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Spannende Kurzgeschichten meisterhaft erzählt

Aldilà Records, ARC 022; EAN: 9 003643 980228

Auf seinem bei Aldilà Records erschienen Russischen Album präsentiert der Pianist Andrea Vivanet Stücke russischer Meister aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es beginnt mit Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 von Sergej Tanejew und schließt mit den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Schostakowitsch. Verbunden werden sie durch drei Zyklen von Nikolai Tscherepnin, die hier erstmals eingespielt worden sind: Six Préludes op. 17, Cinq Morceaux op. 18 und die auf Volksliedern basierenden Primitifs.

Zu den Markenzeichen von Aldilà Records gehört die wohlüberlegte Zusammenstellung der einzuspielenden Kompositionen. Die Programme gleichen Vortragsfolgen von Konzerten. Sie bringen Werke verschiedener Komponisten zusammen, die nicht selten unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen entstammen, wobei stets darauf geachtet wird, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden, sich zwischen den einzelnen Stücken ein Netz von Beziehungen entspinnt. Wiederholt fanden sich dabei vielgespielte Werke mit solchen kombiniert, die bislang noch gar nicht auf CD vertreten waren und nun zeigen konnten, dass sie neben den bekannteren sehr wohl zu bestehen vermögen. Ebendieses Konzept prägt auch das Russische Album des Pianisten Andrea Vivanet.

Das Album lässt drei russische Komponisten aus drei aufeinander folgenden Generationen zusammentreffen, wobei der Reiz darin besteht, dass die Werke zeitlich näher beieinander liegen, als es die Lebensdaten ihrer Autoren vermuten lassen: Sergej Iwanowitsch Tanejew (1856–1915) ist zwar der an Jahren älteste Komponist, doch sein Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 entstand erst 1910, mehrere Jahre nach den Six Préludes op. 17 (1900) und den Cinq Morceaux op. 18 (1901) seines jüngeren Zeitgenossen Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin (1873–1945). Dessen 1926 komponierter Zyklus Primitifs. 12 Adaptions d’anciennes mélodies russes geht den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906–1975), der mehr als drei Jahrzehnte nach Tscherepnin geboren wurde, um lediglich sieben Jahre voraus. Wir haben also ein Bündel von 49 Stücken vor uns (48, zählt man Tanejews Präludium und Fuge als ein einzelnes), die innerhalb von nur 33 Jahren entstanden und bei denen es sich teils um Frühwerke, teils um verhältnismäßig späte Werke der jeweiligen Komponisten handelt.

Dass das Programm des imaginären Konzerts sehr abwechslungsreich geraten ist, erscheint bei dieser Konstellation kaum verwunderlich. Zugleich wird deutlich, welch unterschiedliche Arten musikalischer Ausdrucksweisen innerhalb eines recht kurzen Zeitraums nebeneinander existierten. Vivanet bietet sozusagen eine kurzgefasste Überblicksdarstellung zur russischen Klavierminiaturistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Sergej Tanejew war der große Poeta doctus der russischen Musik, ein tief empfindender Künstler, dessen leidenschaftliche Liebe zum kontrapunktischen Gestalten nahezu seinem gesamten Schaffen das Gepräge gibt. Die Fuge war ihm, im Gegensatz zu manchem Zeitgenossen (innerhalb wie außerhalb Russlands) kein Demonstrationsobjekt akademischer Gelehrsamkeit, sondern ein tondichterisches Ausdrucksmittel, das er regelmäßig dazu nutzte, im Schlusssatz eines Werkes die Musik zu maximaler Spannung zu steigern. Obwohl in jungen Jahren als einer der besten Pianisten Russlands gerühmt (Pjotr Tschaikowskij betraute ihn mit Ur- und Erstaufführungen seiner Klavierkonzerte), hat Tanejew relativ wenig für Soloklavier geschrieben. Das einzige dieser Werke, dem er eine Opuszahl zugestand, ist zugleich das späteste: Präludium und Fuge gis-Moll op. 29.

Während Tanejew bis zuletzt der traditionellen Dur-Moll-Funktionsharmonik treu blieb, auf deren Grundlage er seine kontrapunktischen Monumentalbauten errichtete, wandten sich viele jüngere Kollegen den noch wenig erkundeten Feldern der Harmonik zu, auf die sie von Wagner und Debussy, aber auch von Mussorgskij und Rimskij-Korsakow, hingewiesen wurden – und von Chopin, der, obwohl großer Bach-Verehrer, als Begründer jener sich vom Wohltemperierten Clavier deutlich abhebenden Tradition der, wenn wir sie so nennen wollen, „Préludes sans fugues“ zum mehr oder weniger direkten Vorbild zahlreicher russischer Klavierkomponisten um 1900 wurde. Wie Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninoff, seine direkten Altersgenossen, hat sich auch der 1873 geborene Rimskij-Korsakow-Schüler Nikolai Tscherepnin ausgiebig diesem romantischen Typus der Klavierminiatur zugewandt. Die beiden Sammlungen op. 17 und op. 18 enthalten Charakterstücke verschiedenster Art in sehr gewählter Tonsprache, deren erlesene Harmonien und ungewöhnliche Fortschreitungen in entsprechend abwechslungsreicher pianistischer Faktur präsentiert werden. Zwar verbindet die Stücke eine einheitliche Grundstimmung – es dominieren mäßige Tempi und ein elegischer Tonfall – doch wiederholt sich Tscherepnin nicht und gibt jedem von ihnen ein persönliches Profil. Da steht beispielsweise die leidenschaftlich hin- und hergerissene Improvisation (op. 18/3) neben der konsequent durchgeführten Synkopenstudie (op. 18/4) und dem feierlich entrückten, sehr geschickt Glockenschall imitierenden Religioso (op. 18/4). Von diesen Beispielen russischer Fin-de-Siècle-Kultur heben sich die zweieinhalb Jahrzehnte später komponierten zwölf Stücke mit dem etwas provokanten Titel Primitifs deutlich ab. Der Komponist hat ihnen keine Opuszahl gegeben, vielleicht weil ihnen keine Melodien eigener Erfindung zugrunde liegen, sondern Volkslieder, die er einer 1810 erschienenen Sammlung entnahm. Was Tscherepnin mit diesem vorgefundenen Material macht, geht jedoch deutlich über das hinaus, was man in der Regel unter Volksliedbearbeitungen versteht. Dem Titel alle Ehre machend, arbeitet der Komponist mit „primitiven“ Gestaltungsmitteln: Es begegnen Ostinati, einfache Sätze mit Hauptstimme und Begleitung, Stimmen in schlichter Parallelführung, Heterophonie. Dabei nimmt Tscherepnin aber kaum Rücksicht auf die tonsetzerische Schulweisheit des 19. Jahrhunderts: Er steuert gezielt harte Zusammenklänge an, führt die Stimmen konsequent in dissonanten Parallelen, hebt Melodie und Begleitung rhythmisch deutlich voneinander ab und baut gelegentlich Effekte ein, die an Schlaginstrumente erinnern. Das ganze Opus ist ein Tribut an die russische Volksmusik mit ihren charakteristischen unregelmäßigen Metren, ihren stampfenden Tanzrhythmen und Glockentönen. Der Komponist, der vor der bolschewistischen Revolution nach Georgien ausgewichen war und seit 1921 im Pariser Exil lebte, ruft sich hier die Klänge seiner Heimat in ungeglätteter, rauer Naturschönheit ins Gedächtnis.

Die Stilistik der Tscherepninschen Primitifs wirkt gar nicht mehr spätromantisch und weist deutliche Parallelen zur neutonalen Ausdrucksweise der jüngeren Generation auf, womit auf ganz natürliche Weise der Bogen zu Dmitrij Schostakowitschs Préludes op. 34 geschlagen wird, diesem zurecht viel gespielten Miniatur-Wunderkabinett eines jungen Genies, das hier, noch nicht von den politischen Repressionen späterer Jahre überschattet und auf dem Höhepunkt seiner Pianistenlaufbahn stehend, seiner Phantasie unbekümmert die Zügel schießen lässt und mit wenigen Tönen treffsicher charakterisiert, auch karikiert, dramatisch zuspitzt und immer wieder den Hörerwartungen Haken schlägt.

Ein höchst anspruchsvolles Programm hat Andrea Vivanet sich bei diesem Projekt also vorgenommen – anspruchsvoll nicht nur deswegen, weil nicht wenige der hier eingespielten Stücke virtuose Fingerfertigkeit verlangen, sondern vor allem, weil so unterschiedlichen Stilen beizukommen, so viele verschiedene musikalische Charaktere adäquat darzustellen sind. Ebendies ist Vivanets Stärke. Bereits mit seinen früheren Veröffentlichungen war der Italiener, der lange in Paris lebte und zur Zeit in Georgien weilt, als ein Musiker aufgefallen, der sich mit den Werken, die er vorträgt, innig vertraut gemacht, sich in sie eingelebt hat. Hört man ihm zu, so spürt man sein Spiel jene Ruhe ausstrahlen, in welcher die Kraft liegt: eine Gelassenheit, wie sie nur einer zu vermitteln im Stande ist, der in der Musik tatsächlich jeden Winkel kennt. So wirkten unter seinen Händen die vielschichtigen Mischklänge Karol Szymanowskis überraschend luzide (Naxos), und Pjotr Tschaikowskijs Klaviersonate op. 37 klang in seiner Einspielung nicht wie das Nebenwerk eines Meisters, sondern wie das Meisterstück, das sie ist (Sheva).

Vivanet erfasst hörbar die unterschiedlichen Abschnitte eines musikalischen Verlaufs als aufeinander bezogen. Er besitzt ein untrügliches Gespür für den Auf- und Abbau harmonischer Spannung. In keinem Moment hat man bei ihm das Gefühl, der Pianist wisse nicht genau, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung er sich gerade befindet. So gerät ihm auch nichts beiläufig. Keine der auf dem Russischen Album aufgenommenen Miniaturen huscht einfach so vorüber. Jede erfasst Vivanet in ihrer Eigenart und arbeitet ihre Handlung mit sicherer Hand heraus.

Seine Meisterschaft des Anschlags besteht darin, für jede Situation den richtigen zu finden. Man höre etwa, wie er der Nr. 1 der Primitifs weder das marcato, noch das cantabile schuldig bleibt, rasch zwischen beiden zu wechseln versteht, dabei aber durch feinfühlige Dosierung der Kraft einen Moment des Übergangs markiert, sodass man nicht meint, ein Nacheinander bloßer Effekte, sondern die Änderung eines Zustands wahrzunehmen! Gerade bei Schostakowitsch feiert diese Kunst Triumphe. Wie reizvoll hält Vivanet im Prélude Nr. 6 in der Schwebe, ob das Stück Tanz oder Marsch, oder vielleicht doch beides zugleich ist! Wie geschickt versteht er es darzustellen, wie Nr. 9 sich unruhig hierhin und dorthin wendet, ohne sich recht entscheiden zu können; oder wie der gehetzte Walzer von Nr. 15 in gelöste, tänzerische Bewegung umschlägt und schließlich zu einem zarten Ausklang findet; oder wie Nr. 24, das groteske Spazierstückchen, es plötzlich seltsam eilig hat und sich ebenso plötzlich beruhigt, bevor es seinen alten Trott wieder aufnimmt! Ja, wie wunderbar erzählt Vivanet all diese spannenden Kurzgeschichten!

Die Begleitung einer Melodie ist für Vivanet nie etwas Unwesentliches, sondern stets eine zweite Ebene der Musik, die mit ebensolcher Sorgfalt bedacht wird wie die Hauptstimme. Welches Eigenleben die Begleitung erhalten kann, merkt man besonders, wenn sie rhythmisch der Melodie entgegengesetzt ist, wie im ersten der Tscherepninschen Morceaux op. 18. Aber auch bei einfacheren Strukturen differenziert der Pianist deutlich. In Schostakowitschs Prélude Nr. 13 meint man die Bässe von Tuben vorgetragen zu hören, während die rechte Hand Flöte spielt. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass dialogisch angelegte Stücke wie das Sopran-Bass-Duett in Schostakowitschs Nr. 7 bei Vivanet ebenfalls in besten Händen sind. Desgleichen die Glockenstücke (Schostakowitsch Nr. 23, Tscherepnin op. 18/5), in denen das Klavier vielschichtig und vielfarbig schallen darf.

Mit einem solchen Glockengeläut markiert auch Tanejew den Höhepunkt seiner Fuge, wenn er das Thema des Präludiums aufgreift, um es ein letztes Mal prunkvoll in Szene zu setzen. Bis zu diesem Punkt ist viel passiert. Die Fuge ist eine Doppelfuge, in der das erste Thema sogleich in der Exposition vom zweiten beantwortet wird. Der kontrapunktische Wirbelwind, den Tanejew aus ihnen entfacht, kennt bis zum Schluss kein Rasten (Schalk, der er ist, lässt der Komponist das Stück nach der Klimax abrupt und leise verwehen, wie einen Windhauch) – und auch in diesem Sturm behält Vivanet souverän die Übersicht.

Muß ich noch sagen, dass ich allen Freunden kultivierten Klavierspiels Andrea Vivanets Russisches Album wärmstens empfehlen kann? Seine Darbietung der bekannten Werke Tanejews und Schostakowitschs ist schlicht mustergültig. Die Stücke Nikolai Tscherepnins werden hier erstmals überhaupt auf CD präsentiert. Das Album markiert damit auch, so steht zu hoffen, einen Wendepunkt in der Rezeption eines lange unterschätzten großen Klavierminiaturisten.

(NB: Den Umschlag zieren Abbildungen georgischer Artefakte aus dem 16. und 19. Jahrhundert, die im Beiheft durch einen kleinen „Ausstellungskatalog“ erläutert werden. Sie sind eine Hommage an den Aufnahmeort, das Georgische Staatskonservatorium in Tiflis, an welchem Nikolai Tscherepnin von 1918 bis 1921 als Direktor wirkte.)

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Bewährtes in erfreulicher Darbietung

Wer sich am 17. November 2021 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan, dem größten Ort Liechtensteins, einfand, oder die Aufführung als Direktübertragung im Netz verfolgen konnte, hatte die Gelegenheit, das Sinfonieorchester Liechtenstein unter der Leitung Wayne Marshalls, des ehemaligen Chefdirigenten des WDR Funkhausorchesters Köln, mit Kompositionen Edvard Griegs und Pjotr Tschaikowskijs zu hören. Zur Aufführung kamen Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46 und sein Klavierkonzert a-Moll op. 16 sowie Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74, die Pathétique. Solistin des Abends war die 17-jährige Eva Gevorgyan.

Die Werke erfuhren eine Wiedergabe, der man eine sorgfältige Vorbereitung anhörte. Offenbar sind die Musiker nicht der Auffassung gewesen, dass solch allseits bekannte und seit je populäre Stücke sich gleichsam „von selbst“ spielen und routiniert bewältigt werden können. Wayne Marshall hat hier nichts dem Zufall überlassen. Der Dirigent erwies sich als fähiger Klangmodellierer, der die einzelnen Orchestergruppen gut aufeinander abzustimmen versteht. So blieb die Interaktion der Stimmen ebenso durchweg nachvollziehbar wie die Vielschichtigkeit der orchestralen Farbgebung deutlich wurde. Gerade die pittoreske Instrumentation der Peer-Gynt-Suite kam trefflich zur Geltung. Bei der Wahl der Tempi legte Marshall Wert auf beständigen Vorwärtsdrang. Ein Schwelgen in „schönen Stellen“, ein Aufbauschen von Ritardandi oder ein extremes Rubatospiel sind seine Sache nicht. So ließ er etwa im Finale des Griegschen Klavierkonzerts den lyrischen Kontrastabschnitt verhältnismäßig zügig spielen (was dem Zusammenhalt des Satzes gut tat), und auch die langsameren Peer-Gynt-Stücke klangen auffallend stringent. In der Halle des Bergkönigs ließ er die Trolle dagegen zunächst betont schwerfällig einher trotten und steigerte damit die Wirkung des abschließenden Accelerandos. Die Wiedergabe der Pathétique überzeugte ebenfalls durch klug gewählte Tempi. Nirgends klang es übereilt, nirgends ging der Spannungsbogen verloren. Die scharfen Kontraste im Kopfsatz wurden deutlich herausgestellt, ohne dass das Stück in Episoden zerfiel. Den Finalsatz hörte man als strengen, schicksalhaften Abschluss.

Eva Gevorgyans Klavierspiel harmonierte trefflich mit Marshalls Dirigat. Die junge Pianistin besitzt ein Gespür für Melodie und verfügt über einen abwechslungsreichen Anschlag. Dass sie im Orchester einen Partner sieht, mit dem das Soloinstrument zusammenwirkt, zeigte sich daran, dass sie, auch wenn das Orchester nur dezent begleitete und sie brillieren durfte, die Orchesterinstrumente deutlich durchdringen ließ. Der Walzer von Chopin, den sie als Zugabe spielte, gefiel durch geschmackvolles Rubatospiel.

Auch wenn sich das Konzert nicht durch ein besonders originelles Programm ausgezeichnet hat, so bot es doch Aufführungen, die geeignet waren, die Freude an den wohlbekannten Werken wach zu halten. Das Publikum dankte mit warmherzigem Beifall.

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Der späte Triumph des Verfolgten

51 Jahre nach dem Tode des Komponisten erlebte Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten im Rahmen des Festkonzerts der ACHAVA Festspiele Thüringen am 23. September 2021 durch den MDR-Rundfunkchor und das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Dennis Russell Davies seine Uraufführung. Thematisch passend ging dem Werk Leonard Bernsteins Symphonie Nr. 1 Jeremiah voraus (Mezzosopran: Solenn‘ Lavanant-Linke). Eröffnet wurde das Konzert mit einer weiteren Uraufführung: Silvius von Kessels Heller-Suite für Orgel, gespielt vom Komponisten selbst.

Die Aufführung eines großen chorsymphonischen Werkes ist mittlerweile offensichtlich zu einem traditionellen Bestandteil der seit 2015 jährlich in Thüringen veranstalteten ACHAVA Festspiele geworden. Das diesjährige Festkonzert, das am 23. September im Dom St. Marien zu Erfurt stattfand, kann getrost als eines der bedeutendsten Ereignisse in der noch jungen Geschichte des jüdischen Kulturfestivals bezeichnet werden, denn es verhalf erstmals überhaupt einer Komposition zu klingender Existenz, die mehr als fünf Jahrzehnte auf ihre Uraufführung hatte warten müssen: dem Requiem für den unbekannten Verfolgten von Hans Heller. Bestrebungen, das Schaffen Hellers in Thüringen bekannt zu machen, lassen sich seit einiger Zeit erkennen. Bereits 2011 war eine Ouvertüre des Komponisten in Hellers Geburtsstadt Greiz zu Gehör gebracht worden und hatte Eindrücke vom Stil des 1969 gestorbenen Schreker-Schülers vermittelt. Diese wurden durch mehrere Klavier- und Liederabende in den vergangenen Jahren vertieft, so durch die Konzerte 2020 und 2021 in der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, die gleichfalls mehrere Uraufführungen boten.

Die Premiere des Requiems markiert zweifelsohne einen vorläufigen Höhepunkt in der Geschichte der Entdeckung dieses Komponisten. – Es ist eine Entdeckung, denn von einer Wiederentdeckung lässt sich in Hellers Fall kaum sprechen: Nur ein kleiner Teil seiner Kompositionen wurde zu seinen Lebzeiten öffentlich gespielt, und zahlreiche Werke warten immer noch darauf, ein erstes Mal zu erklingen. Die Frage, warum sein Schaffen keine weitere Verbreitung fand, wird freilich erst durch intensivere Forschungen zum Lebenslauf des Künstlers in der gebotenen Ausführlichkeit beantwortet werden können, doch geben die bislang an die Öffentlichkeit getretenen Werke des Komponisten und die aus seiner Biographie bekannten Fakten bereits einigen Aufschluss. Natürlich ist hier zunächst die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu nennen, die Heller nach 1933 eine Weiterführung seiner Laufbahn in Deutschland unmöglich machte. In der Emigration vermochte er nie endgültig Fuß zu fassen und blieb künstlerisch isoliert, was im Wesentlichen auch für die Zeit nach seiner Rückkehr nach Deutschland gilt. Schließlich lässt sich auch sein Kompositionsstil selbst als Grund anführen: Zeugten bereits die Klavierwerke und Lieder von einer sehr persönlichen Stimme, so bietet das Requiem für den unbekannten Verfolgten vollends das Bild eines Komponisten, der sich nur schwer in eine der künstlerischen Strömungen seiner Zeit einordnen lässt.

Wer war Hans Heller?

Hans Hellers Biographie ist auf mehreren Ebenen von Bruchlinien durchzogen. Am 15. Oktober 1898 im ostthüringischen Greiz geboren, wuchs er in einer assimilierten jüdischen Familie auf. Seine musikalische Begabung zeigte sich früh, sodass er durch Auftritte als Geiger oder Pianist bereits als Jugendlicher zu lokaler Bekanntheit gelangte. Die erste große Zäsur seines Lebens setzte der Erste Weltkrieg: Gerade 18 Jahre alt geworden, wurde er 1916 zur Armee eingezogen. Im letzten Kriegsjahr wurde er von einem Granatsplitter am Ellenbogen verletzt, wodurch er den getroffenen Arm nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Obwohl ihm die erhoffte Laufbahn als Pianist unmöglich geworden war, vertiefte er seine Kenntnisse des Klavierspiels ab 1920 am Leipziger Konservatorium unter Anleitung Robert Teichmüllers und Carl Adolf Martienssens. Daneben studierte er Musiktheorie bei Stephan Krehl. 1924 zog er nach Berlin und wurde im folgenden Jahr Kompositionsschüler Franz Schrekers, was er bis 1929 blieb. Mit Schreker und dessen Frau Maria pflegte Heller bald auch privat freundschaftliche Kontakte. In Berlin wurde er mit Arnold Schönberg, Alban Berg, Paul Hindemith und Ernst Krenek bekannt. 1927 heiratete er die aus Hannover stammende Pianistin Ingrid Eichwede, die er noch aus seiner Zeit in Leipzig kannte. Das einzige Kind des Paares, der Sohn Peter, der sich später der Malerei widmete, kam 1929 zur Welt.

Während Heller sich Anfang der 30er Jahre in Berlin als Komponist zu etablieren begann, erlebte er, wie der Nationalsozialismus zu immer stärkerem Einfluss gelangte. Über den Charakter der braunen Bewegung machte er sich keine Illusionen und bereitete frühzeitig die Emigration seiner Familie vor. 1933 zogen die Hellers nach Paris. Obwohl Heller bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weiter komponierte, fand er keinen Anschluss ans französische Musikleben. So gelangte auch seine in Paris komponierte Zweite Symphonie dort nicht zur Aufführung (und wartet auf eine solche bis heute).

