung seiner Werke widmet sich die 2002 auf Initiative seiner Witwe, der Musikwissenschaftlerin Janina Tschaikowskaja-Moschinskaja, gegründete Boris-Tschaikowskij-Gesellschaft (Russisch: Общество Бориса Чайковского; Englisch: The Boris-Tchaikovsky-Society).

Tschaikowskij gehört – wie Qara Qarayev, Alexander Lokschin, Arno Babadschanjan, Eduard Mirsojan, German Galynin, Revol Bunin, Michail Nossyrew, Weniamin Basner, Andrej Eschpai, Boris Parsadanjan, Sulchan Zinzadse (auch der gebürtige Pole Mieczysław Weinberg ist hier zu nennen) – zu einer Generation von Komponisten, die im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution zur Welt kamen. Die entscheidenden Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung fallen somit in eine Zeit, die wesentlich vom Schaffen Dmitrij Schostakowitschs bestimmt wurde. Schostakowitsch hatte selbst Mitte der 30er Jahre eine stilistische Metamorphose vollzogen und sich von den avantgardistischen Experimenten seines Frühwerks abgewendet. Seine öffentliche Demütigung als „Formalist“ und „Volksfeind“ durch die stalinistische Kulturpolitik im Jahr 1936 mag diese Entwicklung besiegelt haben; Werke wie die bereits zuvor entstandene Cellosonate, aber auch die Lady Macbeth von Mzensk, zeigen indessen, dass die Ursachen der Wandlung künstlerischer Art gewesen sein müssen. In der Fünften und Sechsten Symphonie trat dann zum ersten Mal jener Stil zu Tage, der sich mit dem Namen Schostakowitsch fortan verbinden sollte: ein melodiebetonter Stil aus dem Geiste eines typisch russischen Modusempfindens (lad), linear gedacht, von den mannigfaltigen Anreicherungsmöglichkeiten der hergebrachten Tonleitern intensiv Gebrauch machend; dabei im Tonsatz sparsam, eher zur Kargheit als zur Üppigkeit neigend; alles gekleidet in eine Instrumentation, die die Orchestergruppen oft getrennt, in „reinen Farben“, sprechen lässt. All diese Eigenschaften lassen sich auch an Tschaikowskijs Musik feststellen, dennoch findet sich bei ihm kaum ein Stück, das man für ein Werk Schostakowitschs halten könnte. Für Tschaikowskij (wie auch für manchen anderen Schüler Schostakowitschs) gilt das Wort Charles Koechlins: „Manchmal reicht ein einziger Takt eines genialen Kollegen aus, um uns das Tor zu den verzauberten Gärten zu öffnen, in denen wir dann vielleicht ganz andere Blumen pflücken dürfen als er selbst.“

Von Anfang an hat Tschaikowskijs Musik einen ganz anderen „Grundcharakter“ als diejenige Schostakowitschs. Es ist eine Musik, die ihre Kraft aus einer unerschütterlichen inneren Ruhe schöpft. Tschaikowskij war (neben seinem Altersgenossen Revol Bunin) der vielleicht feierlichste russische Komponist seiner Zeit; nicht feierlich im Sinne lärmender offiziöser Festmusik, auch nicht im Sinne orthodoxer Kirchenmusik, sondern auf eine frappierend an Franz Schubert oder Anton Bruckner gemahnende Art. Wie bei diesen ließe sich von einer Musik transzendenter Naturfrömmigkeit sprechen. Entsprechend geht ihr auch die Weltschmerz- und Anklagerhetorik Schostakowitschs ab. An deren Stelle tritt bei Tschaikowskij das freie Spiel musikalischer Elementarereignisse.

Das motivische Material Tschaikowskijs ist in der Regel entwaffnend einfach. Wenige Töne – ein Tonleiterausschnitt, eine rhythmische Formel, ein Intervall – werden ihm Anlaß zu mannigfachen Veränderungen, die ganz allmählich geschehen, wobei er ausgiebige Wiederholungen nicht scheut, wenn sie ihm angebracht erscheinen. Die Lakonik und Prägnanz der Motive mag gelegentlich an Mussorgskij oder Janáček erinnern, doch strebt Tschaikowskij im Gegensatz zu diesen Komponisten offenbar keine Annäherung der Musik an gesprochene Sprache (und die damit verbundene Kürze der musikalischen Sinneinheiten) an. Er ist ein geborener Symphoniker, den es nach Gestaltung langer Strecken und weiter Räume verlangt.

Tschaikowskijs melodische Begabung sei hier kurz anhand eines extremen Beispiels erläutert, das selbst im Schaffen dieses Komponisten einzigartig dasteht: der Kopfsatz seines Klavierkonzerts aus dem Jahr 1971. Er beginnt im Klavier mit einem 32mal von der rechten Hand angeschlagenen g‘, durchweg Achtelnoten. Die linke Hand spielt daraufhin die 32 Achtel eine Oktave tiefer, sodass in den ersten acht Takten des Stückes keine Harmoniefortschreitung, ja nicht einmal ein Akkord zu hören ist. In Takt 9 gehen die Achtelrepetitionen wieder auf g‘ weiter, wobei zu Beginn des Taktes die Streicher mitspielen. Am Anfang von Takt 11 erscheint erstmals mit b‘ ein neuer Ton, mit dem zweiten Achtel folgt a‘, das bis zum Ende von Takt 12 wiederholt wird. Spätestens hier wird klar, dass man es nicht mit schwungloser Repetitionsmusik, sondern mit der Eröffnung einer gewaltigen melodischen Entwicklung zu tun hat, die erst am Ende des Satzes zum Stillstand kommt. Hauptsächlicher Handlungsträger der Musik sind (wie übrigens auch in Beethovens Fünfter Symphonie) nicht die unablässig repetierten Achtel, sondern die von ihnen ausgefüllten, mehrere Takte langen Perioden, die mit ihren Harmoniewechseln die Atembewegungen einer ganz großen Melodie markieren. Wie es den Komponisten reizte, diesen Satz mit einer Folge unablässiger Achtelnoten zu füllen, so hat er überhaupt eine Vorliebe für von obstinaten Rhythmen durchzogene Klangflächen. Gern lässt er diese durch Gegeneinandersetzen rhythmischer Schwerpunkte fluktuieren.

Auch wenn kontrapunktische Passagen in seinen Werken selten sind, so prägt lineares Denken Tschaikowskijs Harmonik stark. Die Polyphonie erscheint meist in aufs äußerste reduzierter Form, nämlich als Akkordfortschreitung, aber sie ist nichtsdetoweniger da. Im Allgemeinen liebt Tschaikowskij das Kunstmittel der Reduktion: So kommen in seinen Werken immer wieder Abschnitte vor, in denen die melodieführende Stimme nur von wenigen Basstönen gestützt wird, oder sich über Orgelpunkten ausbreitet; mitunter verzichtet der Komponist ganz auf Begleitungen und schafft Abwechslung, indem er die Melodie von einer Instrumentengruppe zur nächsten wanden lässt. Der sparsame Tonsatz bewirkt, daß in dieser Musik jeder Ton zu einem Ereignis wird. Unterstützt wird dies von einer die ganze Farbpalette der Orchesters ausnutzenden Instrumentation, wobei Tschaikowskijs Gespür für intensive klangliche Ausleuchtung auch seine Kammermusikwerke prägt.

Verglichen mit Schostakowitsch oder seinem direkten Zeitgenossen Mieczysław Weinberg (dessen Todestag sich am 26. 2. 2021 ebenfalls zum 25. Male jährt) mutet Tschaikowskijs Werkverzeichnis relativ schmal an. Sein Schaffen umfasst an Orchestermusik: vier Symphonien, zwei Symphonische Dichtungen, je eine Kammersymphonie und Sinfonietta, Konzerte für Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette, sowie verschiedene kleinere Orchesterwerke; an Kammermusik: sechs Streichquartette, ein Klavierquintett, ein Klaviertrio, ein Sextett, Sonaten für Violine und Violoncello, Suiten unterschiedlicher Besetzungen; dazu kommen verschiedene Kantaten und Liederzyklen; die zahlenmäßig größte Werkgruppe stellt die Film-, Radio- und Theatermusik dar. Letztere mag Tschaikowskij vor allem zum Gelderwerb geschrieben haben, es finden sich allerdings auch hier zahlreiche Preziosen.

Einen guten Eindruck von Tschaikowskijs künstlerischer Entwicklung vermitteln seine vier Symphonien, von denen keine der anderen gleicht. Die Erste, seine 1947 vollendete Abschlussarbeit am Konservatorium, aber in keinem Takt unsicher oder schülerhaft, folgt als einzige dem konventionellen viersätzigen Typus, wobei das Finale als Mischung aus Variationssatz und Rondo angelegt ist. Charakteristisch für das ganze Stück ist ein fortwährender Wechsel von Dur und Moll auf engem Raum. Vielleicht schrieb Tschaikowskij aufgrund des Schocks von 1948 nach diesem Werk lange Zeit keine große Symphonie mehr. Die Erste fand jedoch 1953 in der Sinfonietta für Streicher einen in den Dimensionen zwar kleineren, in der künstlerischen Vollendung jedoch ebenbürtigen Nachfolger.

Mit 53 Minuten Spieldauer stellt die 1967 uraufgeführte Zweite Symphonie Tschaikowskijs umfangreichstes Werk dar, eine Monumentalkomposition, in der der Tonsetzer alle Register seines Könnens zieht. Das Stück besteht aus drei umfangreichen Sätzen. Der Kopfsatz, sehr lebhaft bewegt mit vereinzelten ruhigen Episoden, beginnt mit einem originellen Instrumentationseinfall: Die Exposition wird wörtlich wiederholt, doch ist Tschaikowskij der bloße Doppelstrich mit zwei Punkten zu wenig; so gibt er die Musik im ersten Durchgang an Streicher und Harfe und läßt sie beim zweiten Mal von Bläsern und Pauken spielen. Vor der Coda erscheint ein retardierender Abschnitt, in dem sich die Themen des Satzes in Anklänge an Stücke von Mozart, Bach, Beethoven und Schumann verwandeln. Einem sehr langsamen, verinnerlichten Mittelsatz schließt sich ein Finale an, das durchweg einen mäßig bewegten Schreitduktus aufrechterhält und nach einigen Steigerungsverläufen in einen Dur-Moll-Mischklang mündet.

