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Der organische Zusammenhang

Rémy Ballot, Eva Gevorgyan und die Stuttgarter Philharmoniker mit Mozart und Bruckner

Da Chefdirigent Dan Ettinger nunmehr zumindest bis Saisonende krankheitsbedingt nicht einsatzbereit ist, übernahm Rémy Ballot das Abonnementkonzert der Stuttgarter Philharmoniker am 16. Mai in der Stuttgarter Liederhalle, in welchem eigentlich eine Puccini-Gala gegeben werden sollte, und leitete das Orchester stattdessen in einem Mozart-Bruckner-Programm, welches ansonsten dem Stuttgarter Publikum vorenthalten geblieben wäre. Das ist eine insgesamt bemerkenswerte Entwicklung, da Ballot ja zunächst – mit maximalem Erfolg, wie man das wohl nennen muss – in Bruckners Fünfter Symphonie (seiner komplexesten) eingesprungen war. Dies geschah, da er als ‚Bruckner-Spezialist‘ empfohlen wurde, was insofern auf der Hand liegt, als er ja gerade für das führende österreichische Klassik-Label Gramola den ersten Zyklus der zehn reifen Bruckner-Symphonien vollenden konnte, der jemals in der Stiftsbasilika St. Florian eingespielt wurde – also an dem Ort, an welchem sich Bruckners eigene Klangvorstellung einst entscheidend ausgebildet hat. Und natürlich hat Ballot – unter akustisch weit unproblematischeren Bedingungen als in dem sehr halligen Kirchenraum unweit Linz – die Stuttgarter, das Hausorchester des frischgebackenen deutschen Fußball-Vizemeisters, auf fulminant klare, den geistigen Gehalt der Musik, ihr Drama des freien Kontrapunkts ohne Schielen auf Effekte oder Stilisierungen entfaltende Weise durch dieses Werk geführt, wie mir von mehreren Seiten, deren Wort schon des öfteren mit der Realität in Einklang stand, zugetragen wurde – eine Ansicht, die unter anderem auch, und das wiegt nun wahrlich nicht gering, von vielen der Orchestermusiker getragen wird.

Daraufhin lud man Ballot ein, auch die beiden Konzerte in Norditalien zu dirigieren, in welchen zunächst die großartige junge armenisch-russische Pianistin Eva Gevorgyan (Jewa Geworgjan) in Mozarts großem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 begleitet wurde, bevor diesmal Bruckners Vierte – in der definitiven 3. Fassung von 1887–88 – erklang. Man spielte dieses Programm beim Klavierfestival in Brescia sowie in Bergamo, der Heimstätte der frischgebackenen Leverkusen-Bezwinger. Und, man kann es ja fast nicht glauben, man spielte dabei die Erstaufführung der Vierten Bruckner – seines zusammen mit der Siebten populärsten Werks – in Bergamo. Also nicht nur in musikalischer, sondern auch in historischer Hinsicht eine entscheidende Tat.

Dieses Programm hätte das Stuttgarter Publikum also nicht zu hören gekommen, hätte nicht Ettingers Puccini-Herzensprojekt auf dem Programm gestanden, welches man dem erkrankten Chef – dem dringend gute Besserung zu wünschen ist – nicht entreißen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen wollte.

In Stuttgart gab es nun – einem Saison-Motto folgend – zwischen Mozart und Bruckner, besetzungsbedingt nach der Pause vor der Symphonie, An Oddment for Orchestra, ein One-Minute-Piece einer Kompositionsstudentin der Stuttgarter Hochschule, der 1997 geborenen Flämin Eveline Vervliet, als Uraufführung – eine Art stehender Klangbildung, ein bisschen gleich einem Tierchen, das auf einer Lichtung um sich schaut und überlegt, wohin es sich denn bewegen soll. Nun denn – zu Bruckner, und das deutet sich auch in den Klängen an, die da in recht bruchstückhafter Weise aufeinanderfolgen (der Titel, dadaistisch-technokratisch, könnte auch eine Hommage an Elon Musk sein). Eine freundliche Talentprobe, die das Publikum nicht beleidigt.

Zuvor gab es einen vor allem im Kopfsatz ganz wunderbaren Mozart, und Eva Gevorgyan ist eben nicht nur eine phänomenale Virtuosin, wie sie anschließend vor allem in den Finessen der Paganini-Campanella in Liszts rhapsodischer Formung in das Publikum absolut in Bann schlagender Weise bewies, sondern eine Musikerin, die in dieser niemals stillstehenden, immerfort sich organisch entwickelnden Musik vollkommen präsent ist, die harmonischen Verläufe sinnfällig aushört, die Kontrapunktik auch da deutlich hervortreten lässt, wo viele andere nur charmantes Figurenwerk durchnudeln. Eine wirklich spannende, dabei auch ganz natürliche Darbietung mit einem adäquat hellwachen Orchester als lebendig changierendem Gegenpart. Im langsamen Satz spielte Eva Gevorgyan sehr fein und stimmungsvoll, auch durchaus klar und äußerst kultiviert, jedoch können die Spannungsverläufe der Phrasen noch viel bezwingender erscheinen, zumal wenn die extreme introvertierte Spannung der Neapolitaner-Akkorde tiefgreifender begriffen würde. Aber das lässt sich ja noch entwickeln, erweitern… Im Finale herrschte geistvoller Dialog, lediglich leicht gebremst durch ein etwas zu geschwind genommenes Starttempo, aber hier ist es viel leichter, das natürliche Idiom des Komponisten zu Wort kommen zu lassen, wenn man nicht den ideologischen Flausen der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis‘ mit ihren nivellierenden Verzerrungen aufsitzt – und diese Gefahr bestand in keinem Moment. Der kleinen Einwände eingedenk also eine vortreffliche, grundmusikalische Darbietung aller Beteiligten.

