Alle Beiträge von Florian Schuck

Konzert: 30 Jahre Bruckner Akademie Orchester

Montag, 17. April 2023, 20 Uhr, Herkulessaal der Münchner Residenz

Symphoniekonzert 30 Jahre Bruckner Akademie Orchester

Alban Berg: Violinkonzert Dem Andenken eines Engels

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 3 d-Moll Wagner-Symphonie

Violine: Rony Rogoff

Dirigent: Jordi Mora

Karten: 35,- €/25,- €/15,- € (erm. 30,- €/20,- €/15,- €) unter www.muenchenticket.de, T: 089-54 81 81 81, an den bekannten VVK-Stellen und an der Abendkasse

Bedingt durch die Restriktionen im Zuge der Covid-19-Pandemie liegt das letzte Konzert des Bruckner Akademie Orchesters bereits längere Zeit zurück (wir berichteten damals). Im Herkulessaal der Münchner Residenz gibt das Orchester unter der Leitung seines „spiritus rector“ Jordi Mora nun erstmals seit November 2019 wieder ein Konzert, womit es zugleich sein 30-jähriges Bestehen feiert.

Das Bruckner Akademie Orchester war 1993 erstmals anlässlich eines Gedenkkonzerts öffentlich zu hören gewesen. Erinnert wurde damals an fünf Mitglieder des Münchner Jugendorchester, die Ende 1992 bei einem Autounfall auf dem Weg zu einer Probe ums Leben gekommen waren. Tief erschüttert versammelten sich ihre Kollegen und Freunde und gedachten ihrer mit einem von Jordi Mora dirigierten Konzert in der Münchner Lukaskirche. Das Erlebnis der Aufführung ließ die Musiker den Entschluss fassen, ab nun jedes Jahr zur Osterzeit in Benediktbeuern eine Klausur mit anschließendem Konzert zu veranstalten.

Jordi Mora (© Tobias Melle)

Jordi Mora charakterisiert das Orchester mit folgenden Worten: „Das BAO besteht aus einer gesunden Mischung von Musikern verschiedenen Alters, sowohl Profis, Musikstudenten, wie profilierten Laien, die hauptsächlich aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern Europas, wie Österreich, Spanien und Italien kommen. Die intensiven Proben für jedes Programm ermöglichen eine vertiefte Arbeit mit den Werken, was das Hauptziel der Akademiephase ist.“ Seit jeher legt das Orchester einen besonderen Schwerpunkt auf das Schaffen seines Namenspatrons Anton Bruckners, dessen Vierte Symphonie 1993 auf dem Programm des ersten Konzertes stand. Auch Orchesterwerke anderer Komponisten gelangten zur Aufführung, wobei Mora die Symphonien Dmitrij Schostakowitschs als „zweiten Grundstein unseres Repertoires“ bezeichnet.

Zum Jubiläumskonzert wird wieder eine Symphonie Bruckners zu hören sein: Nr. 3 d-Moll, die sogenannte Wagner-Symphonie, in der Fassung von 1889. Außerdem steht Alban Bergs „dem Andenken eines Engels“ gewidmetes Violinkonzert auf dem Programm. Als Solist spielt Rony Rogoff, der Lehrer der fünf 1992 verunglückten Orchestermitglieder.

Rony Rogoff

Rogoff, der in diesen Tagen in München einen Meisterkurs für Solisten und Kammermusiker veranstaltet, war u. a. Schüler Joseph Szigetis. Sergiu Celibidache schätzte ihn als „besten lebenden Mozartspieler“ und „einen der wenigen, der es versteht, die Bedeutung hinter den Noten zu erfassen und die Fähigkeit besitzt, sie zu vermitteln“. Von Rogoffs Leitungen als Pädagoge zeugt die Gesamtaufnahme der Kammermusik von Johannes Brahms durch „I Cameristi. La Scuola di Rony Rogoff“, die anlässlich des 100. Todestages des Komponisten 1997 bei der italienischen Musikproduktion Mondo Musica erschienen ist und einige der besten Aufführungen dieser Werke enthält, die je aufgezeichnet worden sind.

[Norbert Florian Schuck, April 2023]

Wien würdigt Kalevi Aho zum 74. Geburtstag

Nur wenige Komponisten unserer Zeit können auf ein so umfangreiches Schaffen zurückblicken wie der 1949 im finnischen Forssa geborene Kalevi Aho, Autor von 17 Symphonien, mehr als doppelt so vielen Instrumentalkonzerten und gut sechs Dutzend Werken für kammermusikalische Besetzungen vom Solostück bis zum Sextett. Einige dieser Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Kompositionen ihrer jeweiligen Gattungen. So erlebte beispielsweise das Schlagzeugkonzert Sieidi in den zehn Jahren seit seiner Premiere 2012 bereits über 120 Aufführungen. In seiner Heimat ist Aho längst eine etablierte Größe des Musiklebens, wie nicht zuletzt das seit 2016 in seiner Geburtsstadt veranstaltete Festival Musica Kalevi Aho verdeutlicht. Aber auch außerhalb Finnlands weiß man den Meister zu würdigen. In Wien nahmen Musiker und Musikwissenschaftler den 74. Geburtstag des Komponisten am 9. März 2023 zum Anlass, mit einem Kammerkonzert und einer Gesprächsrunde an den beiden vorangegangenen Tagen gleichsam in das Jubiläum hinein zu feiern. Kalevi Aho wirkte an beiden Veranstaltungen mit.

Im Konzert, das am 7. März im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins stattfand, spielten das Violinistenehepaar Rémy und Iris Ballot, auch bekannt als Dirigent und Konzertmeisterin des Wiener Klangkollektivs, und die Pianistin Anika Vavić. Zwei Kompositionen Kalevi Ahos bildeten den Rahmen des Programms. Dazwischen waren Werke verschiedener anderer Komponisten zu hören: von Ahos verehrtem Lehrer Einojuhani Rautavaara, vom Übervater der finnischen Musik Jean Sibelius und von den beiden russischen Meistern Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch – die meisten davon mit einem mehr oder weniger deutlichen Bezug zu Wien. Nur in den Fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier, einem Arrangement verschiedener Nummern aus Ballettsuiten und Filmmusiken Schostakowitschs durch Lewon Atowmjan, fanden alle drei Instrumente zusammen. Das übrige Programm bestand aus Solo- und Duowerken. Man hätte den Abend schwerlich eindrucksvoller eröffnen können als mit Rémy Ballots Darbietung von In memoriam Pehr Henrik Nordgren, einem Solostück, das Kalevi Aho 2009 zu Ehren des im Jahr zuvor gestorbenen großen Komponistenkollegen geschrieben hat. Ballot ließ die Musik sich mit rhapsodischer Spontaneität entfalten, ohne darüber den strengen, konsequenten Aufbau des Werkes zu vergessen. Die melismatischen Abschnitte und die choralartigen Doppelgriffpassagen gingen auseinander hervor wie Vorgesang und Responsorien, es entstand die bezwingende Wirkung eines schamanischen Trauerrituals. Hervorgehoben verdient noch zu werden, mit welcher Sicherheit Ballot eine äußerst leise Passage in höchster Lage meisterte, in der die Musik sich kaum mehr hörbar vor dem rauschenden Hintergrund des Bogenstrichs abspielt. Anika Vavić, die Ballot in Prokofjews Fünf Melodien op. 35a eine einfühlsame Begleiterin war, zeigte in der Suggestion diabolique op. 4/4 des gleichen Komponisten ihre Virtuosität, bevor sie sich in Sibelius‘ Impromptu op. 5/6, dem Tempo di valzer aus Prokofjews Klaviersonate Nr. 6 und Schostakowitschs Lyrischem Walzer & Romanze aus den Puppentänzen op. 91b als Meisterin der Charakterisierungskunst erwies. Durch alle Stücke, die gewissermaßen die Ausstrahlung des Wiener Walzers in andere Musikkulturen verdeutlichen, pulste jener dezente Schwung, der den Walzer erst zum Walzer macht. Ausgezeichnet gelang der Pianistin die verschiedenen Lagen des Klaviers gegeneinander abzuheben, sodass die einzelnen Stimmen miteinander dialogisierten und sich zeigte, wie farbig die Komponisten auf dem Klavier „instrumentieren“ konnten. Dieses klangliche Feingefühl kam auch den zwei Stücken Der Tod der Gottesmutter und Zwei Dorfheilige aus Einojuhani Rautavaaras Klavierzyklus Ikonen sehr zugute. Vavićs sicheres rhythmisch-melodisches Gespür ließ zudem die volksmusikalischen Wurzeln der Musik deutlich werden. Als drittes Stück Rautavaaras war eine Erinnerung an dessen Wiener Studienjahre zu hören, die den dritten Satz seiner Suite Lost Landscapes für Violine und Klavier bildet und nach der damaligen Wohnadresse des Komponisten Rainergasse 11, Vienna heißt. In dieser tiefempfundenen Elegie fand Anika Vavić in Iris Ballot ihre Partnerin an der Violine, und die Aufführung zeigte, dass Frau Ballot ihrem Manne im feinfühligen Gestalten der Phrasen, in der Sorgfalt der Tongebung und im Erfassen der melodischen Bögen nicht nachsteht. Die bereits erwähnten Schostakowitsch-Bearbeitungen hätten sich auch als heiterer Kehraus geeignet, doch damit sollte das Konzert noch nicht zu Ende sein. Der Abschluss blieb einer Uraufführung vorbehalten. Kalevi Ahos Fragen für zwei Violinen entstanden 2022 als Auftragswerk anlässlich der Hochzeit von Iris und Rémy Ballot. Das gut zehnminütige Stück ist ein veritables Gespräch in Tönen. Ein Instrument „fragt“, das andere „antwortet“, die Motive wechseln zwischen ihnen hin und her, werden variiert und fortgesponnen, wie man im Gespräch von einem ins andere kommt. Im Laufe des Werkes tauschen die beiden Violinen wiederholt die Rollen. Auch gibt es Abschnitte, die weniger nach Frage und Antwort klingen als nach gemeinsamer Erörterung eines Sachverhalts. Aho ist hier ein höchst feinsinniges und abwechslungsreiches Duo gelungen, das zwei einander ebenbürtige, technisch starke Spieler, die zeigen wollen, wie gut sie aufeinander hören können, vor lohnende Aufgaben stellt. Die Ballots haben sich „ihr“ Werk ganz zu eigen gemacht und brachten es aufs erfreulichste zum Sprechen, wobei zwischen beiden eine bewundernswerte Ausgeglichenheit herrschte. Eine solch innige Verbindung mit- und ein solch behutsames Eingehen aufeinander dürfte dem Komponisten als Ideal wohl vorgeschwebt haben.

Das Konzert bestand nicht nur aus musikalischen Beiträgen. Durch den Abend führte Peter Kislinger, der wohl beste Kenner des Ahoschen Schaffens in Österreich, der einem größeren Publikum vor allem durch seine Beiträge im Österreichischen Rundfunk (Ö1) als Förderer zeitgenössischer und Entdecker wertvoller, in Vergessenheit geratener Musik der Vergangenheit bekannt ist. Seine lebendigen Einführungen in die jeweiligen Stücke gaben dem Konzert ebenso zusätzlichen Wert wie die wiederholten kurzen Gespräche mit dem Komponisten. Kalevi Aho sprach u. a. über seine Freundschaft mit Pehr Henrik Nordgren und über Einojuhani Rautavaara, der gerade deswegen ein sehr guter Lehrer war, weil er es verstand, sich in die Werke seiner Schüler hineinzuversetzen und sie zu ermutigen, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch über Ahos gegenwärtige Projekte konnten die Zuhörer etwas erfahren. Der Komponist hat gerade den Kopfsatz seiner Achtzehnten Symphonie vollendet, auch sei ein Orchesterwerk in Arbeit, das die Fragen aufgreift, aber anders weiterführt.

[Korrektur, 16. März 2023: Nach Mitteilung der Kalevi Aho Society wurde das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, welches am Anfang die Fragen zitiert, bereits am 18. Dezember 2022 vollendet.]