Nach einem über zehnjährigen Arbeitsprozess vollendete Tschaikowskij 1980 seine Dritte, die Sewastopol-Symphonie, kein explizit programmmusikalisches Werk, jedoch inspiriert von der wechselvollen Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer (die der Komponist nie besucht hatte, bevor er das Werk schrieb). Die Symphonie besteht aus einem einzigen halbstündigen Satz, der zunächst drei Themenkomplexe exponiert, dann aber anstatt die Themen durchzuführen, ihre Bestandteile umbildet, sodaß im weiteren Verlauf aus dem alten Material immer neue Themen geformt werden, bis schließlich doch eine – deutlich veränderte – Reprise einsetzt. Hier kündigt sich eine Art der musikalischen Verlaufsgestaltung an, wie sie in Tschaikowskijs späteren Werken immer dominanter wird – in der Sewastopol-Symphonie allerdings noch im Kontext eines großen Satzes, während der Komponist in der Folge eine suitenartige Reihung kurzer Sätze aus gemeinsamem Material bevorzugt (etwa der siebensätzigen Musik für Orchester von 1987).

Dies kommt auch in der letzten, 1993 vollendeten Symphonie des Komponisten zum Tragen, die er wegen der charakterisitischen Harfen-Soli Symphonie mit Harfe nannte. Dieses Werk, das seine letzte größere Arbeit bleiben sollte, ist eine musikalische Reflexion über das Alter. Einen integralen Bestandteil der Symphonie, gleichsam die Wegmarken ihres Verlaufs, bilden fünf Präludien, Tschaikowskijs erste Kompositionen, die er als Elfjähriger für Klavier geschrieben hatte und nun, 68-jährig, vollständig in der Vierten Symphonie zitiert. Die übrigen drei Sätze des Werkes tragen die Titel „Poem“, „Herbst“ und „Epilog“ und können als typische Beispiele eines konzentrierten, ausgesparten Spätstils gelten.

Man könnte in dieser Weise den Streifzug durch Tschaikowskijs Schaffen fortsetzen. Man müsste noch einiger anderer Orchesterwerke gedenken, etwa des aus einem riesigen Satz von 40 Minuten bestehenden Violinkonzerts, oder der Tondichtung Sibirischer Wind – vielleicht das großartigste musikalische Portrait ungebändigter Natur seit Sibelius‘ Tapiola. Man müsste auch die Kammermusik berücksichtigen, beispielsweise die Cellosonate, die der Komponist zusammen mit Rostropowitsch einspielte; vor allem aber die sechs Streichquartette, von denen, wie im Falle der Symphonien, jedes anders ist als die übrigen (Nr. 3 von 1967 besteht aus sechs langsamen Sätzen und gilt als Vorbild für Schostakowitschs ähnlich gestaltetes Fünfzehntes Streichquartett). Dass auch die Vokalwerke Meisterleistungen des russischen Repertoires sind, sei ebenfalls noch erwähnt. – Kurzum: Boris Tschaikowskijs Gesamtwerk gleicht einer Schatzkiste, nahezu jede seiner Kompositionen einem bezaubernd funkelnden Edelstein.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Lateinamerikanische Vitalität

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 579; EAN: 4 260052 385791

Für Ars Produktion Schumacher haben Nicole Peña Comas (Violoncello) und Hugo Llanos Campos (Klavier) ein abwechslungsreiches Programm mit lateinamerikanischer Kammermusik aufgenommen.

Es ist traditionell der Zweck von Anthologien, die Leistungen einer Gruppe von Autoren dem Publikum in nuce zu präsentieren, ihm die Augen – bzw. im vorliegenden Fall die Ohren – für die Reichhaltigkeit eines Bestands kultureller Güter zu öffnen und es auf Weiteres aus diesem Repertoire neugierig zu machen. Das Programm, das die aus der Dominanischen Republik stammende Cellistin Nicole Peña Comas und der chilenische Pianist Hugo Llanos Campos für ihre CD El Canto del Cisne Negro zusammengestellt haben, erfüllt diesen Zweck aufs Schönste. Der gemeinsame Nenner dieser gut einstündigen Anthologie ist Lateinamerika, und zwar nicht nur dahingehend, dass die dargebotenen Stücke eben von lateinamerikanischen Komponisten stammen: Peña Comas und Llanos Campos haben gezielt Musik aus allen Himmelsrichtungen des lateinamerikanischen Kulturraums zusammengebracht. Auch vereint die CD Werke unterschiedlicher Gattungen vom dreiminütigen Charakterstück bis zur viersätzigen Sonate. Zeitlich liegen die Schwerpunkte auf dem frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart.

Die Kultur Mittel- und Südamerikas wurde entscheidend durch das Zusammentreffen verschiedenster Traditionen im Laufe der Geschichte bestimmt, sodass Musiker hier seit jeher mannigfache Anregungen vorfanden, die zu neuen Synthesen inspirierten. Mit der Etablierung eines bürgerlichen Musiklebens nach europäischem Vorbild stellte sich für lateinamerikanische Komponisten seit dem späten 19. Jahrhundert auch verstärkt die Frage nach dem Verhältnis zur Alten Welt. Vier der auf der vorliegenden CD versammelten Komponisten wurden in den Jahren um 1880 geboren. In ihren Lebensläufen zeigt sich, auf welch unterschiedliche Weise diese Frage jeweils beantwortet wurde.

So haben Constantino Gaito (1878–1945), Joaquin Nin (1879–1949) und Manuel María Ponce (1882–1948) den bedeutendsten Teil ihrer Ausbildung in Europa absolviert. Der Argentinier Gaito studierte in Neapel, der Mexikaner Ponce in Bologna und Berlin. Joaquin Nin, in Havanna als Sohn eines Katalanen und einer Kubanerin geboren, wuchs in Barcelona auf und lebte lange Zeit in Paris, starb allerdings in der Stadt seiner Geburt. Hingegen hat Heitor Villa-Lobos (1887–1959) – als Brasilianer der einzige portugiesischsprachige Komponist des vorliegenden Albums – Europa erstmals als ein Mittdreißiger betreten, den man keineswegs mehr einen Studenten nennen konnte: Auf Anregung seines Freundes Darius Milhaud war er nach Paris gereist, um dort seine Werke bekannt zu machen. Auch war Villa-Lobos, anders als Gaito, Nin und Ponce, Autodidakt. So verschieden die Ausbildungswege der einzelnen Komponisten sein mochten: Einig waren sie sich in der Wertschätzung der Folklore als Inspirationsquelle. Ponce und Villa-Lobos hatten bei einer Begegnung in Paris während der 1920er Jahre Gelegenheit, dies einander persönlich zu bestätigen. Auch die beiden zeitgenössischen Komponisten, der Chilene Luis Saglie (* 1974) und der Mexikaner José Elizondo (* 1972), sehen sich offensichtlich in dieser Tradition. Zudem hat es beide, wie ihre Kollegen aus der Vergangenheit, in die weite Welt gezogen: Elizondo, der auch als Mathematiker und Ingenieur Ansehen genießt, studierte in Boston und New York; Saglie wirkte nach Studien in Wien und Los Angeles als Kompositionslehrer und Dirigent in Ecuador und Chile, und ist derzeit in Sidney tätig.

Zu Beginn des Programms erklingt das Stück, das der CD den Namen gab, Villa-Lobos‘ O Canto do cisne negro. Dieser „Gesang des schwarzen Schwans“ war ursprünglich der Schlussteil der Symphonischen Dichtung Naufrágio de Kleónikos (Der Schiffbruch des Kleonikos), ist jedoch in sich selbst so sehr geschlossen, dass er problemlos als eigenständiges Stück aufgeführt werden kann. Raffinierte Einfachheit zeichnet diese langgestreckte Moll-Melodie aus, die ihre Frische und Farbigkeit, ihre sanft schwebende Bewegung, durch gezieltes Umgehen konventioneller Funktionsharmonien gewinnt. Fortwährend betont der Komponist die kleine Septime, doch führt nie ein gewöhnlicher Dominantklang zur Tonika zurück. Wenige chromatische Einfügungen und Alterationen an entscheidenden Stellen der Melodielinie intensivieren den Ausdruck. So, wie Nicole Peña Comas diese Melodie spielt, kann man tatsächlich von einem instrumentalen Gesang sprechen. Mit dezentem Vibrato lässt sie sie leicht an- und abschwellen, gestaltet die einzelnen Phrasen wie Atembögen eines Sängers. Hugo Llanos Campos hat hier zwar nur auf- und absteigende Akkordbrechungen zu spielen, weiß aber, gleich seiner Partnerin, den langen melodischen Atem, der dieses Figurenwerk trägt, herauszuarbeiten. Bezaubernd gelingt ihm das Ritardando über dem langen Schlusston des Cellos. Man merkt, dass auch das Klavier ausatmet.