1939 begann für den Komponisten die furchtbarste Zeit seines Lebens. Beinahe fünf Jahre lang wechselten Gefangenschaft, Flucht und Verstecken einander ab. Zunächst wurde er nach Kriegsbeginn – wie zahlreiche Juden, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren – als Deutscher auf Befehl der französischen Regierung verhaftet und in ein Arbeitslager in der Nähe von Nîmes deportiert. Die Niederlage Frankreichs hatte seine Auslieferung an die Gestapo zur Folge. Nur durch einen Irrtum seiner Wächter entging er der Deportation nach Osten, kurz darauf gelang ihm die Flucht. Wieder mit seiner Familie vereint, wurde er von französischen Widerstandskämpfern in einem Bergdorf in den Cevennen versteckt. Nach der Besetzung Südfrankreichs durch die Wehrmacht fiel Heller im Januar 1944 den Deutschen erneut in die Hände und wurde zur Schwerstarbeit beim Bau militärischen Anlagen gepresst. Als er im März in ein Vernichtungslager deportiert werden sollte, schaffte er es ein weiteres Mal, im letzten Moment zu fliehen. Den Rest der Besatzungszeit, bis August 1944, verbrachten die Hellers in äußerster Zurückgezogenheit in einem Versteck bei Nîmes.

1946 wanderte die Familie in die Vereinigten Staaten aus. Heller nahm seine Komponistentätigkeit wieder auf und schuf ein pazifistisches Oratorium in englischer Sprache nach alttestamentarischen Texten, Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation für Bariton, gemischten Chor und Orchester, das aber in Amerika ebenso wenig zur Aufführung gelangte wie andere seiner Werke. Da die Hellers ab 1953 die meiste Zeit wieder in Deutschland verbrachten, wurde ihnen die 1952 verliehene US-Staatsbürgerschaft 1959 aberkannt. In Berlin kam es 1955 zur Uraufführung von Nation Shall Not Lift Up Sword Against Nation durch den Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale und das RIAS-Symphonieorchester – die erste und einzige Aufführung eines seiner großen Werke zu Lebzeiten Hans Hellers. Der Komponist starb am 9. Dezember 1969 in Berlin.

Das entdeckte Requiem

Die Vorgeschichte der nächsten Aufführung eines chorsymphonischen Werkes begann 2018, als Jascha Nemtsov, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Weimarer Musikhochschule, gemeinsam mit Hellers Neffen, dem Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede, das Musikarchiv der Berliner Akademie der Künste besuchte, um den Nachlass des Komponisten in Augenschein zu nehmen, welcher auf Vermittlung Eichwedes dem Archiv übergeben worden war. Nachdem sich Nemtsov, mit dem Partiturmanuskript in der Hand, der RIAS-Aufnahme der Oratorienaufführung von 1955 gewidmet hatte, war er nach eigenen Worten davon überzeugt, „soeben große Musik gehört und gelesen“ zu haben. Eine weitere Komposition Hellers zog gleichfalls seine Aufmerksamkeit auf sich: das Requiem für den unbekannten Verfolgten. Nemtsov nennt das für gemischten Chor und großes Orchester geschriebene Werk das „musikalische Vermächtnis“ des Komponisten. Rasch stand für ihn fest, das niemals gespielte Stück den ACHAVA Festspielen zur Uraufführung vorzuschlagen. 2021 konnte das Vorhaben schließlich umgesetzt werden.

Hellers Requiem entstand im Wesentlichen 1964/65, doch überarbeitete der Komponist die Partitur bis in seine letzte Lebenszeit hinein. Nach Auskunft Werner Grünzweigs, Leiter des Musikarchivs der Akademie der Künste, wirkt die Handschrift sehr benutzt und erweckt optisch keineswegs den Eindruck eines Manuskripts, das jahrzehntelang von keinem Dirigenten in die Hand genommen worden war. Das Werk hat Heller buchstäblich nicht losgelassen. Es ist keine unvollendete Komposition in dem Sinne, das etwas an ihr fehle oder nicht fertig ausgearbeitet sei – einen Schlussstrich konnte der Komponist aber letztlich nicht unter seine Arbeit ziehen. „Der Holocaust wurde für ihn zu einer Obsession“, hatte Hellers 2002 gestorbener Sohn Peter über seinen Vater geschrieben – eine Obsession, die sich offensichtlich im unablässigen Feilen an der Requiem-Partitur niedergeschlagen hat.

Der Komposition liegt ein lateinischer Text zugrunde, der jedoch nur zum Teil der traditionellen katholischen Totenmesse folgt. Es fehlen das Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Anstelle des Dies irae findet sich ein „In die illa“ überschriebener Satz, dem eine Zusammenstellung apokalyptischer Passagen aus Altem und Neuem Testament zugrunde liegt. Vom Hergebrachten weicht Heller auch dadurch ab, dass er das Kyrie an vorletzter Stelle einordnet. Rein textlich betrachtet gehört das Stück damit in die Nähe von Werken wie dem Deutschen Requiem von Brahms oder dem War Requiem Benjamin Brittens.

In wie fern kann es als religiöses Werk gelten? Bereits die im Titel inbegriffene Widmung an den „unbekannten Verfolgten“ zeigt, dass Heller die liturgischen und biblischen Texte benutzt, um zu einer Aussage zu gelangen, die weder im Rahmen christlicher Liturgie, noch überhaupt im Rahmen des Christentums zu verbleiben gedenkt. Die jüdischen Wurzeln des Christentums werden durch die Verwendung alttestamentarischer Texte angedeutet, ohne dass sich deswegen von einem spezifisch jüdischen Requiem sprechen ließe. Definitiv ist es kein Werk, das aus dem Zustand eines Ruhens in einer Religion heraus geschrieben ist. Wolfgang Eichwede, der längere Zeit mit Hans und Ingrid Heller im selben Haus gewohnt hat, erinnert sich seines Onkels als eines ernsten, intellektuellen Mannes, der sich mit der Geschichte der Religionen beschäftigte, sich namentlich für die Jesusforschung interessierte und sich intensiv mit Jesaja auseinandersetzte. Zu seinem Judentum sei Heller allerdings, nach eigener Aussage, „durch den Holocaust gekommen“, so Eichwede. Vielleicht ist das der Schlüssel zum religiösen Gehalt des Werkes. Wir haben die Komposition eines Menschen vor uns, den ein furchtbares Schicksal zur Beschäftigung mit religiösen Fragen bringt.

Das Konzert

Das Konzert, in welchem Hans Hellers Requiem zum ersten Male der Öffentlichkeit präsentiert wurde, war ganz auf das Stück als dem Hauptwerk des Abends ausgerichtet. Zu Beginn erklang eine eigens zu diesem Anlass komponierte Heller-Suite für Orgel des Erfurter Domorganisten Silvius von Kessel, die der Komponist selbst vortrug. Das Stück besteht aus fünf kurzen Sätzen, die auf die Lebensstationen Hellers Bezug nehmen. Das thematische Material entnahm Kessel zwei Klavierwerken Hellers: dem Divertimento und der Little Suite. Beide Themen enthalten alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter. Kessel verarbeitet sie teils in Originalgestalt, teils sehr frei. Es begegnet eine Vielzahl musikalischer Idiome, besonders fällt eine Anlehnung an französische Orgelmusik – teils mehr zu Vierne, teils mehr zu Messiaen tendierend – auf.

Danach ergriff das MDR-Sinfonieorchester das Wort, um unter der Leitung Dennis Russell Davies‘ die Erste Symphonie von Leonard Bernstein Jeremiah zu spielen (im letzten Satz kam die kräftige Mezzosopranstimme Solenn‘ Lavanant-Linkes dazu). Hierbei zeigte sich, dass sich der Erfurter Dom – ungeachtet seiner Symbolwirkung, gerade im Falle eines Konzerts wie diesem – zu Orchesterkonzerten wegen seines sehr langen Nachhalls nicht sonderlich eignet. Bernsteins Symphonie, 1942 mitten im Zweiten Weltkrieg entstanden, thematisiert in ihren drei Sätzen die Verwüstung des jüdischen Tempels in Jerusalem und mündet in einen Klagegesang Jeremiae. Dennoch strahlt sie mit ihren milden Dissonanzen und der lichten Instrumentierung über weite Strecken eine geradezu mediterran anmutende Ausgewogenheit aus – ein Eindruck, der sich rückwirkend angesichts der Klänge des Hellerschen Requiems noch verstärkte.

Das Requiem für den unbekannten Verfolgten machte den Verfasser vorliegenden Artikels zum ersten Mal mit Hans Heller als Orchester- und Chorkomponisten bekannt. Stilistisch begegnen Merkmale wieder, die man anhand seiner Lieder und Klavierwerke kennen lernen konnte: Melodisch dominiert die Chromatik bis hin zu Themen, die alle zwölf Töne umfassen (ein Zwölftonkomponist im Sinne Schönbergs war Heller nicht!), die Harmonik weicht konventionellen Akkordbildungen und dem Funktionsdenken des 19. Jahrhunderts zugunsten einer freien, dissonanten Tonalität aus. Hellers Instrumentation hat nichts Glänzendes an sich. Die Herbheit der Harmonik wird durch kein instrumentales Kolorit gemildert, eher noch verschärft. Besonders fällt die wichtige Rolle auf, die der Komponist dem groß besetzten Schlagzeug zumisst. Es bildet hier eine vom restlichen Orchester beinahe unabhängig agierende zweite Ebene, aus welcher regelmäßig militärisch anmutende Rhythmen auftauchen. Schon allein deshalb bleibt die Bitte „Requiem aeternam dona eis domine“, mit welcher der Chor nach einer längeren Instrumental-Einleitung einsetzt, ein frommer Wunsch: Das Werk findet nicht zur Ruhe, auch wenn die Sehnsucht danach beständig durch die chromatischen Melodien und dissonanten Akkordtürme hindurch spürbar ist. Dass Heller an den Chor höchste Ansprüche stellt, braucht angesichts des Kontextes wohl kaum gesondert erwähnt zu werden. Die akustischen Probleme der Spielstätte, die bereits in der Bernstein-Symphonie spürbar waren, wurden bei der Aufführung des Requiems noch stärker deutlich, was zumindest im Verfasser dieser Zeilen den Wunsch nährte, dieser kompromisslosen, düsteren Ausdrucks- und Bekenntnismusik unter besseren äußeren Bedingungen wieder zu begegnen.

Dass Hans Heller nach seiner Entdeckung nicht wieder in Vergessenheit gerät, sollen eine erste Buch- und CD-Veröffentlichung im kommenden Jahr sicherstellen. Man kann nur wünschen, dass dadurch das Interesse an diesem Komponisten wachgehalten wird. Angesichts seines Requiems darf davon ausgegangen werden, dass weitere beeindruckende Stücke von ausgeprägter Eigenart im Archiv der Akademie der Künste Berlin darauf warten, zum ersten Mal vor einem Publikum zum Klingen gebracht zu werden.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2021]

Neu- und wiederentdeckte Musik verfolgter Komponisten in Weimar

Weimar, Festsaal Fürstenhaus, 10. September 2021, 20 Uhr: Mit Liedern und Klavierwerken von Günter Raphael (1903–1960), Hans Heller (1898–1969) und Bernhard Sekles (1872–1934) eröffneten Jascha Nemtsov, Klavier, und Tehila Nini Goldstein, Sopran, die Ausstellung „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II“.

Die 2019 in Weimar durchgeführte Ausstellung Verfolgte Musiker im Nationalsozialistischen Thüringen, der sich eine von den Projektleiterinnen Helen Geyer und Maria Stolarzewicz herausgegebene Buchveröffentlichung anschloss (Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, Köln: Böhlau-Verlag 2020), war damals auf großes Interesse gestoßen. Die im Rahmen der Vorbereitungen zu Tage geförderten Dokumente regten zu weiteren Nachforschungen über die Schicksale zahlreicher von den Nationalsozialisten entrechteter Musikerpersönlichkeiten an, sodass bald eine Fortsetzung der Ausstellung ebenso erwünscht wie nötig erschien. Am 10. September 2021 wurde das Ergebnis dieses zweiten Teils der Spurensuche, das bis zum 31. Oktober im Stadtmuseum Weimar zu sehen sein wird, im Festsaal der Hochschule für Musik Franz Liszt feierlich eröffnet. Nach Grußworten von Vertretern der Hochschule, der lokalen Politik, unterstützender Stiftungen, sowie der die Ausstellung betreuenden Kuratorin Maria Stolarzewicz, hielt Peter Gülke (geboren 1934 in Weimar) einen Vortrag über Nicht kündbares Gedenken – Buchenwald, aus welchem vor allem die Schilderungen seiner persönlichen Erlebnisse als Kind während des Krieges einen Einblick in die Schrecken der damaligen Zeit boten.

Den Hauptpunkt des Programms bildete ein Konzert mit Liedern und Klavierwerken von Komponisten, die während der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Der Pianist Jascha Nemtsov und die Sopranistin Tehila Nini Goldstein knüpften damit an ein Konzert an, das sie im November 2020 am gleichen Ort gegeben hatten (siehe Besprechung). Erneut wurden Werke dreier deutscher Komponisten jüdischer Abstammung vorgestellt, die nach dem Willen rassistischer Ideologen für immer hätten verstummen sollen: Günter Raphael, Bernhard Sekles und Hans Heller, der bereits im Konzert von 2020 vertreten war. Jascha Nemtsov, der an der Weimarer Musikhochschule eine Professur für die Geschichte der jüdischen Musik inne hat, muss einmal mehr für seinen Entdeckerspürsinn und seinen unermüdlichen Einsatz für in die Vergessenheit abgedrängte Musik gelobt werden. Wie zahlreiche seiner früheren Konzerte bot auch dieses Ur- und Erstaufführungen. Mit kurzen, auf den Punkt gebrachten Einführungen zwischen den Programmnummern umriss der Pianist zudem den Lebenslauf eines jeden der Komponisten.

Günter Raphael hat als einziger der im Konzert zu Gehör gebrachten Komponisten bislang eine ausgiebige diskographische Würdigung erfahren. Mittlerweile liegt ein großer Teil seiner Orchester- und Kammermusikwerke auf CD vor – verwiesen sei hier namentlich auf die mittlerweile auf sieben CDs angewachsene Günter-Raphael-Edition von Querstand und die beiden Boxen mit Symphonien und Violinmusik von cpo –, doch kann man keineswegs behaupten, alle Schätze aus seinem umfangreichen Schaffen seien gehoben (so fehlt nach wie vor eine Einspielung der Ersten Symphonie). Der 1903 geborene Raphael, in den 1920er Jahren einer der erfolgreichsten jüngeren Tonsetzer Deutschlands, war nie jüdischen Glaubens gewesen, galt aber als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kirchenmusikers der NS-Rassenlehre zufolge als „Halbjude“ und wurde 1934 aus seinem Lehramt am Leipziger Konservatorium entlassen. Ab 1939 war ihm jede musikalische Betätigung untersagt, sodass er nur durch die Hilfe von Freunden überleben konnte. Den Großteil der NS-Zeit verbrachte er in Meiningen. Die Drei geistlichen Lieder op. 3, ein beeindruckend souveränes Frühwerk, zeigen Raphaels künstlerischen Ursprung in der protestantischen Kirchenmusik. Mit ihren choralartigen Harmonien, dem durchweg kontrapunktischen, ostinate Satztechniken bevorzugenden Klaviersatz und einer rhythmisch einfachen, in gleichmäßigen Notenwerten ruhig dahinströmenden Melodik wirken sie betont altmeisterlich, wie ein Bekenntnis zu Bachschem Geist.

Im Gegensatz zu Raphael, der sich immerhin in der Nachkriegszeit als Komponist und Lehrer wieder etablieren konnte, gelang es dem 1898 in Greiz geborenen Hans Heller weder in Amerika, noch in Deutschland nach 1945 erneut Fuß zu fassen. Heller gehörte zum Berliner Schülerkreis Franz Schrekers und floh nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftet wurde. Aus einem Arbeitslager geflohen, hielt er sich mit Hilfe französischer Widerstandskämpfer bis zum Kriegsende versteckt. Er starb 1969. Wie die Klaviersonate, die Jascha Nemtsov 2020 in Weimar spielte, zeigen auch die diesmal vorgestellten Werke, dass Heller ein unbedingt beachtenswerter Komponist ist, dessen Schaffen verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. In seiner Musik verbinden sich „neusachliche“ Kontrapunktik und expressive Harmonien zu eindringlichen Äußerungen einer starken Persönlichkeit. Ein Lied in deutscher und eines in französischer Sprache, die beide durch Goldstein und Nemtsov zum ersten Mal überhaupt vorgetragen wurden, boten Bilder von ausgesprochener Düsternis. Sehr spannungsvoll wirkten auch die sechs kurzen Sätze einer Little Suite für Klavier.

Bernhard Sekles fällt insofern etwas aus dem Rahmen der Veranstaltung, als dass er weder aus Thüringen stammte, wie Heller, noch dort zeitweilig lebte, wie Raphael. Seinen Lebensmittelpunkt bildete Frankfurt am Main, wo er 1872 geboren wurde und 1934 starb. Nichsdestoweniger kann man die Aufnahme seiner Werke in das Konzert nur begrüßen. Sekles ist kein unbekannter Name. Man weiß, dass er viele Jahre das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt leitete und kennt ihn als Lehrer hervorragender Musiker wie Rudi Stephan, Hans Rosbaud und Paul Hindemith. Jazzfreunde werden ihm stets dafür danken, dass er 1925 Mátyas Seiber mit der Einrichtung der ersten Jazzklasse an einem deutschen Konservatorium betraute und damit der akademischen Würdigung des Jazz den Weg wies. Wer Sekles dagegen als Komponisten kennen lernen möchte, dem steht derzeit nur eine einzige CD mit Klavierkammermusik zur Verfügung, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Seine Orchesterwerke, Streichquartette, Opern, Lieder und Klavierstücke warten dagegen noch auf ihre Ersteinspielungen. Womöglich gibt es auch noch Stücke, die bislang gar nicht gespielt worden sind. Einen solchen Fall stellten bis vor kurzem jedenfalls die Fantasietten für Klavier dar, deren Manuskript Jascha Nemtsov im Archiv des Frankfurter Konservatoriums fand. Er stellte sie als erster Pianist der Öffentlichkeit vor, die Weimarer Aufführung war die zweite überhaupt. Es handelt sich um eines der letzten Werke des Komponisten und konnte aufgrund widriger Umstände nicht mehr zeitnah zu seiner Entstehung veröffentlicht werden: 1933 wurde Sekles von der neuen Machthabern aus seinen Lehr- und Verwaltungsämtern gedrängt. Er erkrankte an Tuberkulose und starb eineinhalb Jahre später. Die insgesamt 24 Fantasietten zeigen den Komponisten als einen Meister musikalischer Miniaturkunst. Viele der Stücke dauern keine Minute, doch wirken sie durchweg in sich geschlossen: aphoristisch, nicht fragmentarisch. Innerhalb weniger Takte entfaltet Sekles erlesene harmonische und kontrapunktische Kunst. Vom Abwechslungsreichtum des Zyklus mögen die Titel einiger Stücke einen Eindruck geben: Für die rechte Hand, Für die linke Hand, Rhapsodie, Thema und Variationen, Slawischer Tanz, Triumphmarsch, Trauermarsch, Ländler, Polonaise (im geraden Takt!), Menuetto, Duo. Das Finale bildet eine Fuge über den Ton C, deren Thema tatsächlich nur aus vier gleich langen Cs besteht. Minimalistischer geht es wahrlich nicht! Wie Sekles es schafft, diesem Thema eine interessante kontrapunktische Bearbeitung angedeihen zu lassen und daraus einen bei aller Kürze reichhaltigen musikalischen Verlauf zu entwickeln, verdient Bewunderung. Hoffen wir, dass eine Veröffentlichung dieses hochinteressanten Zyklus bald erfolgen wird! Auch vom Liederkomponisten Sekles gaben Goldstein und Nemtsov einen sehr vorteilhaften Eindruck. Die exotisch angehauchten Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King boten zarte, feinsinnige Impressionen der Asien-Sehnsucht des Fin de Siècle.

[Norbert Florian Schuck, September 2021]

NB: Am 23. September 2021 wird im Erfurter Dom Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten seine Uraufführung erleben.

Langer Atem und Polyphonie im Kornspeicher

Der Kornspeicher der Dorfmühle in Lehrberg

Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.

Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.

Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.

Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.

Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.

Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.

Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Mit makelloser Technik im Dienst am Ganzen

SWR Classic, SWR19097CD; EAN: 7 47313 90978

SWR Classic hat in den letzten Jahren eine stattliche Reihe von CDs veröffentlicht, auf denen die Zusammenarbeit Friedrich Guldas mit dem Südwestrundfunk während der 50er-, 60er- und 70er-Jahre dokumentiert ist. Daran knüpft die vorliegende Doppel-CD an, auf welcher Gulda mit Frédéric Chopins Préludes op. 28 und zwei Variationswerken Ludwig van Beethovens, den chaconneartigen Variationen c-Moll WoO 80 und den Diabelli-Variationen op. 120, zu hören ist. Die Aufnahmen entstanden 1953 und 1968.

Dass Friedrich Guldas Ruf sich in späteren Jahren vor allem auf seine Bach-, Mozart- und Beethoven-Aufführungen, sowie sein Wirken als Jazzmusiker gründete, sollte nicht den Ruhm vergessen machen, den er zu Beginn seiner Pianistenlaufbahn als Chopin-Spieler genoss. Chopins Balladen, Sonaten und Préludes bildeten zunächst gar einen der Grundpfeiler seines Repertoires. Die 24 Préludes op. 28 spielte er 1947 als 17-Jähriger zum ersten Mal öffentlich und setzte sie in den folgenden Jahren regelmäßig auf seine Programme. Für den SWR nahm er den Zyklus am 11. April 1953, kurz vor seinem 23. Geburtstag, auf. Die lange Lagerungszeit der Bänder mag die klangliche Qualität der Einspielung etwas beeinträchtigt haben, aber die überwältigende Frische, die einem aus den Tönen hier entgegenschlägt, lässt diesen kleinen Makel als vollkommen vernachlässigenswert erscheinen.