Am folgenden Tage leitete Dr. Andreas Holzer an der Universität für Musik und darstellende Künste eine Gesprächsrunde, an der neben Kalevi Aho auch Rémy Ballot, Peter Kislinger und die junge japanische Komponistin Reina Yoshioka teilnahmen. Angelpunkte des Gesprächs waren fünf Punkte, die Aho einst in einem Artikel als Aufgaben für die Komponisten unserer Zeit ausgemacht hatte:

1) Die Wiederentdeckung des Publikums
2) Die Suche nach einem Ausweg aus einer hermetischen Avantgarde samt Stärkung der Verbindung zur Vergangenheit
3) Die Stärkung der gesellschaftlichen Dimension von Musik
4) Die Entwicklung von Strategien, den Elfenbeinturm abzutragen
5) Der Komponist müsste fähig sein, der Musik tiefe emotionale Ausdrucksqualitäten zu verleihen

Aho berichtete aus dem finnischen Musikleben, wo zeitgenössische Musik ein fester Bestandteil regulärer Konzerte ist und nach wie vor zahlreiche neue Opern mit der Aussicht entstehen, in den namhaften Theatern des Landes zur Aufführung zu gelangen. Er selbst möchte Musik schreiben, die vom Publikum gern gehört und von Musikern gern gespielt wird. Sein erster Zuhörer ist er selbst: „Ich komponiere Musik, die ich selbst hören möchte.“ Als regelmäßig mit Aufträgen bedachter Komponist, trifft er sich sich vor der Arbeit an einem bestellten Werk mit den Musikern, für die es entstehen soll: „Zuerst kommen die Musiker zu mir und spielen mir vor. Dann denke ich an ihre Persönlichkeit und versuche so zu schreiben, dass das Werk für die Musiker sitzt. Wenn es für einen Musiker sitzt, dann wird es auch für andere Musiker annehmbar sein können.“ Aho gehört nicht zu denjenigen Komponisten, die um jeden Preis originell sein wollen: „Der Stil hängt davon ab, was man sagen möchte. Ich möchte nicht in einem Personalstil komponieren, denn dann verfällt man in Klischees. Ich mache mir klar, was ich sagen möchte. Der Stil kann sich von Werk zu Werk ändern, was sich nicht ändert, ist die Persönlichkeit des Komponisten.“ Dies ist einer der Gründe, warum der mitteleuropäische Modernismus, wie er sich letzten Endes in der Darmstädter Schule manifestierte, für ihn etwas Altmodisches ist. Großen Einfluss auf sein Schaffen hatte dagegen das Studium ursprünglicher musikalischer Phänomene außerhalb Europas: „Die Lösungen für Probleme fand ich nicht im mitteleuropäischen Modernismus, sondern ich habe mich mit Indischer und Arabischer Musik befasst. Ich habe seitdem oft arabische Instrumente verwendet und ein Buch über arabische Rhythmen geschrieben.“ Mit Jean Sibelius hat sich Aho viel beschäftigt. Er kennt sein Schaffen gut, sieht sich ihm durchaus innerlich verwandt, orientiert sich aber nicht bewusst an ihm. Auch denkt er beim Komponieren nie an etwas Finnisches. Seine Werke schreibt Aho seit langem sofort ins Reine, ohne Skizzen zu machen. „Ich fange an und mache weiter bis zum Schluss. Wenn ich beginne, weiß ich noch nicht, wie es sich entwickelt. Ich habe nur zweimal versucht, nach einem Plan zu schreiben. Habe ich etwa zwei Drittel des Stückes fertig, kann ich ungefähr sagen, wie es enden wird.“ Mitunter kristallisiert sich die jeweilige Gattung erst im Laufe des Kompositionsprozesses heraus. Interessanterweise entstand keine der ersten vier Symphonien des heute vor allem als Symphoniker bekannten Komponisten unter dem Vorsatz eine Symphonie zu schreiben. Zu seiner Ersten sagt Aho: „Ich wollte nur ein großes Werk für Orchester schreiben. Da sagte mein Lehrer Einojuhani Rautavaara: Das ist eine Symphonie.“ Auf die Frage, wie er den Begriff „Symphonie“ definiert, antwortet der Komponist: „Eine Symphonie ist ein großes Orchesterwerk, in dem der Komponist zeigt, was er kann, in dem er seine Gedanken kristallisiert.“ Kritik äußerte Aho an Konzertagenturen, die die von ihnen geförderten Musiker davon abhalten, sich mit zeitgenössischer Musik zu befassen. Er erzählte, wie ihn eine Geigerin um ein Violinkonzert bat, er sie jedoch aufgrund anderer Aufträge um zwei Jahre vertrösten musste. Nach der Fertigstellung des Werkes traf er die Geigerin wieder, doch sagte sie ihm diesmal, sie fühle sich noch nicht reif für moderne Musik. „Sie hatte eine andere Agentur.“

Vergnüglich waren Peter Kislingers Berichte über das Verhalten der Wiener Kritik im Laufe der Jahre gegenüber Werken zeitgenössischer finnischer Komponisten. Die von ihm zitierten Rezensionen boten wunderbares Anschauungsmaterial hinsichtlich des Umgangs der Kritiker mit dem Konzertpublikum. So erfuhr man vom einen Kritiker, dass das Wiener Publikum viel zu gebildet und anspruchsvoll sei, als dass solche Anbiederungsversuche, wie sie von Komponisten wie Rautavaara und Aho unternommen würden, Aussicht auf Erfolg hätten. Ein anderer Kritiker widersprach dem, denn die Musik habe dem Publikum gefallen – sie könne deshalb wenig taugen.

Rémy Ballot sprach aus eigener Praxis über das Erfassen des Zusammenhangs innerhalb einer Komposition – eine Sache, die ja nicht nur den Autor des Stückes und seinen Vermittler betrifft, sondern eminente Auswirkungen auch auf die Zuhörer hat. Denn wie kann ein Hörer ein Stück als ein Ganzes erleben, wenn es dem Musiker nicht gelingt, den Zusammenhang der Musik deutlich zu machen? „Der Klang ist nicht die Musik. Der Klang kann Musik werden. Er kommt von einem inneren Prozess her.“ Erst wenn es dem Musiker gelingt, Kontinuität in die Klänge zu bringen, das Hervorgehen eines klanglichen Phänomens aus dem anderen nachzuvollziehen, kommt eine lebendige Aufführung zustande. Wer unter den Zuhörern dieses Gesprächs das Konzert Tags zuvor miterlebt hatte, wusste nun, warum der Eindruck ein so vorteilhafter war!

Am 9. März, seinem 74. Geburtstag, reiste Kalevi Aho aus Wien ab. Und man hofft, dass die altehrwürdige Musikmetropole auch den 75. Geburtstag des Meisters angemessen zu würdigen versteht.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Verlebendigte Wiener Klassik

Am 1. März 2023 spielte das Klangkollektiv Wien unter Leitung von Rémy Ballot im Großen Saal des Wiener Radiokulturhauses des ORF ein ganz im Zeichen der Wiener Klassik stehendes Programm. Auf Wolfgang Amadé Mozarts Große A-Dur-Symphonie KV 201 folgte die unter dem Namen La Reine bekannte Pariser Symphonie B-Dur Hob. I:85 von Joseph Haydn, bevor Franz Schuberts Symphonie Nr. 5 B-Dur D 485 den Abend beschloss. Der Verfasser dieser Zeilen war nicht selbst anwesend, sondern verfolgte das Konzert mittels Direktübertragung im Netz.

Wer das Konzert des Klangkollektivs im vergangenen November noch in angenehmer Erinnerung hat, als das Ensemble als reines Streichorchester zu hören war (nur in einem Werk durch die Soloflöte ergänzt), konnte sich nun davon überzeugen, dass es auch in größerer Besetzung vortrefflich spielt. Dirigent Rémy Ballot animierte die Bläser nicht weniger als die Streicher zu Höchstleistungen musikalischen Zusammenwirkens. Mit großer Liebe zum Detail sorgt er dafür, dass die Mittelstimmen nicht im Geschehen untergehen, dass man auch die langen Töne der Hörner und Holzbläser als Gesänge hört, die Teil am Ganzen haben. Er gehört zu denjenigen Dirigenten, die ihren Musikern vermitteln können, aufeinander zu hören. Alle wissen, wann sie wie stark hervorzutreten haben, wann sie führen, wann nur begleiten sollen, und sind während der Aufführung füreinander da. Ja, es ist echter Gemeinschaftssinn in diesem Orchester, dank Ballot, den man einen Meister des Ausbalancierens der Klanggruppen nennen muss.

Erfreuen konnte man sich auch an der kultivierten Artikulation des Orchesters. Man erlebte ein elegantes, lichtdurchflutetes Musizieren, aber ohne dass etwas glattgebügelt oder ruppig um der Ruppigkeit willen vorgetragen wurde. Hörte man Folgen von Staccato-Tönen, so waren es wirkliche Staccati, und doch herrschte ein Gefühl für die melodische Linie. Dieser Sinn für Melodie ließ auch die kontrapunktischen Stellen aufblühen. Das Klangbild war bei aller Grazie, die dem Ganzen inne wohnte, von einer angenehm kernigen Deutlichkeit. Solch ein Durchleben, solche Verlebendigung der Wiener Klassiker kann man nur wünschen in der heutigen Zeit häufiger zu hören.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Gedenkkonzert zu Draesekes Todestag in Leipzig

Am 25. Februar 2023, dem Vorabend des 110. Todestages Felix Draesekes, veranstaltet die Internationale Draeseke-Gesellschaft e. V. ein Gedenkkonzert in der Grieg-Begegnungsstätte in Leipzig. Es spielt der Pianist Aris Alexander Blettenberg.

Die musikgeschichtliche Bedeutung Leipzigs ist hinlänglich bekannt. Die Stadt der Thomaskantoren und des Gewandhauses beheimatet seit 1843 das älteste Konservatorium Deutschlands. Für Felix Draeseke wurde sie zur ersten herausragenden Station seiner Musikerlaufbahn. Als von den neuen Ideen Wagners begeisterter Konservatoriumsschüler erregte er das Missfallen seiner Lehrer, fand aber in Franz Brendel, dem Chefredakteur der Neuen Zeitschrift für Musik, einen tatkräftigen Förderer.

Von Leipzig aus verbreitete sich Draesekes Name in der musikalischen Welt, zunächst vor allem als Musikkritiker. Als Draeseke nach seinem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz nach Deutschland zurückkehrte, ließ er sich zwar in Dresden nieder, doch fand er in Leipzig seinen wichtigsten Verleger: Bei Fr. Kistner erschienen etwa die Hälfte seiner Werke. Leipzig ist viel, so auch eine Draeseke-Stadt. Deshalb freut es die Internationale Draeseke Gesellschaft, anlässlich des 110. Todestages in Leipzig dieses Konzert veranstalten zu können.

Auch eines anderen Jubiläums wird in dem Konzert gedacht: Vor 200 Jahren, 1823, wurde Theodor Kirchner geboren, ein großer Meister der kleinen Formen. 1843 wurde er der erste Schüler am gerade von Felix Mendelssohn Bartholdy ins Leben gerufenen Konservatorium. Viele Jahre später, in den 1880ern, war er Draesekes Kollege am Konservatorium zu Dresden.

Aris Alexander Blettenberg, Gewinner des Internationalen Beethoven Klavierwettbewerbs Wien 2021, geleitet an diesem Abend durch ein musikalisch ebenso reichhaltiges wie musikgeschichtlich erhellendes Programm, das von Mozart und Haydn über Schubert und Beethoven schließlich zu Schumann, Kirchner und Draeseke führt.

25. Februar 2023, 19 Uhr

Grieg-Begegnungsstätte Leipzig

Eintritt: 15 € / ermäßigt 10 €

Programm:

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791): Präludium und Fuge C-Dur KV 394

Joseph Haydn (1732-1809): Sonate F-Dur Hob.XVI:23

Franz Schubert (1797-1828): Sonate As-Dur/Es-Dur D 557

Ludwig van Beethoven (1770-1827): Alla Ingharese quasi un Capriccio op. 129 ‍

PAUSE

Theodor Kirchner (1823-1903): Capricen op. 27, Nr. 1-3

Robert Schumann (1810-1856): Arabeske op. 18

Felix Draeseke (1835-1913): Sonata quasi fantasia op. 6

[Nobert Florian Schuck, Februar 2023]

Der andere Tristan: Zur Ursendung von Charles Tournemires „La Légende de Tristan“

Am 15. Dezember 2022 wurde im Theater Ulm die 1926 komponierte dreiaktige Oper La Légende de Tristan des französischen Orgelmeisters und Symphonikers Charles Tournemire zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Wer damals nicht dabei sein konnte, dem bot sich am 5. Februar 2023 die Möglichkeit, auf SWR2 die Uraufführung unter Leitung des Generalmusikdirektors Felix Bender nachzuhören. Man begegnete einem Tristan, der sich bedeutend vom berühmten Werk Richard Wagners unterscheidet, aber kaum weniger faszinierend ist.

Ohne Zweifel gehört der 1870 in Bordeaux geborene Charles Tournemire zu den großen französischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Man kann nicht sagen, dass er je in Vergessenheit geriet, allerdings war er lange Zeit nur mit einem Teil seines Schaffens, nämlich seinen Orgelwerken, im Musikleben tatsächlich präsent. Zu Lebzeiten war Tournemire, der am Pariser Konservatorium Kammermusik unterrichtete und über 40 Jahre lang in der Nachfolge seines Lehrers César Franck als Organist an der Basilika Ste-Clotilde wirkte, auch auf anderen Gebieten der Musik durchaus erfolgreich gewesen. Seine ersten fünf Symphonien wurden wiederholt aufgeführt und erfreuten sich eine Zeit lang einiger Wertschätzung. 1924 inszenierte die Pariser Oper Tournemires Les Dieux sont morts. Allerdings hatte diese Premiere nicht den Durchbruch Tournemires als Opernkomponist zur Folge. Seine anderen vier Bühnenwerke blieben ungehört in der Schublade, ebenso seine letzten drei Symphonien. Da seine großbesetzten Kompositionen unveröffentlicht blieben, wurde Tournemire, der 1939 unter nie geklärten Umständen in der Bucht von Arcachon ertrank, nach seinem Tode jahrzehntelang nur als bedeutender Orgelmeister wahrgenommen. In den 90er Jahren trugen dann zwei Gesamtaufnahmen seiner Symphonien, die beide unvollendet blieben, aber zusammen sämtliche Gattungsbeiträge des Komponisten umfassen, bedeutend dazu bei, den Blick auf Tournemires Schaffen zu weiten. Mittlerweile kann man sich mittels Tonträger ein recht umfangreiches, wenngleich nicht lückenloses Bild von seinen Leistungen als Klavier-, Kammermusik- und Liederkomponist machen. Mit der Uraufführung der Légende de Tristan durch das Theater Ulm wurde nun endlich auch der Bann um Tournemires Opern gebrochen.