Hört man Constantino Gaitos Cellosonate op. 26 und schaut danach auf die Spieldauer, glaubt man kaum, es mit einem Werk von bloß 16 ½ Minuten zu tun gehabt zu haben. Der Komponist hat in dieser kurzen Zeit so viele prächtige Einfälle untergebracht, dass die Sonate (ähnlich wie manche Werke von Haydn oder Brahms) deutlich umfangreicher wirkt als sie ist. Gaito ist ein Meister harmonischer Verknüpfungen und liebt modale und chromatische Einfärbungen, vgl. etwa das dorisch anhebende Hauptthema des langsamen Satzes. Rhythmik und Metrik weiß er stets lebendig zu halten. So intensivieren zahlreiche Synkopen die in den Ecksätzen unterschwellig durchweg präsente tänzerische Bewegung. Eine einheitliche Haupttonart gibt es nicht: Die drei Sätze stehen in f-Moll, d-Moll und c-Moll und enden alle in der entsprechenden Dur-Tonart. Den Zusammenhalt stiftet der Komponist durch zyklische Wiederkehr des Kopfsatz-Hauptthemas als Schlussgruppenmotiv des zweiten und, zu quasi-orchestraler Pracht gesteigert, in der Coda des dritten Satzes. Dieses Meisterwerk, das sich vor keiner der großen Sonaten des europäischen Repertoires zu verstecken braucht, ist bei Peña Comas und Llanos Campos optimal aufgehoben. Der dialogisierende Tonsatz Gaitos, der Violoncello und Klavier gleichermaßen anspruchsvolle Aufgaben stellt, kommt in ihrer Darbietung trefflich zur Geltung, wie auch beider Sinn für kantablen Vortrag jede Melodie des Stückes belebt.

Luis Saglies Se juntan dos palomitas (Zwei Täubchen kommen zusammen) gehört zu den 2 Canciones para Violeta, einer Hommage an die große chilenische Volkssängerin Violeta Parra (1917–1967). Das gleichnamige Lied Parras arbeitet Saglie zu einer kleinen Fantasie für Cello und Klavier aus. Er fügt der Melodie reizvolle Begleitharmonien und Gegenstimmen hinzu, verteilt sie auf beide Instrumente und schafft ein ebenso anmutiges wie durch seine schlichte Schönheit berührendes Duo-Stück.

In José Elizondos Otoño en Buenos Aires (Herbst in Buenos Aires), einem Stück aus seiner Sammlung Danzas latinoamericanas, ist Nicole Peña Comas allein zu hören. Sie musiziert gewissermaßen im Duett mit sich selbst, denn der Komponist erzeugt durch Andeutung polyphonen Satzes und geschickte Lagenwechsel den Eindruck, als spielten mehrere Instrumente. Für die Cello-Solo-Literatur ist dieser kleine Tanz mit seinen straffen Tango-Rhythmen, der dennoch den Eindruck innerer Ruhe und Vergeistigung erweckt, jedenfalls ein Gewinn.

Dass die Musik seines Freundes Maurice Ravel, der selbst freilich von spanischer Volksmusik deutlich beeinflusst war, einen großen Eindruck bei Joaquín Nin hinterlassen haben muss, lässt sich aus seiner Seguida Española (Spanische Suite) heraushören. Die vier kurzen Sätze, die sämtlich auf Volksmelodien basieren, sind der Ästhetik des französischen Impressionismus verpflichtet und bieten differenzierte Klangkunst bei betont ausgespartem Tonsatz. Häufige Quint-Oktav-Parallelen und diatonische Dissonanzen dienen als Farbtupfer in einem musikalischen Plein-air-Gemälde. In diesem Stück ist vor allem das Talent der Musiker gefragt, Atmosphäre zu erzeugen, Klangräume sich auftun zu lassen. Auch dies gelingt Peña Comas und Llanos Campos vorzüglich. Die beiden langsamen Sätze strahlen große Ruhe aus, die beiden raschen geraten zu Bildern ausgelassenen Volkslebens.

Manuel María Ponces viersätzige Cellosonate in g-Moll beschließt das Programm. An Wert kommt sie der Sonate Gaitos nahe, stilistisch unterscheiden sich beide Stücke beträchtlich. Auch Ponce verfügt über eine blühende Erfindungsgabe im Harmonischen. Während jedoch Gaito die Sonatenform als verdichtete musikalische Handlung auffasst, gestaltet Ponce die einzelnen Perioden seiner Sätze als ausgedehnte, deutlich voneinander abgesetzte Flächen. Zudem findet sich in seiner Sonate, dem ziemlich ausgedehnten Fugato im Finale zum Trotz, insgesamt weniger polyphones Ineinandergreifen der Stimmen. Viel lieber schichtet Ponce rhythmisch kontrastierende Ebenen übereinander und entwickelt seine Formen durch Umschichtung derselben, wie man gleich zu Beginn des ersten Satzes hören kann: Das Klavier wiederholt beständig ein Synkopenmotiv (man geht wohl nicht falsch, darin die Imitation von Kastagnetten zu hören), während im Cello das langgestreckte Hauptthema erklingt; nach Abschluss dieser Periode tauschen die Instrumente die Rollen. Höchst bemerkenswert erscheint in dieser Hinsicht der „in der Art einer Etüde“ geschriebene zweite Satz. Hier haben die Musiker in der Regel drei verschiedene rhythmische Schichten zu beachten, wobei die konsequent durchgehaltenen Sechzehntelquintolen zu den übrigen Ebenen scharf kontrastieren. Der langsame Satz bezaubert durch seine schweifende, sich lange einer eindeutigen tonalen Festlegung entziehende Harmonik. Ein Finale, das seiner Überschrift „Allegro burlesco“ alle Ehre macht, bringt die von Peña Comas und Llanos Campos von Anfang bis Ende hingebungsvoll musizierte Sonate zum krönenden Abschluss und beendet damit ein Album, das ohne Einschränkung empfohlen werden kann.

Das Beiheft beschränkt sich auf die Künstlerbiographien und ein kurzes Vorwort von Nicole Peña Comas. Der einzige Schönheitsfehler der Produktion hat nichts mit den Werken selbst und ihrer Aufführung zu tun: Einige Pausen zwischen den einzelnen Programmnummern sind zu kurz geraten, sodass die Stücke von Saglie, Elizondo und Nin beinahe attacca aufeinander folgen.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2021]

Kultivierte Musiker auf Grand Tour durch Europa

Orfeus Music, OMCD-10; EAN: [/]

Der Titel „Vivaldissimo“ steht über dieser höchst bemerkenswerten polnischen Produktion wie ein in die Irre führender Wegweiser. Zwar eröffnet Antonio Vivaldi das Programm, doch begeben wir uns, geleitet von dem Gitarristen Krzysztof Meisinger und dem auf historischen Instrumenten spielenden Ensemble Poland baROCK, auf eine zeitlich, geographisch und stilistisch deutlich weiter ausgreifende Reise als die Überschrift vermuten lässt: auf eine veritable musikalische Grand Tour! Sie führt vom Venezianer Vivaldi, vorerst in dessen Zeit bleibend, zu Johann Sigismund Weiss, der als Hoflautenist des Kurfürsten von der Pfalz in Düsseldorf, Heidelberg und Mannheim wirkte, und zu Johann Sebastian Bach nach Mitteldeutschland. Es folgt ein Sprung um eine Generation nach Wien, wo wir Karl Kohaut begegnen. Mit dessen jüngerem Zeitgenossen Luigi Boccherini landen wir in Spanien, und bleiben dort auch, wenn mit Isaac Albéniz die Szene ins späte 19. Jahrhundert wechselt. Sämtliche Werke sind für die Besetzung dieser Aufnahme eingerichtet worden: die Lautenkonzerte Vivaldis und Kohauts, sowie die Stücke von Boccherini und Albéniz vom hier spielenden Gitarristen Krzysztof Meisinger, das Lautenkonzert von Weiss von Alice Artz und die Aria aus Bachs Orchestersuite BWV 1068 von Dmitry Varelas.

Betrachtet man das Manuskript von Vivaldis D-Dur-Konzert RV 93 (an wohlbekannter Stelle im Netz zu finden), so fällt auf, wie wenige Vortragsbezeichnungen der Komponist notiert hat. Meisinger und Poland baROCK haben aus den wenigen Piano- und Forte-Angaben nicht den Schluss gezogen, hier müsse strikt zwischen lauten und leisen Abschnitten ohne weitere Differenzierung geschieden werden. Auch schlussfolgerten sie aus der weitgehenden Abwesenheit von Bindebögen und Artikulationszeichen nicht, dass Legatospiel zu vermeiden sei und die Musik möglichst monoton vorgetragen werden müsse. Nein, die Musiker haben sich hörbar in das Stück vertieft, jede Phrase auf ihre Funktion im Gesamtzusammenhang hin betrachtet, und dadurch den Aufbau der Sätze verinnerlicht. In jedem Moment behalten sie die Übersicht über das Geschehen und können somit den musikalischen Verlauf als Folge einander bedingender Ereignisse darstellen. Nirgends wirken die Klänge unbedacht aneinandergereiht. Die Musik schwingt in großen Bögen und strahlt in jedem Takt Leben aus, im raschen wie im langsamen Tempo. Die feine Differenzierung in Dynamik und Artikulation sorgt dafür, dass der erste Satz, obwohl sehr lebhaft vorgetragen, nirgends gehetzt wirkt, ebenso dass der zweite trotz sehr breitem Zeitmaß (er dauert in der vorliegenden Einspielung länger als die Ecksätze zusammengenommen) fest zusammenhält. Alle drei Sätze des Konzerts sind in zweiteiliger (Sonaten-)Form mit Wiederholungsvorschriften für beide Teile geschrieben. Diese werden auch alle ausgeführt, aber keineswegs als bloße Pflichtschuldigkeit philologischer Ursache, sondern dramaturgisch sinnvoll: Der zweite Durchlauf des zweiten Satzteils schließt unmittelbar an den ersten an, nachdem dieser am Schluss nur zu lokaler, aber nicht endgültiger Beruhigung gekommen war. So gelingt die Überraschung, und die Musik stürzt sich mit neuer Energie in die zweite Runde. Die Wiederholungen im langsamen Satz gestaltet Krzysztof Meisinger mit geschmackvollen Verzierungen aus, während das Orchester noch tiefer in die Musik einzutauchen scheint. Im zweiten Durchlauf des Kopfsatzes erlaubt sich der Solist einen kleinen Scherz, indem er vor dem letzten Tutti in einer kleinen Kadenz die Verwandtschaft des Hauptgedankens mit dem entsprechenden Thema des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten offenlegt. Außerdem leitet Meisinger den langsamen Satz mit einem kurzen improvisierten Vorspiel ein. Wie die Freiheiten, die sich die Musiker beim Vortrag und in der Ausgestaltung der Dynamik nehmen, stets im Einklang mit dem musikalischen Verlauf erscheinen, so fügen sich auch diese Zutaten des Solisten passend in den Zusammenhang ein.