Für Gulda war Chopin ein „männlicher, ritterlicher“ Komponist. Er empfand keinerlei Bedürfnis, die Werke des Meisters mit jener Patina aus willkürlichen Temposchwankungen und verschwommener Rhythmik zu überziehen, mit welcher weniger einsichtsvolle Pianisten dem romantischen Geist dieser Musik Rechnung zu tragen streben. Stattdessen zeigte er, dass die Größe Chopins – des Romantikers, der das Vokabular der Virtuosen- und Salonmusik seiner Zeit vollkommen transzendiert und dadurch fähig gemacht hat, Träger wahrer Leidenschaft und tragischer Handlungen zu sein – namentlich dann zur Geltung kommt, wenn man die Konturen dieser Musik durch Disziplin im Rhythmischen und stringente Tempi schärft. Gulda versucht nicht, Chopin einen „Ausdruck“ aufzuzwingen. Ihre Ausdruckskraft erhalten die Préludes dadurch, dass er Chopins Meisterschaft im Formen, seine Fähigkeit, durch kleinste Veränderungen den Verlauf der Musik voranzubringen, verdeutlicht – eben jene Eigenschaft, die Chopin mit Johann Sebastian Bach gemeinsam hat. Durch subtile Rubati, unaufdringliche Beschleunigungen und Verlangsamungen, die stets im Einklang mit den harmonischen Ereignissen geschehen, macht Gulda die Entfaltung der Chopinschen Melodiebögen immer wieder zu einem Erlebnis. Ebenso kommt unter seinen Händen die Vielschichtigkeit des Tonsatzes zur Geltung. Sehr deutlich pflegt er Melodien hervorzuheben, die sich in raschen Figurationen verstecken. Die makellose Technik, mit der der Pianist dies alles leistet, wird dabei im Grunde zur Nebensache: Sie geht vollkommen im Dienst am Werk auf.

Die gleichen Vorzüge lassen sich für die 15 Jahre später, am 6. November 1968 aufgezeichneten Variationszyklen Beethoven anführen. Die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll WoO 80 – eigentlich müsste man sagen: Beethovens Chaconne – spielt Gulda mit einem Brio, das vom ersten bis zum letzten Takt fesselt. Mit nicht einmal achteinhalb Minuten ist seine Einspielung eine der schnellsten, die es von diesem Stück gibt. Bei aller Ausrichtung auf Vorwärtsdrang wirkt sie dennoch nicht übereilt, da Gulda es trotz sehr hohem Tempo schafft, die dynamischen und artikulatorischen Kontraste, die Beethoven nicht nur zwischen den einzelnen Variationen, sondern auch häufig innerhalb derselben auskomponiert hat, herauszuarbeiten.

Auch in Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 gehört Gulda zu den schnellen Pianisten. Das ganze Werk, mit allen vorgeschriebenen Wiederholungen, bringt er in 46 Minuten zu Ende. Gulda fasst den Zyklus, wie die ganz anders gearteten c-Moll-Variationen, offensichtlich als ein zusammenhängendes Ganzes auf, nicht als Suite von knapp drei Dutzend Charakterstücken. Seine rhythmische Präzision, sein wacher Sinn für melodische Entwicklungen und seine Sicherheit in der Darstellung des kontrapunktischen Zusammenwirkens der einzelnen Stimmen erweisen sich hier als nicht minder vorteilhaft als im Falle der anderen Werke. Auch die dynamischen Kontraste kommen trefflich zur Geltung. Die ausgedehnte Largo-Variation (Nr. XXXI) spielt Gulda so zart, dass man beinahe meinen könnte, er hätte ein Clavichord unter den Fingern. Die anschließende Fuge klingt sehr straff, das Hauptthema wird bei jedem Erscheinen markant herausgehoben. Graziös, aber mit allem Gewicht, das dem Finale eines solch umfangreichen und vielgestaltigem Werkes zukommt, trägt Gulda die abschließende Menuett-Variation vor.

Für die Veröffentlichung dieser Aufnahmen, die Friedrich Gulda als vorzüglichen Vermittler der Werke Chopins und Beethovens zeigen, kann man SWR Classic nur dankbar sein.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Der Symphoniker Jan Hanuš (1915–2004)

Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů haben der tschechischen Musik zu Weltgeltung verholfen und sind aus dem Repertoire des abendländischen Musiklebens nicht mehr wegzudenken. Dennoch ist der reiche Schatz an Meisterwerken, die tschechische Komponisten hinterlassen haben, mit diesen großen Namen noch lange nicht erschöpft. Der nachfolgende Beitrag widmet sich einem der herausragenden Tonsetzer der jüngeren tschechischen Musikgeschichte: Jan Hanuš. 1915 gegen Ende der Habsburgermonarchie geboren und 2004 im modernen Tschechien gestorben, schuf er Opern, Ballette, geistliche Werken, Kammermusik und Orchesterkompositionen, darunter sieben Symphonien.

Jan Hanuš wurde am 2. Mai 1915 in eine hochmusikalische Prager Familie hineingeboren: Die Mutter war Klavierschülerin Zdeněk Fibichs gewesen, der Großvater mütterlicherseits, František Urbánek, prägte als bedeutendster tschechischer Musikverleger seiner Zeit das Musikleben Prags entscheidend mit. Durch ihn kam Jan Hanuš bereits als Kind mit dem Verlagswesen in Kontakt, eine Verbundenheit, die auch sein weiteres Leben bestimmen sollte. Das Familienunternehmen rettete er über die Zeit der deutschen Besatzung und den Zweiten Weltkrieg hinweg, bevor es 1949 von der kommunistischen Regierung verstaatlicht wurde. Seine dort erworbenen editorischen Fähigkeiten halfen Hanuš jedoch, sich auch unter den neuen politischen Verhältnissen über Wasser zu halten. Er wirkte an der Reihe Musica Antiqua Bohemica mit und war Gründungsmitglied der kritischen Gesamtausgaben der Werke Dvořaks, Fibichs und Janáčeks, außerdem Mitbegründer des Panton-Musikverlags (heute zu Schott gehörig), dem er von 1963 bis 1975 als Direktor vorstand.

Seine kompositorische Ausbildung erhielt Hanuš in den frühen 30er Jahren von Otakar Jeremiáš, dem Dirigenten des Prager Rundfunkorchesters. Frühzeitig entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse an der Musik seiner Zeitgenossen und trat 1939 dem Vorstand der Gegenwart bei, der führenden Gesellschaft zur Pflege neuer tschechischer Musik. Damit begann sein lebenslanges Engagement als Musikvereinsmann. 1955 berief ihn der neugegründete Tschechische Komponistenverein zu seinem Sekretär, was er vier Jahre lang blieb. Daneben setzte sich Hanuš als Mitglied der Foerster-, Fibich- und Ostrčil-Gesellschaften auch für das Andenken dieser früheren Meister ein.

Jan Hanuš Leben beginnt mitten im Ersten Weltkrieg. Seine Jugend fällt in die Zeit der von Tomaš G. Masaryk geprägten Tschechoslowakischen Republik. Der Zweite Weltkrieg begann, als er 24 war. Zu Beginn der kommunistischen Herrschaft war er 33, an ihrem Ende 74 Jahre alt. Der Großteil seines Schaffens entstand also unter politischen Bedingungen, die Hanuš, der sich zur katholischen Religion und zum Humanismus bekannte, wenig günstig geneigt waren. Sein beruflicher Erfolg war vor allem in den frühen Jahren des Kommunismus offenbar das Ergebnis geschickter Ballanceakte und persönlicher Beziehungen. So vollendete er eine nachgelassene Oper seines jung gestorbenen Kollegen Vít Nejedlý und sicherte sich dadurch das Wohlwollen von dessen Vater, des Kultusministers Zdeněk Nejedlý. Er verstand es, den Herrschern zu geben, was sie wollten, und gleichzeitig sein Gesicht zu wahren. Die biographische Musikgeschichtsschreibung hat Jan Hanuš noch nicht für sich entdeckt. Sie dürfte hier auf einen Lebenslauf stoßen, der Parallelen zu demjenigen Schostakowitschs aufweist. Auch bei Hanuš lassen sich anscheinend versteckte Botschaften finden. So tragen seine Symphonien laut dem Werkverzeichnis in der MGG Überschriften, nach denen man in den zeitgenössischen Druckausgaben vergeblich sucht. Dass etwa der Komponist seine 1957 vollendete Dritte Symphonie „Die Wahrheit der Welt“ nannte, wurde in der Partitur nicht vermerkt, ebenso wenig erwähnt das nicht von Hanuš stammende Vorwort, das dem Werk eine Inhaltsangabe im Sinne der sozialistisch-realisitschen Kulturdoktrin beilegt, ihren Entstehungshintergrund und den Widmungsträger: Rudolf Margolius. Der Jurist und Jugendfreund des Tonsetzers, der nach dem Krieg in die Kommunistische Partei eingetreten und zum stellvertretenden Außenhandelsminister aufgestiegen war, wurde im Rahmen einer der letzten stalinistischen Säuberungen 1952 verhaftet und nach einem Schauprozess gehängt. Hanuš war der erste, der Margolius‘ sozial geächtete Witwe unterstützte. Auch bewies er Mut, indem er als einziger Kollege mit dem 1954 in die USA geflüchteten und in der Heimat als Unperson erklärten Komponisten Karel Husa weiterhin Briefkontakt hielt. Nichtsdestoweniger erhielt Hanuš hohe staatliche Auszeichnungen, so wurde er 1954 Verdienter Künstler und 1988 Nationalkünstler der Tschechoslowakei. Beide Titel gab er dem Staat 1989 aus Protest gegen die repressive Behandlung demonstrierender Studenten zurück und beteiligte sich daraufhin an der Samtenen Revolution. Václav Havel ehrte ihn 1999 mit der höchsten tschechischen Verdienstmedaille „Za zásluhy udeleni“. Jan Hanuš starb 89-jährig am 30. Juli 2004 in seiner Heimatstadt Prag.

Die künstlerisch aktive Zeit Hanušs dauerte etwa sechs Jahrzehnte, von seinen ersten kleineren Chorwerken aus den mittleren 30er Jahren bis zu seinem 1995 vollendeten Requiem. Angesichts dieser Zeitspanne verwundert der quantitative Umfang seines Schaffens, der sich auf über 120 Opuszahlen beläuft, nicht. Hanuš war nahezu auf allen Gebieten der Komposition tätig, von der Klavierminiatur bis zur abendfüllenden Oper. Auch der Filmmusik hat er sich zugewandt und etwa den französisch-westdeutschen Abenteuervierteiler Die Schatzinsel untermalt. Die weiteste Verbreitung dürften seine geistlichen Werke a cappella gefunden haben, insbesondere das Magnificat.

Der Komponist Hanuš ist grundsätzlich Traditionalist. Versucht man, ihn stilistisch einzuordnen, so lohnt ein Blick auf die tschechischen Meister der vorangegangenen Generationen. Als markanteste Künstlerpersönlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts darf Leoš Janácek gelten, der mit seinen kurzen, der Sprache abgelauschten Phrasen eine völlig neue Schreibweise in die tschechische Musik einführte. Seine zur aphoristischen Formulierung und Repetition tendierende Musik bot einen Gegenentwurf zu Smetanas und Dvořaks breit ausgeführten Melodiebögen und der klassizistischen Verlaufsgestaltung vor allem des letzteren. Allerdings blieb Janáček, obwohl er rasch zu Ansehen gelangte, zunächst künstlerisch weitgehend isoliert, da seine jüngeren Zeitgenossen Josef Bohuslav Foerster (1859–1951), Vitěslav Novák (1870–1949), Josef Suk (1874–1935) und Otakar Ostrčil (1879–1935) auf den Errungenschaften Smetanas und Dvořáks aufbauten. Auch Hanušs Lehrer Otakar Jeremiáš (1892–1962) fühlte sich dieser Traditionslinie verpflichtet, während der Weg Janáčeks vor allem bei Pavel Haas (1899–1944) und Miloslav Kabeláč (1908–1979) eine Fortsetzung fand. Hanuš scheint am stärksten von Ostrčil geprägt worden zu sein, dessen Musik zeigt, dass Gustav Mahler seine eigentlichen Nachfolger weniger in Wien als in Prag gefunden hat: Ostrčils symphonische Werke knüpfen in ihrer polyphonen Anlage und Orchesterbehandlung direkt an die letzten Werke Mahlers an, sind dabei aber deutlich knapper gefasst als diese; melodisch dominieren lange, chromatische Linien, die die Tonarten eher umschreiben als bestätigen; die Harmonik ist entsprechend dissonant. All diese Eigenschaften zeichnen auch Hanušs Schaffen aus. Ausgehend von Ostrčils Methoden erkundet er die Möglichkeiten der Dissonanzen weiter, jedoch bleibt der Bezug zum Dur-Moll-System stets wirksam. Ebenso arbeitet er meist mit traditionellen Verlaufsmodellen wie Sonate, Variationen, Fuge etc.

Gleich einem roten Faden zieht sich die Reihe seiner sieben Symphonien durch Hanušs Schaffen. Die Erste, op. 12, Dolorosa genannt, datiert von 1942 und steht den Angaben des Werkverzeichnisses zufolge in E-Dur, wovon man allerdings wenig hört. Die chromatisch durchsetzte Melodik tendiert bis kurz vor Schluss nahezu durchgängig zu Moll. Kopfsatz, Scherzo und Finale des viersätzigen Werkes werden von Marschrhythmen und Fanfarenmelodik beherrscht. Man kann dies der Entstehungszeit zuschreiben, allerdings bleibt die Vorliebe für den Marsch im symphonischen Schaffen des Komponisten bis zum Schluss erhalten. Es ist der Marsch Mahlerschen Typus‘, der es Hanuš angetan hat, der unerbittliche Marschtritt der Revelge und der Sechsten Symphonie, der zahlreiche Symphoniesätze des tschechischen Meisters in Gang bringt. Die Besonderheit der Hanušschen Ersten liegt im dritten Satz, einer Vertonung des Stabat Mater, zu der das Orchester um eine Mezzosopranstimme erweitert wird. Die deutschen Zensoren bemerkten die Botschaft des jungen Symphonikers und untersagten die Aufführung. Das Werk konnte erst nach Kriegsende erklingen.

Im Gegensatz zu Nr. 1 erfüllt Nr. 2 op. 26 völlig die Erwartungen, die ihre Tonartangabe weckt: G-Dur dominiert das Werk, das nahtlos an die Musik Dvořaks und Suks anzuknüpfen scheint, nahezu unangefochten. Die Symphonie, zu der der Komponist vom Sonnengesang des Franz von Assisi inspiriert wurde, steht als verhältnismäßig dissonanzarm und diatonisch unter ihren Geschwistern einzig dar. Sie ist ein Dokument aus dem für tschechische Künstler sehr ungünstigen Jahr 1951. Hanuš begab sich hier in die Schranken der sozialistisch-realistischen Ästhetik, mit Erfolg, denn das Werk wurde preisgekrönt. Freilich hielten die Kulturfunktionäre den leisen Schluss des finalen Variationssatzes sehr zu Unrecht aus dogmatischen Gründen für schwach. Unabhängig von den Entstehungsumständen handelt es sich hierbei um eine ebenso meisterliche Komposition wie die Erste Symphonie. Der marschartige Kopfsatz ist nicht weniger geglückt, nur der Tonfall ist ein anderer. Gleiches gilt von dem Andante und dem von Furiantrhythmen geprägten Scherzo. Motivisch wird das Werk vom zweiten Thema des Kopfsatzes zusammengehalten, das dort nur eine untergeordnete Rolle spielt, aber in den Folgesätzen mehrfach auftaucht und schließlich das Finale völlig dominiert.

Die bereits erwähnte Dritte Symphonie d-Moll op. 38, zu Beginn der Entstalinisierung 1957 geschrieben, stellt in mancherlei Hinsicht einen Gegenentwurf zur Zweiten dar, der sie formal auffällig ähnelt. Auch hier steht eine Variationenreihe am Schluss, die auf ein Nebenthema des Kopfsatzes zurückgreift. Während Nr. 2 jedoch still und beruhigt ausklingt, mündet die Musik hier in einen grellen Blechbläserchoral. Hinsichtlich der Behandlung von Melodik und Harmonik geht Hanuš in der Dritten auf dem Weg weiter, den er in Nr. 1 eingeschlagen hatte. Charakteristisch ist gleich der Beginn des Werkes, wo über einem grundierenden D ein b-Moll- und ein verminderter C-Septakkord als Vorhalte zur Haupttonart genutzt werden.

Ab seiner Vierten Symphonie, seinem 1960 fertiggestellten op. 49, verzichtet Hanuš auf Tonartangaben. Scherzo und Finale des wie seine Vorgänger viersätzigen Werkes stehen stilistisch der Ersten und Dritten Symphonie noch sehr nahe, während der Komponist im Kopfsatz und besonders im langsamen dritten Satz über diese hinausgeht. Besonders letzterer zeigt eine Intensivierung seiner Schreibweise. Der Satz beginnt mit einem Fugato, dessen chromatische Linien die Harmonik in einem permanenten dissonanten Schwebezustand halten, was durch einen Mittelteil in klarem Dur, der an den Stil der Zweiten Symphonie erinnert, noch unterstrichen wird. Die Vierte trägt laut MGG den Titel Das Lied von Bernadette, dürfte also von Franz Werfels religiösem Roman gleichen Titels inspiriert sein. Wie die Überschriften der übrigen Symphonien Hanušs lässt er sich kaum im Sinne eines Programms verstehen und verweist wahrscheinlich nur auf den außermusikalischen Schaffensanstoß.

Waren die bisherigen Symphonien viersätzig, schreibt Hanuš 1965 seine Fünfte Symphonie op. 58 in fünf Sätzen, von denen die ersten vier den traditionellen Satztypen entsprechen. Den Abschluss bildet allerdings ein knappes Adagio, das als Fugato beginnt, dann in eine Passacaglia übergeht und nach einem Tutti-Höhepunkt leise ausklingt. Die Harmonik der Fünften ist auf Grundlage der in der Vierten angestellten Erkundungen gestaltet. Trotz aller Chromatik sticht Es als tonales Zentrum in den Ecksätzen hervor. Das metrisch sehr unregelmäßige Werk kann als Hanušs schroffste Symphonie gelten. Inspirationsquelle war diesmal die Bergpredigt.

Die 1978 vollendete Sechste Symphonie op. 92, betitelt Nacht ohne Mond, hat nur zwei Sätze, und das ist nicht das einzige ungewöhnliche Merkmal dieses Werkes. Hanuš zeigt sich hier von einer zuvor nicht gekannten experimentierfreudigen Seite, sowohl was den Verlauf, als auch was die Klanglichkeit betrifft. So wird der langsame Kopfsatz über weite Strecken von einer elektrischen Gitarre grundiert. Auch das Flexaton kommt zum Einsatz. Der bewegte zweite Satz entwickelt nicht die gleiche Antriebskraft anderer Allegrosätze Hanušs und wird mehrmals von langsamen Episoden unterbrochen, die auf den Kopfsatz zurückgreifen. Eine solche Reminiszenz beschließt auch das Werk. Zweifellos trägt diese Symphonie originelle Züge, der Komponist scheint mit ihr allerdings weniger zufrieden gewesen zu sein als mit seinen übrigen, was vor allem angesichts des Finales verständlich ist.

In seiner siebten und letzten Symphonie Die Schlüssel des Königreichs op. 116 bringt Hanuš 1990 zum ersten Mal seit seinem Erstling wieder die menschliche Stimme ins Geschehen, diesmal allerdings in Gestalt eines Chores nebst Solisten. Das dreisätzige Werk ist mit einer Spieldauer von etwa 45 Minuten die längste Symphonie des Komponisten – die übrigen dauern ungefähr 30 bis 35 Minuten – und nicht nur hinsichtlich Besetzung und Ausdehnung offenbar als krönender Abschluss seines symphonischen Schaffens konzipiert. Es beginnt mit einem rein instrumentalen Sonatenallegro, einem Marschsatz, der in Umfang und Intensität alles übertrifft, was Hanuš vorher an Ähnlichem geschrieben hat. Er verklingt überraschend im Pianissimo. Nun ergreift der Chor das Wort und stimmt das Te Deum an. Als Finale folgt diesem eine Vertonung der Seligpreisungen. In beiden Sätzen zeigt der Komponist auf vielfältige Weise seinen Einfallsreichtum in der Verwendung des Chorklangs. Anders als man es angesichts der geistlichen lateinischen Texte meinen könnte, fehlt es auch nicht an humoristischen Zügen, etwa wenn Hanuš auf dem Höhepunkt der Passage „Dominus Deus Sabaoth“ den Chor mit einem Glissando in die Tiefe stürzen lässt. Das Werk endet mit dem Preis der Friedfertigen, doch scheint der Frieden angesichts der den Schlussteil bestimmenden Chromatik und Dissonanzen eher erwünscht als bereits vorhanden zu sein.

Diskographisch steht es um Jan Hanušs Werk zur Zeit sehr schlecht, womit er unter den tschechischen Komponisten seiner Generation keineswegs allein dasteht. So ist von den Symphonien nur die Zweite auf CD greifbar, allerdings in einer mustergültigen Einspielung Karel Ancerls. Der als Folge 42 in der Karel-Ancerl-Edition von Supraphon erschienene Tonträger enthält außerdem noch die Orchestersuite aus dem Ballett „Salz besser als Gold“. Auf Folge 11 dieser Reihe findet sich (zusammen mit zwei grandiosen Orchesterwerken Miloslav Kabeláčs) die Konzertante Symphonie für Orgel, Harfe, Streichorchester und Pauken, die ebenfalls aus den frühen 50er Jahren stammt. Supraphon hat weiterhin zwei Kammermusikwerke, die Oboensonate und das Trio für Oboe, Harfe, und Klavier herausgebracht. Von anderen Firmen sind der Liederzyklus Hölzerner Christus (Český Rozhlas) und die gemeinsam mit Luboš Sluka geschaffene Filmmusik zur Schatzinsel (BSC Music) noch erhältlich. Angesichts der zahlreichen Rundfunkmitschnitte, die dem Verfasser dieser Zeilen vorliegen, ist dies eine bemerkenswert magere Ausbeute. Auch sind die offenbar nicht wenigen Supraphon- und Panton-LPs aus der Zeit des Ostblocks nicht ins CD-Format übertragen worden.