Eigentlich hätte die Premiere bereits 2020, anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten, stattfinden sollen, doch machten die Covid-Restriktionen dem Theater damals einen Strich durch die Rechnung. Umso erfreulicher ist es zu sehen, dass die Ulmer ihr Projekt wieder aufgenommen und erfolgreich zum Abschluss gebracht haben.

Was erwartet einen nun in diesem Tristan? Tournemires Oper hat drei Akte und handelt von Tristan und Isolde, Brangäne und König Marke – doch damit sind die Gemeinsamkeiten mit Richard Wagners berühmtem Werk eigentlich schon aufgezählt. Genaugenommen sind nicht einmal die Namen der Protagonisten gleich, denn natürlich müssen wir bei Tournemire von Iseut, Brangien und Le roi Marc sprechen. Nicht nur die französische Sprache sollte uns dazu ermahnen, hier nicht an die deutschen Namen der Figuren und damit an Wagner zu denken, sondern auch der Umstand, dass Tournemire und sein Librettist Albert Pauphilet ein ganz anderes Konzept verfolgen als der Meister von Bayreuth.

Die Geschichte von Tristan und Iseut entstammt dem keltischen Sagenkreis, Marc ist in den altfranzösischen Fassungen des Stoffes ein bretonischer König. Angeregt von den Forschungen des Romanisten Joseph Bédier, der in den 1900er Jahren nicht weniger als drei Bücher über den Tristan-Stoff publiziert hatte, legen Tournemire und Pauphilet den Schwerpunkt auf die Umsetzung der mittelalterlichen Legende. Bereits der Titel La Légende de Tristan – im Kontrast zu Tristan und Isolde –verrät, dass das Geschehen sich hier nicht mit solcher Ausschließlichkeit auf die beiden Liebenden konzentriert. Bei Tournemire gibt es mehr äußere Handlung. Seine Oper beginnt in Irland mit dem Kampf Tristans gegen den Drachen, also deutlich vor der Seereise, die bei Wagner das Drama eröffnet. Auch das Ende unterscheidet sich fundamental: Im dritten Akt greift Tournemire die von der Spielmannsdichtung beeinflusste Tradition auf, die Tristan als Narren auftreten lässt (in Deutschland vor allem durch Ernst Hardts Drama Tantris der Narr bekannt). Nachdem Tristan sich von Iseut getrennt hat, kommt er in dieser Verkleidung nach Jahren in Marcs Schloss zurück, wo er Iseut ein letztes Mal umarmen darf, dann aber endgültig von ihr Abschied nimmt. Verglichen mit Wagner wirkt die Umsetzung der Geschichte auffällig keusch: Tristan und Iseut treffen sich heimlich, als sie jedoch den sie beobachtenden Marc gewahren, spielen sie ihm (und den Zuschauern) höfische Zurückhaltung vor (Tournemire setzt das trefflich durch ein strenges Rezitieren beider auf einem Ton um); in einer anderen Szene findet Marc die beiden schlafend im Bett, stellt jedoch fest, dass Tristan sein Schwert zwischen sich und die Geliebte gelegt hat, mithin also kein Ehebruch stattfand. Offensichtlich ist es Tournemire und Pauphilet daran gelegen zu betonen, dass die erotische Beziehung zur Unmöglichkeit verdammt ist. Die Tragödie der Liebenden besteht darin, dass sie gerade keine Sklaven des Liebeszaubers sind. Sie kämpfen mit Gewissensbissen, die sie letztlich in die Entsagung treiben.

Auch musikalisch geht Tournemire einen Wagner völlig entgegengesetzten Weg. Statt mit exzessiver Chromatik zu prunken, färbt er seine Harmonik modal ein. Die Musik wirkt kaum psychologisierend, viel eher begegnen uns mystische Naturbilder, die gleichsam die Verfassung der Protagonisten spiegeln. Wer die Symphonien Tournemires kennt, der weiß, dass dieser inbrünstige Katholik ein großer Naturfreund war, der wiederholt das Wirken des Göttlichen in der Natur zum Thema eines großen Werkes gemacht hat. Seine Zweite und Vierte sind Meeressymphonien, Nr. 5 führt uns in die Berge und schließlich „dem Lichte entgegen“ (so der Titel des Finalsatzes). In der Dritten, 1913 während eines Aufenthalts in Moskau komponiert, malt er die Landschaft des alten Russlands, das seine Erweckung zum Christentum erlebt. Die letzten drei Symphonien gehen dann direkt zu mystischen Gesichten über. Die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs entstandene Nr. 6 (eine Chorsymphonie mit Tenor- und Orgelsolo) entrollt ein apokalyptisches Geschehen, die achtzigminütige Siebte besteht aus fünf Danses de la Vie, in denen die Entwicklung der Menschheit von den Anfängen hin zur göttlichen Erlösung geschildert wird, Nr. 8 schließlich, eine musikalische Gedenkstele für Tournemires erste Ehefrau, schildert Le Triomphe de la Mort (was als Triumph über den Tod zu übersetzen ist). In den letzten drei Symphonien findet Tournemire zu einer charakteristischen Melodik, die von carillonartigen Kurzmotiven aus wenigen gleich langen Noten und weiten Intervallsprüngen geprägt wird. Diese Motive zucken auf wie Blitze, die schlagartig weite Räume erhellen, und schreiten einher mit Riesenschritten. Tournemire gelangte damit zu einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Darstellung des Erhabenen. In eben dieser Tonsprache ist auch seine Tristan-Legende gehalten. Man darf sich das Ganze nun nicht als ein permanentes Verharren im Fortissimo-Tutti vorstellen! Im Gegenteil: Das Erhabene drückt sich bei Tournemire sehr oft auch in zartesten Pianissimi aus. Von kontrapunktischen Techniken macht er wenig Gebrauch, eher lässt sich bei ihm eine Tendenz zur Einfachheit feststellen, die bis hin zu veritablen Monodien führt. In den recht ausgedehnten symphonischen Zwischenspielen der Oper erleben wir mehrfach, wie sich das Geschehen im Orchester auf eine einzelne Melodielinie reduziert. Gerade durch diese Reduktion entstehen Momente größter Spannung, die den Atem anhalten lassen. Im zweiten Akt findet sich eine längere Monodie für Klarinette, die wie eine Vorwegnahme des Abime des Oiseaux aus Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du Temps wirkt. Nicht nur in der Reduktion, auch in der Mischung der Instrumentalfarben beeindruckt das Werk. Tournemire zeigt sich in seinem Tristan als überragend begabter Klangfarbenkünstler, der bei der Einkleidung der Handlung alle Register seines Könnens zieht.

Charles Tournemire hat vier seiner fünf Opern und die letzten drei seiner acht Symphonien nie gehört. Ob er sich damit tröstete, dass wenigstens der Herrgott um den Wert seiner Arbeiten wisse, entzieht sich meiner Kenntnis. Man muss jedenfalls betonen, dass den Menschen musikalische Schätze höchster Qualität entgehen, wenn diese Musik ungespielt bleibt.

Die Aufführung der Légende de Tristan war von der Kompetenz und Hingabe getragen, die man sich für die Erweckung vergessener Meisterwerke wünscht. An De Ridder (Iseut), Markus Francke (Tristan), Dae-Hee Shin (Le roi Marc), I Chiao Shih (Brangien), Joshua Spink (Le nain Frocin), Chor und Orchester des Ulmer Theaters haben sich unter Leitung des Generalmusikdirektors Felix Bender überzeugend für den Musikdramatiker Tournemire eingesetzt. Möge ihre Tat anderen Opernhäusern zum Vorbild werden, auf dass die Welt bald auch die übrigen noch ungespielten Opern des Meisters zu hören bekommt!

[Norbert Florian Schuck, Februar 2023]

Musik zur Weihnachtszeit: Reinhard Schwarz-Schilling

Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Komponist der von Gott und Mensch, Mysterium, Passion und Gebet handelnden Kantate Die Botschaft, der Missa In Terra Pax, einer der großen A-cappella-Messen des 20. Jahrhunderts, sowie zahlreicher kleinerer kirchenmusikalischer Werke, war ein sakraler Künstler durch und durch. Wie Anton Bruckner, dem er größte Verehrung entgegenbrachte, und Heinrich Kaminski, der sein wichtigster Lehrmeister war, zählt er zu jenen musikalischen Schöpfernaturen, die sich auch dann in einer geistlichen Sphäre bewegen, wenn sie nicht explizit für kirchliche Anlässe komponieren oder einen religiösen Text vertonen. Ein feierlicher Grundton prägt sein gesamtes Schaffen, verdichtet sich zu innigster mystischer Versenkung oder steigert sich in hymnisch-ekstatische Verkündigung hinein; stets auf Grundlage einer Polyphonie, die keine akademische Handwerksarbeit ist, sondern ein von blühendstem Leben durchdrungenes gegenseitiges Umranken selbstständig geführter Stimmen, die immer singen, das Werk sei vokal oder instrumental.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schwarz-Schilling im Laufe seines Lebens auch wiederholt Musik mit Bezug zum Weihnachtsfest geschrieben hat. Der gemeinsamen Thematik zum Trotz handelt es sich bei den entsprechenden Kompositionen um Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Das Thema „Weihnachten“ wird von Schwarz-Schilling musikalisch gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Aus dem Jahr 1947 stammt eine schlicht Weihnachtsmusik (WV 79) betitelte Sammlung aus zwölf Choral- und Liedsätzen. Sie enthält folgende Titel:

  • Ave Maria zart
  • Ein Kind geborn zu Bethlehem
  • Gott sei Dank durch alle Welt
  • Herbei o ihr Gläubigen
  • In dulci jubilo
  • Kommet ihr Hirten
  • Kommt und lasst uns Christum ehren
  • Mein Herz will ich Dir schenken
  • Singet frisch und wohlgemut
  • Vom Himmel hoch o Englein kommt
  • Was ist für neue Freud
  • Wie schön leuchtet der Morgenstern

Diese zwei- und dreistimmigen Sätze, die gleichermaßen von Singstimmen wie von Instrumenten ausgeführt werden können, sind wunderbare Beispiele edler Einfachheit. Die Spieler und Sänger finden hier handwerklich feinstgearbeitete weihnachtliche Miniaturen vor, ohne vor unüberwindliche Herausforderungen gestellt zu werden. Ohne Weiteres können die Stücke zum häuslichen Musizieren oder als gottesdienstliche Musik verwendet werden.

Eine Schallplattenaufahme aus dem Jahr 1960 (Cantate, T 72719 K/1960) zeigt sehr schön das Potential der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten. Unter der Leitung von Wilhelm Ehmann musizieren hier Maria Friesenhausen und Rotraut Pax (Sopran), Frauke Haasemann (Alt), Rosemarie Lahrs (Violine), Hanni Hennig (Violine und Viola), Heinrich Haferland (Violoncello) und Arno Schönstedt (Orgel) eine Auswahl von acht Stücken der Sammlung, die teils a cappella, teils rein instrumental, teils gemischt erklingen und in der gewählten Anordnung wie eine kleine Kantate klingen. Die Weihnachtsmusik, die der Komponist 1977 einer Revision unterzog, ist in der Edition Merseburger erschienen.

1958 komponierte Schwarz Schilling im Auftrag des RIAS eine Adventskantate für Sopran oder Tenor, zweistimmigen Frauen- oder Männerchor, Violine, Viola und Orgel über das Lied O Heiland reiß die Himmel auf (WV 61). Die Melodie aus dem Rheinfelßischen Gesangbuch von 1666 wird in sämtlichen neun Teilen des etwa zehnminütigen Werkes streng als Grundlage festgehalten, sodaß in rein musikalischer Hinsicht eine Art Variationszyklus entsteht. Dem kleinen Ensemble entlockt der Komponist durch Wechsel in der Besetzung und Satztechnik, nicht zuletzt durch kontrastreiche Charakterisierung der einzelnen Liedstrophen ein Maximum klanglicher Vielfalt.

In einem kurzen Vorspiel für die Orgel allein wird die Melodie des Liedes angedeutet, bevor sie in Orgel und Streichinstrumenten vollständig erklingt. Bereits hier werden ihre einzelnen Abschnitte imitatorisch verarbeitet. Anschließend singt der Chor, dezent von den Instrumenten begleitet, die erste Strophe. Die zweite Strophe wird vom Solosopran vorgetragen, wobei die Streichinstrumente leise bebende, rezitierend anmutende Tonwiederholungen spielen. Der sehr sanfte Charakter dieses Abschnitts korrespondiert mit dem „Tau“, den Gott in dieser Strophe aufgefordert wird vom Himmel zu gießen. In belebterem Rhythmus verdeutlicht der Chor das Ausschlagen der „Blümlein“ aus der Erde. Die Fragen und Bitten der nächsten Strophe („Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“, „O komm, ach komm vom höchsten Saal“) lässt Schwarz-Schilling echoartig versetzt vom Chor vortragen. Dem sorgenvollen Ton dieses Teiles antwortet der Sopran in höchster Lage, unterstrichen vom Strahlen der Violine: „O klare Sonn, du schöner Stern.“ In imitatorischem Satz klagt der Chor ein letztes Mal: „Hier leiden wir die größte Not.“ Dann wird das Stück von einer Choralbearbeitung nach traditioneller Art beschlossen, die das innere Gleichgewicht wieder herstellt und dem Ganzen ein zuversichtliches Ende gibt: „Da wollen wir all danken Dir, unserm Erlöser für und für.“ O Heiland reiß die Himmel auf ist wie die Weihnachtsmusik bei Merseburger erschienen und wurde auf derselben Schallplatte aufgenommen wie diese. Beide Aufnahmen erschienen nach dem Tode des Komponisten in einer 5 CDs umfassenden Privatedition der Familie Schwarz-Schilling, die nicht für den Handel bestimmt war, sich aber in einigen Musikhochschulbibliotheken finden lässt.