Johann Sigismund Weiss stand zu Lebzeiten im Schatten seines älteren Bruders Silvius Leopold Weiss. Während jedoch dessen Lautenkonzerte bis auf die Solostimmen verloren gingen, hat das Schicksal es in dieser Hinsicht mit Johann Sigismund besser gemeint. Sein Konzert in d-Moll ist viersätzig, aber kürzer als das Vivaldische. Zweimal wechselt hier ein langsamer mit einem schnellen Satz, wobei der Kopfsatz sich gegen Schluss in einen kurzen schnellen Abschnitt hineinsteigert. Feurig beschwingt in den raschen Sätzen, grüblerisch und herb in den langsamen, stellt das Werk seinem Komponisten ein treffliches Zeugnis aus.

Karl Kohaut galt Mitte des 18. Jahrhunderts als bester Lautenist Wiens und stand in der Gunst Kaiser Josephs II., der ihn in den Adelsstand erhob. Sein etwa 20-minütiges Konzert in E-Dur steht stilistisch ungefähr in der Mitte zwischen Matthias Georg Monn und dem frühen Joseph Haydn, was sich formal darin äußert, dass der Kopfsatz sich gleichermaßen als Ritornell- wie als Sonatenform beschreiben lässt. Ein freundlicher, galanter Tonfall prägt die Ecksätze, namentlich das im Menuett-Zeitmaß gehaltene Finale. Sie umschließen ein arioses Larghetto in Moll.

Krzysztof Meisinger ist ein souveräner Virtuose und zeigt dies überall, wo ihm die Komponisten entsprechende Figurationen zu spielen geben. Allerdings erschöpft sich sein Künstlertum nicht in der technischen Perfektion. Alle langsamen Sätze des vorliegenden Albums demonstrieren, wie fein er es versteht, die Gitarre singen zu lassen; ebenso, dass er ein großartiger Kammermusiker ist, der auf seine Mitspieler zu hören weiß. Auf den charakteristischen Klang seines Instruments vertrauend, hält er sich mitunter deutlich zurück, um den Streichern mehr Raum zu gönnen, wenn diese prominent hervorzutreten haben. Der Solist drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern fungiert gleichsam als Schlagader des musikalischen Geschehens. Er mag die markanteste Stimme haben, doch gönnt er auch allen anderen Stimmen ihr Recht. Ein besonders inniges Miteinander gelingt auf diese Weise in der Bachschen Air. Ein Reiz eigener Art entsteht durch die Besetzung der Continuo-Gruppe von Poland baROCK mit Theorbe und Cembalo. Gerade in den langsamen Sätzen, wenn die Musik im allgemeinen recht leise ist, kann man die drei einander ähnlichen Klangfarben von Solo-Gitarre, Cembalo und Theorbe im Zusammenspiel hören.

Um für den Schluss des Programms nach Spanien überzuleiten, erweist sich der letzte Satz von Boccherinis Gitarrenquintett G. 448 bestens geeignet, beginnt doch seine Einleitung im gleichem Rokoko-Geist, der dem vorangegangenen Konzert Kohauts das Gepräge gibt, um letztlich in einen Fandango zu münden. Meisingers Bearbeitung von Albéniz‘ Asturias lässt klanglich aufhorchen. Zwar hört man das ursprünglich für Klavier geschriebene Stück oft von einer Gitarre vorgetragen, aber wann einmal mit einem Barockorchester als Begleitung? Das Experiment gelingt prächtig! Im Gegensatz zu Boccherinis Fandango, wo Meisinger noch Erster unter Gleichen ist, übernimmt er hier sehr entschieden die Führung. Die Streicher schaffen mit langen Orgelpunkten eine weiträumige Atmosphäre, während das Cembalo mit harten Arpeggien und Stützakkorden wie eine große zweite Gitarre klingt. Dass auch die spanischen Stücke, jedes auf die ihm angemessene Art, höchst kultiviert vorgetragen werden, erübrigt sich fast zu sagen.

Der Begleittext beschränkt sich auf ein kurzes Geleitwort Krzysztof Meisingers auf Polnisch. Die Musiker lassen also weitgehend die Musik für sich sprechen. Und das tut sie in ihren Händen wahrlich ausgezeichnet.

Norbert Florian Schuck [Januar 2021]

20 Blicke in guten Händen

Aldilà Records, ARCD 015; EAN: 9 003643 980150

Was liegt näher, als sich über die Weihnachtstage mit Musik zu beschäftigen, die Demjenigen Ehre erweist, dessen Geburt den Anlass bot, das Weihnachtsfest ins Leben treten zu lassen? Pünktlich zum Fest hat Aldilà Records Olivier Messiaens Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus herausgebracht. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts, das die Pianistin Pi-Hsien Chen 2005 in der Kölner Kirche St. Cäcilien gegeben hat.

Das Jesuskind in der Krippe: ein kleiner Mensch, gerade erst auf die Welt gekommen, noch ganz hilflos und schutzbedürftig – und zugleich Gottes Sohn, der filius Dei unigenitus, von einer Substanz mit dem Vater, also Gott, der ewige und allmächtige, selbst. Nirgendwo sonst ist die Spannweite der ungetrennten zwei Naturen Jesu Christi so deutlich spürbar wie in diesem Bild. Mannigfaltige Assoziationen können dem entspringen und zu künstlerischer Gestaltung anregen. Olivier Messiaen, als dezidiert katholischer Komponist, ließ sich zu einem Zyklus von 20 Klavierstücken inspirieren, deren jedes einen Blick auf das Jesuskind unter einem bestimmten Gesichtspunkt musikalisch verdeutlicht. Begonnen wird mit dem Blick Gottvaters. Gleich zu Beginn dieses ersten Stückes erscheint das wichtigste Thema des Werkes, von Messiaen selbst als „Thema Gottes“ bezeichnet, das im Verlauf des Zyklus immer wieder auftaucht und wie ein Wegweiser hilft, sich im musikalischen Geschehen zu orientieren. Es beschließt, in einer außerordentlich langen Coda, auch den letzten Satz, in welchem Jesus aus Sicht der „Kirche der Liebe“ betrachtet wird. Außer dem „Thema Gottes“ hat Messiaen im Vorwort der Partitur noch auf das „Thema des Sterns und des Kreuzes“ (zuerst in Satz 2 zu hören) und das „Akkord-Thema“ (ein Strukturelement ohne spezielle symbolische Bedeutung) hingewiesen. Weitere Themen, das „Thema der Liebe“ etwa, kennzeichnet der Komponist ebenso in der Partitur wie die eingestreuten Vogelrufe. Für Messiaen spricht Gott aus den Stimmen der Vögel. Durchaus naheliegend erschien es somit, dass er sie u. a. als Symbole für Mariae Verkündigung im vierten und elften Satz verwendete.

Messiaens musikalische Umsetzung seiner religiösen Empfindungen ist unverwechselbar. Die Vingt Regards sind meditative Musik; auf Stilmittel zur Dramatisierung des musikalischen Geschehens verzichtet der Komponist gezielt. An Stelle eines Spannungsaufbaus anhand klarer tonaler Verhältnisse tritt ein elaboriertes Modussystem, das tonale Zentren zwar als Nebenprodukte ausbildet, aber ihr Wechselspiel gerade nicht in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Entsprechend entstehen auch keine rhythmischen Pulse. Die Rhythmik selbst ist außerordentlich vielgestaltig, zumal Messiaen in vielen Stücken keine festen Metren vorschreibt, sondern durch Verkürzung und Verlängerung einzelner Töne Takte unterschiedlicher Ausdehnung einander folgen lässt. Der Tonsatz kommt nahezu ohne kontrapunktische Techniken aus. Statt des Aufeinandereinwirkens mehrerer Stimmen, das ja selbst bei Palestrina etwas von dramatischer Aktion, von gegenseitigem Antreiben, an sich hat, bevorzugt Messiaen eine homophone Satzgestaltung, geprägt von Akkordfolgen. Sein Einfallsreichtum in der Gestaltung aparter, raffinierter, milder Dissonanzen – oft mit Zusatztönen angereicherte Dur- oder Mollklänge – verdient besondere Erwähnung. Gezielt eingesetzte Funktionsharmonik begegnet selten: Ein Beispiel sind die kindlich anmutenden Dominante-Tonika-Kadenzen in Satz 15, Le baiser de l’Enfant-Jésus, wobei die Tonika regelmäßig mit einer hinzugefügten Sexte verziert wird. Im Großen und Ganzen kultiviert Messiaen eine enorm farbenreiche, aber statische Harmonik. Seine musikalische Dramaturgie wird von prägnant formulierten, bildhaften Momenten bestimmt, die einander abwechseln. Diese Musik zu hören, verschafft das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, denn eine Gestaltung des Drängens der Zeit interessiert Messiaen schlicht nicht. Er wollte nach eigenen Worten Musik schaffen, die das Ende der Zeit zum Ausdruck bringt. So schweben die Vingt Regards gleichsam zeitlos vorüber.