Auf der gleichen Höhe bewegte sich die Bruckner-Symphonie. Es ist nicht möglich, dies angemessen zu beschreiben. Als Leitfaden möge dienen, dass Ballot definitiv von dem Lehrer und Meister geprägt ist, dessen jüngster Dirigierschüler er am Ende von dessen Leben war: von Sergiu Celibidache. Und da scheiden sich natürlich die Geister von den Ungeistern. Aber lassen wir die Ungeister außer Acht, die können sich ja an Wand, Harnoncourt, Skrowaczewski, Tintner, Thielemann und minderen Gesellen orientieren. Entscheidend ist, dass Ballot es einerseits überhaupt nicht nötig hat, sich irgendwie von Celibidache zu distanzieren, sondern dass er schlicht ein ergebener Diener der Musik ist, wie dies einst, in Zeiten vor dem alle Qualität niederwalzenden Starkult, das Ideal aller seriösen Musiker war. Und das Schöne ist, dass Ballot bei aller Nähe zum von Celibidache Erlernten doch ein ganz anderes Naturell ist. Spezifisch für ihn ist eine Leichtigkeit, Geschmeidigkeit, ein grundsätzlicher Optimismus, ja eine immer spürbare Freundlichkeit und Fröhlichkeit des Wesens, und das begünstigt auch die Transparenz des Orchesterklangs und überhaupt die kollektive Tongebung. Und es bedeutet keineswegs, dass es an Drama mangele! Das Scherzo ist so virtuos, wie es sein soll, und keine gemütliche Veranstaltung (das Trio hingegen selbstverständlich genau das). Kopfsatz und langsamer Satz gelingen vortrefflich, und es steht zu vermuten, dass fast niemand in Orchester und Publikum diese Musik bisher je so wunderbar gestaltet im Konzert erleben durfte. Und überwältigend, wie es eben sein muss, setzt das Finale dem Ganzen die Krone auf, um in einer apotheotischen Coda, wie dies nur möglich ist, dem Himmel zuzustreben. Ganz im Sinne seines Lehrmeisters gelingt es Ballot hier, aus dem Gegensatz der kantablen Harmoniepracht des modulierenden Bläsersatzes und dem markierten Schreiten der Streichertriolen als rhythmischer Erdung eine Wirkung zu manifestieren, die so magisch ist, dem sich nur entziehen kann, wer dümmlicherweise dagegen ist. Und welcher musikalische Geist wäre das? So geht Bruckner, und Ballot ist wohl nicht der einzige, der das heute versteht und verwirklichen kann, aber einer der ganz wenigen. Die Stars gehören jedenfalls bislang nicht dazu. Möge er also kein solcher werden wie diese, sondern seinem eigenen Stern ohne Eitelkeit und Selbstsucht folgen, wie dies bisher ganz offensichtlich der Fall zu sein scheint, und möge ihn der zunehmende Erfolg geistig nicht zu Fall bringen. Ich traue ihm das jedenfalls zu. Ich hätte mir lediglich gewünscht, dass er nicht so pedantisch die Zweier-Gruppen bei der Bruckner-Manie des halb-Zweier, halb-Dreier-Alla-breve-Takts unterschlagen hätte. Auch wenn ihm womöglich die verfügbare Probenzeit ein bisschen knapp gewesen sein mag (was vor allem für den langsamen Satz gilt), so viel Kontrolle war hier nicht nötig, und das Orchester tat, was ihm nur möglich war, um in dieser Art von Bruckner-Spiel, die in jedem Fall so ganz anders als das Gewöhnliche und so ganz neu war, mit Hingabe aufzugehen. Wie schön, wenn ein Orchester so fühl- und spürbar aufblüht und mit solchem Selbstbewusstsein das entdeckt wie beim ersten Mal, was man längst zu kennen glaubte. Großartig.

Was ist das Besondere an dieser Art des Musizierens? Kurz, allzu kurz gesagt: der organische Zusammenhang, der uns alle vier Sätze in bezwingender Weise als Einheit der Form erleben lässt. Und vielleicht sogar die Symphonie als Ganzes, wenngleich jenseits des Erklärbaren, auch wenn das Hauptthema des Beginns am Ende wieder da ist, wie ein Symbol des Ewigen. Diese einmalige Kunst des Musizierens kann man nicht eben mal erklären. Das erlebt man. Sogar als Kritiker ‚von Statur‘ hätte man die Möglichkeit…

[Annabelle Leskov, Mai 2024]

Immer bewusster Teil des Ganzen

Das Bruckner Akademie-Orchester unter Jordi Mora spielt im Herkulessaal der Münchner Residenz Felix Mendelssohn Bartholdys ‚Ruy Blas’-Ouvertüre, Beethovens 3. Klavierkonzert und Gustav Mahlers 4. Symphonie. Solistin ist Ottavia Maria Maceratini.

Einige meiner wenigen wirklich glaubhaften Informanten aus München haben mich in den letzten Jahren immer wieder auf die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini hingewiesen, haben mir von ihren seltenen pianistischen und musikalischen Gaben berichtet, und ich muss gestehen, dass ich skeptisch war. Schon wieder so ein junges Sternchen der geistig verdorrenden Klassikszene, noch so eine ‚Hoffnungsträgerin’ der jungen Generation – wie oft schon sind wir dann von der klingenden Realität bitter enttäuscht worden, wie oft hat man versucht, uns Blech als Gold zu verkaufen. Diesmal aber war ich fest entschlossen, die lange Anreise auf mich zu nehmen, denn der katalanische Dirigent Jordi Mora hatte Frau Maceratini eingeladen, mit seinem Bruckner Akademie-Orchester im Münchner Herkulessaal aufzutreten, und erstens ist Mora ein wahrhaft fundierter Erarbeiter der musikalischen Struktur und phänomenaler Orchestererzieher, und zweitens lässt er sich nach meiner Erfahrung keine gehypten Jungstars aufschwatzen und schlägt sich nicht freiwillig mit hohlen Tastenvirtuosen herum. Hier zählt die Substanz.