Bereits unter Schwarz-Schillings Jugendwerken findet sich ein weihnachtlich konnotiertes Stück. Es handelt sich um die Variationen über ein Weihnachtslied, die im Januar und Februar 1920 entstanden, als der Komponist im 16. Lebensjahr stand und noch seinen ursprünglichen Namen Reinhard Schwarz trug. Ihnen liegt das Lied „Menschen, die ihr wart verloren“ zugrunde. Zwar sind sie für Klavier gedacht, dürften sich aber auch für die Orgel eignen und in weihnachtlichen Aufführungen verwenden lassen. Mit der komplexen Polyphonie der späteren Werke Schwarz-Schillings wartet diese frühe Arbeit noch nicht auf, zeugt aber bereits von der Phantasie des Komponisten als Harmoniker und von seinem Sinn für tonale Entwicklungen: Die letzte Variation steht in Des-Dur, bevor die Coda zum C-Dur des Themas zurückkehrt. Mit zwei weiteren frühen Klavierstücken zu einem Band vereinigt, sind diese Variationen in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich erschienen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Belebende Gegensätze: Sergiu Celibidache dirigiert Haydn und Tschaikowskij

SWR Classic, SWR19118CD; EAN: 0747313911882

SWR Classic hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Schätze aus den Archiven des Südwest-Rundfunks zu Tage gefördert. Ich erinnere nur an die 30-CD-Packung mit den gesammelten Einspielungen von Carl Schuricht und an die glücklicherweise immer noch fortschreitende Hans-Rosbaud-Edition, von welcher zuletzt hervorragende Aufnahmen mit Symphonien von Jean Sibelius und Werken französischer Komponisten erschienen sind. Mit der Veröffentlichung eines Studiokonzerts aus dem Jahr 1959 ist der Reihe ein weiteres Glanzstück hinzugefügt worden. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt unter der Leitung von Sergiu Celibidache Joseph Haydns Symphonie B-Dur Hob. I:102 und Pjotr Iljitsch Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll Pathétique.

Das Orchester, das Sergiu Celibidache am 17. September 1959 in der Villa Berg dirigierte, hat im Laufe seiner Geschichte mehrfach den Namen gewechselt. 1946 als „Großes Orchester von Radio Stuttgart“ ins Leben gerufen und seit 1949 als „Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks geführt“, war es wenige Monate vor dem auf der vorliegenden CD festgehaltenen Konzert in „Südfunk Sinfonieorchester“ umbenannt worden. Den Namen „Radio-Sinfonieorchester Stuttgart“, unter dem es heute vor allem bekannt ist, erhielt es 1975. Durch die Fusionierung zum SWR Sinfonieorchester 2016 beendete der Südwestrundfunk die Geschichte seiner Stuttgarter und Freiburger Orchester als eigenständige Klangkörper. Wie die Rosbaud- und Schuricht-Veröffentlichungen, lässt sich also auch diese Celibidache-CD als musikalisches Denkmal begreifen.

Mit Celibidache verband das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart eine langjährige Zusammenarbeit. Er stand zum ersten Mal 1958 an der Spitze des Orchesters, und kehrte bis 1982, als er sich mit der Übernahme der Münchner Philharmoniker erstmals seit drei Jahrzehnten wieder fest an ein Orchester band, immer wieder nach Stuttgart zurück. Die Verbindung intensivierte sich in den 70er Jahren. Von 1972 bis 1979 war Celibidache ständiger Gastdirigent des Radio-Sinfonieorchesters, das damals keinen Chefdirigenten hatte, und fungierte als dessen künstlerischer Leiter. Da das Orchester als Rundfunkklangkörper, dessen Schwerpunkt auf nicht alltäglichem Repertoire lag, dem Dirigenten viel Einstudierungszeit zur Verfügung stellen konnte, fand Celibidache hier optimale Arbeitsbedingungen vor, um seine künstlerischen Ziele zu realisieren. Bekanntlich nicht an der Produktion von Tonträgern interessiert, duldete Celibidache aber, dass der Rundfunk seine Konzerte aufzeichnete, um sie gelegentlich senden zu können. Mitschnitte zahlreicher Aufführungen aus dieser Zeit (z. B. Symphonien von Bruckner und Brahms, Tondichtungen von Richard Strauss) wurden nach dem Tode des Dirigenten von der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Aufzeichnungen von Proben, die den Editionen beigegeben wurden, dokumentieren die äußerste Sorgfalt, mit der Celibidache bei den Einstudierungen zu Werke ging, und die Hingabe, mit der die Stuttgarter Musiker seine Anweisungen in Klang umsetzten.

Mit der neuen SWR-Classic-CD wird dem Bild, das uns die früheren Veröffentlichungen von Celibidaches Wirken in Stuttgart vermittelten, ein weiterer wichtiger Mosaikstein hinzugefügt. Die Platte bietet ein ganzes Konzert des damals 47-jährigen Dirigenten. Es umfasst, wie es Celibidache gerade zu jener Zeit liebte, mit Joseph Haydns B-Dur-Symphonie Hob. I:102 und Pjotr Tschaikowskijs Pathetique zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: ein Programm extremer Kontraste. Celibidache war keiner jener Dirigenten, die glaubten, durch einseitige Überbetonung bestimmter Aspekte den Charakter eines Werkes besonders deutlich machen zu können, oder gar an den Stücken einen persönlichen Interpretationsstil demonstrieren zu müssen. Solche Darbietungsweisen, die letztlich den Beigeschmack der Einseitigkeit hervorrufen, haben ihn nie interessiert. Stattdessen sichtete er die Partituren phänomenologisch, indem er die Fortschreitung der Harmonien verfolgte, der Beschaffenheit des Tonsatzes auf den Grund ging, die Phrasierung der melodischen Linien in Haupt- und Nebenstimmen bis ins kleinste Detail nachvollzog und über all dem nie vergaß, dass Instrumente Stellvertreter menschlicher Stimmen sind. Seine Dirigate vermitteln den Eindruck eines zwanglosen Entfaltens der in den Partituren angelegten Kräfte, denen nichts von außen hinzugefügt werden muss, um sie zur Wirkung zu bringen.

Und was fördert Celibidache auf diese Weise nicht alles zu Tage! Beide, Haydn und Tschaikowskij, stehen als runde Charaktere vor uns, als scharf profilierte Persönlichkeiten, die man nicht auf wenige Schlagworte reduzieren kann. Natürlich ist Haydn auch unter Celibidache geistvoll, witzig, von nie nachlassendem Spieltrieb durchdrungen, aber bereits die sehr breit genommene Einleitung des ersten Satzes verrät, dass dem Komponisten das Feierliche und Erhabene durchaus vertraut gewesen ist. Die liebevoll ausmusizierten Sechzehntelnoten in breit schwingendem 3/4-Takt verleihen dem langsamen Satz eine Stimmung apollinischer Gelassenheit. Der hervortretende Trompetenton kurz vor seinem Ausklang wird nicht zum groben Effekt, sondern sendet sanftes Licht von innen. Die von langen Noten geprägten Takte in der Coda des Finales klingen wie ferne Choräle in den Trubel dieses Satzes hinein. Dass auch die turbulente Seite der Haydnschen Kunst in Celibidaches Händen bestens aufgehoben ist, davon zeugen etwa der äußerst markant herausgemeißelte Kanon in der Durchführung des Kopfsatzes und der unaufhaltsame Schwung des Finales.

Die bei EMI (später Warner) erschienenen Mitschnitte der letzten drei Symphonien Pjotr Tschaikowskijs mit den Münchner Philharmonikern dokumentieren, dass Celibidache wie kein anderer Dirigent berufen war, die ganze Größe dieses Symphonikers deutlich werden zu lassen. Vergleicht man die hier vorliegende Sechste mit der späteren Aufnahme, fällt zwar auf, dass der 80-jährige Celibidache sich gegenüber den knapp 50 Minuten der Stuttgarter Aufführung insgesamt 10 Minuten mehr Zeit nimmt, doch die Herangehensweise an die Musik ist im Wesentlichen gleich geblieben. Wir erleben denselben Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, aber stets seinen Prinzipien treu. Diese frühe Pathétique vermittelt unmissverständlich, nicht anders als die späte, wie schlüssig Tschaikowskij komponiert hat. Die extremen Tempo- und Ausdruckskontraste des Kopfsatzes, in welchem zudem mehrfach Themen eingeführt werden, die im weiteren Verlauf nicht wiederkehren, haben schon manchen Kapellmeister dazu verführt, das Stück als bloße Abfolge locker miteinander verbundener Episoden aufzufassen und entsprechend zerrissen darzubieten. Celibidache erkennt, wie eng aufeinander bezogen die einzelnen Abschnitte des Satzes sind, wie ihre stark gegensätzlichen Stimmungen einander gegenseitig beleuchten und wie durch diese Gegensätze die musikalische Handlung vorangetrieben wird. „Verweile doch, du bist so schön“, meint man es aus dem Seitensatz tönen zu hören, wenn der Dirigent in Übereinstimmung mit dem harmonischen Gefälle Phrasenenden leicht verlangsamt, um mit dem jeweils nächsten Phrasenanfang wieder ins Grundtempo zurückzukehren. Und ist dann scheinbar Ruhe eingetreten, bricht mit einer manischen Energie sondergleichen die Durchführung in die friedliche Szenerie herein wie die apokalyptischen Reiter. Das largamente forte possibile vor der Wiederkehr des Andante-Themas hat die Intensität eines alles mit sich reißenden Lavastroms. Aber nicht nur im Extremen ist Celibidache in seinem Element. Auch die feineren Schwankungen arbeitet er trefflich heraus. Man höre etwa im zweiten Satz, wie der Mittelteil durch die deutliche Hervorhebung der lastenden Blechbläsertöne und eine geringfügige Verlangsamung des Tempos einen ganz anderen Klang erhält als der lichte Hauptteil. Die Überleitung, die zu ihm zurückführt, wirkt wie ein erneutes Aufblühen nach vorübergehender Eintrübung. Das vielleicht Wunderbarste an dieser Tschaikowskij-Darbietung ist, dass man merkt, mit welchem Geschick der Komponist Neben- und Gegenstimmen eingesetzt hat. Celibidache hatte die Gabe, seinen Musikern eine konkrete Vorstellung von ihrer Rolle im Ganzen zu vermitteln. Nicht nur wer gerade das Thema hat, hat etwas zu sagen, sondern auch diejenigen, die es begleiten, oder die ihm einen Kontrapunkt zur Seite stellen. Man kann nahezu in jedem Moment darüber staunen, welch ein Leben hier in allen Stimmen pulsiert.

Es besteht also ein guter Grund, SWR Classic für die Veröffentlichung dieser CD dankbar zu sein. Da Haydns Symphonie Nr. 102 in den Celibidache-Editionen von Audite, Deutsche Grammophon und EMI/Warner fehlt, wird zudem eine diskographische Lücke geschlossen. Ein Begleittext, der ein lebendiges Bild von Celibidache als Mensch und Künstler vermittelt, rundet die Produktion trefflich ab.

Norbert Florian Schuck [Dezember 2022]

Klassisches vom Klangkollektiv Wien: Ballot dirigiert Mozart, Stamitz und Beethoven

Besprechung des Konzerts:

Wien, ORF RadioKulturhaus, 19. November 2022

  • Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
  • Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)

Karin Bonelli, Flöte

Klangkollektiv Wien

Rémy Ballot, Dirigent

Zugleich Vorstellung der CD:

Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135

Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481

Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.

Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.

Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.

Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.

Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.

Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.

Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr.  14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.

Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Ein musikalischer Waldspaziergang durchs 19. Jahrhundert

Wer sich am 13. November 2022 in der Hamburger Laeiszhalle einfand, wurde auf eine musikalische Reise durch „den deutschen Wald“ mitgenommen. Unter diesem Motto stand das Konzert, das die Neue Philharmonie Hamburg unter der Leitung von Simon Kannenberg gab. Zur Aufführung gelangten die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Freischütz, das ausdrücklich dem Waldhorn zugedachte Hornkonzert Nr. 1 Es-Dur von Richard Strauss und die Symphonie Nr. 3 F-Dur Im Walde von Joachim Raff. Als Hornsolist war Jens Plücker zu hören.