Das vom WDR aufgezeichnete Konzert, in dem Pi-Hsien Chen sich am 4. Juli 2005 den enormen technischen und musikalischen Herausforderungen stellte, die eine Darbietung des kompletten Zyklus mit sich bringt (er dauert unter ihren Händen über 130 Minuten), muss gleichermaßen für die Pianistin wie für das Publikum eine Sternstunde gewesen sein. Der Mitschnitt lässt jene Atmosphäre erahnen, die entsteht, wenn vortreffliche Musiker ihre Zuhörer zu fesseln verstehen und, von ihrer Aufmerksamkeit angespornt, sich zu Höchstleitungen steigern. Der Darbietung selbst merkt man an, wie sehr sich die Pianistin in diese Musik vertieft haben muss. Nirgends wirkt Messiaens demonstrative Zeit(maß)losigkeit angestrengt oder ermüdend. Pi-Hsien Chens sorgfältiges Herausarbeiten der dynamischen Abstufungen und der klangfarblichen Gestaltung der verschiedenen Abschnitte bewirkt ebenso wie ihre Gabe, tonale Schwerpunkte in der nicht-tonal konzipierten Musik aufzuspüren, dass die Übersichtlichkeit über die musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und die Musik sich mit einer Natürlichkeit entfaltet, als könnte es nicht anders sein. Wer mit Messiaen 20 Blicke auf das Jesuskind werfen möchte, kann sich bedenkenlos Pi-Hsien Chen anvertrauen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Rumänisch, französisch, rhapsodisch, streng

Toccata Classics, TOCC 0376; EAN: 5 060113 443762

Für Toccata Classics hat Matthew Rubenstein eine repräsentative Auswahl der Klavierwerke Marcel Mihalovicis aufgenommen.

Der gebürtige Rumäne Marcel Mihalovici war rund sechs Jahrzehnte lang eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben seiner Wahlheimat Frankreich. 1898 in Bukarest geboren, hatte er 21-jährig den Ratschlag seines 17 Jahre älteren Landsmannes George Enescu befolgt und sich in Paris niedergelassen, wo er bis 1925 an der Schola Cantorum Komposition bei Vincent d’Indy, Harmonielehre bei Léon-Edgar Saint-Réquier und Paul Le Flem, Gregorianik bei Amédée Gastoué und Violine bei Nestor Lejeune studierte. In Künstlerkreisen gut vernetzt, fand er nach dem Ende seines Studiums Anschluss an den Verleger Michel Dillard, der sich auf die Verbreitung von Werken in Paris lebender ausländischer Komponisten spezialisiert hatte. Die um Dillard versammelten Komponisten, neben Mihalovici u. a. der Tscheche Bohuslav Martinů, der Schweizer Conrad Beck, der Ungar Tibor Harsányi und der Pole Alexander Tansman, sind unter dem Namen „École de Paris“ in die französische Musikgeschichte eingegangen; die Erforschung dieser „Schule“ dürfte ein ergiebiges Thema für Musikhistoriker sein. In den Zenit seiner Bekanntheit gelangte Mihalovici nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum einen wurde er im Rundfunk viel gespielt, zum andern fand er, außerhalb Frankreichs bis dahin wenig bekannt, durch seine Bekanntschaft mit Dirigenten wie Hans Rosbaud, Paul Sacher, Erich Schmid, Ferdinand Leitner und Heinz Zeebe, sowie dem Intendanten des SWR Heinrich Strobel Anschluss an das Musikleben Deutschlands und der Schweiz. Regelmäßig standen nun, in Frankreich wie in den deutschsprachigen Ländern, seine Kompositionen auf Programmen von Festen zeitgenössischer Musik. Die Bestrebungen der deutschen und französischen Nachkriegsavantgardisten blieben ihm allerdings fremd. Hochgeehrt starb Mihalovici 1985 in Paris.

Von den genannten Komponisten der „École de Paris“ hat bislang nur Martinů eine seiner Begabung angemessene diskographische Repräsentation erfahren. Auch das Schaffen Mihalovicis ist, trotz zahlreichen Rundfunkaufnahmen zu Lebzeiten, auf Tonträgern bislang nur spärlich vertreten. An vorderster Stelle muss hier der großen Pianistin Monique Haas gedacht werden, der Ehefrau des Komponisten, die mehrere seiner Werke auf LP festgehalten hat (so für Deutsche Grammophon die Ricercari op. 46 und, prachtvoll im Duo mit Max Rostal, die Violinsonate Nr. 2 op. 45, beides mittlerweile auf CD überspielt). Auch fand immer wieder einmal eines seiner Kammermusik- oder Klavierstücke in einer Anthologie Platz. Auf eine erste CD-Einspielung wartet allerdings noch sehr viel, denn Mihalovici hinterließ ein Werkverzeichnis, dessen über 100 Opuszahlen nahezu sämtliche Gattungen umfassen: Fünf Symphonien, eine große Zahl weiterer Kompositionen für große oder kleine Orchesterbesetzungen, Kantaten, Opern, Ballette, Kammermusik (darunter vier Streichquartette), sowie Werke für Klavier solo.

Für die letztgenannten hat sich nun der in Berlin lebende amerikanische Pianist Matthew Rubenstein eingesetzt und das erste Klavieralbum aufgenommen, das gänzlich Marcel Mihalovici gewidmet ist. Die CD enthält mit den Ricercari op. 46, der Sonate op. 62 und der Passacaglia für die linke Hand op. 105 die drei gewichtigsten Beiträge des Komponisten zur Klavierliteratur. Sie werden ergänzt durch eine Auswahl seiner kürzeren Stücke: Die Sonatine op. 11, Quatre Caprices op. 29 und Quatre Pastorales op. 62. Ein Blick auf die Opuszahlen verrät, dass sich die Werke dieses Programms ziemlich gleichmäßig über Mihalovicis gesamte Schaffenszeit verteilen: Zwischen der Sonatine und der Passacaglia liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Wir haben mit der CD also auch die geraffte Darstellung eines Künstlerlebens vor uns.

Insgesamt 66 seiner 87 Lebensjahre verbrachte Mihalovici in Frankreich. Seine rumänische Identität hat er dabei nie verleugnet, auch kehrte er bis zum Zweiten Weltkrieg regelmäßig in den Sommermonaten nach Rumänien zurück. Seinem künstlerischen Schaffen lässt sich anhören, dass es als Frucht eines beständigen Wanderns zwischen beiden Kulturen entstand. Die Stilmittel der französischen Impressionisten – ihre aparten, unaufgelösten Dissonanzen, ihre entfunktionalisierte, in klangfarbliche Phänomene hinüberspielende Harmonik, ihre Vorliebe für modale und pentatonische Melodien – berühren sich in vielerlei Hinsicht mit denjenigen südosteuropäischer Volksmusik. Mihalovici setzt gewissermaßen an diesen Schnittstellen an und kultiviert einen Personalstil, in dem östliche und französische Einflüsse zu einer unauflöslichen Synthese verschmelzen. In nuce verdeutlicht dies die erste Caprice aus op. 29: Die Verzierungen der Melodie scheinen rurale Balkanlandschaften zu evozieren, der Walzerrhythmus dagegen die Atmosphäre eines Pariser Salons zu beschwören – und die Harmonien, sind sie näher an Ravel und Milhaud oder näher an Bartók und Enescu? Man höre selbst! Eine knappe Minute gibt der Komponist uns Zeit.

Die übrigen Miniaturen sind etwas, aber nicht viel länger: Die Pastorales op. 19 bewegen sich alle im Rahmen zwischen anderthalb und zwei Minuten, die Caprice op. 29/3 ist mit zweieinhalb Minuten die längste. Auch die drei Sätze der Sonatine op. 11 bleiben unterhalb der Zwei-Minuten-Marke. In allen diesen Stücken herrscht auf kleinem Raum frisches, lebendiges Treiben, in raschen wie in langsamen Tempi. Mihalovici ist gleichermaßen Rhapsode wie strenger, detailversessener Motivarbeiter. Nicht selten entpuppt sich bei ihm ein Kontrastabschnitt bei näherem Hinhören als aus vorangegangenem Material abgeleitet. Das Finale der Sonatine gestaltet er als Fuge, einschließlich Engführung, Umkehrung und, zum Schluss, Augmentation.

Die kontrapunktischen Künste finden sich in den beiden Variationswerken intensiviert. Obwohl mit 22 bzw. 17½ Minuten nicht besonders lang, kann man die Ricercari wie die Passacaglia getrost zu den monumentalen Klaviervariationen des 20. Jahrhunderts zählen. Beide Werke sind äußerst dicht gearbeitet und sehr ernsten Charakters. Im Falle der Ricercari lässt sich dies durchaus auf biographische Hintergründe zurückführen, denn sie entstanden 1941, während der schwierigsten Zeit in Mihalovicis Leben, als sich der jüdischstämmige Komponist vor den deutschen Besatzern nach Cannes geflüchtet hatte. Formal ist das Werk höchst originell, im wahrsten Sinne des Wortes sucht der Komponist stets seinem Hauptgedanken neue Seiten abzugewinnen. Es beginnt mit einer Passacaglia; dieser folgen neun Variationen, faktisch frei gestaltete kontrapunktische Miniaturen über die Motive des Passacaglia-Themas; den Schluss bildet eine sich mächtig steigernde Fuge, die zum Schluss in sich zusammenfällt. Bei der 1975 komponierten Passacaglia, dem letzten Klavierwerk des damals bereits 77-jährigen Mihalovici, handelt es sich um eine Meditation über Albrecht Dürers berühmten Kupferstich Melencolia I, dessen verschiedene Bildelemente den Komponisten zu einzelnen Variationen inspirierten. Die linke Hand hat eine Vielzahl unterschiedlicher Satztechniken wiederzugeben und wird so virtuos behandelt, dass das Fehlen der rechten kaum zu merken ist. Die Dramaturgie wirkt weniger stringent als die der Ricercari, eher scheint den Variationen die Idee eines unruhigen, konzentrischen Kreisens zugrunde zu liegen. Der Schluss beruhigt das Geschehen durch Neutralisierung aller Affekte.