Um es vorweg zu nehmen: ich habe diese Reise bei keinem Ton bereut, und es dürfte im erfreulich zahlreich erschienenen Publikum kaum jemand gewesen sein, dem es anders ergangen wäre.

Das Konzert begann mit der vielleicht formal bezwingendsten – und zweifellos einer der dramatischsten, erfindungsreichsten, dichtesten und feurigsten – Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy: der 1839 entstandenen Konzertouvertüre zu Victor Hugos ‚Ruy Blas’. Mora verstand es vorzüglich, die opponierenden Charaktere charakterstark zu entfalten und dabei stets den Zusammenhang des Ganzen im Auge zu behalten, wodurch sich eine unwiderstehliche Entwicklung vom majestätisch-furiosen Beginn bis zum triumphalen – jedoch zugleich elegant und biegsam bleibenden – Ende mit einer Klarheit offenbarte, die den Hörern das Innerste der Musik offen darlegte. Die subtile Beschleunigung der Schlussphase ist dabei einer jener intuitiv überzeugenden Kunstgriffe, die nicht um des momentanen Effekts willen inszeniert werden, sondern der inneren Notwendigkeit der harmonischen Entwicklung entspringen. Das Orchester spielte mit Verve, Reaktionsschnelligkeit, fein schattierter Zärtlichkeit und gesanglicher Anmut auf – gerade auch in den strahlend-machtvollen Tuttiauftürmungen –, dass es ein Fest der organischen Gestaltwerdung war.

Dann Beethovens Drittes Klavierkonzert in c-moll op. 37. Man kann das musikalisch nicht besser erfassen. Das gemessene Tempo des untergründig feierlichen Kopfsatzes mit seiner machtvollen Konfrontation der beiden opponierenden Themenwelten, der aus tiefster Versenkung sich aufbauende Largo-Mittelsatz in himmlischer Innigkeit, und das Finale diesmal nicht als grimmiger Parforceritt, sondern vor allem mit all dem Schalk und wagemutigen Humor, den die wenigsten Klang werden zu lassen verstehen! Ottavia Maria Maceratini spielt all dies nicht nur mit phänomenaler pianistischer Meisterschaft, die uns keine technische Klippe spüren lässt und den Klang sowohl im markigen Fortissimo als im delikatesten Pianissimo immer als Ganzes formt (kein Moment eindimensionaler Oberstimmendominanz!), immer Platz für plastische Phrasierung der Melodie hat (das Klavier singt unentwegt); sie ist vor allem eine unerhört reife Musikerin, deren Aufmerksamkeit der unaufhaltsamen Durchdringung des Gesamtverlaufs gilt und damit zu einer Einheit der großen Gestalt vordringt, die auf der bewusst gerichteten Mannigfaltigkeit der divergierenden Elemente beruht. Auch die fesselnde Kadenz im Kopfsatz (Original-Beethoven) dient in keinem Moment der Zurschaustellung pianistischer Attitüden und ist mit unerschütterlicher symphonischer Kontinuität durchgestaltet als Teil eines Ganzen, das so unausweichlich korreliert ist, als könne es gar nicht anders sein. Und das alles fern jedem bitteren Ernst, jeder didaktischen Gelehrsamkeit, wie ein spontanes Naturereignis, stets auf des Messers Schneide gespielt mit dem Mut zum vollen Risiko. Kein Moment interpretatorischer Willkür, nebulösen Fabulierens oder billiger Kraftmeierei findet sich in diesem Spiel, das zugleich völlig organisch dem Wechselspiel mit dem Orchester und seinen Solisten eingegliedert ist. So großartig die Solistin ihr Metier beherrscht, agiert sie doch nie selbstherrlich, sondern ist immer bewusster Teil des Ganzen, das sie ebenso begreift und gestaltet wie der Dirigent und seine Musiker. Das ist echte Hingabe von allen Seiten. Ist eine andere Stimme wichtiger, so tritt sie dezent zurück. Und doch ist das nie eine bloße Begleitung, sondern stets wache Gegenstimme, jederzeit bereit, wieder für einen Moment hervorzutreten. Das ist nicht einfach ein souveräner Auftritt, der Sicherheit, Brillanz und Kompetenz bewiese, sondern das ist wirklich Dienst am Werk, am Komponisten, an der Gemeinschaft, an der Musik, in der alle Mitwirkenden völlig aufgehen, ohne sich in Stimmungen zu verlieren, denn innere Balance und das unbestechliche Bewusstsein dafür, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung wir uns gerade befinden, liegen dem zugrunde. Es war ein echter Triumph nicht nur für Ottavia Maria Maceratini, sondern für alle Beteiligten, und wer dabei war, dürfte nicht vergessen, welche durchgehende Spannungslinie im ersten Satz gestaltet wurde, wie still es im Publikum wurde, welch ein erfülltes Aufatmen nach dem letzten Ton durch die Reihen ging. Solche Konzerte belohnen alle ernsthaft suchenden Hörer unverhofft für unzählige Stunden des Durchhaltens in gepflegtem Mittelmaß, in billiger Ekstase, in virtuosem Geklingel. Als Zugabe spielte sie in diesem insgesamt dramaturgisch exzellent konzipierten Programm die Miniatur ‚Persian Love Song’ von John Foulds, dem wohl originellsten britischen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Wunderwerk, den Préludes eines Debussy oder Miniaturen eines Bartók ebenbürtig, in ganz und gar eigenem Ton, und pianistisch höchst anspruchsvoll mit den tiefen pianissimo-Tremoli und dem melancholischen Gesang, der sich darüber erhebt und uns aus dem alltäglichen Zeitempfinden in eine entrückte Welt entführt. Ottavia Maria Maceratini hat alles, um als eine der ganz Großen auf den Bühnen der Welt ein- und auszugehen.