Das Programm wurde klug zusammengestellt, sah man doch den deutschen Wald in jedem der drei Werke, die von Komponisten aus drei verschiedenen Generationen stammen, aus einem anderen Blickwinkel. Der Freischütz, 1821 uraufgeführt, ist das Fanal der Waldesromantik in der deutschen Musik. Mit den sanften Hornklängen gegen Anfang der Ouvertüre hat Weber erstmals in der Symphonik dem Wald zu einer unverwechselbaren Klangsymbolik verholfen, die für Generationen nachfolgender Komponisten verbindlich blieb. Was aber in dieser Oper besonders hervortritt, ist die düstere, dämonische Seite des Waldes. Das Allegro der Ouvertüre beruht zum großen Teil auf mit Samiel und der Wolfsschlucht assoziierten Themen („Doch mich umgarnen finstere Mächte“ ist eines in der Oper textiert), die in der Durchführung zu einem unheimlichen Höhepunkt und Zusammenbruch geführt werden.

Richard Strauss ist in seinem Ersten Hornkonzert, das er 1882/83 mit 18 Jahren schrieb, noch nicht der Programmmusiker, als der er später berühmt wurde. Das Werk erzählt keine Geschichten, sondern präsentiert sich als virtuose „Musiziermusik“ (wie der ältere Strauss gesagt hätte), die dem Solisten reichlich Gelegenheit gibt, dem Publikum sein Können zu zeigen. Als Sohn eines der besten Hornspieler seiner Zeit wusste Strauss genau, wie man die Möglichkeiten des Instruments optimal nutzt und welche Herausforderungen man ihm stellen kann. Dass der junge Komponist auf diverse Topoi zeitgenössischer Hornromantik zurückgreift, liegt in der Natur der Sache. Der deutsche Wald jedenfalls ist bei ihm lichtdurchflutet, ganz mit den Augen eines lebensfrohen Jünglings gesehen.

Der Schwerpunkt des Konzerts lag auf dem letzten Stück, Joachim Raffs Dritter Symphonie Im Walde. Das dreiviertelstündige Werk gliedert sich in vier Sätze, die der Komponist allerdings als drei „Abteilungen“ versteht – eine Einteilung, wie sie später auch Gustav Mahler in einigen seiner Symphonien vornahm. Als zweite Abteilung fasst Raff dabei die Mittelsätze zusammen. Diese Gliederung ist programmatischer Natur, denn der erste Satz schildert „Eindrücke und Empfindungen“ am Tage, die zweite Abteilung zunächst eine „Träumerei“ (Largo), dann den „Tanz der Dryaden“ (Scherzo) „In der Dämmerung“, wohingegen der Finalsatz dem Treiben im Walde bei Nacht gewidmet ist. Zu Lebzeiten setzte sich der Symphoniker Raff bei den Musikästhetikern zwischen alle Stühle, fiel sein Schaffen doch genau in jene Jahre, als sich der Richtungsstreit zwischen den Anhängern der „Programmmusik“ und denen der „absoluten Musik“ auf dem Höhepunkt befand. Alle elf Symphonien Raffs sind nach klassischen Vorbildern gestaltet und können ohne weiteres als absolute Musik bestehen, aber nicht weniger als neun von ihnen hat der Komponist mit einem Programm oder zumindest charakteristischen Überschriften versehen. Auch für die Wald-Symphonie formulierte Raff ein ausführliches Programm, doch beließ er es in der gedruckten Partitur bei kurzen Anmerkungen vor jedem Satz. Mag Raff mit seinem Konzept von Programmsymphonik in den Musikjournalen seiner Zeit umstritten gewesen sein, das Publikum wusste seine Werke jedenfalls zu schätzen. Immerhin blieb die 1871 uraufgeführte Wald-Symphonie drei Jahre lang die meistgespielte Symphonie eines lebenden deutschen Komponisten. Dies verwundert nicht, denn Raff war ein begnadeter musikalischer Landschafts- und Genremaler, der die Farbenpalette des großen Orchesters mit außerordentlichem Geschick zu handhaben wusste. Seine Stärke lag in pittoresken Szenen, in fein abgestufter Koloristik. Klangfarben waren ein unabdingbarer Bestandteil seines Konzepts musikalischer Dramaturgie. In der Symphonie Im Walde schlägt sich dies darin nieder, dass es in den ersten drei Sätzen nur verhältnismäßig wenige Tutti-Abschnitte gibt. Erst im Finale entfaltet sich die Macht des vollen Orchesters ganz. Dieser Satz ist auch der einzige des Werkes, der nicht leise endet. Hier lässt Raff des Nachts die „wilde Jagd mit Frau Holle und Wotan“ ausziehen. Welches Thema Frau Holle, welches Wotan zuzuordnen ist, bleibt unklar. (Ich vermute einen Scherz des Komponisten, um die Zuhörer zur Aufmerksamkeit zu animieren.) Jedenfalls weckt das Programm des Satzes Assoziationen an Webers Freischütz und Wagners Ring. Raffs Musik hat nicht die düstere Majestät des Wagnerschen Wotan, auch führt er uns in seinem Finale keineswegs in die Wolfsschlucht, wo ja Weber bekanntlich das Wilde Heer auf die Beschwörung durch den Teufelsbündner Kaspar hin aufmarschieren lässt. Stattdessen lässt er einen Zug urfideler Waldschrate vor unseren Ohren vorüberziehen. Die ansteckende Wirkung ihrer derben Vitalität bezeugt Pjotr Tschaikowskij, der diverse Stilmittel dieses Satzes im Allegro molto vivace seiner Symphonie pathétique wiederverwendete. Die Elementarkräfte der Natur sind bei Raff dem Menschen freundlich gesonnen. Ganz in diesem Sinne schließt er die Symphonie mit einem prächtigen Sonnenaufgang.

Die Darbietungen durch die Neue Philharmonie Hamburg waren durchweg erfreulich. Simon Kannenberg, der in diesem Konzert zum ersten Mal mit dem Orchester auftrat, erwies sich als ein sehr kompetenter Kapellmeister, der nie den Verlauf der Musik aus den Augen verliert und es versteht, stets die Spannung aufrecht zu halten. Stellen, an denen Motive durch die einzelnen Orchestergruppen wandern, wie etwa in der Durchführung der Freischütz-Ouvertüre, widmete er seine besondere Aufmerksamkeit. Jens Plücker meisterte seine anspruchsvolle Solostimme im Strauss-Konzert glänzend, gleichermaßen sicher in den virtuosen wie in den kantablen Abschnitten. Als zweiter Solist ließ sich in der Zugabe Emmanuel Goldstein hören, der an diesem Abend als Gast-Konzertmeister wirkte und Raffs Cavatina op. 85/3 vollendet gesangvoll vortrug.

Ausdrücklich loben muss man den umfangreichen, sattsam mit wertvollen Informationen zur musik- und ideengeschichtlichen Stellung der aufgeführten Werke ausgestatteten Programmhefttext, den Dirigent Simon Kannenberg selbst verfasst hat. Kannenberg ist auch als Musikwissenschaftler hervorgetreten und gehört zu den besten Kennern des Schaffens von Joachim Raff. Vor nicht langer Zeit hat er den Briefwechsel Raffs mit Hans von Bülow herausgegeben.

[Norbert Florian Schuck, November 2022]

Vielschichtige Charaktere – Charlotte Steppes spielt Debussy, Beethoven und Draeseke in Bad Rodach

Nach dem Auftritt Aris Alexander Blettenbergs im Juni dieses Jahres erklang im Bad Rodacher Jagdschloss am 16. Oktober 2022 ein weiteres Mal Felix Draesekes Klaviersonate op. 6 unter den Fingern eines berufenen jungen Talents. Die Leipziger Pianistin Charlotte Steppes spielte das Werk am Ende eines Programms, das mit Claude Debussys Suite bergamasque begann und als Herzstück Ludwig van Beethovens Sonata quasi una Fantasia cis-Moll op. 27/2 enthielt. Veranstaltet wurde das Konzert von der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, deren 36. Jahrestagung es beschloss, in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach.

© Manfred Sonnenschmidt

Bereits mit dem Beginn der Suite bergamasque wurde klar, dass man hier Gelegenheit hatte einer Künstlerin zu lauschen, die es trefflich versteht, die von ihr vorgetragenen Stücke als profilierte Charaktere zu präsentieren. Jeder der vier Sätze hatte ein eigenes Gesicht. Im Prélude wurde Debussys geistige Verwandtschaft mit Couperin deutlich. Dem Menuett fehlte es weder an Grazie noch an Energie. Das Mondscheinpanorama, das Steppes in Clair de Lune entfaltete, klang vor allem deshalb so zart und innig, da die Pianistin jedes Zerfließen der melodischen Konturen geschickt vermied. Man hörte, dass Debussy nicht nur ein Klangfarbenkünstler, sondern auch ein großer Melodiker war. Die durchlaufenden Achtelfiguren im abschließenden Passepied spielte Steppes sehr markiert und zeigte dabei, dass der Bass nicht einfach nur die spritzige Melodie begleitet, sondern im Verlauf des Satzes sehr wohl gewichtige Worte mitzusprechen hat. Angemessen sanfte Töne fand sie für den kontrastierenden Mittelteil, den sie geschickt in die Wiederkehr des Anfangs zu überführen wusste.

Das einleitende Adagio der Beethovenschen cis-Moll-Sonate korrespondierte schön mit Debussys Clair de Lune, denn auch hier erklang ein vielschichtiges Charakterbild. In flüssigem Tempo, mit dezentem Rubato, modellierte Steppes die Basslinie als weit ausholenden Gesang und arbeitete den Dialog zwischen Ober- und Unterstimme in der Mitte des Stücks prägnant heraus. In den letzten beiden Sätzen gestaltete sie pointiert die inneren Kontraste der Themen. Die Sechszehntelläufe des Finales wurden sorgfältig periodisiert; bei aller Geläufigkeit war doch stets Gesang in ihnen.

Steppes‘ Aufführung von Draesekes op. 6 – wie Beethovens op. 27/2 eine Sonata quasi Fantasia mit langsamem Kopfsatz – bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Ich sage dies mit umso größerer Freude, da ich dieses von Draesekes einstigem Förderer Franz Liszt hochgeschätzte und regelmäßig gespielte Meisterwerk selten so hervorragend dargeboten gehört habe wie an diesem Tag. Die Pianistin traf durchaus den heroischen Grundton der Komposition. Man merkte, warum Draeseke als junger Mann im Liszt-Kreis „der Recke“ hieß. Aber dieser Recke konnte nicht nur mit Kraftakten imponieren, er besaß auch eine empfindsame Seele und viel Feingefühl in der Formulierung seiner Gedanken.

Steppes begann die Einleitung des Kopfsatzes sehr rasch und energisch, fand jedoch sogleich die nötige Ruhe für den folgenden Abschnitt, den sie frei im Tempo, wie improvisierend, vortrug, wobei sie aber stets auf die Struktur der Perioden Rücksicht nahm. Spannungsvoll leitete sie in den Trauermarsch über, der herb und streng tönte, mit grollenden Bässen, und an den Höhepunkten orchestrale Wucht entfaltete. Der auf die Einleitung zurückgreifende Mittelteil (mit gut gegliederter Triolenbewegung) bot in seiner Geschmeidigkeit einen wirkungsvollen Kontrast. Das Ende des Satzes wurde feierlich zelebriert.

Den zweiten Satz hat Draeseke als „Valse-Scherzo“ bezeichnet. Mit viel Liebe zum Detail widmete sich Steppes den zahlreichen kapriziösen Hakenschlägen, vergaß aber nie, den Walzertakt noch durchklingen zu lassen. Die Doppelnatur dieses Intermezzos – halb Walzer, halb Scherzo – kam wunderbar heraus. Ein einziges Mal stellten sich mir in dieser Aufführung Bedenken ein: als die Pianistin das Finale so stürmisch begann, dass ich mich fragte, ob von diesem Ausgangspunkt aus die großen Steigerungen, die der Satz bereithält, noch realisiert werden können. Charlotte Steppes tat aber das Richtige: Durch gut angebrachte Ritardandi wurde sie zum Seitensatz hin langsamer, ließ es dort an gesanglichem Vortrag und Detailfreudigkeit nicht fehlen, und hielt auch im folgenden Geschehen das Tempo flexibel. So gelang es ihr, die höchste Kraftentfaltung bis zum Schluss aufzusparen und das Werk mit ekstatischem Jubel zu bekrönen.

Das Publikum dankte mit stehendem Applaus.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]

(NB: Der Verfasser dieses Artikels ist Mitglied der Internationalen Draeseke-Gesellschaft und wurde auf der Mitgliederversammlung am 15. Oktober zu ihrem neuen Ersten Vorsitzenden gewählt. Da die Organisation des hier besprochenen Konzerts aber in den Händen des früheren Vorstands lag, dem er nicht angehörte, spricht der Verfasser im vorliegenden Artikel nicht als IDG-Vorsitzender, sondern als einfacher Rezensent.)

Richard-Wetz-Aufführungen auf dem Linzer Brucknerfest

Chouchane Siranossian auf einem Transparent am Linzer Taubenmarkt, das das Konzert vom 1. Oktober ankündigte.