Aus dem tschechischen Musikleben ist Hanuš vor allem dank seiner Chorwerke nicht verschwunden. Auch wurden in den letzten Jahren einige seiner Symphonien erfolgreich wieder zu Gehör gebracht. Es bleibt zu hoffen, dass das zunehmende Interesse an traditionalistisch ausgerichteter Musik des 20. Jahrhunderts auch Hanušs Schaffen zu größerer Aufmerksamkeit verhelfen wird. Außerhalb der tschechischen Grenzen kann dabei von einer Wiederentdeckung nicht gesprochen werden. Es gilt, diesen Meister erst richtig zu entdecken! Ihn gerade als Symphoniker dem Repertoire der großen Orchester zuzuführen, wäre durch die Qualität seines Schaffens zweifellos gerechtfertigt.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Eine Reise durch die Märchenwelt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 325; EAN: 4 260052 383254

Tatjana Uhde (Violoncello) und Lisa Wellisch (Klavier) präsentieren bei Ars Produktion Schumacher ein Programm aus kammermusikalischen „Märchenbildern“ von Franz Schubert, Robert Schumann, Edvard Grieg und Paul Juon.

Die Musik sei die romantischste aller Künste, sagte E. T. A. Hoffmann zu jener Zeit, als die romantischen Dichter auszogen, dem einfachen Volk Märchen und Sagen abzulauschen, oder gleich selbst dem Märchen- und Sagenschatz Beiträge aus eigener Feder hinzufügten. Was lag für die Komponisten der nachbeethovenschen Generationen näher, als aus diesem romantischen Geist mannigfaltige Anregungen für ihr Schaffen zu entnehmen? Aus freier Phantasie im Volkston Märchenerzählungen, Balladen und Romanzen zu komponieren, war eine Spezialität Robert Schumanns, der damit wiederum zahlreichen jüngeren Tonsetzern zum Leitbild wurde.

Die Violoncellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben für ihre CD Märchenbilder aus dem Fundus entsprechender Stücke ein Programm zusammengestellt, das durch seine ausgewogene Komposition besticht: Es beginnt und endet mit einem Miniaturenzyklus von Robert Schumann (den titelgebenden Märchenbildern op. 113, ursprünglich für Bratsche geschrieben, und den Fantasiestücken op. 73, die ursprünglich der Klarinette zugedacht waren). Das umfangreichste Werk steht im Mittelpunkt: Franz Schuberts Sonate für Arpeggione und Klavier D 821. Sie mag keinen romantisch-poetischen Untertitel besitzen, harmoniert aber mit ihren eingängigen, nicht selten sehnsuchtsvoll anmutenden Melodien und ihren schweifenden Harmoniefortschreitungen stilistisch ausgezeichnet mit den sie umgebenden Charakterstücken. (Auch mag das Instrument, für das sie eigentlich geschrieben ist, – der gambenartig klingende, im Bau Eigenschaften von Gitarre und Violoncello vereinende Arpeggione – dem heutigen Hörer so entrückt vorkommen wie ein sagenumwobener Gegenstand aus der Märchenwelt…). Zwischen diesen mehrsätzigen Werken sind zwei Einzelstücke eingeschoben, die aus dem deutschen Sprachraum hinausführen: Auf die nordische Sagenwelt wird mit Solvejgs Lied aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 2 (in der Transkription von Orfeo Mandozzi) verwiesen, stammt es doch ursprünglich aus der Musik zu einem Drama, das Henrik Ibsen nach Vorlagen norwegischer Märchen geschrieben hat. Paul Juons Märchen op. 8 stellt die einzige Originalkomposition für Violoncello und Klavier im Rahmen dieser CD dar. Es handelt sich um ein Frühwerk des bedeutenden Russlandschweizers, das noch ganz unter dem Eindruck des russischen Folklorismus steht. Entstanden sein dürfte es der Opuszahl nach Mitte der 1890er Jahre, also ein paar Jahre bevor Nikolai Medtner begann, mit seinen zahlreichen Märchenstücken (Сказки) eine eigene Untergattung der russischen Klavierminiaturistik zu kultivieren. Zusammengehalten wird das Programm nicht nur durch Tonfall und Thematik der Stücke, sondern auch durch ihre Tonarten, denn sämtliche Werke stehen entweder in D (Schumann op. 113, Grieg) oder dem nahe quintverwandten A (Juon, Schubert, Schumann op. 73), wobei das Mollgeschlecht – bei romantischer Literatur wenig verwunderlich – dominiert.

Tatjana Uhde und Lisa Wellisch spielen vorzüglich aufeinander abgestimmt. Uhde besitzt ein sicheres Gefühl für melodische Entwicklungen. Sie hält sich streng an die Phrasierungsvorschriften der Komponisten, verliert sich aber nicht in einem bloßen Aneinanderreihen der einzelnen Phrasen, sondern erfasst stets auch die längeren Verläufe der Melodiebögen, in denen sie den Wechsel der Schwer- und Leichtpunkte sorgfältig herausarbeitet. Exemplarisch hören lässt sich das etwa bei Grieg, oder im letzten Satz der Schubert-Sonate, in welchem Uhde die Achtel nach Vorschrift eng an die punktierten Viertel gebunden spielt, es aber nicht versäumt, aus diesen Motiven eine lange Melodie zu entfalten. Wellisch macht dem Hörer durchweg deutlich, dass das Klavier ebenbürtiger Partner des Cellos und nicht nur Begleitung ist. Sie versteht es, die jeweilige Aufgabe zu erfüllen, die sich in einer bestimmten Situation stellt, hält sich zurück, wenn das Cello die führende Rolle innehat, tritt bestimmt hervor, wenn das Klavier an der Reihe ist, ohne dass sie das Spiel ihrer Partnerin ungebührlich überdeckte. Die Ausgewogenheit, die zwischen den beiden Instrumenten herrscht, wird namentlich anhand der Schumann-Stücke deutlich, in denen sich zahlreiche kontrapunktische Duette einkomponiert finden. Einschränkend wäre nur Eines zu erwähnen: Eigentlich spricht es für Wellisch, dass sie zu Beginn des langsamen Satzes der Schubert-Sonate danach strebt, in den ihr zugeteilten Achtel-Figurationen die darin verborgene breite Melodie hervorzuheben; allerdings gerät ihr das Ergebnis zu wenig legato (hier ausdrücklich verlangt).

Wie halten es die beiden Musikerinnen mit dem romantischen Ton dieser Märchenmusiken? Sie vertrauen offenbar darauf, dass er sich von selbst einstellt, wenn man die Musik durch sorgfältige Ausführung zum Leben erweckt – und sie tun gut daran! Aufgesetzte Romantizismen hört man von ihnen nicht. Uhde geht nicht verschwenderisch mit dem Vibrato um, sondern setzt es maßvoll ein, um bestimmte Stellen hervorzuheben. Auch vermeiden Uhde und Wellisch willkürliche Schwankungen des Zeitmaßes; falsches espressivo durch übertriebenes Verlangsamen und Beschleunigen kommt unter ihren Händen nicht vor. Stattdessen freut man sich an der stringenten Gestaltung der Tempi und am gelegentlichen, von beiden Künstlerinnen sicher ausgeführten Rubato, das den Hörer nie das Grundtempo vergessen lässt.

Wer also eine kleine Reise durch die Märchenwelt der romantischen Kammermusik unternehmen möchte, der kann sich getrost Tatjana Uhde und Lisa Wellisch anvertrauen.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2021]

Große Musik am jungen Rhein: ICMA-Gala 2021 in Vaduz

Am 27. Juni 2021 fand in Vaduz die Preisverleihung der International Classical Music Awards statt. Im Anschluss gaben die Preisträger mit dem Sinfonieorchester Liechtenstein ein äußerst gelungenes Galakonzert.

Blick auf die Innenstadt von Vaduz, auf dem Berg im Hintergrund das fürstliche Schloss.

Die Preisverleihung

Nach einer langen Zeit des Abwartens, Hoffens und Aufschiebens war es so weit: Am 27. Juni 2021 fand in Vaduz, der Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein, im Vaduzer-Saal die diesjährige Preisverleihung der International Classical Music Awards (ICMA) samt anschließendem Galakonzert der Preisträger statt. Dass es zu diesem glücklichen Ende kam, war keineswegs selbstverständlich gewesen. Noch vor wenigen Wochen lag es nur allzu sehr im Bereich des Wahrscheinlichen, dass die unabhängige Musikkritikervereinigung, die seit 2011 die einzigen internationalen Schallplatten- und Musikpreise vergibt, auf die Durchführung ihrer Veranstaltungen diesmal ebenso hätte verzichten müssen wie im Jahr 2020, als die Krise im Gefolge der Covid-19-Pandemie die für Sevilla geplante Preisverleihung unmöglich gemacht hatte. Die rasch voranschreitende Entspannung der Lage ermöglichte es aber, den zunächst auf April gelegten, dann sicherheitshalber um zwei Monate verschobenen Termin letztlich wahrnehmen zu können. Sichtlich erleichtert darüber, betonte der die Preisverleihung moderierende Gründer des luxemburgischen Musikmagazins Pizzicato und Vorsitzende der aus Kritikern von 21 internationalen Medien zusammengesetzten ICMA-Jury, Remy Franck, dass es aufgrund der Professionalität eines „kleinen Teams, das große Arbeit geleistet hat“, in Vaduz gelungen sei, „die aufwendigste Musikproduktion 2021 weltweit“ ins Werk zu setzen.

Kulturminister Manuel Frick hob in einer kurzen Ansprache hervor, dass es sich hierbei nicht um irgendeinen Preis handele, sondern um „Den Preis innerhalb der klassischen Musik“, und erinnerte daran, dass sich in den letzten Jahren sowohl die in Nendeln ansässige Internationale Musikakademie in Liechtenstein, als auch das Sinfonieorchester Liechtenstein einen guten Namen in der Welt gemacht haben, was auch bewirkt habe, dass die IMCA auf das Fürstentum aufmerksam geworden seien.

Für das Liechtensteinische Musikleben fügt sich die Gala in eine Reihe von Erfolgen ein, die der Pandemie zum Trotz innerhalb der letzten eineinhalb Jahre errungen werden konnten. Nicht nur war es möglich, die Arbeit der Musikakademie weiterzuführen, auch ein regulärer Konzertbetrieb konnte weitgehend aufrecht erhalten werden. Zwar mussten sich Musiker und Publikum strengen Auflagen fügen, doch war es dadurch möglich, beinahe alle geplanten Konzerte des Sinfonieorchesters Liechtenstein auch stattfinden zu lassen. Nur zwei Konzerte fielen aus.

Den Umständen Rechnung tragend, wurde auch die Prozedur der ICMA-Preisverleihung abgewandelt: Die Preise wurden den Preisträgern nicht von einem Mitglied der Jury überreicht, sondern standen sämtlich von Anfang an auf einem langen Tisch vor der Bühne, von wo sie von den Ausgezeichneten nach und nach abgeholt wurden. Die Verschiebung des Termins brachte es allerdings mit sich, dass ein verhältnismäßig hoher Anteil der Preisträger nicht in Vaduz erscheinen konnte. So vermisste man Edita Gruberova, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, genauso wie Pablo Heras-Casado, der den Preis für den Künstler des Jahres, und Kian Soltani, der einen der beiden vom gastgebenden Orchester vergebenen Orchestra Awards erhielt.

Nicht persönlich in Empfang genommen werden konnten auch die Preise für folgende Audio- und Video-Produktionen:

-Alte Musik: Simone de Bonefont: Missa pro Mortuis (Huelgas Ensemble, Paul van Nevel), Cyprés

-Barock Instrumental: The Berlin Album (Ensemble Diderot, Johannes Pramsohler), Audax

-Barock Vokal: La Francesina (Sophie Junker, Le Concert de l’Hostel Dieu, Franck-Emmanuel Comte), Aparté

-Oper: Camille Saint-Saëns: Le Timbre d’argent (Hélène Guilmette, Jodie Devos, Edgaras Montvidas, Yu Shao, Tassis Christoyannis, Jean-Yves Ravoux, Matthieu Chapuis, Accentus, Les Siècles, François-Xavier Roth), Bru Zane

-Solo-Instrument: Maurice Ravel: La Valse, Mirroirs; Igor Strawinsky: Der Feuervogel, Petruschka (Beatrice Rana), Warner Classics

-Konzerte: Dmitrij Schostakowitsch: Cellokonzerte (Alban Gerhard, WDR-Sinfonieorchester Köln, Jukka-Pekka Saraste), Hyperion

-Zeitgenössische Musik: Thomas Adès: In Seven Days (Kirill Gerstein, Tanglewood Music Centre Orchestra, Thomas Adès), Myrios

-Programmzusammenstellung: Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, Coriolan, Prometheus-Ouvertüre (Kristian Bezuidenhout, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado), Harmonia Mundi

-Beste Kollektion: Dmitrij Kitajenko Collection (Akademisches Musiktheater-Orchester Stanislawskij- und Nemirowitsch-Dantschenko Moskau, Moskauer Philharmonisches Orchester, Dmitrij Kitajenko), Melodija

Besonders traurig war es zu erfahren, dass Dmitrij Kitajenko, der im Vaduzer Preisträgerkonzert zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder ein Orchester dirigiert hätte, seine Teilnahme an der Veranstaltung absagen musste, da ihm nach seiner Impfung gegen Covid-19 Nebenwirkungen schwer zugesetzt hatten. Es sei ihm deshalb an dieser Stelle von Herzen eine baldige Genesung gewünscht, wie auch die Möglichkeit einer raschen Wiederaufnahme seiner Dirigententätigkeit!

Die Mehrheit der vergebenen Preise konnte jedoch persönlich in Empfang genommen werden. Außerdem wurden einzelne noch von der Verleihung herrührende Preise vergeben, die 2020 in Sevilla nicht hatte stattfinden können. Zu letzteren gehörten die Auszeichnungen für den Komponisten Ivan Boumans (Composer Award 2020, ein entsprechender Preis wurde 2021 nicht vergeben) und den Dirigenten John Axelrod (Special Achievement Award 2020).

Die Violinistin Chouchane Siranossian nahm die Auszeichnung für ihr gemeinsam mit dem Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon für Alpha eingespieltes Album mit Violinkonzerten Giuseppe Tartinis entgegen (Barock Instrumental), wobei sie ihrer Hoffnung Ausdruck gab, dem Schaffen des lange unterschätzen Komponisten mit ihrer CD zu größerem Ansehen zu verhelfen.

In der Rubrik Vokalmusik wurde die bei Opera Rara erschienene CD Anima Rara ausgezeichnet, ein Album mit Arien aus französischen und italienischen Opern des späten 19. Jahrhunderts. Die für ihre „große dramatische Künstlerschaft“ gelobte Sopranistin Ermonela Jaho, die es zusammen mit dem Orquestra de la Communitat Valenciana unter Leitung Andrea Battistoni aufgenommen hat, nahm den Preis mit den Worten an sich: „In diesen schwierigen Zeiten merken wir alle, wie sehr wir Kunst brauchen.“

Als beste Chormusik-CD wurde Ivan Repušićs Aufnahme des Kroatischen glagolitischen Requiems von Igor Kuljerić (1938–2006) mit dem Münchner Rundfunkorchester und dem Chor des Bayerischen Rundfunks prämiert, die bei der Hausproduktion des Bayerischen Rundfunks, BR Klassik erschienen ist. Der Dirigent nahm den Preis gemeinsam mit einem Sprecher des Chores in Empfang. In ihren Dankesworten merkten sie an, dass der der CD zugrundeliegende Konzertmitschnitt unmittelbar vor der pandemiebedingten Unterbrechung der Chor- und Orchesterarbeit entstanden ist. Die Veranstaltung der ICMA sei ihnen nun „Ermutigung daran zu glauben, wieder großformatig Musik machen zu können“. Die Musiker zeigten sich stolz darauf, dass sie Kuljerićs Werk 2020 noch realisieren und damit zum deutsch-kroatischen Kulturaustausch beitragen konnten.

Zur besten Kammermusik-Aufnahme wurde das bei Audite herausgekommene Album Fantasque mit Violinsonaten von Fauré, Debussy, Ravel und Poulenc, eingespielt von Franziska Pietsch (Violine) und Jou de Solaun (Klavier), gekürt. Franziska Pietsch, die in Begleitung des Chefs von Audite, Ludger Böckenhoff, erschien, berichtete in ihrer Dankesansprache u. a. von ihren Erfahrungen aus ihrer Jugendzeit in der DDR und erwähnte die Wichtigkeit, welche das Hören von Musik für Menschen gerade in schwierigen Zeiten haben kann.

Timo Hagemeister, der Manager von Berliner Philharmoniker Recordings, nahm für sein Label mehrere Preise entgegen: die Auszeichnung als Label des Jahres 2021, den im letzten Jahr verliehenen Preis für die beste Historische Aufnahme (für Wilhelm Furtwänglers Rundfunkaufnahmen 1939–1945) und den diesjährigen in der Rubrik Symphonische Musik (für Kirill Petrenkos 5-CD-Packung mit Symphonien von Beethoven, Pjotr Tschaikowskij und Franz Schmidt sowie Rudi Stephans Musik für Orchester). Gerühmt wurden von der Jury namentlich Petrenkos „phänomenale Aufführung“ der Siebten Symphonie Beethovens und die „raffinierte Transparenz“ des Orchesterspiels.

Günter Hänssler dankte für die Auszeichnung der bei seinem Label Profil erschienenen „wirklich herausragenden Zusammenstellung“ mehrerer Einspielungen der 24 Präludien und Fugen von Schostakowitsch (mit Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, Tatjana Nikolajewa und dem Komponisten selbst) als beste Historische Aufnahme.

Matthias Lutzweiler, der Geschäftsführer von Naxos Deutschland, und sein Mitarbeiter für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Salvatore Pichireddu, nahmen die Preise entgegen, die zwei bei Naxos erschienene Video-Veröffentlichungen erhalten hatten: eine Produktion von Ambroise Thomas‘ Hamlet unter der Regie von Cyril Teste und der musikalischen Leitung von Louis Langrée (als beste Video-Aufführung), und Martin Mirabels Dokumentarfilm Lucas Debargue – To music (als beste Video-Dokumentation). In ihrer Ansprache betonten sie, dass die Menschen sich in der Pandemiezeit verstärkt über Tonträger mit Musik beschäftigten, was die Wichtigkeit dieses Mediums deutlich hervortreten ließ. Allgemein habe die Krise gezeigt, dass „Musiker, Publikum und Politiker“ (mit einem Blick auf die anwesenden Vertreter des Liechtensteinischen Staates) alle im selben Boot sitzen: „Wir haben alle erfahren, welche Bedeutung Musik hat.“

Für die beste Video-Aufführung wurde ein weiterer Preis an eine DVD des Lucerne Festival Orchestra vergeben, das unter Leitung von Riccardo Chailly mit Denis Mazujew am Klavier für Accentus Music ein reines Rachmaninoff-Programm aufgenommen hat. Zusammen mit dem Luzerner Festspielintendanten Michael Haefliger nahm Chailly die Auszeichnung an, die er zugleich als Ehrung seiner langen, durch viele DVDs dokumentierten Zusammenarbeit mit Accentus empfand.

Als Junger Künstler des Jahres wurde der 24-jährige Pianist Can Çakmur prämiert, der bereits im letzten Jahr aufgrund seines bei BIS erschienenen Debüt-Albums den Preis in der Rubrik Solo-Instrument gewonnen hatte, und deswegen nun zwei Preise in Empfang nehmen konnte.

Der Discovery Award, ein Preis der als Ergänzung zum Young Artist of the Year eingeführt wurde, um Nachwuchskünstler unter 18 Jahren zu ehren, ging an die 2006 geborene Geigerin Maya Wichert wegen ihrer „feinen Technik und ihres nuancenreichen, zutiefst musikalischen Spiels“.

Beide Träger des diesjährigen Orchestra Awards, der Geiger Marc Bouchkov und der Cellist Kian Soltani, sind beide mit der Internationalen Musikakademie in Liechtenstein eng verbunden und haben wiederholt als Solisten mit dem Sinfonieorchester Liechtenstein konzertiert. Wie oben bereits gesagt, war Kian Soltani terminlich verhindert, sodass nur Marc Bouchkov seinen Preis persönlich an sich nehmen und später im Konzert mitwirken konnte.

Einen Special Achievement Award erhielten Ingolf Turban und Dražen Domjanic. Turban wurde geehrt „als einer der meistaufgenommenen Violinisten unserer Zeit“, dessen Diskographie ein sehr breites Repertoire umfasst, das auch zahlreiche selten gespielte Werke einschließt. „Als virtuoser Spieler und geschätzter Pädagoge ist er stets bestrebt, seine Kenntnisse mit der jüngeren Generation zu teilen.“ In seiner Dankesrede hielt Turban mit gutem Humor kurz Rückschau auf eine 36-jährige Laufbahn, die sich wechselweise im Sitzen (als Konzertmeister unter Celibidache), dann im Stehen (als Solist) und wieder im Sitzen (als zuhörender Lehrer) abgespielt hat. Diese weiterzuführen sei ihm der Preis Motivation.

Dražen Domjanic hat sich in zahlreichen Funktionen, besonders aber als Gründer der Internationalen Musikakademie und des Kammerorchesters Esperanza sowie als Geschäftsführer des Sinfonieorchesters, um den Aufbau des Liechtensteinischen Musiklebens während des letzten Jahrzehnts verdient gemacht. Mit der Verleihung des Preises ehrte man seine „äußerst dynamische und inspirierte Leitung, unter welcher sich die Internationale Musikakademie in Liechtenstein zu einer Brutstätte international erfolgreicher junger Musiker entwickelt hat, welche konstant das internationale Musikleben bereichern“. Domjanic, dem attestiert wurde, das Fürstentum „auf die Weltkarte der Musik gebracht zu haben“, richtete in seiner Ansprache den Blick auf zukünftige Vorhaben: So werde 2024 für die Musikakademie ein Campus zur Verfügung stehen. Außerdem brachte er seinen Wunsch nach einer verstärkten finanziellen Unterstützung des weitgehend von Eigeneinnahmen und Sponsoren getragenen Sinfonieorchesters durch den Liechtensteinischen Staat zum Ausdruck.