Nach der Pause dann Gustav Mahlers Vierte Symphonie. Und auch hier: nie habe ich eine Aufführung dieses Werkes gehört, wo ein durchgehender Zusammenhang so zum Greifen nahe schien wie hier. Besonders ergreifend der unendlichem Fluss ausmusizierte langsame Satz. Alles ein unendlicher Gesang. Herrlich musiziert auch der Kopfsatz mit seiner untergründig stets vorhandenen Rubato-Geschmeidigkeit, die sich dann immer wieder in offenkundigen Tempoverwandlungen niederschlägt. Hier zeigt sich auch seltene dirigentische Meisterschaft, alles in freiem Wechselbezug bis in die feinste Detailgestaltung durchzuformen und ohne Rigidität synchron zu halten und den Rhythmus zu „atmen“, und das Orchester geht mit wie ein zusammenhängendes Wesen. Nicht weniger charakteristisch wurde die Bizarrerie des Scherzos erfasst. Das Schlusslied sang Mireia Pintó. Wohl auch hier, in der ganzen Mahler-Symphonie, kaum ein Hörer, der nicht tief ergriffen war von der Poesie und dem Drama dieser innerlich so zerrissenen Musik, die den Bogen so gerne überspannt, deren große Herausforderung darin besteht, das Episodische zum Zusammenhang zu bündeln, indem sie eben nicht auf Sicherheit getrimmt, nicht unpoetisch strikt gestrafft wird, aber auch nicht wie so oft tränenrührig zerfließt, sondern unsentimental ausgekostet wird in allen Fasern ihres vielschichtigen Daseins. Jordi Mora erwies sich hier einmal als einer der feinsten, vornehmsten und bewusstesten Meister seiner in grundsätzlichen Fragen so uneinigen Zunft. Dazu muss man kein Star sein, und das wäre auch das Letzte, was er wünscht. Besonders hervorzuheben aus dem exzellent einstudierten und mit verfeinerter Leidenschaft musizierenden Orchester ist der exzellente Konzertmeister Joel Bardolet, der ebenso an der Spitze unserer besten Orchester sitzen könnte. Eines der besten Konzerte der letzten Jahre.

[Annabelle Leskov, April 2018]

Klebstoff der Denunziation

‚Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null’ von Joachim Reiber
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien; ISBN: 97832180010870

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Am 24. Januar 2018 wird der 100. Geburtstag von Gottfried von Einem (1918-96) begangen. Einem war Österreicher, geboren in Bern, aufgewachsen nahe Plön in Schleswig-Holstein, ausgebildet in Berlin und nach dem Kriege Mitglied der Direktion der Salzburger Festspiele, und wirkte nach seinem politisch motivierten Rauswurf aufgrund des Eintretens für den ‚Kommunisten’ Bertolt Brecht bis zu seinem Lebensende in Wien, dem Waldviertel und Niederösterreich, aber auch ein Leben lang auf Reisen. Es passt zu seinem illustren Lebenslauf, dass sein erster Mentor Heinz Tietjen, Generalintendant der Preußischen Staatstheater, im marokkanischen Tanger, und sein entscheidender Lehrer in Berlin, der große Komponist Boris Blacher, im chinesischen Newchwang (heute Yingkou) geboren wurde. Dem Meister Blacher verdankte Einem gewissermaßen alles, er gab ihm Halt sowohl hinsichtlich der kompositorischen Technik als auch der Einstellung zu politischen Fragen. Später studierte Einem auch noch kurz Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David, was Blacher mit bedingtem Enthusiasmus zur Kenntnis nahm. Blacher sagte über Einem, der bei seiner offiziellen Bewerbung fürs Kompositionsstudium in Berlin von Heinz Tiessen als fast schon hoffnungslos erscheinender Fall abgelehnt wurde, sinngemäß, er habe als blutiger Anfänger eigentlich schon alles besessen, was seine künstlerische Persönlichkeit ausmachte. Die Privatstunden in den Jahren 1941-43 begannen immer mit der rituellen Einnahme eines ‚Leichenschnapses’ (also in Ermangelung besserer Alternativen verdünnter reiner Alkohol aus der heutigen Charité) und dem Abhören der verbotenen Auslands-Rundfunksender. Blacher ist – wie übrigens auch Tiessen, der andere große Berliner Mentor – legendär dafür, dass er jeden jungen Komponisten maximal darin förderte, seinen ureigenen Ausdruck zu finden, was sich ja auch an der so unterschiedlichen Prägung seiner Schüler ablesen lässt, zu welchen neben Einem u. a. Heimo Erbse, Isang Yun, Fritz Geißler, George Crumb, Claude Ballif, Günter Kochan, Giselher Klebe, Francis Burt, Noam Sheriff, Rudolf Kelterborn, Kalevi Aho, Peter Ronnefeld, Aribert Reimann oder Klaus Huber zählten. Auch Einem unterrichtete später an der Wiener Musikhochschule, auch er brachte bemerkenswerte Schüler hervor – HK Gruber ist der prominenteste unter ihnen – und zeichnete sich in seinem Unterricht durch ausgesprochene Freizügigkeit aus, sofern die Studenten bereit waren, seine praktischen Ratschläge zu befolgen, zu welchen vor allem das aufmerksame Verfolgen von Proben gehörte. Er zog sich sehr plötzlich vom Hochschulbetrieb zurück, als ihm infolge eines absurden Prüfungstribunals das ganze Ausmaß des akademischen Schwachsinns klar wurde.