Über das Programm des diesjährigen Linzer Brucknerfestes kann man sich nur in Tönen höchsten Lobes äußern. Unter dem Motto „Visionen – Bruckner und die Moderne“ haben es sich die Veranstalter zum Ziel gesetzt, Anton Bruckners Ausstrahlung auf die Musik des 20. Jahrhunderts hörbar zu machen. Man beschränkte sich dabei keineswegs auf häufig zu hörende Werke, sondern präsentierte dem Publikum eine große Zahl wertvoller Kompositionen, denen lange Zeit eine ihrer Qualität entsprechende Rezeption versagt geblieben ist. Darin muss man den Hauptverdienst des Festes erblicken. Es ist zu hoffen, dass auch andere Musikfeste sich vom Entdeckerspürsinn der Linzer anstecken lassen und uns ähnlich klug gestaltete Programme bieten, anhand derer so recht die Vielfalt musikgeschichtlicher Entwicklungen deutlich wird. Schwerpunkte ließen sich im Veranstaltungsplan des Brucknerfestes vor allem in Hinblick auf das Schaffen dreier um 1880 geborener Komponisten erkennen: Heinrich Kaminski, Richard Wetz und Franz Schmidt. Der Verfasser dieser Zeilen hat zwei Konzerte besucht, in denen Werke von Richard Wetz aufgeführt wurden: Am 30. September erklang im Mariendom neben Bruckners 150. Psalm und Arvo Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten das Requiem op. 50, am 1. Oktober im Brucknerhaus neben Gottfried von Einems Bruckner Dialog op. 39 und Bruckners Erster Symphonie (in der Fassung von 1890) das Violinkonzert h-Moll op. 57. Beide Male spielte die PKF – Prague Philharmonia unter Leitung von Eugene Tzigane. Das Chorkonzert wurde vom Prager Philharmonischen Chor (Einstudierung: Lukáš Vasilek) und den Solisten Claudia Barainsky (Sopran) und Nikolay Borchev (Bariton) bestritten, Violinsolistin im Orchesterkonzert war Chouchane Siranossian.

Es hätte Wetz gewiss gefreut, seine Werke in diesem Rahmen gespielt zu wissen, fühlte er sich doch dem Schaffen Bruckners aufs Engste verbunden, seit er die Musik des österreichischen Meisters zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich entdeckt hatte. Der gebürtige Schlesier, der seit 1906 als Dirigent und Pädagoge in Erfurt lebte, leitete mehrere Erstaufführungen Brucknerscher Kompositionen in Mitteldeutschland. Die Erfurter Aufführung der f-Moll-Messe im Jahr 1907 war überhaupt erst die dritte auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. 1922 trat er mit einer kurzen Monographie über Bruckner hervor, die im Reclam-Verlag herauskam, gehört also auch als Musikschriftsteller zu den Bruckner-Pionieren. Im Sommer 1930 unternahm er eine Fußwanderung durch den Bayerischen Wald nach Passau, fuhr mit dem Schiff nach Linz und erfüllte sich anschließend den lang gehegten Wunsch, Bruckners Grabstätte in St. Florian zu besuchen. Ob ihn jedoch die Aufführungen seiner Werke, wie man sie nun auf dem Linzer Brucknerfest hören konnte, zufriedengestellt hätten, wage ich zu bezweifeln.

Ich möchte über Eugene Tzigane nichts Schlechtes sagen, denn dieser Dirigent hält wirklich Ausschau nach hochwertigen Stücken, die die Konzertprogramme bereichern können, und führt sie in klugen Zusammenstellungen auf. So dirigierte er im Juni dieses Jahres in Weimar das Festkonzert anlässlich des 150. Geburtstags der Hochschule für Musik Franz Liszt, in welchem neben der Champagner-Ouvertüre Waldemar von Baußnerns das prächtige Klavierkonzert Hans Bronsart von Schellendorfs, Franz Liszts zu selten zu hörender Orpheus, sowie Werke zweier zeitgenössischer Thüringer Komponisten, des vor wenigen Jahren gestorbenen Karl Dietrich und Wolf Günther Leidel, zur Aufführung kamen. (Dass auf diesen Seiten damals nicht darüber berichtet wurde, liegt einzig daran, dass ich am Tage des Konzerts aufgrund anderer Verpflichtungen nicht in Weimar sein konnte.) Also, ich halte fest: Tzigane ist von edlen Absichten geleitet, die man nur befürworten kann. Die Frage ist: Halten seine Aufführungen, was die Absichten versprechen? Leider waren die Linzer Konzerte nicht dazu angetan, diese Frage bejahend zu beantworten.

Das Kirchenkonzert litt vor allem unter den sehr ungünstigen akustischen Bedingungen des Mariendoms. Bei dem eröffnenden Psalm Bruckners las ich in der Partitur mit und konnte zahlreiche Noten sehen, ohne die zugehörigen Töne zu hören. Was mein Ohr erreichte, war eine verwaschene Skizze des Werkes. Der Klang löste sich in der Kirchenhalle auf wie eine Brausetablette im Wasserglas. Dasselbe galt für das Wetz-Requiem. Die Größe und Schönheit beider Werke konnte man nur an jenen Stellen ahnen, an welchen der Chor in langen Notenwerten homophon a cappella sang, oder sonstwie das kontrapunktische und orchestrale Geschehen dermaßen reduziert war, dass die Stimmen nicht ineinander verschwammen und einander gegenseitig ausschalteten. Kann man den Dirigenten dafür verantwortlich machen? Ich glaube, dass auch viele andere Kapellmeister an diesen akustischen Bedingungen gescheitert wären. Vielleicht hätten die Veranstalter gut daran getan, den Raum mit hölzernen Schallwänden auszukleiden? Allerdings schien Tzigane auch kaum Rücksicht auf den langen Nachhall im Dom zu nehmen. Der Brucknersche Psalm wurde strikt in einem so hohen Tempo durchdirigiert, dass die Feinheiten der Partitur auch unter besseren Bedingungen kaum zur Geltung gekommen wären. Der erste dissonante Höhepunkt von Wetzens Dies Irae warf noch sein Echo durch den Raum, als der Chor schon die leise Fortsetzung anstimmte, welche dadurch im Nachhall unterging. Einzig Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten gelangte in diesem Konzert zu einer gelungenen Darbietung. Das nur für Streicher und eine gelegentlich schlagende Glocke geschriebene Stück erwies sich als unverwüstlich, ja die Domakustik schien die gewünschte meditative Wirkung der Pärtschen Prolationskanons noch zu unterstützen.

Eigentlich bot nur das Orchesterkonzert am folgenden Tage die Möglichkeit, Eugene Tziganes Leistung als Dirigent einzuschätzen. Allerdings war auch hier der Gesamteindruck nicht sehr erfreulich. Zu Beginn hörte man Gottfried von Einems Bruckner Dialog, einen viertelstündigen symphonischen Satz, dem der Komponist das Choralthema aus dem unvollendeten Finalsatz der Neunten Symphonie Bruckners zugrunde gelegt hat. Es erklingt teils so, wie Bruckner es niedergeschrieben hat, teils in abgeleiteter Form, im Wechsel mit eigenen Gedanken Einems, sodass man tatsächlich meint, einem Gespräch zweier sehr unterschiedlicher Komponistenpersönlichkeiten beizuwohnen. Leider hat Tzigane es nicht vermocht, die Charaktere angemessen herauszuarbeiten. Weder das ungemein kapriziöse Wesen Einems, der nie um einen humorvollen Hakenschlag verlegen ist, noch die majestätische Schlichtheit des Brucknerschen Chorals kamen zur Geltung. Alles wurde bewältigt, als wären die Ausführenden in Eile gewesen.

Wie im Kirchenkonzert der Pärtsche Cantus, so stach auch hier die mittlere Nummer heraus, was vor allem dem Umstand zu verdanken ist, dass Chouchane Siranossian als Solistin für das Wetzsche Violinkonzert gewonnen werden konnte. Dieses Werk lässt sich als symphonische Rhapsodie charakterisieren. In seinem halbstündigen Verlauf werden wenige kurze Motive gleichsam improvisierend einem beständigen Verwandlungsprozess unterzogen, wobei aber alle Abschnitte des Stückes so geschickt aufeinander bezogen sind, dass sich ein fest zusammenhängendes Ganzes ergibt. Es ist eine über weite Strecken lyrische, oft sehr zarte Musik, die sich zwar durchaus zu glanzvollen Höhepunkten steigern kann, sich anschließend aber regelmäßig ins Halbdunkel zurückzieht. Chouchane Siranossian fand den richtigen gesanglichen Ton für dieses Stück und erfüllte ihre Stimme bis in die Verzierungen hinein mit Leben. Nie drängte sie sich über Gebühr in den Vordergrund, sondern ließ auch den Orchesterinstrumenten, gerade in den sparsam instrumentierten Passagen, Raum zur Entfaltung, und wirkte so wie die Hauptschlagader eines klingenden Organismus. Dieses introvertierte Stück war bei ihr in sehr guten Händen!

Die Erste Symphonie Bruckners beschloss das Konzert. Leider konnte man Tziganes Darbietung keine der Qualitäten nachrühmen, die Rémy Ballots Aufführung (ebenfalls Fassung 1890) vor gut einem Monat im nahen St. Florian auszeichneten. Die Tempi waren recht zügig und wurden stur durchgehalten. Statt auf Detailarbeit wurde auf grobe Effekte gesetzt, namentlich in den Blechbläsern. Man konnte den Dirigenten zwar auf unterschiedliche Weise gestikulieren sehen, doch hatten diese Gesten keinen hörbaren Einfluss auf den Klang. Die Violinen beispielsweise spielten nicht geschmeidiger, obwohl sie mehrfach geradezu gestreichelt wurden. Eher wirkte es, als werde der Dirigent vom Orchester mitgerissen als umgekehrt. Daran, dass man viele der einkomponierten Verflechtungen der ersten und zweiten Violinen nicht hörte, hatte auch die Aufstellung der Streicher mit beiden Violingruppen auf der (vom Dirigenten gesehen) linken Seite ihren Anteil. Auch hätten die langen Haltetöne der Bässe, die gegen Ende von Wetzens Violinkonzert die Solokadenz grundieren, den Raum besser gefüllt, wären sie von hinten statt von der Seite gekommen.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]

Eröffnungskonzert des neuen Bösendorfer-Saales in Wien mit Aris Alexander Blettenberg

Wien, Haus der Ingenieure (Eschenbachgasse 9)

Donnerstag, 29. September 2022, 19:30

Aris Alexander Blettenberg, Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
32 Variationen über ein eigenes Thema WoO 80

Georges Bizet (1838–1875)
Variations chromatiques de concert

Ludwig van Beethoven
Polonaise op. 89

Julius Zellner (1832–1900)
Andante und Scherzo op. 13

Hans von Bülow (1830–1894) / Franz Liszt (1811–1886)
Dante-Sonett Tanto gentile e tanto onesta S. 479

Felix Draeseke (1835–1913)
Sonata quasi Fantasia op. 6

1872 richtete Ludwig Bösendorfer, der angesehenste Klavierfabrikant Österreichs, im Wiener Palais Liechtenstein einen Konzertsaal ein, der in den folgenden vier Jahrzehnten zu einer der wichtigsten Spielstätten der österreichischen Hauptstadt wurde. Weithin gerühmt wurde seine hervorragende Akustik. Keinem Geringeren als Hans von Bülow war es vorgehalten, den Saal am 19. November 1872 einzuweihen. Es folgten Auftritte zahlloser berühmter Musiker wie Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Rubinstein, Hugo Wolf, Ignacy Paderewski, Eugen d’Albert, Richard Strauss, Ferrucio Busoni, Max Reger, Artur Schnabel und das Rosé-Quartett. Mit dem Abriss des Palais Liechtenstein endete die Reihe aufsehenerregender Konzerte im Jahr 1913.

Nun wird in Wien im Haus der Ingenieure ein neuer Bösendorfer-Saal eingeweiht. Das Konzert, mit dem Bösendorfer Artist Aris Alexander Blettenberg die Spielstätte am 29. September 2022 eröffnen wird, schlägt in mehrfacher Weise den Bogen zum historischen Konzert Hans von Bülows. Felix Draesekes Sonate op. 6 wird dabei erstmals in Wien zu hören sein. Das Werk, das 1870 mit einer Widmung an Bülow erschienen war, erfreute sich der besonderen Wertschätzung Franz Liszts, der es regelmäßig spielte und als bedeutendste Klaviersonate seit Schumanns op. 11 ansah.

Aris Alexander Blettenberg, geboren 1994 in Mühlheim an der Ruhr, ist Komponist, Dirigent und Pianist. Er gewann 2015 in Meiningen den Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow in der Kategorie Dirigieren vom Klavier und 2020 den Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb Wien.

[Nobert Florian Schuck, September 2022]

Musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte – Jewhen Stankowytsch zum 80. Geburtstag

Holodomor, Babyn Jar, Tschernobyl – den Schreckensereignissen der ukrainischen Geschichte hat Jewhen Stankowytsch eindringliche Mahnmale in Tönen errichtet. In den folkloristischen Traditionen seiner Heimat tief verwurzelt, steigerte er deren Elemente zu einem scharf profilierten Personalstil und schuf zahlreiche Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke. Das Friedensgebet mit dem er seine 2015 entstandene Kammersymphonie Nr. 12 schloss, blieb bis heute unerhört. In einem vom Krieg erschütterten Land beging Jewhen Stankowytsch, einer der großen Komponisten unserer Zeit, am 19. September 2022 seinen 80. Geburtstag.