Die musikalischen Darbietungen

In seinem Grußwort zur Preisverleihung hatte der Bürgermeister von Vaduz, Manfred Bischof, Igor Strawinsky zitiert: „Es reicht nicht, dass man Musik nur hören kann, man muss Musik auch sehen können.“ Ein Konzert sei ein Ereignis, das alle Sinne anspricht. „Sie alle“, sprach er zu den anwesenden Musikern, „machen Musik für unsere Sinne.“ Gewiss war dies allen Anwesenden, den zuhörenden wie den musizierenden, aus dem Herzen gesprochen! Entsprechend gespannt war man allgemein auf das der Preisverleihung folgende Galakonzert. Die Vorfreude wurde genährt durch zwei kammermusikalische Duo-Darbietungen, die im Verlauf der Verleihung zu hören waren. Zur Aufführung kamen Bohuslav Martinůs Variationen über ein Thema von Rossini für Violoncello und Klavier sowie Camille Saint-Saëns‘ Caprice in Walzerform op. 52/6 in Eugène Ysaÿes Bearbeitung für Violine und Klavier. In beiden Werken saß Tatiana Chernichka am Klavier, die, was bei einer Schülerin Eliso Virsaladzes nicht verwundert, energisch und robust in die Tasten griff. Cellistin in Martinůs Variationen war die 16-jährige Friederike Herold. In den raschen Außenteilen des Werkes stellte sie mit Kraft und Grazie unter Beweis, dass sie keinerlei technische Hürden zu fürchten braucht, und bezauberte im langsameren Mittelabschnitt mit ausdrucksstarkem Cantabile. Ihr Vortrag ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem bedeutenden Talent zu tun hatte, von dem man für die Zukunft viel erwarten kann. Dasselbe lässt sich auch von dem 20-jährigen Geiger Simon Zhu sagen, der die Saint-Saëns-Caprice mit einer Souveränität vortrug, die verriet, dass er sich das Stück ganz zu eigen gemacht hatte. Physische Kraft und sensible Artikulation verbanden sich in seinem Vortrag mit Sicherheit in allen Graden einer reich abgestuften Dynamik. Angesichts der technischen Schwierigkeiten des Virtuosenstücks büßte sein Spiel nirgends an Eleganz ein; alles klang leicht, fein und charmant. Simon Zhu und Friederike Herold sind Stipendiaten der Internationalen Musikakademie in Liechtenstein.

Das Preisträgerkonzert des Sinfonieorchesters Liechtenstein bot in seinen zehn Nummern nicht nur ein vielfältiges Programm, sondern machte darin auch mit einer nicht minder großen Vielfalt von Musikercharakteren bekannt. Passend zum Anlass wurde es mit der „bestgeeigneten, feierlichsten, freudigsten Musik“ eröffnet, mit der man diesen Preis zelebrieren könne. So hatte Riccardo Chailly während der Verleihung das Vorspiel zu Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg genannt, welches er nun dirigierte. Strahlend und schwelgerisch entfaltete sich der Klang des Orchesters unter Chaillys Händen. Bei aller Opulenz ließ es der Dirigent aber nicht an der Liebe zum Detail fehlen, wie die zahlreichen schön herausgearbeiteten Dialoge zwischen den Orchestergruppen, namentlich den hohen und tiefen Streichern bewiesen. Die Schlusssteigerung gelang grandios.

Einen deutlichen Kontrast bot die anschließende Aufführung des Finalsatzes aus Pjotr Tschaikowskijs Violinkonzert. Das Orchester spielte nun unter Yaron Traub, dem, mit Ausnahme zweier Programmnummern, die musikalische Leitung des ganzen restlichen Abends oblag. Konnte man Chaillys Dirigat als ein Musizieren aus der Üppigkeit des Tuttis heraus bezeichnen – wozu das Meistersinger-Vorspiel freilich einladen kann –, so baute Traub den Orchesterklang auf eine kammermusikalische Weise auf. Bei Chailly kam es an wenigen Stellen dazu, dass wichtige Themeneinsätze stark zugedeckt wurden, wobei der Maestro jedoch immer sofort die Tonstärken auszubalancieren vermochte. Bei Traub hingegen erschien diese Balance als die Grundlage seines Musizierens. Die einzelnen Gruppen reagierten unter seiner mit sparsamen, prägnanten Gesten arbeitenden Leitung aufeinander wie die Mitglieder eines Streichquartetts. Dies schloss einen kräftigen Tutti-Klang nicht aus, aber man erlebte diesen immer als ein Zusammenfinden selbstständiger Stimmen. In der 15-jährigen Maya Wichert stand ihm bei Tschaikowskij eine kongeniale Partnerin zur Seite. Diese Geigerin, die über ein meisterliches, organisches Rubato verfügt, weiß im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, versteht sich aber nicht weniger gut darauf, dem Orchester sein Recht zu lassen, wenn dieses etwas zu sagen hat. Ihre Fähigkeit, den anderen Musikern zuhören zu können, berührte außerordentlich sympathisch. Sie muss wohl auch eine hervorragende Kammermusikerin sein. Gewiss wird man in Zukunft von ihr hören.

Es folgte ein Programmpunkt, der aus dem nicht zustande gekommenen Sevillaner Konzert von 2020 hinübergerettet wurde: Der damals als Komponist des Jahres ausgezeichnete Ivan Boumans – 1983 in Madrid geboren, seit 1998 in Luxemburg ansässig – hatte durch die Uraufführung seines Orchesterwerks Organic Beats unter Leitung von John Axelrod geehrt werden sollen. Diese wurde nun in Vaduz nachgeholt, sodass mit Axelrod, der den Veranstaltungen der ICMA eng verbunden ist und bislang mehr Galakonzerte dirigiert hat als jeder andere, der dritte Dirigent dieses Abends zu hören war. Organic Beats ist ein opulent instrumentiertes Werk, Boumans verschmäht es keineswegs, das Orchester gelegentlich glitzern, glänzen und bunt schimmern zu lassen. Er verliert sich aber nicht in klanglichen Spielen und Aneinanderreihungen effektvoller Einzelheiten, sondern komponiert so, dass das Stück seinem Namen alle Ehre macht. Die dissonante, aber durchweg als tonal zentriert wahrnehmbare Musik entfaltet und entwickelt sich, spannt große Bögen, atmet ein und aus, pulsiert. Mehrfach wechselt das Tempo, rasche und langsame Abschnitte, letztere mit veritablen Streicherkantilenen, alternieren miteinander. Es entsteht aber kein Bruch, alles geht ungezwungen auseinander hervor, die unterschiedlichen Tempi zeigen ein lebendiges Wesen in verschiedenen Daseinszuständen. Das Geschehen mündet in einen hochpoetischen Schluss: Unter leisen Glocken- und Trommelschlägen entschwindet die Musik mit ins Geräuschhafte hinüberspielenden hohen Pfeiftönen. Das ist ein Werk, dem man gern im Konzertsaal erneut begegnen möchte, und dem man entsprechende Verbreitung wünscht! Der Komponist hatte während der Aufführung ungewöhnlicherweise direkt neben dem Dirigenten auf der Bühne gesessen. Gegen Ende des Stücks zeigte sich warum: Während einer Fermate übergab Axelrod, mit ihm die Plätze tauschend, den Stab an Boumans, der nun seine Komposition weiter dirigierte. Ganz am Schluss kam auch Axelrod wieder zum Pult hinauf, Komponist und Dirigent hielten einander umfasst und dirigierten die letzten Töne des Werkes gemeinsam. Wahrlich, eine anrührende Demonstration inniger Verbundenheit von Schöpfer und Interpret!

Das nächste Stück kam ohne Dirigenten aus. Von einem reduzierten Orchester begleitet, spielte Chouchane Siranossian den zweiten Satz (Largo andante) aus Giuseppe Tartinis Violinkonzert D 96. Ihr Vortrag machte den Eindruck, die Künstlerin, die ein Kind erwartet, spiele für dieses. Alles klang nach innen gerichtet. Die Geigerin nahm Tartinis Verzierungen, die sich auch in diesem ruhigen, stillen Satz reichlich finden, nicht als Hauptsache, sondern spielte sie flüchtig, wie beiläufig – was natürlich ihre technische Virtuosität und ihre Vertrautheit mit dem Werk erst recht zum Vorschein brachte. Die Musik wirkte entrückt, unwirklich, leicht dahinschwebend, wie ein Traum. Es folgte zum Abschluss der ersten Konzerthälfte erneut ein starker Kontrast: Marc Bouchkovs Darbietung von Tschaikowskijs Valse Scherzo op. 34 holte die Zuhörer auf den Boden zurück, nämlich auf den Tanzboden, wo es in den folgenden Minuten quicklebendig zuging, immer auf der Grenze zwischen rustikalem und salonhaftem Charme bleibend, keiner Seite ganz zuneigend, beides geschmackvoll ineinander übergehen lassend.

Der zweite Teil des Konzerts begann mit dem Kopfsatz von Robert Schumanns Klavierkonzert mit Can Çakmur als Solisten. Diese Aufführung wirkte nicht ganz so sehr aus einem Guss wie die übrigen des Abends. Çakmur, dessen pianistische Meisterschaft außer Frage steht, gestattete sich an mehreren Stellen, an denen er allein zu spielen hatte, Rubati, die den Fluss der Musik ein wenig hemmten und wirkten, als drohte dem Pianisten, im jeweiligen Moment des roten Fadens verlustig zu gehen. Dirigent Yaron Traub zeigte sich jedoch auch hier als idealer Partner, der es schaffte, seinen Solisten immer wieder aufs Neue mitzunehmen und die Musik unaufdringlich wieder in Bewegung zu bringen. In der Kadenz überzeugte Çakmur restlos. Franziska Pietschs Vortrag von Maurice Ravels Rhapsodie Tzigane klang unerbittlich streng. Sich des Verlaufs der Komposition in jedem Moment bewusst, entwarf sie zielsicher ein herbes und unsentimentales Stimmungsbild, das an keiner Stelle Raum für romantische Zigeuner-Klischees bot.

Während der Preisverleihung hatte Remy Franck Ermonela Jaho dem Publikum als die seines Erachtens größte Tragödin seit Maria Callas vorgestellt. Entsprechend gespannt war man auf ihren Auftritt mit der Arie „Addio, del passato“ aus Giuseppe Verdis La Traviata. In der Tat schlug die Sängerin das Publikum vom melodramatischen Beginn an in ihren Bann und hielt es erst recht während der eigentlichen Arie gefesselt. Vollkommene Identifikation mit der leidenden Violetta verband sich mit außerordentlicher künstlerischer Gestaltungskraft. Bei allem Hineinsteigern in ihre Rolle hielt Ermonela Jaho klug Maß mit ihren Kräften, sodass es ihr immer wieder möglich war, ausdrucksstarke Momente mit noch intensiveren zu übertreffen. Besonders gut gelang ihr das Ende der Arie: Den langen Abschlusston hielt sie im Mezzoforte aus und ließ ihn dann jäh abreißen. Yaron Traub entlockte dem begleitenden Orchester einen betont kargen Klang, was die bedrückende Stimmung der Musik noch unterstrich. Nach dem Verklingen des letzten Tones herrschte einen Augenblick lang betroffene Stille im Saal, dann erhob sich das Publikum zu stehendem Applaus – durchaus zurecht!

Die hier erreichte qualitative Höhe wurde in der nächsten Programmnummer gehalten. Ingolf Turban war der Solist in Saint-Saëns‘ Introduction et Rondo capriccioso op. 28, und vom ersten Takt an war klar, dass es sich bei dieser Aufführung um ein besonderes Fest für die Ohren handelte. Turbans Vortrag zeigte jene bestechende, unaufdringliche Natürlichkeit eines Musikers, der sich mit einem Werk aufs Innigste vertraut gemacht hat. Er weiß offenbar um die Rolle jeder einzelnen Phrase im Gesamtverlauf, jeder Moment des Stückes ging zwanglos aus dem vorigen hervor und zog den folgenden wie selbstverständlich nach sich. Alles war wunderbar aufeinander abgestimmt und von bestechendem organischem Zusammenhalt. Natürlich hörte man auch, dass dieses Rondo ein Virtuosenstück ist, aber Turban bewältigte die Schwierigkeiten mit so leichter Hand, dass er sich ganz aufs Herausarbeiten der musikalischen Feinheiten konzentrieren konnte. Alles Technische war Nebensache und stand im Dienste des Ausdrucks. Turbans Rolle in dieser Aufführung war die eines Primus inter Pares, der dem Orchester zuhört und dessen bedeutenden Anteil an der Gesamtwirkung respektiert, der mit ihm musiziert und nicht neben ihm. Damit kam er ganz Traubs Auffassung entgegen. So herrschte hier eine seltene Harmonie von Dirigent und Solist, sie wirkten in diesem Stück wie ein Herz und eine Seele. Das klingende Ergebnis war musikalische Hochkultur! Auch dafür gab es stehenden Applaus.

Zum Abschluss erklang, wie zu Beginn, ein reines Orchesterstück: die Jubel-Ouvertüre op. 59 von Carl Maria von Weber. 1818 zu Ehren des sächsischen Königs entstanden, zitiert das Werk am Ende die Melodie von „God save the Queen“, die damals mit dem Text „Gott segne Sachsenland“ als sächsische Königshymne diente. Kein Liechtensteiner wird jedoch bei ihrem Erklingen zuerst an diese Worte denken, denn mit dem Text „Oben am jungen Rhein“ ist die Melodie Nationalhymne Liechtensteins. Webers Werk war also durchaus am rechten Platz. Yaron Traub und das Sinfonieorchester Liechtenstein leisteten zum Ausklang des Abends auch in diesem Stück Vortreffliches.

Die durchgehend hohe Qualität dieser Aufführungen, sowohl der kammermusikalischen, als auch der orchestralen, stellte dem Musikleben des Fürstentums Liechtenstein ein denkbar gutes Zeugnis aus. Es wurde deutlich, dass an der Internationalen Musikakademie höchst fähige Kammermusiker und Solisten herangebildet werden, und dass das Sinfonieorchester zu außerordentlichen Leistungen fähig ist. Die Veranstalter der ICMA haben jedenfalls gut daran getan, den Fokus der Musikwelt auf das kleine Land am jungen Rhein zu lenken. Möge die Liechtensteiner Kulturarbeit, die solch günstige Ergebnisse gezeitigt hat, auch in Zukunft reiche Früchte tragen!

[Norbert Florian Schuck, Juli 2021]

Ein Tongemälde zum Fest

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 284; EAN: 4 260052 382844

Zur Feier des 300-jährigen Bestehens des Fürstentums Liechtenstein hat das Sinfonieorchester Liechtenstein unter seinem Chefdirigenten Florian Krumpöck 2019 für Ars Produktion Schumacher Josef Gabriel Rheinbergers Erste Symphonie, das „Symphonische Tongemälde“ Wallenstein op. 10, eingespielt.

Josef Gabriel Rheinbergers Wallenstein op. 10, eine viersätzige Symphonie in d-Moll, wurde 1866 komponiert und im folgenden Jahr unter der Gattungsbezeichnung „Symphonisches Tongemälde“ (statt: „Symphonie“) veröffentlicht. Ungewöhnlicherweise tragen die verschiedenen Ausgaben des Werkes unterschiedliche Widmungen: Während die zuerst erschienene Bearbeitung für Klavier zu vier Händen der Ehefrau des Komponisten, der Schriftstellerin Franziska von Hoffnaaß, zugeeignet ist, dedizierte er den Partiturdruck dem Landesherrn seiner Heimat, Fürst Johann II. von Liechtenstein.

Mit dem fast gleichaltrigen Fürsten verband Rheinberger, der nach Können und Ansehen gewissermaßen der Fürst unter den Liechtensteinischen Musikern war, der Umstand, dass sie beide den Großteil ihres Lebens außerhalb des Fürstentums Liechtenstein zubrachten. Die Liechtensteinischen Fürsten residierten seinerzeit noch in österreichischen und böhmischen Schlössern, von wo aus sie über riesige Ländereien geboten, deren Fläche diejenige ihres souveränen Staates um ein Vielfaches übertraf. Das Fürstentum, zur Zeit von Rheinbergers Geburt 1839 ein gänzlich bäuerlich geprägtes Land, betraten die Herrscher nur selten: Johann II. besuchte es in den 70 Jahren seiner Herrschaft insgesamt siebenmal (sorgte aber auch aus der Ferne so umsichtig für seine Untertanen, dass sie ihm den Beinamen „der Gute“ verliehen). Das Musikleben im damaligen Liechtenstein bestand im Wesentlichen aus der Begleitung der Gottesdienste und aus Tanzmusik. Wenige Familien, darunter die Rheinbergers, pflegten anspruchsvollere Hausmusik. Eine seiner Begabung angemessene musikalische Ausbildung konnte Josef Rheinberger, der in seinem Geburtsort Vaduz bereits mit sieben Jahren Organistendienste versah, zu dieser Zeit aber nur im Ausland erhalten. So ging er zwölfjährig nach München, wo ihn u. a. Franz Lachner unterrichtete. Hier lebte er bis zu seinem Tode im Jahr 1901, und von dieser Stadt aus verbreitete sich schließlich sein Ruhm als Komponist und Kompositionslehrer.

Seit den Zeiten Rheinbergers und Johanns II. haben sich in Liechtenstein nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt, sondern auch die musikalischen. 1988 formierte sich unter dem Dirigenten Albert Frommelt ein Liechtensteinisches Kammerorchester, das bald zum Sinfonieorchester Liechtenstein anwuchs. 2012 in einen professionellen Klangkörper umgewandelt, wurde es wesentlich von Florian Krumpöck geprägt, der im gleichen Jahr zum Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter ernannt wurde. Als das Fürstentum 2019 den 300. Jahrestag seiner Gründung beging, hatte das Sinfonieorchester Liechtenstein soeben das 30. Jahr seines Bestehens vollendet. Die nationalen Feierlichkeiten mit dem eigenen Jubiläum verbindend, wurde eine besondere Aufnahme produziert. Um die Fähigkeiten liechtensteinischer Musiker in Vergangenheit und Gegenwart zu dokumentieren, konnte kaum etwas geeigneter erscheinen als eine Einspielung von Rheinbergers Wallenstein.

Als Orgel- und Chorkomponist ist Rheinberger im Musikleben stets präsent gewesen. Auch die beiden Orgelkonzerte erfreuen sich einer kontinuierlichen Aufführungsgeschichte und zahlreicher Einspielungen auf Tonträger. Zu erwähnen ist weiterhin, dass Rheinbergers Klavierkonzert im Laufe der Jahre mindestens viermal den Weg auf die Platte gefunden hat; die ersten beiden Aufnahmen datieren noch aus der Zeit vor Einführung der CD. Die beiden Symphonien des Komponisten wurden dagegen erst in den 1990er Jahren kommerziell aufgenommen: Nikos Athinäos spielte mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder) den Wallenstein ein, Alun Francis mit der Nordwestdeutschen Philharmonie die Florentiner Symphonie F-Dur op. 87. Soweit mir bekannt, blieb es im Falle der F-Dur-Symphonie bislang bei dieser einen Einspielung, während Wallenstein durch das Sinfonieorchester Liechtenstein unter Krumpöck seine zweite Aufnahme erfahren hat.

Die relativ geringe Resonanz, die Rheinbergers Symphonien nach seinem Tode fanden, steht in Kontrast zur Wertschätzung dieser Werke zu Lebzeiten des Komponisten und erscheint gerade angesichts der Tatsache verwunderlich, dass Rheinberger der internationale Durchbruch als Symphoniker gelang – eben mit dem Wallenstein. Der Rheinberger-Forscher Hartmut Schick konnte 2001 in seinem Aufsatz über Rheinbergers Wallenstein-Sinfonie op. 10. Ambivalenzen in der Konzeption und Rezeption eines Erfolgsstücks feststellen, dass das Werk in den zehn Jahren nach seiner Uraufführung 1866 mindestens 23mal in 19 verschiedenen Städten in- und außerhalb Deutschlands gespielt worden ist; „hinzu kommen 15 Aufführungen von einzelnen Sätzen, vor allem des beim Publikum besonders beliebt gewordenen 3. Satzes Wallensteins Lager.“ Unter den zeitnah entstandenen Symphonien erreichten nur Anton Rubinsteins Nr. 2 Ozean und Joachim Raffs Nr. 3 Im Walde höhere Aufführungszahlen. Man kann also sagen, dass Wallenstein seinen Komponisten mit einem Schlag berühmt gemacht und – zumindest aus Sicht des damaligen Publikums – in die erste Reihe der Symphoniker seiner Zeit gestellt hat.

Wallenstein gehört, wie die erwähnten Werke Raffs und Rubinsteins, zu einer Sondergattung, deren Blütezeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts die in schlechten Musikgeschichtsbüchern zu findende Behauptung, es habe damals einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen „absoluter Musik“ und „Programmmusik“ gegeben, Lügen straft. Tatsächlich wurden zahlreiche „charakteristische Symphonien“ komponiert, die auf außermusikalischen Anregungen fußen, ohne im engeren Sinne Programmmusik zu sein. Nicht wenige dieser Stücke sind erzählerisch gedacht und reflektieren eine bestimmte Handlung. Neben Rheinbergers Wallenstein wären etwa zu nennen: Johann Joseph Aberts Columbus, Joachim Raffs und August Klughardts Werke nach Bürgers Lenore, Carl Reineckes Hakon Jarl, Heinrich Hofmanns Frithjof und Hans Hubers Tell-Symphonie. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die traditionelle viersätzige Form beibehalten. Das Programm ordnet sich ihr unter, dient als Ideengeber zu bestimmten Stimmungen, schlägt sich auch gelegentlich in Besonderheiten innerhalb des musikalischen Verlaufs nieder, wird jedoch nie zum Anlass genommen, die überkommenen Formen grundsätzlich in Frage zu stellen. Angesichts dessen verwundert auch die traditionalistische Stilistik der betreffenden Symphonien nicht. Die Verbindung poetischer Gedanken mit einer eingängigen, an bewährten Vorbildern orientierten Tonsprache wurde von Publikum und Kritik goutiert. Dass gleichzeitig der Programmsymphoniker Franz Liszt so umstritten war, lag nicht daran, dass er sich von Außermusikalischem inspirieren ließ, sondern am ungewohnten, „unklassischen“ Stil seiner Werke. Der Hakon-Jarl-Komponist Reinecke sperrte sich als Gewandhauskapellmeister gegen Liszts Symphonische Dichtungen, für eine Aufführung des Wallenstein überließ er Rheinberger bereitwillig sein Orchester.