Gottfried von Einem gehörte, obwohl noch ganz jung, aufgrund seiner familiären Situation zu den privilegierteren Künstlern des Dritten Reichs. Seine Mutter bewegte sich virtuos auf dem Parkett von Hochfinanz und Politik und machte große Gewinne in risikoreichen Geschäften, über die sie nichts durchblicken ließ. Als sie dann aber von der Gestapo verhaftet wurde, erfuhr Gottfried im Verhör von dem Beamten, dass der Vater, dem er sich so fremd fühlte, gar nicht sein Vater war. Er war der Spross des ungarischen Grafen László Hunyady, den er zwei Mal in seinem Leben gesehen hatte. Dieser wurde auf einer gemeinsamen Reise mit der Mutter in Ägypten während einer Großwildjagd von einem Löwen getötet, und Jahrzehnte später fand Gottfried bei Aufräumarbeiten in Ramsau eine alte, blutige, zerrissene Hose – mutmaßlich das letzte Kleidungsstück seines leiblichen Vaters, dessen Geschlecht im Magen des Löwen gelandet war.

In Blacher also fand Einem 1941 seinen wahren Lehrer für die Musik und fürs Leben (Blacher verfasste dann auch die Libretti für Einems Opern ‚Dantons Tod’ nach Büchner, ‚Der Prozess’ nach Kafka, ‚Der Zerrissene’ nach Nestroy und ‚Kabale und Liebe’ nach Schiller, teils in Kollaboration und durchweg in genial verknappender Weise, wobei Blacher stets betonte, er habe „nur gekürzt“). Durch ihn dürfte Einem mit dem Dirigenten Leo Borchard in Kontakt gekommen sein, einem messerscharfen Gegner des Nationalsozialismus, der in Deutschland kaum noch dirigieren durfte, jedoch im März 1943 mit den Berliner Philharmonikern die erste Einem-Uraufführung, das Capriccio für Orchester, herausbrachte und dem 23jährigen einen Sensationserfolg bescherte (Borchard wurde dann nach dem Kriege zum Stellvertreter des gesperrten Furtwängler ernannt, jedoch bald darauf von einem amerikanischen Soldaten bei einer Kontrolle ermordet). So knüpfte Einem, zeitlebens ein brillanter Kommunikator und Netzwerker, seine Bande in die Widerstandsbewegung in Berlin, und unter hohem persönlichen Risiko verschaffte er dem jüdischen Musiker Konrad Latte falsche Papiere und rettete so sein Leben, was man ihm posthum in Yad Vashem mit der Ernennung zum ‚Gerechten der Völker’ vergalt. Nun wissen wir aber auch, dass, wer in einem totalitären System etwas bewirken will, dafür auf gute Kontakte, also auf ein gewisses Maß an Einfluss und Macht angewiesen ist. Die reine, weiße Weste ist eine Illusion, und hier kann man die neu erschienene Biographie wohl nur als entweder naiv oder hinterhältig kritisieren.

Wer Joachim Reibers neue Einem-Biographie ‚Komponist der Stunde null’ liest, sollte vorher zumindest die ‚Einem-Chronik’ von Friedrich Saathen und die Autobiographie des Komponisten ‚Ich hab’ unendlich viel erlebt’ gelesen haben, um nicht allen Bären auf den Leim zu gehen, die ihm aufgebunden werden. Und Reibers Buch ist undenkbar ohne Thomas Eickhoffs besser recherchiertes Kompendium ‚Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert – Gottfried von Einem’, wobei wir eben auch gerade hier bereits die große kollektive Charakterschwäche der heutigen ‚Forschung’ feststellen müssen: Eickhoff wurde nach einem Symposion unterstellt, er sei ein Apologet von Einems, und nichts fürchten die vielen Feiglinge des wissenschaftlichen wie journalistischen Milieus mehr als den Vorwurf, sie seien womöglich nicht objektiv, sie seien von Sympathie korrumpiert. Also muss der Gegenstand der Verehrung wenigstens angepinkelt werden! So hat es Eickhoff dann auch in beschämender Weise gemacht, indem er die Vorwürfe der von Einem kritisierten ‚Avantgardisten’ als ästhetische Selbstverständlichkeit übernahm und damit in selbstverleugnender Art Zuflucht beim Zeitgeist suchte, also in der schützenden Masse der Mehrheitsmeinung der Musikintellektuellen der 1960er bis 80er Jahre. Man traue nur den Ohren nicht und vertraue auf das, was zwischen ihnen nicht vorhanden ist!

Joachim Reiber treibt dieses feige Spiel noch viel weiter. Natürlich hat Einem auch viel laviert, wenn es um Politisches ging, er hat aber stets klar und couragiert Position bezogen, wenn er schreiende Ungerechtigkeit erkannte, und dafür sehenden Auges schwere Nachteile, Rückschläge und Ächtung in Kauf genommen. Wie hätte man im Dritten Reich in relativ hervorgehobener Stellung offen opponieren können? Hinter den Kulissen konnte man desto mehr bewirken, je mehr Vertrauensvorschuss man sich erworben hatte. Und in einem sind sich alle einig: Einem hat sich nie als Denunziant betätigt, hat keinen ans Messer geliefert, sondern ist immer für seine Überzeugungen eingestanden, die aber nicht in blindem Fanatismus ein für allemal feststehen mussten. Er war eine zutiefst menschliche, wandelbare, auch kapriziöse und sehr feurige Persönlichkeit, und er war ausgesprochen mutig und gewandt. Es ist wohl auch einfach Neid im Spiel, wenn man nur mal kurz auf die eigenen ‚Meriten’ schaut, und dann wieder auf ihn… Reiber, der nunmehr fast ein Vierteljahrhundert im Wiener Establishment-Sumpf mitmischt, betreibt nun eben öffentlich Hobbypsychologie. Er prätendiert, als wisse er über Einem besser Bescheid als dieser selbst und seine lebenslangen Freunde. Und er hat darüber hinaus musikalisch so gar keine Ahnung, ist nicht ansatzweise imstande, den qualitativen Unterschied zwischen Furtwängler und Karajan nachzuvollziehen, auch die scharfe Trennlinie zwischen dem, was einen ausgezeichneten Dirigenten und oberflächlichen Musiker in Personalunion (also Karajan) ausmacht. Und da er so gar nichts von Musik versteht, schreibt Reiber auch nur über das Leben, die ‚Psychologie’ (mit triumphierender Holzhammerlogik) und die Opern und Kantaten, denn da gibt es ja Gottseidank den Text, an dem man sich entlang hangeln kann. Das Instrumentalwerk, das alleine Einem als Komponisten unsterblich macht, wird so grundlegend ignoriert, dass man den Eindruck haben könnte, er habe hier fast nichts geschrieben (man denke nur an den Reichtum vielfältigster Orchesterwerke inkl. 4 Symphonien oder an die 5 Streichquartette, die in subtilster Meisterschaft die große Tradition weiterentwickeln). Na ja, man sollte eben, wenn man eine Musiker-Biographie schreibt, ein Minimum an musikalischem Interesse und fachlicher Bildung aufweisen. Wenigstens das, wenn schon keine Intuition vorhanden ist.