Jewhen Fedorowytsch Stankowytsch (zur Zeit der Sowjetunion auch in der russischen Form seines Namens als Jewgenij Fjodorowitsch Stankowitsch bekannt, in englischen Veröffentlichungen Yevhen Stankovych geschrieben) stammt aus der Oblast Transkarpatien, dem ethnisch gemischten Grenzgebiet der Ukraine zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Er kam 1942 in Swaljawa als Sohn einer Lehrerfamilie zur Welt. Im Alter von zehn Jahren erlernte er das Spiel auf dem Bajan (dem osteuropäischen Knopfakkordeon) und versuchte sich bald in der Komposition. An der Musikhochschule der Oblasthauptstadt Ushhorod studierte er Violoncello, bevor er 1961 ans Konservatorium nach Lemberg wechselte, wo er ersten Kompositionsunterricht von Adam Sołtys erhielt. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch den Militärdienst setzte er seine Studien 1965 am Kiewer Konservatorium, der heutigen Nationalen Musikakademie der Ukraine P. I. Tschaikowskyj, fort. Sein wichtigster Lehrer war dort Borys Ljatoschynskyj, der herausragende ukrainische Symphoniker seiner Zeit. Nach dessen Tod 1968 schloss Stankowytsch seine Komponistenausbildung bei Myroslaw Skoryk ab.

Stankowytsch wuchs in ein sowjetisches Musikleben hinein, für das Dmitrij Schostakowitsch bereits ein Klassiker war. Auch waren die ersten Regungen eines westlich orientierten Avantgardismus spürbar geworden. In der Ukraine hatte namentlich Walentyn Sylwestrow während der 1960er Jahre mit Kompositionen, die sich der Zwölftonmethode bedienten, für Aufsehen bzw. bei den Kulturbehörden für Unmut gesorgt. Nach wie vor waren in der staatlich geförderten Musikpublizistik jene Stimmen beherrschend, die den „Sozialistischen Realismus“ als ästhetische Richtlinie für das kompositorische Schaffen propagierten. In diesem Umfeld erfuhren Stankowytschs Frühwerke gleichermaßen Zustimmung wie Ablehnung. Einerseits erhielt er Preise, sein Ruf als eines der hervorragendsten Nachwuchstalente der ukrainischen Musik festigte sich, anderseits musste er heftige Kritik über sich ergehen lassen. Die Kulturfunktionäre wussten nicht recht, wie sie ihn einzustufen hatten. Teils erschienen ihnen seine Werke als zu modern, teils als zu – folkloristisch! So wurde seine erste Oper Wenn der Farn blüht 1979 unmittelbar vor der bereits angesetzten Uraufführung verboten (sie kam erst 2017 in Lemberg auf die Bühne). Zwar basiert die Musik des Stückes auf originalen ukrainischen Volksgesängen, doch wurde der Inhalt, der keinerlei Bezüge zur sowjetischen Gegenwart aufweist und stattdessen Kulte der heidnischen Frühzeit und die Lebenswelt der Saporoger Kosaken beschreibt, zum Anlass genommen, das Werk unter dem Vorwurf des Nationalismus aus dem Programm zu verbannen. Auch entfaltet Stankowytsch, der sich nach eigener Aussage vom „Melos der Zentral-Ukraine bzw. von der einzigartigen Mehrstimmigkeit des Saporoger Sitsch, also des Kosakentums, einerseits und von Karpaten- oder Huzulen-Folklore anderseits“ inspirieren ließ, hier mit betont archaisierender Harmonik und dem Einsatz zahlreicher Schlaginstrumente ein Folklorepanorama, dessen Eigenart sich kaum mit Begriffen wie „traditionell“ oder „modernistisch“ erfassen lässt.

Ein Avantgardist ist Stankowytsch in der Tat nie gewesen. Die formbildende Kraft der Tonalität hat er in seinem Schaffen nie verleugnet und auch in der Wahl der Gattungen stets die Anbindung an die Tradition gesucht. Einer bestimmten Stilrichtung oder Schule lässt er sich allerdings kaum zurechnen. Charakteristisch für Stankowytschs Komponieren ist sein breites Spektrum harmonischer Stilmittel. Die Einfachheit der heimatlichen Folklore und des orthodoxen Kirchengesangs fungieren als ein gedachtes Zentrum, von dem ausgehend er zu komplexen Harmoniegebilden gelangt, die jedoch stets die Beziehung zum Ursprung wahren. Von der Diatonik zum Cluster ist es für Stankowytsch nur ein kleiner Schritt – vor allem ein Schritt, bei dem die Richtung klar ist. Seine Fähigkeit zur musikalischen Synthese zeigt sich in seinen Werken besonders dann, wenn er originale Volksmelodien verarbeitet. Sie fügen sich nahtlos in den Kontext einer dissonanzgesättigten modernen Harmonik ein, die letztlich auf den gleichen Grundlagen aufbaut wie die Diatonik der Folklore. Viele Werke Stankowytschs gewinnen ihre Spannung aus der Gegenüberstellung scharf kontrastierender Gedanken. Elementare, grobkörnige Kurzmotive wechseln mit ausgedehnten elegischen Kantilenen. Auch instrumentatorisch werden diese Kontraste hervorgehoben. Überhaupt ist Stankowytschs Einfallsreichtum als Instrumentator schier unerschöpflich. Man höre sich einmal seine zwischen 1973 und 2003 entstandenen sechs Symphonien an, die sich in ihren Besetzungen deutlich voneinander unterscheiden. In Nr. 1 und Nr. 4, der Sinfonia larga und der Sinfonia lirica, verlangt er nur nach 15 bzw. 16 Solostreichern, denen er eine solche Vielfalt an Klängen abgewinnt, dass man mitunter meint, ein vollbesetztes Symphonieorchester zu hören. Nr. 2, die Heroische, und Nr. 6 sind seine einzigen Symphonien für eine „gewöhnliche“ Besetzung. Bei Nr. 3, Ich bestärke mich selbst, handelt es sich um eine Symphoniekantate für Soli, gemischten Chor und Orchester nach Gedichten von Pawlo Tytschyna. Nr. 5, die Symphonie der Pastoralen, nähert sich durch Verwendung einer Solovioline dem Konzertanten. Besonders intensiv hat sich Stankowytsch der Kammersymphonie zugewandt und gehört mit mittlerweile 15 Werken zu den produktivsten Komponisten auf diesem Gebiet. Offensichtlich reizt es ihn besonders, sich auf ein kleines Instrumentarium zu beschränken, um diesem einen maximalen Reichtum an Klängen zu entlocken. Jede der Kammersymphonien ist für eine andere Besetzung geschrieben. Wiederholt weist er einem bestimmten Instrument solistische Aufgaben zu (Nr. 3 Flöte, Nr. 5 Klarinette, Nr. 6 Horn, Nr. 9 Klavier). Das eigentliche Fach der konzertanten Musik hat Stankowytsch mit zwei Viola-, zwei Violoncello- und sieben Violinkonzerten ebenfalls reich bedacht.

Stankowytschs freier Umgang mit traditionellen Formkonzepten lässt sich exemplarisch anhand seiner Zweiten Symphonie studieren. Das Werk besteht aus drei Sätzen, die ohne Pause aufeinander folgen. Der erste stellt einem trotzigen, dreitönigen Streichermotiv ein melodiebetontes Thema in den Bläsern gegenüber und steigert beide in der Durchführung zu apokalyptischen Bildern. Der zweite, langsame Satz beginnt leise und polyphon in den Streichern, nimmt bald das Volkslied O schau, Mutter, schau auf und verarbeitet es auf vielfältige Weise. Er mündet, allmählich lebhafter werdend, nahtlos in das kurze Finale, das weniger ein eigenständiger Satz als eine gemeinsame Coda beider erster Sätze ist und mit Elementen beider die Symphonie zum kräftigen Ausklang führt.

Wiederholt hat Stankowytsch in seinen Werken Ereignisse der ukrainischen Geschichte gestaltet. Die Oper Wenn der Farn blüht, mit ihrer Thematisierung der Frühgeschichte und des Saporoger Kosakenstaates, wurde bereits erwähnt. Seine Taras-Passion (2013) behandelt das Schicksal des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861), der wegen seiner als revolutionär eingestuften Gedichte zehn Jahre in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde, wo ihm auf ausdrücklichen Befehl des Zaren verboten war, sich künstlerisch zu betätigen. Das 1992 komponierte Requiem für die Opfer der Hungersnot ist dem Gedächtnis der Toten des Holodomor gewidmet, der von der sowjetischen Regierung während der 1930er Jahre zur Schwächung des Bauernstandes gezielt ins Werk gesetzten Hungersnot, die in der Ukraine zu mehreren Millionen Toten führte. Diesem Werk voran ging 1991 das 2006 neu gefasste Kaddisch-Requiem „Babyn Jar“, das der Ermordung von 33.000 Kiewer Juden durch die SS im Jahr 1941 gedenkt. 2011, 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, komponierte Stankowytsch das Oratorium Die Mutter von Tschernobyl. Eines der jüngsten Werke dieses musikalischen Chronisten der Ukraine, das auf historische Geschehnisse Bezug nimmt, ist die 2015 entstandene Zwölfte Kammersymphonie. Es handelt sich hierbei um die kammerorchestrale Fassung zweier im Jahr zuvor, nach dem Ausbruch des ukrainischen Bürgerkriegs, komponierter Stücke für Violine und Klavier: Fresko des Maidans und Gebet für den Frieden.

Bis zum heutigen Tage ist Jewhen Stankowytsch, der seit 1988 als Kompositionsprofessor an der Nationalen Musikakademie der Ukraine lehrt und von 2005 bis 2010 als Vorsitzender des Nationalen Komponistenverbands der Ukraine amtierte, ungebrochen schöpferisch tätig. Neben den genannten Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis noch zahlreiche weitere Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke, die es rechtfertigen, von ihm als dem hervorragendsten unter den lebenden ukrainischen Komponisten zu sprechen. Eine weitere Verbreitung seiner Werke auch außerhalb seiner Heimat erscheint gerade anlässlich seines 80. Geburtstages sehr wünschenswert.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

NB: Der Verfasser dankt Holger Sambale und Christoph Schlüren für wertvolle Hinweisungen und Korrekturen.

Courvoisier-Uraufführung auf den Weidener Max-Reger-Tagen

Weiden, evangelisch-lutherische Kirche St. Michael

Samstag, 1. Oktober 2022, 19 Uhr

Julius Berger, Violoncello

Eintritt: 20 €, ermäßigt 15 €, Schüler und Studenten 5 €

Adolf Busch (1891–1952)
Präludium und Fuge d-Moll op. 8b (1922)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007

Walter Courvoisier (1875–1931)
Suite h-Moll op. 32/2 (1921)
URAUFFÜHRUNG 

Johann Sebastian Bach
Choralvorspiel Wenn ich einmal soll scheiden BWV 727 (bearbeitet von Julis Berger)

Max Reger (1873–1916)
Suite Nr. 2 d-Moll op. 131c

Walter Courvoisier um 1929, Photographie von Heinrich Traut (1857-1940)

Als Herausgeber des Werkes ist es mir eine besondere Freude, die Uraufführung der Suite für Violoncello solo h-Moll op. 32/2 von Walter Courvoisier anzukündigen. Am 1. Oktober 2022 wird Julius Berger im Rahmen der 24. Weidener Max-Reger-Tage das 1921 entstandene, aber erst 2021 gedruckte Werk des Reger-Zeitgenossen in der Michaelskirche zu Weiden zum ersten Mal öffentlich zu Gehör bringen. Weiterhin erklingen Solowerke für Violoncello von Max Reger, von Johann Sebastian Bach, dessen Schaffen auf diesem Gebiet sich Reger wie Courvoisier zum Vorbild nahmen, und von Adolf Busch, der als einer der großen Violinisten des frühen 20. Jahrhunderts Widmungen von Reger wie von Courvoisier empfing.

Walter Courvoisier schrieb im Herbst 1921 zwei Suiten für unbegleitetes Violoncello, in A-Dur und h-Moll, die er unter der Opuszahl 32 zusammenfasste. Diese Werke sind offensichtlich als Gegenstück zu seinen Sechs Suiten für Violine allein op. 31 gedacht gewesen, die zur gleichen Zeit entstanden und in den Worten des Komponisten der selbstgestellten Aufgabe entsprangen, „zu erforschen, welche der Möglichkeiten in der Komposition alter Tanzformen auch heute noch gegeben sind“. Im Gegensatz zu den Violinsuiten, Courvoisiers erfolgreichster Publikation, blieben die Violoncellosuiten unveröffentlicht, wobei sich über den Grund nur spekulieren lässt. Am wahrscheinlichsten erscheint mir, dass der Komponist, ganz nach dem Vorbild Bachs, auch für das tiefe Streichinstrument einen Zyklus von sechs Suiten schreiben wollte und deshalb sein op. 32 mit zwei Werken noch nicht als vollständig ansah. Bis zu seinem Tode 1931 entstand allerdings keine weitere Cellosuite mehr.