Als programmatische Vorlage diente Rheinberger in erster Linie Schillers Wallenstein-Trilogie, großen Eindruck hinterließ aber auch Carl Theodor von Pilotys Gemälde Seni vor der Leiche Wallensteins. In wie fern die musikalischen Ereignisse der Symphonie programmatisch auszulegen sind, stellte allerdings bereits die Zeitgenossen vor Rätsel. Bei den drei letzten Sätzen scheint vordergründig Klarheit zu herrschen: Der langsame Satz heißt Thekla (Wallensteins Tochter bei Schiller), der dritte zeigt Wallensteins Lager (Scherzo) einschließlich Kapuzinerpredigt (Trio), und am Ende steht wie bei Schiller Wallensteins Tod. Rezeptionsprobleme bereitete vor allem der Kopfsatz. Wiederholt wurde versucht, ihn als Charakterportrait des Titelhelden zu deuten, wobei dann häufig eingewendet wurde, die Musik würde diesem Anspruch nicht gerecht. Nun beginnt der Satz zwar mit einer herrischen Geste, enthält jedoch auch ausgedehnte Abschnitte, die sich nur schwer als Darstellung eines kriegerischen Machtmenschen deuten lassen. Eine solche lag anscheinend auch nicht in Rheinbergers Absicht, denn überschrieben hat er das Stück mit Vorspiel. Der Satz ist somit wohl am ehesten als Ouvertüre zu verstehen, die, wie in einer Oper, das spätere Geschehen andeutet, ohne zu viel vorwegzunehmen. So erscheint mitten in der Durchführung ein neues Thema, das später den Mittelteil des langsamen Satzes bestimmt; am Schluss steht die Trauer- und Erlösungsmusik, mit der auch der vierte Satz schließt. Auch in Hinblick auf diese beiden Sätze wurden Überlegungen angestellt, wie sie mit Schiller in Übereinstimmung zu bringen seien – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Lediglich der dritte Satz erschien unter diesem Gesichtspunkt nie problematisch. Wie Hartmut Schick herausgearbeitet hat, dürften die Eigenheiten des Werkes mindestens ebenso sehr auf die privaten Umstände des Komponisten zur Zeit der Entstehung zurückzuführen sein wie auf Schillers Drama: Rheinberger komponierte Wallenstein 1866 auch zur Freude der damals lebensgefährlich erkrankten Franziska von Hoffnaaß, die im folgenden Jahr (nach ihrer Genesung und der Uraufführung der Symphonie) seine Ehefrau werden sollte. Manche Stelle im Werk verdankt wohl gar nicht in erster Linie Schiller ihr Dasein, sondern besitzt eine versteckte Bedeutung, um die nur der Komponist und seine Frau wussten, und die aus verständlichen Gründen nicht an die Öffentlichkeit gelangte.

Von rein musikalischen Standpunkt aus betrachtet, kann man Rheinbergers Wallenstein als ein Meisterstück jener Symphonietradition des oberdeutschen Sprachraums bezeichnen, die mit Franz Schubert anhebt und in der Generation vor Rheinberger in Franz Lachner und Johann Rufinatscha würdige Repräsentanten gefunden hat. Auch die Symphonien Anton Bruckners sind vor diesem Hintergrund entstanden. Es ist eine Symphonik der Expansion. Die Komponisten streben nicht nach möglichster Knappheit der Aussage, sondern denken in ausgedehnten Perioden, lassen ihre Gedanken sich in Ruhe entfalten, gern unter Zuhilfenahme aparter Harmoniefortschreitungen, was dann in den besten Werken dieser Richtung die „himmlische Länge“ hervorbringt, die Robert Schumann an Schuberts Großer C-Dur-Symphonie rühmte.

Wallenstein ist gleichfalls kein kurzes Werk: Unter Florian Krumpöcks Dirigat dauert er 50 Minuten, Nikos Athinäos lässt ihn in 55 Minuten spielen. Eine lange Symphonie, aber keine langweilige – im Gegenteil: Rheinberger erweist sich als stupender musikalischer Architekt, der mit großen Blöcken fest zusammenhaltende Bauwerke errichtet, wobei ihm seine Fertigkeit im Kontrapunkt – die sich nirgendwo im Werk in akademische Demonstrationen verliert – zu Hilfe kommt. Die Spannung zwischen klassischer Form und programmatischer Aussage löst er glücklich: Die formal außergewöhnlichen Momente, denen man anmerkt, dass sie eine außermusikalische Ursache haben (sie heiße „Wallenstein“ oder „Franziska“), verteilt er auf jene Stellen des musikalischen Verlaufs, an denen solche Überraschungen gut am Platze sind: Auf Durchführung und Coda des Kopfsatzes und auf Einleitung, Durchführung und Coda des Finales. (Man bedenke, wie gern auch Beethoven und Schumann an entsprechenden Stellen „absolut musikalischer“ Sonatensätze neue Themen einführen!) Die exponierenden und rekapitulierenden Abschnitte bleiben von diesen „exterritorialen“ Einfällen unberührt und bilden auf klassische Weise Symmetrien aus. Wer das Programm Programm sein lassen will, kann das „Symphonische Tongemälde“ also ohne Weiteres auch als „absolute“ Symphonie auf sich wirken lassen. Gerade das Adagio lädt dazu ein. Thekla gibt dem Satz ihren Charakter, Geschehnisse, zu deren Erläuterung Schiller herangezogen werden müsste, enthält er jedoch nicht. Die Gesanglichkeit des Stückes kommt nicht von ungefähr: Das Thema, das Rheinberger im Mittelteil verwendet (und das im Kopfsatz schon vorweggenommen worden war), entstammt einem Klavierlied des Komponisten.

Der ganze Wallenstein ist für das Orchester dankbar geschrieben, die Instrumentationskunst des Komponisten kommt aber im dritten Satz besonders gut zur Geltung, wo es galt, das ausgelassene Treiben der Söldner in Wallensteins Lager zu schildern. Ein Glanzstück musikalischer Charakterisierung (oder Karikatur) gelingt Rheinberger im Trio: Der Kapuziner beginnt seine Predigt effektvoll mit larmoyanten Klagerufen in Oboen und Violinen, Posaunenakkorde wirken wie ein Ausrufezeichen, dann folgt in tieferer Stimmlage (Klarinetten, Fagotte, Bratschen) die eigentliche Rede, der die unablässig begleitenden Achtel in den Streicherbässen einen eifernden Tonfall verleihen. Eingestreute Melodiefetzen aus dem Scherzoteil verraten indes, dass die Soldaten den Mönch nicht ganz ernst nehmen. Die plastische Darstellung, die den ganzen Satz auszeichnet, wirkt unmittelbar und lässt verstehen, warum gerade Wallensteins Lager ein solcher Publikumserfolg gewesen ist.

Rheinbergers Symphonisches Tongemälde war das erste Werk eines liechtensteinischen Komponisten, das internationale Anerkennung erfuhr. Deshalb erscheint es nicht verwunderlich, dass das Sinfonieorchester Liechtenstein gerade dieses Stück aufs Programm gesetzt hat, um zur 300-Jahr-Feier des Fürstentums seinen Beitrag beizusteuern. Krumpöck und seinen Musikern gelang dabei eine Aufführung, die ihrem Anlass würdig ist und die Qualität der Komposition trefflich zur Geltung bringt. Gegenüber der älteren Einspielung durch Athinäos hat die neue Aufnahme rein tontechnisch ein klareres, schärfer konturiertes Klangbild voraus. Im Hinblick auf die Darbietung unterscheiden sich beide zum Teil beträchtlich voneinander. Unter Krumpöck dauert die Symphonie rund fünf Minuten weniger. Die Abweichungen betreffen dabei vor allem die Mittelsätze und das Allegro des Finales. Im Thekla-Satz ist Krumpöck rund zwei Minuten schneller als Athinäos, Wallensteins Lager wird in nur zehn Minuten besichtigt (bei Athinäos sind es 11 ½) und im Finale reitet der Titelheld seinem Ende merklich lebhafter entgegen. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) scheint stärker besetzt zu sein als das Sinfonieorchester Liechtenstein, jedenfalls klingen bei Athinäos die Tutti-Stellen kräftiger. Krumpöck dagegen lässt differenzierter artikulieren und erreicht gerade im langsamen Satz, der bei Athinäos recht zäh anmutet, mehr Stringenz und Spannung. Das höhere Tempo der Liechtensteiner im Finale ist nicht einfach ein schnelleres Abspielen der Noten, sondern ergibt sich tatsächlich aus einem besseren Sinn ihres Dirigenten für die Dramaturgie dieses Satzes. Am deutlichsten unterscheiden sich Athinäos und Krumpöck im dritten Satz. Man meint beinahe zwei verschiedene Stücke zu hören: Athinäos interpretiert „Allegretto“ offensichtlich eher als Moderato, während es für Krumpöck fast ein Allegro ist. Durch das mäßige Tempo kommen in der Frankfurter Aufnahme die pittoresken Einzelheiten des Scherzos stärker zur Geltung; manche Effekte unterstreicht Athinäos demonstrativ. Der Hörer erlebt gewissermaßen hier eine Führung durch das Lager. Hingegen bietet ihm Krumpöck eine Ansicht desselben aus der Totale, aus der man zwar alles überblicken kann, die einzelnen Ereignisse jedoch nicht so deutlich zur Geltung kommen. Rein musikalisch wirkt der Satz unter Krumpöck freilich zusammenhängender.

Alles in allem haben wir hier in der Liechtensteinischen Jubiläumsfestgabe eine Aufnahme des Wallenstein vor uns, die der älteren Einspielung wenigstens ebenbürtig und ihr in mancher Hinsicht vorzuziehen ist. Für den gegenwärtigen Stand des Musiklebens im Fürstentum legt sie vorteilhaft Zeugnis ab. Zugleich handelt es sich um ein überzeugendes Plädoyer für einen lange Zeit vernachlässigten Symphoniker von Rang. Ob man nun auch auf eine Einspielung der Florentiner Symphonie durch Krumpöck und das Sinfonieorchester Liechtenstein hoffen darf? Willkommen wäre eine solche durchaus.

Norbert Florian Schuck [Juni 2021]

Gelungene Gitarrentranskriptionen hervorragend gespielt

Naxos, 8.574259; EAN: 7 47313 42597 6

Für Naxos hat Christophe Dejour (Gitarre) eigene Transkriptionen von Werken Carlo Gesualdos, Johann Sebastian Bachs, Alban Bergs und Béla Bartóks eingespielt.

Der dänische Gitarrist Christophe Dejour hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen guten Ruf als Bearbeiter erworben, der dem Repertoire für sein Instrument mehrere Meisterwerke hinzugewonnen hat. So arrangierte er für das von ihm mitbegründete Trio Campanella Isaac Albéniz‘ Iberia und Enrique Granados‘ Goyescas für drei Gitarren. Den bei Naxos erschienenen Einspielungen dieser beiden Zyklen durch das Trio Campanella hat Dejour nun sein erstes Solo-Album folgen lassen. Unter dem Titel The Art of Classical Guitar Transcription präsentiert er eigene Arrangements vierer Kompositionen, die in verschiedenen Epochen für verschiedene Instrumente geschrieben wurden: Carlo Gesualdos Canzon Francese del Principe (eines der wenigen Werke, die der Madrigalfürst für ein Clavierinstrument hinterlassen hat), Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, die Klaviersonate h-Moll op. 1 von Alban Berg und Béla Bartóks späte Sonate für Violine solo. Es werden also – dies lässt sich unschwer als Leitfaden des Programms erkennen – Komponisten zusammengebracht, die allesamt starke Harmoniker gewesen sind und mit kühnem Entdeckersinn den jeweiligen Zeitgenossen neue Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der tonalen Ordnung aufgezeigt haben.

In allen Bearbeitungen hält sich Dejour möglichst eng an die Vorlage und legt nur dann Stimmen um, wenn dies der verglichen mit Tasteninstrumenten geringere Tonumfang der Gitarre nötig macht. Wie sich trotz solchen Einschränkungen bemerkenswert volle Klänge realisieren lassen, zeigt sich namentlich in Dejours Übertragung der Berg-Sonate. Die Möglichkeiten des Zupfinstruments zur Wiedergabe polyphoner Musik kommen in den Gesualdo- und Bach-Transkriptionen wunderbar zur Geltung. Große Sorgfalt in der Übersetzung violintypischer Spielweisen ins Gitarrenidiom lässt sich im Fall der Bartók-Sonate feststellen. Beispielsweise hat sich Dejour, da naturgemäß der Gegensatz von Arco und Pizzicato auf der Gitarre nicht realisierbar ist, an den entsprechenden Stellen der Sonate entschieden, das normale Pizzicato durch ein deutlich weniger resonanzstarkes, das charakteristische „Bartók-Pizzicato“ (wie auf der Violine) durch ein sehr kräftiges Anreißen der Saite wiederzugeben.

Bei den Darbietungen vertieft sich Dejour intensiv in die Beschaffenheit des jeweiligen Stückes und verhilft dadurch jedem der Werke zu einem charakteristischen Klangbild, das sich von dem der übrigen deutlich abhebt. Gesualdos Canzon Francese, eine fugierte Fantasie mit virtuosen Einschüben, entfaltet sich feierlich und gelassen. Die gelegentlichen chromatischen Ausweichungen wirken nicht als aufgesetzte Effekte, sondern als natürlicher Bestandteil des Ganzen. Bachs Chromatische Fantasie gliedert Dejour klar mittels dynamischer Kontraste und passend eingesetzter Rubati. Von dem Vorteil, dass auf der Gitarre im Gegensatz zum Cembalo eine direkte Einwirkung des Spielers auf die Saite möglich ist, macht er reichlich Gebrauch und gestaltet namentlich den ariosen Schluss der Fantasie hochexpressiv. Dass die Fuge den Gitarristen vor hohe spieltechnische Herausforderungen stellt, ist in der Aufnahme gelegentlich zu hören. Dejour begegnet ihnen, indem er ein deutlich langsameres Grundtempo anschlägt als die meisten Clavierspieler und dieses durch sorgfältige Artikulation spannungsvoll belebt. Um die dissonanten Akkordtürme der Bergschen Klaviersonate möglichst umfassend darzustellen, bedient sich Dejour in diesem Stück ausgiebig des Portamentos, was den nicht unwillkommenen Nebeneffekt zur Folge hat, dass das Stück unter seinen Händen einen geradezu vokalen Charakter annimmt, dass es „singt“. Die Struktur dieses einzeln stehenden Sonatensatzes wirkt in Dejours Einspielung erfreulich klar und übersichtlich, der Verlauf wirklich prozesshaft. Wohltuend unterscheidet sich diese Aufnahme von der Auffassung der Sonate als zerklüfteter Abfolge von Einzelereignissen, als welche sie mitunter zu hören ist. Ist die Sonate Bergs eine Äußerung des Wiener Fin de Siècle, so zeigt sich in der über dreißig Jahre später entstandenen Solo-Violinsonate seines Generationsgenossen Bartók eine Haltung, die zur Musik der Jahrhundertwende, in der sie freilich wurzelt, deutlich auf Distanz gegangen ist – nicht zuletzt durch das Rekurrieren auf barocke Vorbilder. Entsprechend lässt Dejour dieses Stück rauer, „sachlicher“ klingen. Er verzichtet auf „Fülle des Wohllauts“, nicht aber darauf, die Feinheiten der Musik herauszuarbeiten. Als besonders gelungen lässt sich die Fuge hervorheben, die Dejour stringent und mit unwiderstehlichem Schwung darbietet.

Wer also hören möchte, wie sich die bekannten Clavier-, Klavier- und Violinwerke in meisterlichen Bearbeitungen auf der Gitarre ausnehmen, und dies ebenso hervorragend gespielt, der kann bedenkenlos zu dieser CD greifen. Sie zeugt eindrucksvoll von Christophe Dejours Kunstfertigkeit auf beiden Gebieten.

Norbert Florian Schuck [Mai 2021]

Sibelius‘ Vierte in vorbildlicher Ausgabe

Breitkopf & Härtel, SON 635; ISMN: 979-0-004-80370-7

Mit der Ausgabe von Jean Sibelius‘ Vierter Symphonie, die Tuija Wicklund im Rahmen der bei Breitkopf & Härtel erscheinenden textkritischen Sibelius-Gesamtausgabe als Band 5 der Serie I vorgelegt hat, haben wir eine editorische Meisterleistung vor uns. Bereits optisch nimmt der 25 x 32 cm messende blaue Leinenband für sich ein. Der Notentext ist vorbildlich gesetzt. Das Druckbild wirkt angenehm entspannt: Überall wurde den Noten, Vorzeichen und Vortragsanweisungen der nötige Platz gegönnt; nirgends drängen sich die Zeichen unschön zusammen. Auch die gewählten Abstände der einzelnen Notenlinien wie die der Systeme zueinander unterstützen den lesefreundlichen Eindruck.

Die Herausgeberin hat dem Band ein umfangreiches Vorwort vorangestellt (die deutsche Übersetzung hätte besser lektoriert werden müssen), das ausführlich über die Geschichte der Symphonie informiert: von den ersten Einfällen während eines Ausflugs zum Berg Koli im Herbst 1909 bis zu den Anfängen ihrer internationalen Verbreitung. Man erlebt mit, wie das Werk in den Gedanken seines Autors Gestalt annimmt, wie es zeitweise zu Gunsten eines letztlich aufgegebenen Projekts zur Vertonung von Poes The Raven zurückgestellt wird, wie Sibelius auch nach der Uraufführung am 3. April 1911 um die endgültige Gestalt ringt und wie er auf die Kritiken der ersten Aufführungen reagiert, namentlich auf Versuche programmatischer Deutungen, die ihn ärgern (ein pseudonymer Kritiker, der um die Anfänge auf dem Koli wusste, nahm diese zum Anlass, das Stück als „Touristenmusik“ zu bezeichnen).

Im Anhang erhält man Gelegenheit, einen Blick in die Werkstatt des Meisters zu werfen. Während Sibelius den ersten Satz zwischen Uraufführung und Drucklegung nur in Einzelheiten veränderte, unterzog er die übrigen drei Sätze umfangreicheren Revisionen. Die Herausgeberin hat für die vorliegende Ausgabe die ersten Fassungen des Scherzos (16 Takte kürzer als die Endfassung) und des langsamen Satzes (mit einem instrumentatorisch und auch rhythmisch von der Endfassung abweichenden Schluss) sowie fünf vom endgültigen Text abweichende Abschnitte der Erstfassung des Finales rekonstruiert. Faksimiles zweier Skizzenblätter und mehrerer Seiten aus der ersten Partiturniederschrift und dem bei der Uraufführung benutzen Stimmensatz ergänzen diesen Teil des Bandes.

Der kritische Bericht enthält eine gründliche Dokumentation des vorhandenen Quellenmaterials nebst vergleichender Übersicht. Vor allem aber muss lobend erwähnt werden, dass Tuija Wicklund hier auch die überlieferten aufführungspraktischen Hinweisungen des Komponisten zusammengetragen hat. Anhand derselben wird wieder einmal bewusst, dass jede Aufführung eines Werkes ein einmaliges Ereignis ist, das man nicht wiederholen, höchstens durch eine Aufnahme dokumentieren kann. Sibelius wurde wiederholt um Metronomangaben und Spielanweisungen für die Vierte Symphonie gebeten. Seine Anmerkungen geben klare Richtlinien für den Grundcharakter des Ganzen: Er wünscht keine Sentimentalität, keine schwerfälligen Tempi und möchte den Schluss „so ernst wie möglich und ohne ritardando (tragisch, ohne Tränen, unwiderruflich)“ gespielt wissen. Was allerdings die Metronomzahlen betrifft, so macht er zu verschiedenen Zeiten verschiedene Angaben und schreibt einmal daneben, es sei unmöglich sie exakt festzuhalten. Beispielsweise gibt er für das Finale 1935 ein Grundtempo von Halbe=132 an, 1937 Halbe=108 (geändert aus Halbe=104), 1942 schließlich Halbe=126–132. Die Coda des Satzes denkt er sich etwas langsamer (1935: ab Buchstabe S „nach und nach ruhiger“, Halbe=100 ab Buchstabe U). Diese Bemühungen um präzise Vortragsanweisungen sind vor allem Ausdruck der Auseinandersetzung des Komponisten mit den ersten Einspielungen des Stückes. Als Walter Legge ihn 1935 im Vorfeld einer Aufnahme der Vierten durch Thomas Beecham um Tempovorschriften bat, lagen bereits zwei Einspielungen der Symphonie durch Leopold Stokowski bzw. Georg Schnéevoigt vor, auf welche Sibelius mit seinen Hinweisungen an Beecham reagierte. Höchst interessant erscheint eine 1942 von Sibelius‘ Schwiegersohn Jussi Jalas aufgezeichnete Bemerkung zum Vortrag des Schlusses (auch Jalas vermerkt die Forderung senza ritardando!): „Wegen der Metronomangaben hörten wir eine von Beecham dirigierte Aufnahme, die Sibelius sehr mochte. Weil Beecham das Ende exakt im Tempo dirigiert, sagte Sibelius, dass es so dirigiert in ungeübten Händen tot klingen könnte, Beecham aber seine Seele hineingetan hat.“ Übrigens fand die Verwendung von Röhrenglocken im Finale, wie sie bei Stokowski zu hören sind (dort im Wechsel mit dem Glockenspiel), nicht die Zustimmung des Komponisten. Er fand, sie klängen „zu orientalisch“.

Neben dem vorzüglich präsentierten Notentext und der Edition der Erstfassungen zweier Sätze sind es vor allem die hier mitgeteilten Äußerungen Sibelius‘ zur Aufführungspraxis, die diese Ausgabe in höchstem Grade empfehlenswert für Jeden machen, der sich eingehend mit der Vierten Symphonie beschäftigen möchte. Mit einem Preis von 168,00 € mag sie nicht die billigste sein, doch ihr Geld ist sie wert!

[Norbert Florian Schuck, Mai 2021]

Ein Schweizer Bergmassiv mit zehn Gipfeln

Brilliant Classics, 99784; EAN: 5 028421 957845

Brilliant Classics präsentiert das gesamte Orchesterwerk des bedeutenden Schweizer Symphonikers Fritz Brun (1878–1959) in einer preiswerten 11-CD-Packung. In den ursprünglich bei Guild und Sterling erschienenen Aufnahmen sind das Moscow Symphony Orchestra und das Bratislava Symphony Orchestra unter der Leitung von Adriano zu hören.