Reiber hat, wie ja immer wieder mal völlig unabhängig von Fragen der charakterlichen und fachlichen Qualifikation der eine oder andere Autor, ganz grundsätzlich davon profitiert, dass ihm ein riesiger Schatz an Quellen (im Einem-Archiv im Wiener Musikverein) zugänglich gemacht wurde, und er hat geflissentlich darauf gesehen, auch noch die beiläufigste flüchtigste Notiz gegen den Verdächtigen, den er allmählich wie einen Angeklagten aussehen lässt, zu verwenden. Dass dies, wenn schon, kein fairer Indizienprozess ist, kann man unschwer erkennen, indem das Negative plakativ herausgestrichen und das Positive meist abgewertet oder unterschlagen wird. Das heuchlerische Moralin des Biographen stinkt nach Sensationsgosse, und letztlich gelingt es ihm damit nur, einen schlechten Geschmack über das ganze Leben seines längst verstorbenen Opfers auszubreiten, ohne dass ihm irgendein triftiger Nachweis gelänge, der die posthume Demütigungsaktion rechtfertigte. Ein kleiner Mensch, zu feige, es mit den Lebenden aufzunehmen (an die Witwe Lotte Ingrisch, die Textdichterin der geistlichen Oper ‚Jesu Hochzeit’, traut er sich nicht heran…), aber immerhin noch ‚mutig’ genug für Leichenschändung. Dies ist ein grauenhaft schlechtes Buch, das der Verlag mutmaßlich unbesehen aufgrund der kulturell privilegierten Stellung des Täters herausgebracht hat. Man muss sich auch fragen, wie es passieren konnte, dass vom Komponisten ausgerechnet ein Photo aufs Cover gelangte, das ihm mittels eines kräftigen Schlagschattens auf den ersten Blick die verdächtige Anmutung eines Hitler-Bärtchens unterstellt (oder sollen wir hier an Charlie Chaplin denken…?). Und damit man sich möglichst schwer mit der Überprüfung der Fakten tut, sind weder die Fußnoten unten auf den Seiten zu finden noch gibt es ein Schlagwortverzeichnis. Natürlich auch kein Werkverzeichnis, aber dafür jede Menge selbstverliebte Amateururteile über das Leben, die Gesinnung, die verdrängten Motive, die ästhetische Haltung, das musikalische Können, den nirgendwo ansatzweise beschriebenen Personalstil eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Denn das ist Gottfried von Einem, und das wäre er auch ganz ohne seine Opern, und um dies zu erkennen, bedürfte es unvoreingenommener Wahrnehmung, ehrlicher Beschreibung des Beobachteten und eines gewissen Mindestmaßes an Wachheit, Anstand, Empathie und Menschlichkeit.

All das findet sich bei Gottfried von Einem, und nichts davon bei Joachim Reiber. Und so gerät eine schillernde Dame, die schon in den kafkaesken Fängen opponierender politischen Interessen fast aufgerieben worden wäre (das gegen sie in Frankreich in Abwesenheit erlassene Todesurteil wurde nach dem Kriege, nach langer Haft, in einen Freispruch umgewandelt), posthum in die Mühlen der pseudophilosophisch dilettantischen Demontage-Kampagne des profilierungsbesessenen Deuters: Gerta Louise von Einem, die Mutter des Komponisten, der viele Menschen verdankten, dem Zugriff der Nazi-Schergen entkommen zu sein, wird – als Erscheinung mit primitivem Moralismus nicht fassbar – der Nachwelt als eine willkürlich böse Frau präsentiert. Als wäre Herr Reiber dabei gewesen. Dabei hat er nur, bar jeglicher Selbstreflektion, im Nachlass – oder dem, was davon übrig geblieben ist – herumgewühlt und aus den Puzzlestücken seine willkürlich schlussfolgernde Version zusammengestellt. Die öffentlich-rechtliche Tagespresse, die so gern den selbsternannten Experten, die sie anscheinend von der Notwendigkeit der unvoreingenommenen Überprüfung der Faktenlage im Licht der Geschichte freistellen, glaubt, übernimmt dann meist in ihrer oberflächlichen Schnelllebigkeit nur zu gerne vorschnell solche Urteile, wie bereits bedauerlicherweise geschehen in der Buchbesprechung im Deutschlandfunk. Von Hinterfragung, von Achtung vor einem Menschenleben, das wie jedes gewiss außer Licht auch Schatten beinhaltete, keine Spur. Der Leser wird zur geistigen Komplizenschaft eingeladen. Wenn er nicht hellwach ist, bleibt der Klebstoff der Denunziation haften. Vielleicht ist in Wahrheit diese Art der raffiniert eloquenten Anschwärzung ja, über das offenbar tiefsitzende Ressentiment von Herrn Reibers Frauenfeindlichkeit hinaus, ein Ausdruck dessen, was wir als ‚das Böse’ zu benennen versuchen. Im Gewand des ‚Guten’, wie so oft. Und möglicherweise weiß der Täter gar nicht, was er tut. Vor den Folgen bewahrt uns solche Unschuldsvermutung nicht. Man möchte weinen vor Beschämung.