Anscheinend verstärkten sich in Mihalovicis späterem Schaffen die rumänischen Charakteristika. Jedenfalls bezeichnete der Komponist selbst seine 17-minütige, dreisätzige Klaviersonate von 1964 als eines seiner „rumänischsten“ Werke. Tatsächlich begegnet hier gleich zu Beginn jener eigentümlich „heterophone“ Tonsatz, wie man ihn auch aus den späten Werken Enescus kennt. Zigeunermodi kommen ausgiebig zum Einsatz, auch Glockenimitationen (zweiter Satz) und derbe Tanzrhythmen (Finale) fehlen nicht – alles freilich präsentiert in den Formen französischer clarté. Dass auch dieses Stück voller subtiler Zusammenhänge steckt, versteht sich bei einem so formbewussten Komponisten wie Mihalovici nahezu von selbst.

Matthew Rubenstein ist den Stücken Mihalovicis ein sorgfältig ans Werk gehender Sachwalter. Er meistert alle technischen Herausforderungen und gibt den Werken durch fein abgestufte Dynamik und variantenreichen Anschlag ein scharfes klangliches Profil, das die Vielschichtigkeit der Musik deutlich werden lässt. Die Produktion wird abgerundet durch ein außerordentlich umfangreiches Beiheft, bestehend aus einer kurzen persönlichen Erinnerung des Pianisten Charles Timbrell an Marcel Mihalovici und Monique Haas, und eine ebenso ausführliche wie hilfreiche Beschreibung sämtlicher eingespielter Werke durch Lukas Näf. Für die Rezeption Mihalovicis ist diese Veröffentlichung ein großer Gewinn. Möge sie weiteren den Weg weisen!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Kleines Beethoven-Vademecum (1): Über magische Anziehung – Rainer Aschemeiers Gedanken zum Streichtrio op. 3

2020 jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. Bekanntlich ist nur das Datum seiner Taufe, der 17. Dezember 1770, gesichert; geboren wurde er wahrscheinlich am Tag zuvor. Zur zeitlichen Festlegung eines Gedenkjahres bieten sich mehrere Möglichkeiten. Orientiert man sich an der bloßen Jahreszahl ohne Rücksicht auf Monat und Tag, so stellen wir fest, dass mit dem Jahrestag von Beethovens Geburt das Gedenkjahr bereits beinahe vorbei wäre, fast als hätte man es mit dem 249. Geburtstag des Meisters beginnen und mit dem 250. enden lassen. Gehen wir also – auch angesichts der beklagenswerten Zustände des Jahres 2020 und in Hoffnung auf ein besseres 2021 – den anderen Weg, und nehmen wir die runde Wiederkehr des Tages, an welchem die Existenz Ludwig van Beethovens erstmalig beurkundet wurde, zum Anlass, das Gedenkjahr beginnen zu lassen. Das heute beginnende Beethoven-Jahr 2020/21 begeht The New Listener mit der Veröffentlichung eines „Kleinen Beethoven-Vademecums“. In loser Folge werden unter dieser Rubrik Essays und Rezensionen erscheinen, die sich als persönliche Wegweiser der jeweiligen Autoren durch Beethovens Schaffen, die Aufnahmen seiner Werke oder die Literatur zu Leben und Werk verstehen.

Im ersten Beitrag hat unser Gastautor Rainer Aschemeier das Wort, um von dem Zauber zu berichten, mit dem ein bestimmtes Werk Beethovens ihn seit der ersten Begegnung in seinen Bann schlägt: das Streichtrio Es-Dur op. 3. Rainer Aschemeier begann seine berufliche Laufbahn beim Verlag Bibliographisches Institut und F.A. Brockhaus, wo er als promovierter Geograph das Weltatlasprogramm mitgestaltete. Er wechselte zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), wo er bis 2011 die Lektorate Geo-, Natur- und Musikwissenschaft leitete. Nach einer Phase der Selbstständigkeit, in der er für viele namhafte Buchverlage (u.a. Springer Science/Spektrum, Brockhaus, DUDEN, Tessloff, Dorling Kindersley usw.) arbeitete und musikjournalistisch als Autor und Rezensent u.a. für die Magazine Crescendo, Applaus und concerti sowie für das Feuilleton des „Mannheimer Morgen“ tätig war, wechselte er zum Musikvertrieb NAXOS Deutschland GmbH, wo er von Januar 2015 an für mehr als fünf Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortete. Seit März 2020 ist Rainer Aschemeier Inhaber seiner eigenen PR-Agentur klassik21. (d. Red.)

Es gibt Kunstwerke, die werden umso rätselhafter, je mehr man versucht, sie zu ergründen. Beispiele hierfür gibt es in allen Kunstgattungen, und natürlich auch in der Musik. Es handelt sich dabei um Werke, die neben einer perfekten kompositorischen Umsetzung eine ganz bestimmte, magische Ausstrahlung entwickeln, wenn sie auf gewissenhafte und empathische Interpreten treffen. Eine Ausstrahlung, die ins Innerste vorzudringen vermag und die verständlich macht, warum so viele Menschen Musik als „Schlüssel zur Seele“ wahrnehmen.

Zugegeben, solche Ausführungen sind heute unmodern. In unserer Zeit, in der wir es gewohnt sind, nur an das zu glauben, was sich greifen (und somit begreifen), belegen und vermessen lässt, erliegen wir der Illusion, dass es uns weiterbringt, wenn wir komplexe Phänomene auf ihre Datenbasis reduzieren. Wir erliegen der Illusion, dass wir dadurch dem Verständnis dieser Phänomene irgendwie näherkommen, und es scheint eine Vorgabe geworden zu sein, dass allzu menschliche Regungen wie Gefühle, Begeisterung, aber auch Zweifel und Verunsicherung nicht in diesen Kosmos der Durchdringung des Unbegreiflichen gehören.

Für mich gibt einige, es sind vielleicht eigentlich nur zwei, drei Handvoll Werke der sogenannten klassischen Musik, die mich wie magisch immer wieder anziehen, die mich förmlich zu rufen scheinen. Bei jenen Werken, wo ich glücklich genug war, sie schon in der Kindheit zum ersten Mal hören zu dürfen, geschah dies nicht selten vom ersten Augenblick an. Doch dieser „Effekt“ ist nicht vergänglich. Auch heute noch passiert es mir – trotz der Repertoireflut, in der ich mich professionell bewege –, dass ich auf musikalische Werke stoße, die gleich beim ersten Hören etwas in mir zum resonieren bringen, gegen das ich mich nicht wehren kann. Das Werk „ruft“ mich, und dies, so bin ich mir sicher, wird bis zu meinem eigenen physischen Ende nicht nachlassen.

Wenn dies eintritt, bin ich nach anfänglicher, fast naiver Begeisterung erst einmal ganz verwirrt: Was genau „ruft“ mich da? Was spricht da aus diesem Werk zu mir? Was gibt es da zu entdecken?

Natürlich führt dann der erste Schritt meist zur musikwissenschaftlichen Fachliteratur. Man möchte Umstände, Zeit und Struktur der Komposition besser kennenlernen. Doch ebenso wenig, wie es eine Gedichtinterpretation vermag, den Zauber eines Hölderlin-Gedichts zu erklären, gelingt es mir, anhand musikwissenschaftlicher Texte dem Zauber von Musik näherzukommen.

Es ist dann, als bekäme ich den Bauplan des Taj Mahal in die Hand und würde nun anhand dieses Bauplans das Gebäude genau studieren dürfen. Natürlich wäre das ein Gewinn, und so ist es auch, wenn man den architektonischen Aufbau eines Musikstücks kennenlernt eigentlich immer. Doch letztendlich wäre ich trotzdem dem „Zauber“ nicht nähergekommen.

Solch ein Stück ist für mich das – in erschütternder Bescheidenheit – „Divertimento“ getaufte Streichtrio in Es-Dur KV563 von Wolfgang Amadeus Mozart. Es gehört zu seinen reifen Kompositionen im Umfeld der letzten drei Sinfonien und darf getrost als einer der höchsten Gipfel der Kammermusik betrachtet werden. Mozart erkannte vielleicht, dass seine Zeitgenossen das Werk kaum wertschätzen, geschweige denn verstehen würden, und er verschenkte es an seinen Freund und Hauptgläubiger Puchberg. So kam das bedeutende Werk einige Jahre nicht ans Licht und wurde erst ein Jahr nach Mozarts Tod 1792 gedruckt.

Noch in jenem Jahr muss nach aktueller Forschungslage der damals 22-jährige Ludwig van Beethoven auf das Werk gestoßen sein, und es muss wohl auch ihn „gerufen“ haben. Es ließ ihm offenbar keine Ruhe. In relativ kurzer zeitlicher Abfolge komponierte Beethoven, beginnend wohl noch in Bonn, nicht weniger als fünf Streichtrios, von denen er eines (Op. 8) vielleicht in direkter Anlehnung an Mozart „Serenade“ benannte.

Von den nachfolgenden Generationen wurden diese Streichtrios höchstens noch am Rande wahrgenommen. In der Rückschau sehen wir eben zuerst die höchsten Gipfel der „musikalischen Achttausender“, die berühmten Sinfonien, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert, die späten Streichquartette die berühmten Klaviersonaten, den „Fidelio“ und all die anderen großen Werke, die Beethoven zum bedeutendsten Komponisten seiner Generation gemacht haben.

Doch im Abendlicht, wenn die Sonne schräg steht, dann glänzt da am Horizont von Beethovens Jugend ein Gipfel besonders hell zwischen all den Zinnen der späten Meisterwerke: Es ist das allererste Streichtrio, das der junge Beethoven schrieb. Es steht – ebenso wie Mozarts Meisterwerk – in Es-Dur und trägt die Opuszahl 3.