Der Schweizer Dirigent Adriano ist ein Musiker, der ganz aus dem Studio heraus wirkt. Ohne je im Konzertsaal aufgetreten zu sein, hat er seit den 1980er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Symphonie-Orchester des Slowakischen Rundfunks, dem Bratislava Symphony Orchestra und dem Moscow Symphony Orchestra ein umfangreiches diskographisches Werk geschaffen, das überwiegend bei Marco Polo/Naxos, Sterling und Guild erschienen ist. Sein besonderes Augenmerk galt dabei stets der Förderung vernachlässigter Kompositionen. Bei einem nicht geringen Teil der Aufnahmen Adrianos handelt es sich um Ersteinspielungen, und wiederholt ist es vorgekommen, dass der Dirigent das Orchestermaterial anhand unveröffentlichter Manuskripte selbst erstellt hat. Schwerpunkte in Adrianos Diskographie bilden das Schaffen Ottorino Respighis, von dem er mehrere frühe Orchesterwerke sowie die Opern La bella dormente nel bosco und Lucrezia als erster auf CD brachte, Filmmusik (u. a. jeweils vier Arthur Honegger und Georges Auric gewidmete CDs) und Werke schweizerischer Komponisten. In letzterer Kategorie leistete er Pionierarbeit für Émile Jaques-Dalcroze (3 CDs), Pierre Maurice, den völlig übersehenen Wagnerianer Albert Rudolph Fäsy, den in der Schweiz lebenden Amerikaner George Templeton Strong (3 CDs), sowie für Hermann Suters großartige d-Moll-Symphonie. Zu nennen wären weiterhin die Ersteinspielung der Symphonie Nr. 1 des Nürnberger „Metamorphosen-Symphonikers“ Martin Scherber und zwei CDs mit Werken des jung gestorbenen Italieners Mario Pilati. Den Höhepunkt von Adrianos Wirken als Dirigent und musikalischer Entdecker markiert dabei zweifelsohne seine Gesamtaufnahme der Orchesterwerke von Fritz Brun, die er zwischen 2003 und 2015 mit dem Moscow Symphony Orchestra und dem Bratislava Symphony Orchestra auf zehn CDs festhielt.

Auch Fritz Brun war Schweizer. 1878 in Luzern geboren, ging er 19-jährig nach Köln, um bei Franz Wüllner Komposition und Dirigieren zu studieren. Nach kurzen Intermezzi als Hauspianist des kunstsinnigen Prinzen Georg von Preußen in Berlin, sowie als Klavierlehrer in London und Dortmund, kehrte er 1903 in die Schweiz zurück und ließ sich in Bern nieder, wo ihn die Bernische Musikgesellschaft 1909 zum Generalmusikdirektor berief. Als Dirigent des Berner Stadtorchesters, der Liedertafel und des Cäcilienvereins war Brun über drei Jahrzehnte der wichtigste Musiker der Stadt und eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben der Schweiz. Gastspiele u. a. in Paris und Rom belegen sein Ansehen auch im Ausland. 1941 trat er in den Ruhestand und lebte in Morcote am Luganer See bis zu seinem Tode 1959 nur noch seinem Schaffen.

Seinem Haus in Morcote hat Brun den Namen Casa Independenza gegeben. Das ist durchaus auch als Programm für sein kompositorisches Lebenswerk zu verstehen, denn ein Unabhängiger war Fritz Brun als schöpferischer Künstler von Anfang an. Gewiss kann man ihn einen Traditionalisten nennen und jedes seiner Werke ein Klang gewordenes Bekenntnis zu einer großen Tradition – namentlich zur durch tonale Beziehungen gegliederten instrumentalen Großform, wie sie beispielhaft von Johannes Brahms repräsentiert wird –, doch hat sich Brun nie von Vorbildern abhängig gemacht und lässt sich entsprechend auch keiner „Schule“ zurechnen. Den Meistern der Vergangenheit gegenüber nimmt er die Haltung eines dankbaren Erben ein, aber eines, der mit dem überkommenen Gut nach eigenen Vorstellungen waltet. Die entspannte Haltung eines souveränen Charakters zeigt sich auch in seinem Verhältnis zu den modernistischen Strömungen seiner Zeit. So beschäftigte er sich in den 1920er Jahren intensiv mit dem „Problem der atonalen Auflockerung“, zu welcher er meinte: „Ich stehe ihr feindlich gegenüber, wenn sie sinnlos, phantasielos dem Schreiben einer öden Papiermusik verfällt, sie fesselt mich in hohem Grade, wenn sich Köpfe wie Strawinsky und Schoeck mit ihr befassen.“ Was Brun hier als „atonal“ bezeichnet, ist – die Erwähnung Igor Strawinskys und Othmar Schoecks deutet bereits darauf hin – eine freie Dissonanzbildung und Stimmführung, die sich vom Funktionsakkorddenken und schulmäßig kontrapunktischen Regelwerk des 19. Jahrhunderts löst, jedoch keine wirkliche Atonalität im Sinne harmonischer Beziehungslosigkeit. Seine Stücke anhand klarer tonaler Zusammenhänge aufzubauen, blieb ihm eine Selbstverständlichkeit, auch wenn er, gerade in den Werken seiner mittleren Schaffensperiode um 1930, eine an scharfen Dissonanzen reiche Harmonik kultivierte.

Brun war vor allem Orchesterkomponist. Im Zentrum seines schöpferischen Lebenswerkes stehen zehn Symphonien, die zwischen 1901 und 1953 vollendet wurden. Sie bilden das Rückgrat der vorliegenden, nunmehr von Brilliant Classics in einer Box zusammengefassten 11-CD-Edition. Hinzu kommen vier einsätzige Orchesterwerke, von denen die Symphonische Dichtung Aus dem Buch Hiob dem Frühwerk angehört; der Symphonische Prolog und die Ouvertüre zu einer Jubiläumsfeier stammen aus späteren Jahren, die Rhapsodie von 1957 ist Bruns letztes Werk überhaupt. An konzertanten Kompositionen hinterließ Brun ein Violoncello- und ein Klavierkonzert sowie ein einsätziges Divertimento und einen Variationszyklus für Klavier und Streichorchester. Auch alle diese Stücke gehören seinem Spätwerk an. Auf Vollständigkeit bedacht, hat Adriano nicht nur Bruns orchestrale Instrumentalmusik eingespielt, sondern sich auch seinen beiden Chorwerken mit Orchester gewidmet: Verheißung für gemischten Chor, Orgel und Orchester (Bruns größtbesetztes Werk) und Grenzen der Menschheit für Männerchor und Orchester, beide auf Texte von Goethe. Außerdem sind in der Werkschau fünf Lieder für Altstimme und Klavier enthalten, die Adriano für Streichsextettbegleitung arrangierte (Liedbearbeitungen dieser Art sind eine Spezialität des Dirigenten), sowie drei Klavierlieder von Othmar Schoeck, denen Fritz Brun zu einem orchestralen Klanggewand verholfen hat.

Ein Blick auf Schoeck lohnt sich, will man Hörern, die Brun noch nicht kennen, eine ungefähre Vorstellung davon geben, was sie in dessen Musik erwartet, handelt es sich doch bei Schoeck um denjenigen unter Bruns komponierenden Zeitgenossen, dem dieser sich künstlerisch und menschlich besonders eng verbunden fühlte. Beide Komponisten widmeten einander Werke, dirigierten Aufführungen der Stücke des jeweils anderen, und verbrachten, seit 1908 gut befreundet, auch privat regelmäßig Zeit zusammen, wanderten beispielsweise in jungen Jahren zweimal nach Italien (auf der zweiten Reise zusammen mit Hermann Hesse). Ihre frühen Briefe pflegten sie, nach ihren Lieblingskomponisten, mit „Johannes“ (Brahms = Brun) und „Hugo“ (Wolf = Schoeck) zu unterschreiben. Die Namen verraten, wie beide sich selbst sahen – und es ist der Freundschaft gewiss nicht abträglich gewesen, dass sie einander nicht als Konkurrenten betrachteten: Schoeck schrieb, wie Wolf, keine Symphonien und überhaupt vergleichsweise wenig Instrumentalmusik, Brun, wie Brahms ein ausgesprochener Sonatenkomponist, keine Opern und nur sehr wenige Lieder. Die Œuvres beider ergänzen einander, als handelte es sich um zwei Seiten einer Medaille. Gewissermaßen haben Brun und Schoeck die gleiche stilistische Haltung in unterschiedlichen Genres kultiviert: Brun in der instrumentalen Großform, Schoeck in der Oper und der lyrischen Miniatur. Beide nehmen auch eine ganz ähnliche stilistische Entwicklung, schaffen ihr Frühwerk in direkter Nachfolge der Meister, nach denen sie ihre Freundschaftsnamen gewählt haben, durchlaufen in mittleren Jahren eine Phase „expressionistischer“ Dissonanzballungen (Schoeck: Penthesilea) und finden schließlich zu einem vergeistigten, abgeklärten Spätstil, der die Errungenschaften der frühen und mittleren Werke gleichsam transzendiert.

Wie Schoeck ist Brun ein ungemein einfallsreicher Harmoniker, der sich auf feinste Übergänge versteht, den Einzugsbereich einer Tonart mit zahlreichen Nebenharmonien und Zwischenstufen vielfarbig auszugestalten weiß, und dissonante Vorhalte in verschiedenen Spannungsgraden dazu nutzt, das Geschehen reizvoll in der Schwebe zu halten. Hinsichtlich der Melodiebildung und des Periodenbaus neigt Brun schon frühzeitig zu dem, was Arnold Schönberg „musikalische Prosa“ nennt. Auch liebt er den polyphonen Tonsatz, gerade die mittleren und späten Werke sind geprägt von einem fein verästelten Miteinander der Stimmen, in welchem die Hauptmotive beständig variiert werden. Bruns Musik ist, wie Max Reger gesagt hätte, „bis in die äußersten Zweiglein durchgebildet“. Während jedoch manche seiner Zeitgenossen unter ähnlichen Voraussetzungen einen üppig-geschmeidigen „Jugendstil“ kultivieren, wirkt Brun sehr bodenständig, mitunter geradezu urig. Auch liebt er starke Stimmungskontraste: Schattige Idyllen, gemalt in exquisitem harmonisch-instrumentatorischem Chiaroscuro, gibt es in seinen Werken ebenso wie steile, schroffe Felswände und hoch aufragende Gipfelzinnen. Den ersten Satz der Dritten Symphonie charakterisierte der Komponist gar selbst als „anorganisches, einsames, feindliches“ Hochgebirge.

Einen guten Einstieg in Bruns Welt bietet die Achte Symphonie von 1942, in deren Anfangstakten man die Kunstgriffe des Komponisten wunderbar in nuce nachvollziehen kann. Der Kopfsatz beginnt heftig bewegt mit irregulär periodisierten Fanfarenklängen. Der unharmonisierte erste Ton ist E, Dominante der angegebenen Haupttonart A-Dur. Bevor diese eintritt, erscheinen als erste Harmonien Mollklänge: cis, f, d. Letzteres führt als Subdominante in eine Kadenz nach A-Dur, doch nach einem einzelnen kurzen Tonika-Akkord geht es sofort unruhig weiter. Brun gelingt hier das Kunststück eine Musik zu schreiben, die fest in A-Dur verankert ist, sich aber über weite Strecken in Nebenharmonien der Haupttonart bewegt und, da die Phrasen häufig Moll-Akkorde als Ziel ansteuern, eher Moll- als Dur-Charakter aufweist. Den vier Sätzen der Symphonie liegt als Idee die Abfolge der Tageszeiten zugrunde. Der erste Satz mit seiner unruhigen Stimmung gibt das treffliche Bild eines betriebsamen Tagesgeschehens. Dem weit ausgesponnenen zweiten Satz liegt als Refrainthema das alte Berner Volkslied „Schönster Abestärn“ zugrunde, das in mehreren Zwischenepisoden auf vielfältige Weise verwandelt wird. An dritter Stelle folgt – vom Tempo her ein weiterer langsamer Satz, doch nach dem zweiten durchaus beschwingt wirkend – ein bezauberndes Notturno mit einem beinahe konzertanten Solo für die Bassklarinette. Das Finale steht in a-Moll, hebt in mäßiger Bewegung an und entwickelt nach und nach immer mehr Aktivität, bis es, wie der Morgen in den Mittag, in die Eröffnungsfanfare des Kopfsatzes einmündet.

Bruns Symphoniestil erscheint erstmals in der 1930 uraufgeführten Fünften Symphonie zu voller Reife ausgeprägt. Dieses Stück kann mit Fug und Recht ein Extremwerk genannt werden. In Bruns Schaffen nimmt es einen ähnlichen Platz ein wie die Penthesilea bei Othmar Schoeck, oder auch die ein paar Jahre später entstandene Vierte Symphonie von Ralph Vaughan Williams im Werk ihres Komponisten. Wenn man liest, die Symphonie stehe in Es-Dur, so lasse man am besten jeden Gedanken an Beethovens Eroica, an Schumanns Rheinische oder an Bruckners Romantische beiseite! Das Thema der eröffnenden Chaconne ist so stark von Chromatik geprägt, dass die Melodie als solche keinen Dur-Eindruck aufkommen lässt. Auch in der Harmonisierung vermeidet Brun lange Zeit die Festigung der nominellen Haupttonart. Geschickt baut er in den Variationen Spannung auf und ab, doch handelt es sich um Abstufungen von Dissonanzgraden. Es brodelt beständig in diesem von grellen Kontrasten geprägten Satz, die nervöse Unruhe verschwindet nicht. Erst ganz am Ende erscheint das Thema in eindeutiger Es-Dur-Harmonisierung glanzvoll im Tutti. Man gönne der Tonart diesen Triumph, denn es bleibt der einzige im ganzen Werk! Die Siegesstimmung wird umgehend durch ein schattenhaft dahinhuschendes Scherzo durchkreuzt. Auch der langsame Satz bringt keine Aufhellung: Brun schrieb ihn als Trauermusik im Gedenken an seinen Freund, Kapellmeisterkollegen und Mitsymphoniker Hermann Suter. Der Finalsatz ist eine Fuge, deren Thema aus einem Motiv des dritten Satzes gewonnen wurde. Ähnlich Beethovens Großer Fuge und den Fugen des deutschen Brun-Zeitgenossen Heinrich Kaminski verwandelt sich das Thema im Verlauf des Stückes, sodass das wiederkehrende Chaconne-Thema des Kopfsatzes als weitere Variation des Fugenthemas erscheint. „Kontraste, Konflikte“ heißt eine geniale Symphonie des eine Generation jüngeren ostdeutschen Meisters Ernst Hermann Meyer. Dies wäre auch ein passender Titel für das Finale von Bruns Fünfter. Die Konflikte der ersten drei Sätze werden in diesem Stück nicht gelöst, sondern mittels intensivierter Kontrapunktik noch verschärft, bis in es-Moll ein Ende mit Schrecken gemacht wird.

Über weite Strecken behandelt Brun in der Fünften Symphonie das Orchester wie ein großes Kammermusikensemble. Diese Tendenz setzt sich in der Sechsten (C-Dur) fort, die in vielerlei Hinsicht wie ein lichtes Gegenstück zu dem Vorgängerwerk wirkt. Begann dieses mit einem Variationssatz, so dient in der Sechsten ein solcher als Finale. Trotz der Moll-Tonart macht er verglichen mit dem Kopfsatz der Fünften einen geradezu freudigen, zuversichtlichen Eindruck, und mündet auch folgerichtig in eine strahlende Dur-Coda. Wie Nr. 6 so hat auch Nr. 7 in D-Dur einen relativ knappen, vergleichsweise leichtgewichtigen Kopfsatz in mäßig langsamem Tempo. Ließ Brun die Sechste ausdrücklich mit einem „Präludium“ beginnen, so eröffnet er die Siebte mit einem „Nachklang“: Was nachklingt, ist ein Motiv aus Schoecks Oper Venus, das Brun nicht wörtlich verwendet, sondern – eben wie es in ihm nachgeklungen hat – bereits in verwandelter Form verarbeitet. Nach dem spukhaften Scherzo der Fünften und dem derb stampfenden der Sechsten, könnte man den entsprechenden Satz der Siebten Symphonie eine phantastische Jagdszene nennen. An dritter Stelle folgt, ähnlich der Sechsten, ein zartes Stück in melancholischem Serenadenton. Wie die Symphonien Nr. 5, 6 und 8, die alle nominell in Dur-Tonarten stehen, besitzt auch die Siebte ein Finale in Moll. Fast doppelt so lang wie der Kopfsatz, ist es fraglos der gewichtigste Abschnitt der Symphonie und zeigt seinen Komponisten vom unruhigen, zurückhaltenden Beginn bis zum choralartigen Schluss, der wahrhaft „hochgebirgig“ klingt, als Meister des weiträumigen Spannungsaufbaus.

Die beiden letzten Symphonien, die Brun als über 70-Jähriger komponierte, setzen sich recht deutlich von den vorangegangen ab und wirken wie zwei unterschiedliche Entwürfe zu einem „altersweisen“ symphonischen Schlusswort. Die Neunte (F-Dur) ist wie Nr. 5–8 eine ausgesprochene Finalsymphonie, lässt jedoch dem viertelstündigen, ernsten Andante, mit dem sie schließt („Glaube und Zweifel – Lob Gottes und der Natur“), vier ziemlich kurze Sätze voller pittoresker Elemente vorangehen („Präludium“, „Serenade“, „Liebesruf“, „Im Kreis der Freunde“) – die Monumentalsymphonik früherer Jahre erscheint ins Idyllische sublimiert. In der Zehnten (B-Dur) schließlich, der kürzesten aller Symphonien Bruns, verschwindet auch die Gewichtung des Finalsatzes. Alle Monumentalität bleibt beiseite; das Werk präsentiert sich durchweg als heiter-abgeklärtes Musizieren eines gereiften, feinsinnigen Komponisten, der sich und der Welt nichts mehr beweisen muss.

Obwohl Brun seine Erste Symphonie bereits mit 23 Jahren schrieb, entwickelte sich sein Personalstil vergleichsweise langsam. Die ersten vier Symphonien bilden gleichsam die Wegmarken dieser Entwicklung. Nr. 1 in h-Moll verhält sich zu den späteren Werken ungefähr wie Bruckners Erste zu dessen späteren Symphonien: Der Komponist schreibt noch nicht in seinem späteren Stil, aber er schreibt mit unverkennbar individueller Note. Es handelt sich um Bruns Abschlussarbeit am Kölner Konservatorium, seine erste Orchesterkomposition überhaupt, doch spricht aus dem Werk kein Anfänger, sondern ein junger Meister. Brun stellt sich merklich in die Tradition von Brahms, auf den er mehrfach direkt anzuspielen scheint. Gerade diese Anklänge zeigen Bruns Souveränität im Umgang mit dem Vorbild: Er imitiert nicht, er kommentiert. Man höre sich etwa den Beginn des Finales an und vergleiche ihn mit den entsprechenden Stellen in Brahmsens Zweiter und Dritter Symphonie! Auch in der Instrumentation geht er eigene Wege, weist etwa den Blechbläsern größere Bedeutung zu als Brahms dies tat. Bereits in dieser Symphonie neigt Brun zu schroffen Kontrasten. Besonders originell ist der Schluss: Die Musik scheint einen kraftvollen Ausklang anzustreben, fällt jedoch binnen wenigen Takten in sich zusammen, als würde sie plötzlich in einem Abgrund versinken.

Die Symphonien Nr. 2–4 wirken weniger stringent als dieser sehr gelungene Erstling, schlagen jedoch persönlichere Töne an. Das Vorbild Brahms ist in der lyrischen Zweiten (B-Dur) mit ihrem volkstümlich-verspielten Finale nur noch an wenigen Stellen präsent. In der dreisätzigen Dritten (d-Moll) schärft sich Bruns individuelles Profil bedeutend. Namentlich im Rhythmischen steckt das über einstündige Werk voller interessanter Einzelheiten. Zwar ist Nr. 3 tatsächlich Bruns längste Symphonie, doch klingt sie auch deutlich länger als die übrigen – der Schwung der Ersten ist nahezu ganz verschwunden, selbst die „Allegro“-Ecksätze schleppen sich mit der Schwerfälligkeit eines Alpengletschers voran. Auch in der Vierten (E-Dur) dominieren behäbige Zeitmaße, doch schreibt Brun hier wieder flüssiger. Einen selbstständigen langsamen Satz enthält das Werk nicht, dessen Funktion wird gewissermaßen auf das Trio des Scherzos und die langsame Einleitung zum Finale verteilt. Der Stil der späteren Werke kündigt sich schon deutlich an, namentlich in den dissonanten Harmonien und stampfenden Rhythmen des Scherzos. Brun war im Bezug auf diese Symphonie übrigens der Meinung, sie sei insoweit „mangelhaft“, als dass er sie „mit Bruckner im Nacken“ niedergeschrieben habe. Ein seltsamer Selbstvorwurf, denn weder klingt das Werk stilistisch uneigenständig, noch besonders brucknerisch – bestenfalls ganz entfernte Anklänge an Bruckners Siebte Symphonie ließen sich anführen.

Die vier einsätzigen Orchesterwerke Bruns unterscheiden sich deutlich voneinander. Aus dem Buch Hiob, seine einzige Symphonische Dichtung, datiert aus den Jahren zwischen der Ersten und Zweiten Symphonie. Anscheinend versuchte sich der Komponist, gerade weil er in der Ersten Symphonie auf Brahmsens Spuren wandelte, nun in programmatischer Musik. Das Werk ist im Wesentlichen ein dunkel getöntes großes Adagio mit belebteren Episoden. Auf einer Höhe mit den mittleren und späten Symphonien steht der monumentale Symphonische Prolog von 1944, ein ausgedehnter Allegrosatz mit langsamer Einleitung. In der Ouvertüre zu einer Jubiläumsfeier verarbeitet Brun geistreich und unterhaltsam ein Berner Volkslied, das aber erst am Ende in seiner Originalgestalt erklingt. Der Effekt ähnelt dem Schluss der Akademischen Festouvertüre von Brahms, zu welcher Bruns Werk ein würdiges Gegenstück darstellt. Als letztes Werk überhaupt komponierte Brun mit fast 80 Jahren eine zehnminütige Rhapsodie. Adriano scheint mir das Werk in seinem Kommentar zu unterschätzen, denn ein Nachlassen der Schöpferkraft vermag ich hier nicht festzustellen. Rhapsodisch im Sinne von „aus heterogenen Elementen zusammengesetzt“ ist das Werk nicht, vielmehr zeigt sich Fritz Brun hier ein letztes Mal als Meister in der Kunst motivischer Verwandlung.