[Annabelle Leskov, Dezember 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

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Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

Erregerung öffentlichen Unverständnisses

Max Reger. Werk statt Leben. Eine Biographie von Susanne Popp

Breitkopf & Härtel, Wiesbaden; ISBN: 9783765104503

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Eine Biographie über Max Reger muss, soll sie dem Gegenstand der Betrachtung gerecht werden, dick und mit Informationen vollgestopft sein – wie eben auch Regers Musik und sein gigantisches, bis zu seinem frühen Tod 1916 mit 43 Jahren unaufhaltsam wucherndes Œuvre. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Popp ist seit 1981 Direktorin des heute in Karlsruhe ansässigen Max-Reger-Instituts, sie hat 2010 das umfassende ‚Verzeichnis der Werke Max Regers’ veröffentlicht, und nun tritt sie mit einer sachlichen, nie den Überblick im Dschungel von Musik und Wechselfällen des Lebens verlierenden Biographie auf den Plan, die mit Anhängen 540 Seiten umfasst und als ultimative Einführung in die Chronologie der Werkstatt dieses besessen Schaffenden gelten muss. Frau Popp hat diese Mammutaufgabe – natürlich auch dank ihrer umfassenden Quellenkenntnisse, ihrer deutschen Gründlichkeit, ihrem intensiven Streben, keinen wichtigen Aspekt aus dem Auge zu verlieren – makellos und vorbildlich gelöst. Dass das Werkverzeichnis zwar vollständig, doch sehr lakonisch geraten ist, nimmt man schlicht deswegen bereitwillig in Kauf, weil die Autorin ja hier das zusätzliche Standardwerk verfasst hat. Beides zusammen bildet die gültige Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit dem so widersprüchlichen wie faszinierenden Phänomen Reger, sowohl für die, die forschend tiefer eindringen wollen, als auch für die, die einfach mal ihrer Neugier hinsichtlich einer rätselhaften Persönlichkeit, die zwar seit jeher als die neben Strauss, Mahler und Pfitzner bedeutendste ihrer Generation in Deutschland gilt (dem muss man allerdings nun wirklich nicht zustimmen, und was fast alle schon immer glauben, ist noch lange nicht wahr!), die es jedoch – aus anderen Gründen als der lyrisch vergrübelte Erzromantiker Pfitzner – bis heute nicht geschafft hat, außerhalb der Gattung der Orgelmusik im Konzertleben kontinuierlich präsent zu sein. Und dafür gibt es auch Gründe in der Sache (also der Musik) selbst: das populärste Orchesterwerk Regers, seine späten Variationen über das Thema des Variationssatzes aus Mozarts berühmter A-Dur-Klaviersonate, schließt mit einer hypertroph chromatisch sich dahinschlängelnden Fuge, um zum Ende – bei „strahlender“ Wiederkehr – das so wunderbar einfache, klare Thema Mozarts in grausam geschmackloser Weise zu vergewaltigen. Und es ist unbestreitbar, dass Reger einerseits einer der aufregendsten und erfindungsreichsten Harmoniker (und nicht Kontrapunktiker!) war, andererseits aber eben auch ständig, zumal in den schnellen Sätzen, im – wie Celibidache es so schön sagte – „Irrgarten der Modulation“ verloren ging. Und so hat er es in seiner harmonischen Erregtheit, dem ständigen Fluktuieren der harmonischen Zusammenhänge durch rastlos überladenes Kreuz- und Quer-Modulieren, bis heute öffentliches Unverständnis zu produzieren. Um seinen eigenen, Spitzweg-haft kauzigen Humor zu paraphrasieren: er komponierte in ständiger ‚Erregerung’, und ein durchgehender Zusammenhang, eine bruchlos mitvollziehbare Entwicklung ist oftmals nicht gegeben. Es gibt aber ganz wunderbare Werke, nicht nur in der späten Kammermusik, die von vielen Kennern zu recht sehr geschätzt wird, sondern eben immer wieder ganz besonders in langsamen Sätzen, wo sich die tonale Wirkung und ungeheure Farbigkeit seiner Harmonik angemessen entfalten kann – man denke nur an so fantastische Stücke wie die ‚Toteninsel’ oder den ‚Geigenden Eremiten’ aus den ‚Böcklin-Tondichtungen, an die wunderbare Adagio-Variation aus den Mozart-Variationen, oder an so tief ergreifende Spätestwerke wie das Hebbel-Requiem oder den ‚Einsiedler’. Wirklich ganz großer, universeller Reger ist in all der Geschäftigkeit seines aufgeregten Treibens eher der Ausnahmefall, aber dann tun sich Welten auf, die über die technische Artistik hinaus eine einmalige Begabung und Imaginationskraft offenbaren. Er ist es also wert, sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen! Und die auch stilistisch tadellose neue Biographie, die anlässlich des 100. Todestages von Max Reger im vergangenen Jahr erschienen ist, hilft, sich im Labyrinth seines skurrilen Lebens und seiner kaleidoskopisch durchbrochenen Kunst zurecht zu finden. Ein neues Standardwerk.