Es ist eines jener Werke, die mich sofort gepackt haben, als ich es das erste Mal hörte. Ich erinnere mich, dass ich das Stück auf CD kennenlernte. Als Student mit notorisch klammem Geldbeutel griff ich zu einer Aufnahme, die ich damals als „Gelegenheit“ wahrnahm: Sämtliche Beethoven-Streichtrios zum Minipreis beim Label „Brilliant Classics“ in der Einspielung des „The Zurich String Trio“, bestehend aus Boris Livschitz, Zvi Livschitz und Mikael Hakhnazarian. Es sollte sich als einer der besten Käufe in meiner Laufbahn als Sammler erweisen. Ich habe danach noch viele Aufnahmen dieses Stücks gehört, auch mit den vermeintlich „ganz großen“ Namen der Szene, doch bis heute vermag es nur die Aufnahme des „Zurich String Trio“ mich so in den Bann zu ziehen wie damals, als ich das Stück zum ersten Mal hörte.

Ich würde mir nie herausnehmen wollen, den größten Komponisten seiner Epoche psychologisieren zu können, doch mein Eindruck war stets: Wir erleben hier angesichts des übergroß erscheinenden Vorbilds Mozarts einen sozusagen verunsicherten, vortastenden Beethoven, der doch – vielleicht sogar nicht einmal besonders bewusst – gleich mit seinem ersten „Wurf“ in der Gattung alles richtig gemacht hat. Insbesondere die ersten beiden Sätze des Stücks sind unbedingt auf Augenhöhe mit Mozart und vermögen es, Mozarts unvergleichlichem Meisterwerk nicht nur etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen, sondern in mancher Hinsicht noch einen „draufzusetzen“. Für die beiden Menuette in Beethovens Op. 3 haben die Musikwissenschaftler meist nur Floskeln übrig wie „konventionell“, „klassisch“, usw. Und natürlich: von der Architektur her sind beide – abgesehen vielleicht von dem seltsam „stotternden“ Duktus des dritten Satzes – nicht sonderlich außergewöhnlich. Sie sind aber wichtig für das gesamte Werk, stehen genau da, wo sie sollen und machen das Meisterwerk zum „Gesamtkunstwerk“. Zudem verbindet Beethoven hier Welten, die zu seiner Zeit unvereinbar schienen: Das erste Menuett folgt eindeutig einem höfischen Vorbild, während das zweite Menuett eher ein derber Ländler ist, und mit einem Mittelteil daherkommt, der durch seine Bordunbässe so klingt, als würde ein Dorf-Fiedler in Begleitung einer Drehleier aufspielen. Dies ist übrigens nicht die einzige Stelle in Beethovens Op. 3, an der das gewisse „Dudelsack-Feeling“ aufkommt. Schon im ersten Satz gibt es atemberaubend schöne Stellen mit Bordunbegleitung.

Zwischen diesen beiden Tanzsätzen wirkt das sehnsuchtsvolle Adagio wie eine romantische Szene am Rande festlichen Trubels. Es ist dies der Satz, der fast zu schön wirkt. Die Kantabilität seines beinahe aristokratisch anmutenden Hauptthemas verleitet viele Interpreten, auch das Zurich String Trio, zum Einsatz von reichlich emotionalisierendem Vibrato. Doch die romantische Innigkeit, die bei unbedachter Darbietung leicht ins biedermeierliche abrutschen könnte, beinhaltet auch eine schmerzvolle Seite. Und mehr als einmal fällt die vorbildlich „wienerklassische“ Musik aus dem Rahmen und dann ist es – in bester Mozart-Manier – wie ein völlig unvermittelter Stich ins Herz, der in nur einem kurzen Augenblick das ganze Leid der Welt zu transportieren scheint.

Im Finale greift Beethoven die tänzerische Stimmung des zweiten Menuetts auf und führt jeden Interpreten dieser Musik anhand eines zunächst vermeintlich harmlosen Hauptthemas durch etliche Virtuositäten und spieltechnische Hürden – ein „Kehraus“-Finale, wie es im Buche steht! Man kann sich selbst auf CD den Publikumsapplaus vorstellen, der dieser Tour de Force folgen müsste.

Und so bin ich zuletzt doch selbst der Versuchung unterlegen, Musik zu beschreiben, die ich selbst nicht im Ansatz verstehe, die ich wohl auch nie letztendlich verstehen werde. Es ist ein weiterer, zum Scheitern verurteilter Versuch der Annäherung an Musik, die mich einfach nicht loslässt und die mir immer wieder neu und interessant vorkommt, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich in ihr selbst gespiegelt fühlt, auch wenn das natürlich anmaßend ist – doch wehren kann ich mich dagegen trotzdem nicht.

Im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag hätte ich mir gewünscht, dass gerade die weniger bekannten Facetten dieses unzweifelhaft genialen Komponisten einmal etwas stärker in den Fokus gerückt würden. Nach meinem Eindruck hatte das in zurückliegenden „Jubiläumsjahren“ für manche Komponisten sehr gut funktioniert, am besten vielleicht zuletzt bei Mozart, Schumann und Mahler. Die Mehrzahl der bisherigen Beiträge zum „Beethoven-Jahr“ waren bis auf wenige Ausnahmen aber geprägt von recht offensichtlichen Ansätzen und vielen Redundanzen.

Es gab nur wenige Interpreten (wie z.B. Boris Giltburg, Hanna Shibayeva oder Sophie-Mayuko Vetter), die sich wirklich getraut haben, sich mit ihrer ganzen, eigenen Persönlichkeit in den Dienst des Beethoven-Jahrs zu stellen und vor allem auch mitzuteilen, welcher kreative, vor allem aber auch emotionale Prozess mit einer solchen konzentrierten Beschäftigung mit einem Komponisten im Jahr seines 250. Geburtstags einhergeht.

Es liegt deshalb an jedem selbst, Beethoven immer wieder neu zu entdecken und sich nicht darauf zu verlassen, was zu einem Jubiläumsjahr präsentiert wird. Musik ist frei. Es muss nicht gegessen werden, was auf den Tisch kommt! Die Diskografie ist im Falle Beethovens so reich wie bei kaum einem anderen Komponisten. Man kann sich sehr gut sein eigenes Süppchen daraus kochen.

[Rainer Aschemeier, Dezember 2020]

Ein besonderes Geschenk

Auch in Weimar sind öffentliche Konzerte durch coronabekränzte Generalpausen ersetzt worden, und bleibt es bis auf Weiteres abzuwarten, wann die Dirigenten das nächste Zeichen zum Einsetzen geben werden. In dieser Ausnahmesituation erreichte die Redaktion eine Mitteilung darüber, wie die Bewohner eines Pflegeheims dennoch in den Genuss hervorragenden Klavierspiels gekommen sind. Der folgende Beitrag basiert auf Aufzeichnungen von Dr. Karl-Heinz Fröhlich, Universitätsdozent für Pädagogik i. R., wohnhaft im Marie-Seebach-Stift zu Weimar.

Prof. Christian Wilm Müller, der an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Kammermusik und Klavier unterrichtet, pflegt seit langer Zeit eine enge Beziehung zur Marie-Seebach-Stiftung, einem Pflegeheim, das ursprünglich für Bühnenkünstler im Ruhestand gegründet worden war und heute kulturinteressierten älteren Menschen jeglicher Herkunft als Wohnstätte dient. Das Forum Seebach, der Veranstaltungssaal des Stifts, ist in Weimar als Adresse für Kammerkonzerte, Lieder- und Klavierabende wohlbekannt – eine fest ins Musikleben der Stadt integrierte Institution. Für Studenten der Musikhochschule ist es ein idealer Ort, ihr Können unter Beweis zu stellen, bevor sie den Schritt in die großen Konzertstätten wagen. So sind auch Angehörige der Klassen Christian Wilm Müllers immer wieder dort zu hören gewesen.

Ein Bild aus besseren Tagen: Christian Wilm Müller bei einem Konzert im Forum Seebach (Photo: Bernd Lindig).

Es war kein Konzert, zu dem der Professor am 9. Dezember selbst ins Seebach-Stift kam, denn ein Publikum von außerhalb war nicht vorgesehen; so hatte es auch keine öffentlichen Ankündigungen gegeben. Nur die Bewohner des Stifts wussten seit zwei Tagen von dem außerordentlichen Musikangebot des Pianisten. Die Einhaltung der Hygienevorschriften erforderte, dass die Bewohner, entsprechend den beiden Stiftshäusern, in zwei Gruppen nacheinander den Veranstaltungssaal betraten und dort in großen Abständen voneinander Platz nahmen. Prof. Müller spielte für sie zweimal ein 30-minütiges Programm mit Kompositionen dreier Klassiker der Klavierliteratur – jeweils mit wenigen einleitenden Worten des Pianisten: die Sonate e-Moll op. 90 von Ludwig van Beethoven, Capriccio g-Moll (Nr. 3) und Intermezzo E-Dur (Nr. 4) aus den Fantasien op. 116 von Johannes Brahms, sowie Franz Liszts Petrarca-Sonett Nr. 104 aus den Années de Pèlerinage.

Prof. Müllers Klavierspiel zeichnet sich durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vorwärtsdrang und Tempofreiheit aus. So gelang es ihm ausgezeichnet, im ersten Satz der Beethoven-Sonate die widerstreitenden Affekte darzustellen, ohne dass das Stück an Schwung verlor. Ebenso sicher führte er seine Zuhörer durch die Seelenkämpfe der Lisztschen Petrarca-Vertonung. Den Höhepunkt stellten die beiden Stücke von Brahms dar, für dessen Musik Prof. Müller offenbar eine besondere Begabung besitzt. Im Capriccio betonte er die einzelnen Abschnitte durch unterschiedlichen Anschlag. Der Mittelteil klang wie ein vielstimmiger Chor, die Eckteile muteten wie zielsichere, kraftvolle Improvisationen an. Die dissonanten Akkorde des Intermezzos baute Prof. Müller mit viel Freude an den entstehenden Spannungen auf und schuf somit ein ergreifendes Stimmungsbild der Wehmut und Entsagung – ein Blick zurück auf bessere Zeiten?