Als Komponist konzertanter Werke ist Brun erst spät tätig geworden. Die beiden dreisätzigen Konzerte für Violoncello und für Klavier datieren aus der Zeit zwischen der Achten und Neunten Symphonie, ebenso die Variationen für Streichorchester und Klavier. Das Divertimento für Klavier und Streicher gehört zu seinen letzten Werken. Wie Brahms bloßer Effekthascherei abhold, vermeidet Brun äußerliche Brillanz in der Gestaltung der Solopartien. Soloinstrument und Orchester agieren stets eng miteinander verzahnt als gleichberechtigte Partner in einem teils symphonisch, teils kammermusikalisch anmutenden Geschehen. Die Variationen und das Divertimento sind hochwertige Beiträge zur konzertanten Literatur für Kammerorchester. Die beiden großen Konzerte dürften zu den technisch und musikalisch anspruchsvollsten ihrer Art gehören und stellen gerade die Solisten vor große, aber auch durchaus lohnende Herausforderungen im Hinblick auf die Erfassung motivischer Zusammenhänge, denn da Brun das beständige Variieren liebt, lässt er die Themen in den Solostimmen in immer neuen Varianten auftreten.

An Vokalmusik hat Brun vor allem A-cappella-Chöre hinterlassen, während er nur selten instrumental begleitete Gesangsstücke schrieb. Die fünf Klavierlieder, deren Begleitung Adriano sehr ansprechend für Streichsextett gesetzt hat, stellen nichts weniger als etwa die Hälfte der Beiträge des Komponisten zu dieser Gattung dar. Es mögen Nebenwerke sein, und sie mögen eine Vergleichung mit den drei Liedern Othmar Schoecks, die in Bruns Orchesterfassung ebenfalls Teil der Brilliant-Edition sind, nicht eigentlich aushalten, doch sind es nichtsdestoweniger Nebenwerke eines Meisters. Als Hauptwerke auf vokalem Gebiet können dagegen die beiden orchesterbegleiteten Goethe-Chöre gelten, die sich durch kräftige Kontraste und eine herbe, aus linearer Polyphonie gewonnene Harmonik auszeichnen.

Zu Lebzeiten war Fritz Brun in seiner Heimat ein sehr angesehener Komponist, was sich nicht nur an verschiedenen Preisen zeigt, die ihm verliehen wurden, sondern auch daran, dass seine Symphonien stets kurz nach ihrer Vollendung uraufgeführt wurden, um anschließend von verschiedenen Schweizer Orchestern nachgespielt zu werden. Illustre Dirigenten nahmen sich der Werke an; insbesondere auf Volkmar Andreae und Hermann Scherchen konnte Brun zählen. So war etwa die Fünfte Symphonie 1930 innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Uraufführung durch Andreae in Zürich auch in Winterthur unter Scherchen und in Bern unter Brun selbst zu hören. Auch leitete Scherchen 1933 eine Probeaufführung der Sechsten Symphonie in Winterthur und dirigierte das Werk, nachdem es im Folgejahr durch Andreae in Zürich offiziell uraufgeführt worden war, an drei aufeinanderfolgenden Tagen in Winterthur und Bern. Weit weniger Glück hatte Brun allerdings mit der Drucklegung seiner Werke. Es ist angesichts der Originalität und Qualität seiner Werke völlig unverständlich, warum bis zum heutigen Tage seine sämtlichen Symphonien, mit Ausnahme der Nummern 2 bis 4, lediglich Manuskript geblieben sind! Auch von den Konzerten gibt es keine gedruckten Partituren. Einzig die von Adriano erstellten Klavierauszüge des Cello- und des Klavierkonzerts sind veröffentlicht. Insofern ist diese Gesamtaufnahme auch als ein Plädoyer zu verstehen, all diesen Stücken zu einer angemessenen Verbreitung durch den Druck zu verhelfen; ein Plädoyer, dem sich der Verfasser dieser Zeilen gern anschließen möchte. Verleger hervor! Wer traut sich? Hier gibt es Ehre zu erwerben!

Adriano hat seine zehn CDs umfassende Gesamteinspielung innerhalb von 13 Jahren mit zwei Orchestern durchgeführt. Abgesehen von der Achten, ist in allen Symphonien das Moscow Symphony Orchestra zu hören, ebenso in den einsätzigen Orchesterwerken. In den drei zuletzt entstandenen Produktionen – der Achten Symphonie und den drei Schoeck-Liedern, den Werken für Klavier und Orchester, sowie dem Cellokonzert und den Vokalwerken – spielt das Bratislava Symphony Orchestra. Die erste CD, die Einspielung der Dritten Symphonie, war ursprünglich bei Sterling erschienen, die übrigen CDs bei Guild. Die Wiederveröffentlichung durch Brilliant vereint somit zum ersten Mal den ganzen Zyklus unter einem gemeinsamen Dach. Will man die Leistung der Ausführenden richtig einschätzen, so sollte man bedenken, dass es sich um eine Pioniertat handelt. Adriano hat mit den Orchestern Werke einstudiert, die nicht nur durch ihre weitgehend polyphone Beschaffenheit und mitunter komplizierte Rhythmik höchste Anforderungen an die Musiker stellen, sondern die auch über keine besondere, teilweise auch gar keine Aufführungstradition außerhalb der Schweiz verfügten. Die Orchester in Moskau und Bratislava betraten mit Bruns Musik völliges Neuland. Adriano hat es vermocht, sie mit den Gegebenheiten dieser Werke vertraut zu machen und zu handwerklich sehr soliden, musikalisch überzeugenden Darbietungen anzuspornen. Bruns Rhythmen sind bei Adriano in sicheren Händen, auch wahrt er stets die Übersicht über das Zusammenspiel der Orchestergruppen. Mit dem Cellisten Claudius Herrmann und dem Pianisten Tomáš Nemec stehen ihm in den Instrumentalkonzerten fähige Solisten zur Verfügung, denen sich die Mezzosopranistin Bernadett Fodor in den Liedern würdig anschließt. Der Bratislava Symphony Choir erledigt seine Aufgabe in den Chorstücken gut, wenn auch nicht ohne Probleme bezüglich der Textverständlichkeit. Nur im Falle einer einzigen Aufnahme, nämlich des Klavierkonzerts, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, die Musiker hätten sich (in den Ecksätzen, weniger im Mittelsatz) mit der bloßen technischen Bewältigung des (offenbar sehr schweren) Stückes zufrieden gegeben. Dass ich mir noch stringentere, die Feinheiten der Brunschen Musik noch genauer herausarbeitende Darbietungen als die hier aufgezeichneten vorstellen kann, besonders wenn Orchester und Dirigent Erfahrungen mit den Werken im Konzert gemacht hätten, sei nicht verschwiegen; Adriano hat allerdings für zukünftige Konkurrenzeinspielungen die Messlatte hoch gelegt. Im Großen und Ganzen kann man den Dirigenten und seine Mitstreiter nur beglückwünschen, ein solches Projekt über einen so langen Zeitraum weitergeführt und erfolgreich zum Abschluss gebracht zu haben. Das Ergebnis ist ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte eines bedeutenden Symphonikers.

Die Packung enthält insgesamt elf CDs, denn als Bonus ist den zehn von Adriano dirigierten eine weitere Scheibe mit historischen Aufnahmen aus dem Jahr 1946 beigegeben. Sie enthält das einzige überlieferte Tondokument von Fritz Brun als Orchesterdirigent, eine Aufnahme seiner Achten Symphonie mit dem Studio-Orchester Beromünster, sowie eine Einspielung der Variationen für Streichorchester und Klavier durch das Collegium Musicum Zürich und den Pianisten Adrian Aeschbacher unter der Leitung Paul Sachers, der das Werk in Auftrag gegeben hatte. Auch diese Bonus-CD war ursprünglich bei Guild herausgekommen.

Aus Platzgründen konnte der Edition als Begleittext lediglich der siebenseitige Aufsatz beigegeben werden, mit welchem Peter Palmer 1996 in der britischen Musikzeitschrift Tempo auf Brun aufmerksam gemacht hatte; ein guter, auf den Punkt gebrachter Text, dem man stellenweise anmerkt, dass er auf ein britisches Publikum zugeschnitten ist (Brun wird vorrangig mit britischen Zeitgenossen verglichen). Brilliant Classics stellt jedoch auf seiner Netzpräsenz zusätzlich einen über 80-seitigen Text bereit, der sämtliche Einführungen Adrianos zu den originalen Veröffentlichungen enthält. Sie enthalten nicht nur eine Fülle an Informationen über Bruns Biographie und sein Schaffen, sondern vermitteln auch vom Schweizer Musikleben zur Zeit des Komponisten ein sehr lebendiges Bild.

Norbert Florian Schuck [Mai 2021]

Ein Konzert der Kontraste: Das Sinfonieorchester Liechtenstein in Zürich

Konzertkritik des Streamingkonzerts des Sinfonieorchesters Liechtenstein am 13.05.2021 in Zürich in der Tonhalle Maag, Live-Übertragung via youtube:

Johannes Brahms (1833–1897)
Akademische Festouvertüre, op. 80

Astor Piazzolla (1921–1992)
Aus „L’Histoire du Tango“: II. Café 1930

Artie Shaw (1910–2004)
Klarinettenkonzert

Johannes Brahms (1833–1897)
Klavierquartett in g-Moll, op. 25, für Orchester gesetzt von Arnold Schönberg (1874–1951)

Sebastian Manz, Klarinette
Kevin Griffiths, Dirigent

Bei einem Gastspiel in Zürich wiederholte das Sinfonieorchester Liechtenstein gemeinsam mit dem Klarinettisten Sebastian Manz unter der Leitung von Kevin Griffiths am 13. Mai das Programm seines an den beiden vorangegangenen Tagen in Schaan gegebenen 2. Abonnementskonzerts (René Brinkmann berichtete). Wie diese wurde auch der Züricher Auftritt per Livestream auf Youtube übertragen, sodass nicht nur die (aufgrund der Pandemiesituation) wenigen Konzertbesucher Gelegenheit hatten, einen höchst abwechslungsreichen musikalischen Abend zu erleben – abwechslungsreich nicht nur hinsichtlich der aufgeführten Werke, sondern vor allem aufgrund der stark schwankenden Qualität der Darbietungen.

Man kann sagen, das Konzert stand und fiel mit Sebastian Manz. Je wichtiger der Anteil des Solisten an den einzelnen Programmnummern war, desto besser musizierte das Orchester. So markierte das Klarinettenkonzert von Artie Shaw unzweifelhaft den Höhepunkt des Abends. Man darf beim Titel des Werkes nicht an klassische Solokonzerte denken. Das Stück ist eine freie Fantasie in verschiedenen Jazz-Idiomen, eine gelenkte Improvisation. Bereits die Aufstellung der Musiker zeigte, dass etwas Außergewöhnliches zu hören sein würde: Der Klarinettist stand nicht neben dem Dirigenten, sondern am Rande des Orchesters, inmitten einer Rhythmusgruppe aus Klavier und Schlagzeug. Obwohl auch hier Dirigient Griffiths den Takt schlug und Einsätze gab, war Manz eindeutig der Band Leader. Artie Shaw pflegte bei seinen Auftritten als Primus inter Pares zu spielen und auch seinen Bandmitgliedern ausgiebig Gelegenheit zum Solospiel zu geben. Dieser Praxis folgt auch sein Klarinettenkonzert. Man konnte nun in Zürich erleben, wie Sebastian Manz mit seinem ungemein wandlungsfähigen Spiel seine Mitspieler dazu animierte, sich ebenfalls der Gnade des Augenblicks anzuvertrauen und spontan mit ihm in beseelten Dialog zu treten. Die Musiker lebten hier hörbar auf, der trotz der geringen Zuschauerzahl brausende Applaus war völlig berechtigt. Als Zugabe folgte die von Sebastian Manz für Streichorchesterbegleitung eingerichtete Israeli-Suite des Klezmer-Klarinettisten Helmut Eisel, dessen „sprechendem“ Spiel Manz nach eigenen Worten wertvolle Anregungen verdankt. Eine prominente Rolle kommt in diesem Stück dem Cajon zu, einem großen Holzkasten, auf dem der Schlagzeuger des Orchesters Platz nahm, um das Geschehen rhythmisch zu begleiten. Auch hier durfte das Orchester „ausrasten“ (Manz) und schien dies zu genießen. In den Programmpunkten mit Sebastian Manz merkte man, dass im Sinfonieorchester Liechtenstein hochmotivierte und leistungsfähige Musiker sitzen!

Demgegenüber fielen die Darbietungen der beiden Brahms-Werke qualitativ stark ab. Hier folgte das Orchester getreu den Weisungen Kevin Griffiths‘ – diese aber waren offensichtlich das Problem. Griffiths bot handwerklich ordentliche Aufführungen, aber es wurden bloß Noten gespielt, ein Takt reihte sich an den nächsten, alles sehr gleichförmig, spannungs- und zusammenhanglos, die Phrasen in ihre Einzeltöne zerhackt. Nirgends stellte sich der Eindruck ein, es hier mit mehr als technischer Routine zu tun zu haben. Besonders unschön wirkten die Stellen wiedergegeben, an denen Brahms demonstrativ kantabel schreibt. So gestattete der Dirigent den Musikern nicht, das „Gaudeamus Igitur“ in der Akademischen Festouvertüre auf ihren Instrumenten zu singen, sondern hielt sie dazu an, es zu skandieren. Es war angesichts dessen am Ende des Konzerts ganz und gar nicht überraschend, dass Arnold Schönbergs Orchesterbearbeitung des Klavierquartetts op. 25 zu einer Demonstration kalter Pracht geriet.

Sehr aufschlussreich waren die beiden Interviews während der Pause, denn es zeigte sich in ihnen, dass es sich bei Sebastian Manz und Kevin Griffiths um zwei ganz konträre Musiker handelt: Manz berichtete davon, auf welche Weise er Musik macht, was er während des Spiels mit seinem Körper tut, um die Klänge zu beseelen und zum Sprechen zu bringen; passend dazu betonte er, dass die Musik jedes Mal beim Vortrag neu entsteht und das Wesentliche nicht in den Noten zu finden ist. Griffiths blieb dagegen in seinen Äußerungen oberflächlich und schien gar nicht zu merken, dass er über die Schönbergsche Brahms-Bearbeitung Widersprüchliches erzählte (Schönberg hat sich eben nicht an den Brahmsschen Orchesterstil gehalten, sondern ist in der Instrumentierung des Quartetts ganz nach eigenem Gutdünken verfahren).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es in Liechtenstein ein fähiges, auch begeisterungsfähiges Orchester gibt, das zu hervorragenden Leistungen in der Lage ist. Es hätte verdient, dieses Programm unter einem Dirigenten zu spielen, der das ihm zur Verfügung gestellte Potential besser zu nutzen weiß.

Norbert Florian Schuck [Mai 2021]

Die Vielfalt der Ostinati

Naxos, 8.551439; EAN: 7 30099 14393 6

Mit seiner bei Naxos erschienenen CD Passacaglia della Vita ruft das vokal-instrumentale Ensemble Cembaless auf höchst lebendige Weise die Herkunft der Passacaglia aus der Tanzmusik in Erinnerung.

Das Kompositionsprinzip, das unter dem Namen „Chaconne“ oder „Passacaglia“ Eingang in den Formenschatz der „absoluten Musik“ gefunden hat, stammt bekanntlich aus der Praxis des Tanzes. Die beständig wiederholte Basslinie und die immer neuen Figurationen der Oberstimmen hatten die Aufgabe, den Tanz in Bewegung zu halten. Es sollte Gleichmaß gestiftet und für Abwechslung gesorgt werden. Zu letzterer trugen auch die verschiedenen Strophen der Liedtexte bei, wenn zum Tanz gesungen wurde. In frühen Passacaglia-Kompositionen zeigt sich der Ursprung im Tanzlied noch deutlich. Einige von ihnen sind ausdrücklich als Gesangsstücke gedacht, während die rein instrumentalen Werke in ihren Oberstimmen eigentlich nur fixieren (und dabei satztechnisch veredeln), was von den Musikanten während des Tanzes improvisiert zu werden pflegte. Im Notenbild festgehalten wurde eine stilisierte Tanzszene, die allerdings dem Vorbild von der Straße („Passacaglia“ heißt nichts anderes als „die Straße entlang gehen“) noch sehr ähnlich war. Wie überhaupt im Generalbasszeitalter lange Zeit ein fließender Übergang zwischen Komposition und Improvisation herrschte, sodass der Komponist häufig nur den Gerüstsatz notierte und die Ausführenden im Moment der Darbietung spontan verzieren konnten, so setzten auch die Komponisten früher Ostinato-Stücke auf mitdenkende, mitgestaltende Musiker. Das kahle Notenbild der Kompositionen zeugt von diesem Vertrauen: Die Musik war nicht das, was auf dem Papier stand, sondern das, was in der konkreten Musiziersituation daraus gemacht wurde.

Das Alte-Musik-Ensemble Cembaless hat sich dies zu Herzen genommen. Wie bereits der Name sagt, kommt die siebenköpfige Formation ohne Cembalo aus. Um die Sopranistin Elisabeth von Stritzky gruppieren sich David Hanke und Annabell Opelt an den Blockflöten, Shen-Ju Chang an der Gambe, Stefan Koim an Barockgitarre bzw. Erzlaute, Robbert Vermeulen an der Theorbe und Syavash Rastani, der verschiedene persische Trommeln erklingen lässt – eine ideale Besetzung, um jene Atmosphäre des Tanzes zu erzeugen, aus der Passacaglia, Ciaconna und andere Ostinatoformen einst hervorgingen. Ihr vorliegendes Album, das nahezu ausschließlich Stücke dieser Art enthält, haben die Musiker „Passacaglia della Vita“ genannt. Der von einer hier eingespielten Komposition Stefano Landis entlehnte Titel ist in mehrfacher Hinsicht Programm: Zum einen beschwören Cembaless die konkrete Lebenssituation, die zur Entstehung der musikalischen Form geführt hat, zum andern zeigt das Ensemble, auf welch vielfältige Weise das von den Komponisten Notierte klingend ins Leben treten kann. Auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen frühbarocker Ostinatomusik kann der Titel bezogen werden, denn neben Passacaglie und Ciaccone umfasst das Programm auch einen Fandango (von Santiago de Murcia), eine Bergamasca (von Marco Uccellini), eine über gleichbleibendem Bass aufgebaute Solokantate (Accenti queruli von Giovanni Felice Sances) und einen einfachen strophischen Gesang (Si dolce e’l tormento von Claudio Monteverdi).

Anhand des letzteren Stückes zeigt sich besonders gut, wie Cembaless die spärliche Notation als Aufforderung nehmen, eigenverantwortlich tätig zu werden. Monteverdi hat hier lediglich Singstimme und Bass notiert und für letzteren keine Besetzung vorgeschrieben. Auch deutet im Original nichts darauf hin, dass der Komponist daran dachte, eine Variationenreihe zu schreiben. Cembaless zeigen aber, wie man eine daraus machen kann: Zuerst erklingt in der Theorbe das Thema instrumental, dann beginnt die Sängerin mit der ersten Strophe, alles Weitere ist Alternieren zwischen Instrumental- und Gesangsabschnitten, jeweils mit verzierenden Kontrapunkten und in neuer Instrumentation. Das vom Komponisten Niedergeschriebene bleibt durchaus als Richtlinie erhalten, aber die Musiker bereichern es geschmackvoll durch eigenes Zutun. In Uccellinis Aria sopra la Bergamasca, einem hinsichtlich seiner Dramaturgie bereits streng auskomponierten Werk, wagen sie sogar einen behutsamen Eingriff in den Verlauf und fügen, den Ostinato-Bass beibehaltend, einen vokalen Mittelteil ein, in welchem Elisabeth von Stritzky die Melodie mit jenem Text vorträgt, unter dem sie auch Johann Sebastian Bach bekannt war: „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ (vgl. Goldberg-Variationen, Quodlibet). An einer Stelle in breiten Notenwerten kurz vor Schluss verschärft das Ensemble eigenmächtig Uccellinis Dissonanzen – ein frappierender Effekt, der aber in dieser humorvollen Bearbeitung am rechten Platze ist und, da die Akkorde ihre harmonischen Funktionen beibehalten, auch formal überzeugt!

Nicht in allen Programmnummern sind alle Ensemblemitglieder zu hören. Beinahe durchweg folgt ein instrumentales Werk auf ein vokales. Einige Stücke sind stärker, andere spärlicher besetzt. Die Stellen, an denen sich alle Ausführenden zum Tutti verbinden, finden sich geschickt über den Verlauf des Programms verteilt. Nicht nur in dieser Hinsicht erweist sich die Abfolge der Stücke als von Cembaless streng „durchkomponiert“. Die einzelnen Nummern scheinen aufeinander zu reagieren. Einmal – im Falle der Solokantate von Sances – wagt das Ensemble, das Ende des Stückes wegzulassen und mittels einer Lautenkadenz direkt zum nächsten überzuleiten. Auch ergeben sich Symmetrien durch zwei Ciaccone von Tarquinio Merula (Nr. 4) und Allessandro Piccinini (Nr. 13), denen das gleiche Thema zugrunde liegt, und durch die Gestaltung der Programmmitte: Hier spielt Trommler Syavash Rastani zwischen zwei Stücken in Tutti-Besetzung ein selbstkomponiertes Solo, das seine Fertigkeit, auf tonhöhenlosen Instrumenten mittels unterschiedlicher Tongebung Polyphonie anzudeuten, trefflich demonstriert. In den umrahmenden Kompositionen – Stefano Landis Passacaglia della Vita und Juan Arañés‘ Chacona: A la vida bona – wird ein weiterer Instrumentationseffekt geschickt platziert, indem die Instrumentalisten gegen Schluss plötzlich anfangen zu singen: Das Miteinander von Männer- und Frauenstimmen sorgt dafür, dass auch im Vokalen ein Tutti-Klang entsteht.

Dem Einfallsreichtum der Bearbeitungen entspricht die Frische und Lebendigkeit der Darbietungen von Cembaless. Um den Ursprung der Ostinato-Variationen in Tanz und Lied wissend, gestalten die Ensemblemitglieder ihre Stimmen kantabel und mit tänzerischem Schwung, sodass der Zusammenhalt der musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und ein Moment auf dem vorangegangenen aufbaut. Die virtuosen Figurationen meistern alle tadellos, nicht zuletzt die Sopranistin, die in den lebhafteren Abschnitten manch „instrumental“ anmutende Passage vorzutragen hat. Die zahlreichen kleinen Verzierungen, vokal wie instrumental, wirken durchaus nicht aufgesetzt, sondern aus der Spontaneität des Musizierens geboren. Cembaless nennen ihre CD „eine Hommage an die Facetten des Lebens“. Dem lässt sich ohne Einwände zustimmen, denn Facettenreich sind das Programm wie seine Umsetzung, und lebendig klingt hier alles, vom ersten bis zum letzten Ton.

[Norbert Florian Schuck, April 2021]