Die beiden Suiten op. 32, von denen übrigens die als „Nr. 1“ bezeichnete A-Dur-Suite die jüngere ist, haben jeweils sieben Sätze und sind ungefähr 20 Minuten lang. Im Aufbau gleichen sie damit völlig Courvoisiers Violinsuiten op. 31. Wie in diesen, so beginnt auch hier die Moll-Suite mit einer improvisatorisch anmutenden Einleitung, während die Dur-Suite direkt von der Allemande eröffnet wird. Hinsichtlich der tonalen Anlage geht Courvoisier kaum über das Vorbild Bachs hinaus und schreibt lediglich jeweils einmal einen Satz in der Paralleltonart. Innerhalb der Sätze freilich nutzt der Komponist, wie auch sein Zeitgenosse Reger, reichlich die Möglichkeiten, die sich ihm als einem Künstler des frühen 20. Jahrhunderts bieten. Hier eine kurze Übersicht über den Aufbau beider Werke:

Suite Nr. 1 A-Dur

Allemande

Courante

Sarabande

Bourrée

Arioso (Tranquillo)

Gavotte [fis-Moll]

Gigue

Suite Nr. 2 h-Moll

Introduction: Appassionato – attacca:

Allemande

Courante

Sarabande [im 6/4-Takt!]

Bourrée

Menuetto I [D-Dur] – Menuetto II [h-Moll] – Menuetto I da capo

Gigue

Meine kritische Edition der Suiten op. 32 erschien 2021 in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich, München. Nähere Informationen zu diesen Werken entnehmen Sie bitte meinem Vorwort zu dieser Ausgabe.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

Raffs Samson in Weimar uraufgeführt

Joachim Raffs 1857 vollendete Oper Samson wurde am 11. September 2022 unter Leitung Dominik Beykirchs in der Inszenierung Calixto Bietos im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt.

Joachim Raff, mit seinen Klavier-, Kammermusik- und Orchesterwerken einer der meistgespielten Komponisten des 19. Jahrhunderts, hatte mit seinen Opern deutlich weniger Glück. Nur zwei der insgesamt sechs Werke dieser Gattung, König Alfred (UA 1851) und Dame Kobold (UA 1870), gelangten zu seinen Lebzeiten auf die Bühne, und nur Dame Kobold erwies sich als so erfolgreich, dass sie gedruckt wurde (ihre Ouvertüre wird heutzutage im Rundfunk gern gesendet). Die übrigen Opern Raffs mussten dagegen lange warten, bis sie erstmals zum Erklingen gebracht wurden. Die Parole (1868) wartet bis heute. Benedetto Marcello (1878), deren Hauptfigur der bekannte Barockkomponist ist, war 2002 auf den Herbstlichen Musiktagen in Bad Urach konzertant zu hören, wurde aber bislang nicht inszeniert. Raffs letzte Oper, Die Eifersüchtigen, die er in seinem Todesjahr 1882 schrieb, wurde vor wenigen Tagen, am 3. September 2022, im Theater Arth (Schweiz, Kanton Zug) erstmals gespielt. Den äußeren Anlass bot das 200-Jahr-Jubiläum des Komponisten, der 1822 in Lachen am Zürichsee geboren wurde. Ebenfalls aus diesem Grunde folgte nun, am 11. September, im Deutschen Nationaltheater Weimar die Uraufführung des biblischen Musikdramas Samson – und man fragt sich: „Warum erst jetzt?“

Die Geschichte des Samson zeigt einmal mehr, wie sehr das Schicksal einer Oper von Zufällen abhängen kann, und dass eine Häufung ungünstiger Ereignisse im Stande sein kann, ein Stück, das eigentlich alles hat, um auf der Bühne erfolgreich zu sein, gar nicht erst auf dieselbe kommen zu lassen. Raff begann im Jahr 1851 mit den Arbeiten an der Oper – zu einer Zeit, als er in Weimar für Franz Liszt als eine Art musikalischer Assistent tätig war und dort dessen Einsatz für die Werke Richard Wagners aus nächster Nähe miterleben konnte. Wie Wagner schrieb er sich das Libretto selbst, und vertiefte sich dazu so intensiv in die alttestamentarische Geschichte von Samson und Delilah, dass er kurzzeitig sogar daran dachte, an der Jenaer Universität über den Stoff zu promovieren. Die musikalische Ausarbeitung beendete er erst 1857 nach seiner Übersiedelung nach Wiesbaden. Gerade als er mit Franz Liszt in Verhandlungen über eine Uraufführung des Werkes in Weimar getreten war, ereignete sich dort der Skandal um Peter Cornelius‘ Barbier von Bagdad, in dessen Folge Liszt sich mit dem Hoftheater zerstritt und sein Kapellmeisteramt niederlegte. Geplante Aufführungen in Wiesbaden und Darmstadt zerschlugen sich wegen Besetzungsschwierigkeiten. Später begeisterte sich der berühmte Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Wagners erster Tristan, für das Werk, doch starb er 1865 völlig überraschend, bevor er irgendwo eine Inszenierung hatte erreichen können. Spätestens nachdem 1877 Camille Saint-Saëns mit Samson et Dalila den gleichen Stoff erfolgreich auf die Bühne gebracht hatte, resignierte Raff – längst als Instrumentalkomponist berühmt geworden – und überließ es der Nachwelt, sich um seinen Samson zu kümmern.

Nun, da man erstmals die Gelegenheit hatte, Raffs Oper zu hören, kann man getrost sagen, dass die Zeitgenossen des Komponisten ein bedeutendes Werk verpasst haben. Bereits die Art und Weise, wie Raff den Bibelstoff dichterisch bearbeitet, zeugt vom dramatischen Talent des Autors. Die Figur der Delilah formt er gänzlich um und gewinnt dadurch Personenkonstellationen, die die Vorlage nicht hergibt. Erscheint Delilah in der Bibel als kühl berechnende und bestechliche Frau, die Samson mit voller Absicht ins Verderben lockt, so liebt sie ihn in Raffs Drama genauso wie er sie. Dadurch verschwindet die Tendenz der Vorlage: Man erlebt den Konflikt der Israeliten und Philister als neutraler Beobachter und wird nicht vom Dichterkomponisten dazu verleitet, sich auf eine Seite zu schlagen. Auch musikalisch ergreift Raff nicht Partei. Das Fest der Philister im letzten Akt hätte gewiss die Möglichkeit geboten, es als eine Art schwarze Messe zu vertonen. Die Musik ist aber schlicht festlich und fröhlich. Raff hatte kein Interesse daran, die Philister pauschal als Bösewichte zu zeichnen. Die Gewichtung liegt nicht auf den politischen, sondern auf den persönlichen Konstellationen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Liebe zweier Menschen aus einander feindlich gesinnten Lagern – ähnlich Romeo und Julia. Samson ist, wie in der Bibel, ein bärenstarker Krieger und besiegt im ersten Akt die Philister mit Leichtigkeit. Allerdings verzichtet Raff nahezu gänzlich auf einen in der Vorlage eminent wichtigen Teil der Handlung: Wir erleben nicht, dass Delilah Samson nach den Quellen seiner Kraft ausfragt, auch fehlt dem Werk eine Szene, in der ihm die Haare (seine Energiequelle) geschnitten werden. Samson selbst ist es, der sich aus Liebe zu Delilah die Haare schneidet (was zwischen zweitem und dritten Akt passiert sein muss). Delilah hilft ihren Landsleuten nur dabei Samson gefangen zu nehmen, weil sie fürchtet, er, der sich nach seinem Sieg freiwillig am Hof der zum Frieden gezwungenen Philister aufhält, könne sie wieder verlassen. Von der Absicht ihn zu blenden, ahnt sie nichts. Da Delilah bei Raff die Tochter des Philisterkönigs Abimelech ist, ergibt sich die Möglichkeit, auch diesen als differenzierten Charakter zu gestalten: In seinem großen Monolog im zweiten Akt schwankt er, ob er sich gegen Samson verschwören, oder ihn aus Rücksicht auf das Liebesglück seiner Tochter verschonen soll. Erst der energische Einspruch seiner Heerführer und des Oberpriesters bewegt ihn dazu, Samsons Gefangennahme zu betreiben. Auch am Schluss ändert Raff die Vorlage entscheidend: Delilah verkleidet sich als israelitischer Knabe, um Samson auf dem Dagonsfest zwischen die Säulen des Tempels führen zu können. Als er den Tempel zum Einsturz bringt, stirbt sie mit ihm – auch ein Liebestod…

Dem spannungsvoll angelegten Libretto entspricht eine meisterliche musikalische Gestaltung. Jeder der fünf Akte ist pausenlos durchkomponiert und bildet eine zusammenhängende Großform, was teils durch wiederkehrende Motive unterstrichen wird. Unbestreitbar ist diese Konzeption auf Wagners Einfluss zurückzuführen. Es wäre aber eine grobe Vereinfachung, würde man Raff deswegen als einen Nachahmer Wagners bezeichnen. Verglichen mit Wagner wirken seine Melodien schlichter. Im Orchesterklang bevorzugt er hellere Farben. In der Harmonik hat er keine Angst vor kühnen Fortschreitungen, bewegt sich überhaupt auf der Höhe des im mittleren 19. Jahrhundert Erreichten, aber eigentlich „wagnerisch“ wirkt seine Handhabung der Chromatik nicht. Man tut, anstatt ihn vorschnell mit einem Etikett zu versehen, gut daran, ihn als einen durchaus eigenen Kopf zu betrachten, der die Entwicklungen seiner Zeit wachen Sinnes verfolgt, kritisch sichtet und sich davon dienstbar macht, was der Umsetzung seiner künstlerischen Pläne nützt. Im Samson muss man nicht nur die Geschlossenheit der einzelnen Akte loben, sondern auch die Steigerung zum Schluss hin. Der letzte Akt ist zugleich der musikalisch hervorragendste. Raff hat hier, in Anlehnung an die französische Große Oper, die Tempelszene als umfangreiche Ballettnummer gestaltet und mit einer Suite delikat instrumentierter, teils anmutiger, teils schwungvoller Tänze versehen, die geschickt zum katastrophalen, im wahrsten Sinne des Wortes bestürzenden Finale hinführen.

Was die musikalische Umsetzung betrifft, so können die Kräfte des Weimarer Nationaltheaters stolz auf sich sein. Die Staatskapelle Weimar unter der Leitung Dominik Beykirchs zeigte sich hochmotiviert. Besonderes Lob verdienen die während der zeremoniellen Szenen auf der Bühne spielenden Blechbläser. Emma Moore, eine sehr wandlungsfähige Sopranistin, gestaltete Delilah angemessen vielschichtig und brachte mit gleichem Geschick die zarte wie die energische Seite ihrer Figur zum Ausdruck. Uwe Schenker-Primus überzeugte als zwischen Zaudern und Handeln hin- und hergerissener Philisterkönig, ebenso Avtandil Kaspeli als mit dämonischer Energie die Handlung vorantreibender Oberpriester. Mit Peter Sonn stand für die Titelrolle ein seine Kräfte klug disponierender Tenor zur Verfügung.

Aus den Briefen, die Raff an Liszt schrieb, während er mit ihm über eine Aufführung des Samson in Weimar verhandelte, wissen wir, dass er großen Wert auf eine genaue Umsetzung seiner Vorstellungen legte. Mit Recht, denn wer sich die Mühe macht, ein psychologisch vielschichtiges Werk zu dichten und es mit dem ihm zur Verfügung stehenden großen kompositorischen Können in Musik zu setzen, der darf wohl erwarten, dass man sich zumindest bei der Uraufführung an seine Vorgaben hält. Was hätte dagegen gesprochen, dies auch 2022 zu tun? Besser als mit der Inszenierung Calixto Bieitos wäre das Theater auf jeden Fall damit gefahren. Bieito hat Raffs Werk im Grunde nur genutzt, um eine Reihe infantiler Einfälle auf die Bühne zu bringen, die sich überdies schnell abnutzen. Während in der ersten Hälfte ein Konzept noch insofern erkennbar war, als dass der Regisseur die in den Dialogen unterschwellig präsenten Machtfragen zwischen den Figuren durch gegenseitiges Prügeln und Schubsen zum Ausdruck brachte, gelegentlich auch durch Andeutungen sexueller Handlungen (die kein bisschen provokant, eher routiniert, ja beinahe prüde wirkten), so war die zweite Hälfte nach der Pause nur noch albern und ärgerlich. Wenn man am Haus kein Ballett hat, so kann man doch eine Tanzszene immer noch durch der Musik angemessene Bewegungen der Mitwirkenden sinnvoll umsetzen. Stattdessen geriet die Szene im Tempel Dagons in Bieitos Inszenierung zu einer armseligen Regietheater-Karikatur. Es wurde ein Basketball hin und her geworfen, dann setzte sich der Chor auf den Boden und fing an, lachend Plüschtiere in die Luft zu werfen. Schließlich torkelten alle Beteiligten wie besoffen im Kreis über die Bühne und schlenkerten sinnlos mit den Armen herum. Statt den Schwung der Tempeltänze zu einer interessanten Choreographie zu nutzen, wurde die Musik hier mit allen Mitteln gestört. Auch die Wirkung des Schlussakkordes wurde in Mitleidenschaft gezogen: Eigentlich war der Tempel schon eingestürzt, doch sah man Samson noch nach Verklingen der Musik am Boden kauern und sich schluchzend in Hände und Arme beißen. Was soll dieser Unsinn? Man kann dem Werk, das fraglos zum Bedeutendsten gehört, was Raff geschrieben hat, und unter den Werken der deutschen Zeitgenossen Richard Wagners einen hohen Rang beanspruchen darf, nur wünschen, dass es einmal in einer guten Inszenierung über eine Bühne geht!

[Norbert Florian Schuck, September 2022]