Angesichts der Ausfälle, mit denen das Musikleben des Stiftes seit Frühjahr 2020 zurechtkommen musste, war dieser Abend ein besonderes Geschenk. Die Bewohner nahmen es mit großem Dank entgegen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Lebensvolles Portrait eines lettisch-kanadischen Meisters

Ondine, ODE 1350-2; EAN: 0 761195 135020

Unter der Leitung von Guntis Kuzma und Andris Poga stellt das Lettische Nationale Symphonieorchester drei Orchesterwerke von Tālivaldis Ķeniņš vor und verdeutlicht dessen Begabung als Symphoniker wie als Komponist konzertanter Musik. Als Solisten sind zu hören: Agnese Egliņa (Klavier), Tommaso Pratola (Flöte), Mārtiņš Circenis (Klarinette) und Edgars Saksons (Schlagzeug)

Als der 1919 in Liepāja geborene Tālivaldis Ķeniņš 2008 in Toronto starb, wo er seit 1951 gelebt hatte, verlor das Musikleben Kanadas einen seiner namhaftesten Komponisten. Er hatte mehr als drei Jahrzehnte an der University of Toronto gelehrt, war als Preisrichter bei Wettbewerben gefragt; zahlreiche seiner Kompositionen entstanden als Auftragswerke und wurden an prominenter Stelle uraufgeführt; der Rundfunk sendete regelmäßig seine Musik und produzierte mehrere Portraits über ihn. Nicht zuletzt verdeutlicht die Tatsache, dass bereits zu seinen Lebzeiten in einem Vorort von Ottawa eine Straße nach ihm benannt wurde, welches Ansehen Tālivaldis Ķeniņš in Kanada genoss. Die geistige Verbindung zu seiner Heimat Lettland, die er 1944 vor dem Einmarsch der Roten Armee fluchtartig verlassen hatte und erst 1989 wiedersah, hielt er dabei über all die Jahre aufrecht. Zahlreiche Letten waren infolge des Zweiten Weltkriegs nach Nordamerika ausgewandert. Innerhalb des eigenständigen Kulturlebens, das sie sich dort aufbauten, nahm Ķeniņš einen herausragenden Platz ein, wie sich auch anhand der Uraufführungen der drei Werke zeigte, die auf der vorliegenden CD des Lettischen Nationalen Symphonieorchesters zu hören sind: Die Symphonie Nr. 1 erklang zum ersten Mal 1960 während des Indianapolis Latvian Song Festival; das Concerto da Camera Nr. 1 wurde 1981, das Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug 1990 im Rahmen des Latvian Song Festival in Toronto aus der Taufe gehoben.

Ķeniņš war in erster Linie Instrumentalkomponist und hinterließ zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke, wobei es zu den charakteristischen Merkmalen seines Schaffens gehört, dass sich die beiden Werkgruppen zuweilen sehr stark einander annähern, und sich in manchen Fällen ein Stück nicht eindeutig einer von beiden zuordnen lässt. So gibt es von seiner Hand Kammermusik für große, gemischte Ensembles ebenso wie Kompositionen für Kammerorchester in unterschiedlichen Besetzungen. Angesichts des schier unerschöpflichen Ideenreichtums hinsichtlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Klangfarben, der dieses Schaffen prägt, verwundert es nicht, dass Ķeniņš seiner Ausbildung in Frankreich große Bedeutung beimaß. Die Einflüsse des Musiklebens von Paris, wo er nach Kriegsende bei Tony Aubin, Simone Plé-Caussade und Olivier Messiaen studiert hatte, schlagen sich allerdings auf sehr subtile Art in seinen Werken nieder und sind kaum offen zu hören. Ķeniņš selbst beschrieb diesen Umstand 1949 in einem Interview dergestalt, dass durch die Interaktion mit französischen Methoden das nationale Element in der Kunst ausländischer Komponisten auf neue Grundlagen gestellt, zu neuem Recht gelangen und eine neue Affirmation seiner Existenz gewinnen würde.

Auf französische Einflüsse lässt sich gewiss die knappe Form und wohlproportionierte Strukturierung seiner Werke zurückführen – alle drei hier eingespielten Stücke sind nur rund 20 Minuten lang. Im Gegensatz zu Meistern des raffinierten Mischklangs wie Messiaen bevorzugt Ķeniņš als Instrumentator jedoch reine Farben, was vor allem damit zusammenhängt, dass sein Denken wesentlich von Polyphonie und vom konzertanten Prinzip bestimmt ist. Die Instrumentation dient ihm zur Verdeutlichung des Zusammenwirkens seiner von vielfältigen modalen Wendungen geprägten Einzelstimmen, das regelmäßig zu herben Dissonanzen führt; Kontraste im Tonsatz hebt er gern hervor, indem er das Material auf gegeneinander abgesetzte, klanglich homogene Instrumentengruppen verteilt.

Das Concerto da Camera Nr. 1 verdeutlicht beispielhaft die Neigung des Komponisten, Orchester- und Kammermusik fließend ineinander übergehen zu lassen. Den Klangkörper unterteilt er in drei Sektionen: ein Klavier, zwei Holzbläser (Flöte und Klarinette) und ein Streichorchester (an dessen Statt auch ein solistisch besetztes Streichquintett verwendet werden darf). Diesem kleinen Ensemble gewinnt Ķeniņš mannigfaltige Kombinationsmöglichkeiten ab, wozu er gelegentlich auch solistische Streicher aus dem Orchester herauslöst. Schon zu Beginn des Werkes wird klar, dass sich die musikalische Handlung oft auf mehreren Ebenen gleichzeitig abspielen wird: Über einer Pizzicato-Basslinie der tiefen Streicher beginnen die beiden Holzbläser mit in sich kreisenden melodischen Figuren, die sich bald imitatorisch verdichten, während das Klavier aus der Tiefe aufsteigende Arpeggien spielt. Alle beteiligten Musiker müssen hier gut aufeinander hören können, immer bereit sein, die Führung zu übernehmen, wie auch begleitend in den Hintergrund zu treten oder zusammen mit anderen in gleicher Stärke zu musizieren. Diese Aufgaben werden von Tommaso Pratola an der Flöte und Mārtiņš Circenis an der Klarinette trefflich gelöst. Agnese Egliņa, die als Pianistin das am deutlichsten aus dem Gesamtklangbild hervorstechende Instrument spielt, gebührt besonderes Lob für die kontrollierte Gestaltung ihrer Partie; sie weiß genau, dass das Werk kein „Klavierkonzert“ ist. Im Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug kann Agnese Egliņa dann wirklich Solistin sein. Ihr zur Seite steht Edgars Saksons, der virtuos eine große Anzahl an Schlaginstrumenten, von der Ratsche bis zur Glocke, zum Einsatz bringt, welche sich, nach den treffenden Worten der Kritikerin Tamara Bernstein, wie ein Schatten an die Spur des Klaviers heften und als dessen Alter Ego fungieren. Wie das Kammerkonzert, so ist auch dieses Werk dreisätzig, mit einem zwischen lebhaften und ruhigeren Abschnitten wechselnden Satz zu Beginn, einem langsamen Mittelsatz (im Concerto da camera ein Fugato, im Klavier-Schlagzeug-Konzert eine Passacaglia) und einem rabiaten, irrwitzig agilen Finale. Dirigent Guntis Kuzma behält in beiden Konzerten einen klaren Überblick über das abwechslungsreiche Geschehen und versteht es, sowohl die kontrapunktische Kunst des Komponisten erlebbar zu machen, als auch die Instrumente in ihren unterschiedlichen Funktionen ausgewogen aufeinander abzustimmen.

Zur der Aufnahme der Symphonie Nr. 1 (Ķeniņš schrieb insgesamt acht) tritt Andris Poga an die Spitze des Orchesters, das nun in größerer Besetzung spielt als im Falle der Konzerte. Während Ķeniņš in diesen Stücken vor allem mit kurzen Motiven arbeitet, die er kaleidoskopisch verändert, breiten sich in der Symphonie längere Melodien aus. Der Kopfsatz verläuft in mäßiger Bewegung als Sonaten- und Variationselemente verknüpfende, monothematische Bogenform; der langsame Satz wird ganz beherrscht von einer elegischen Melodie, die im Fagott anhebt und anschließend von verschiedenen anderen Instrumenten fortgesponnen wird. Im Finale kontrastieren ein robuster Haupt- und ein kantabler Nebengedanke scharf zueinander. Die Durchführung, die als Fuge gestaltet ist, zeigt einmal mehr die kontrapunktischen Fähigkeiten Ķeniņšs. Andris Poga ist dieser Musik ein fähiger Sachwalter. Sein Sinn für die Ausgestaltung melodischer Entwicklungen lässt ihn an jedem Punkt des Verlaufs die Orientierung behalten, sodass die Spannung auch über Tempowechsel hinweg ohne Einbußen erhalten bleibt. Die verschiedenen Orchestergruppen bringt er in ausgewogene Verhältnisse zueinander. Die Struktur des Tonsatzes und das Zusammenwirken der Instrumente lassen sich durchweg gut nachvollziehen.

Die Produktion wird abgerundet durch einen (nur auf Englisch abgedruckten) Einführungstext von Orests Silabriedis, der ein lebensvolles Portrait des Künstlers und Menschen Tālivaldis Ķeniņš zeichnet. Weitere Ķeniņš gewidmete CDs auf diesem Niveau sind durchaus erwünscht.

Norbert Florian Schuck [Dezember 2020]