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Ideales Musizieren

Zwölf Jahre lang hat Lavard Skou Larsen als Chefdirigent die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein geleitet und in dieser Zeit aus einem Klangkörper auf gutem Regionalniveau ein Weltklasseorchester geformt. Nun dirigierte Skou Larsen sein letztes Konzert als Chefdirigent im Neusser Zeughaus mit Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre, dem Violinkonzert von Robert Schumann mit der britischen Solistin Priya Mitchell, der Uraufführung eines kleinen Streicherwerks des hochbegabten jungen rumänischen Komponisten Lucian Beschiu und der Symphonie in h-moll D 759, der ‚Unvollendeten’, von Franz Schubert.

Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre ist eines der heikelsten Werke der gesamten Orchesterliteratur, und nicht zufällig ist sie neben der Fledermaus-Ouvertüre von Johann Strauß jr. DAS Standardstück bei Probedirigaten. Lavard Skou Larsen ließ die langsame Einleitung sehr geschmeidig und mit verhaltener Kraft erstehen, der Allegro-Hauptsatz kam mit einer unglaublich fesselnden Mischung von prickelnder Brillanz, Leichtig- und Wendigkeit, erdverbundener Kraft und artikulatorisch so unvorhersehbarer wie unwiderstehlich bezwingender Eleganz zur Entfaltung. Das Stück entstand wie aus einem Guss unter Herausarbeitung all der Mannigfaltigkeit der Details, und auch nur der Anflug eines Gefühls für physikalische Länge konnte sich bei dem durchgehenden Spannungsbogen nicht einstellen. Die ganze Musik schien in einem einzigen Moment zu entstehen und ihren Bau zu errichten. So kann und sollte Mozart sein, und doch frage ich mich, wann ich ihn so gehört habe – auch übrigens, was die Auffächerung der überwältigend sinnlichen Farbenpracht betrifft. Das Stück allein hätte gereicht, um die Hörer, die nach einem tieferen Sinn in der Musik suchen, glücklich zu entlassen. Doch es ging natürlich weiter…

Das Violinkonzert von 1853 ist Robert Schumanns letztes großes Orchesterwerk, und der gravitätische Allegro-Kopfsatz gehört zum Überwältigendsten, was der bald darauf geistiger Umnachtung anheimgefallene Komponist an Symphonischem zu Papier brachte. Priya Mitchell fasst das Konzert sehr frei auf, im Agogischen insgesamt dann doch zu frei, wodurch sich eine durchtragende Spannung nicht einstellen kann und den Reizen unterschiedlicher Momente sehr eigentümlichen Ausdruckswillens geopfert wird. Freilich hatte ihr Spiel vor allem im äußerst zart realisierten langsamen Satz unbestreitbaren Zauber. Im Finale konnte von restloser technischer Beherrschung nicht die Rede sein, doch das ging auch schon berühmteren Solisten so bei diesem in der Schreibweise für die Geige extrem sperrigen und angesichts der gelegentlich halsbrecherischen Schwierigkeiten auch etwas undankbaren Konzert. Hier muss durch innere Substanz wettgemacht werden, was an äußerem Glanz nicht zu erzielen ist, und dafür braucht es nicht nur Poesie, sondern vor allem auch die Vision und Kraft zur Umsetzung des Ganzen. Und da wäre dann zu wünschen, dass die Solistin bei ihren Extravaganzen nicht nur ihre Stimme im Auge hätte, sondern auch das orchestrale Geflecht mit seiner herrlich durchbrochenen Polyphonie. Dass dies nicht wirklich durchgehend entstehen konnte, lag an den vielen Haken, die sie schlug, und bei denen ihr Lavard Skou Larsen und seine Truppe mit schier unfassbarer Behändigkeit folgte wie eine Raubkatze, die ihre Beute in jedem Moment fassen könnte – mit der Einschränkung, dass diese Katze sich hier als Beschützerin erweist, die die Solistin auch im extremen Pianissimo durchklingen lässt.

Nach der Pause kam das Lento rubato für Streichorchester des 1986 geborenen Rumänen Lucian Beschiu zur Uraufführung. Er hätte für sein im Kern und in allen Nuancen so zauberhaftes wie eigenständiges Werk keine liebevolleren und souveräneren Ausführenden finden können als die Deutsche Kammerakademie mit ihren Solisten Sebastian Casleanu (Violine), Danka Nikolic (Bratsche) und Milan Vrsajkov (Cello) unter der mit seinen Musikern zu vollendeter Einheit verschmelzenden Leitung Skou Larsens. Was für eine Musik schreibt Beschiu? Seine Harmonik hat ihren absolut unverkennbaren Eigenton, und sie bildet die Grundlage der ganzen Entfaltung melodischer Gestalten, rhythmisch-metrischer Finessen, feinsinnig kontrastierender Charaktere. Die Musik hat etwas wundervoll Schwereloses, Lichtes, Transparentes, Zerbrechliches und zugleich stets Fließendes, geradezu Engelhaftes, und sie spricht mit einem unschuldig beseelten Ton, als hätte sie es überhaupt nicht nötig, sich gegen die hochtrabende Konkurrenz zeitgenössischer Avantgarde und Populärklassik zu behaupten – etwa nach dem Motto: Macht ihr doch, was ihr wollt, ich bewege mich unsichtbar zwischen euren Mauern hindurch. Stilistisch könnte man Einflüsse von John Foulds zu erkennen meinen (in den raumgreifenden Quintparallelbewegungen und melodischen Spiegelungen, aber auch in der Luzidität des Tons und Ausdrucks überhaupt), und mancher mochte vielleicht an Ravel denken, vielleicht auch ein wenig an des Komponisten rumänische Heimat, deren Melancholie gegen Schluss ohne jede Wehleidigkeit für ein Tröpfchen mehr Dunkelheit sorgte, vielleicht sogar ein bisschen an Béla Bartók. Doch all das sagt eben nicht aus, wie die Musik von Beschiu ist – es mag höchstens als Orientierungshilfe dienen, um zu ahnen, ob sie einem gefallen könnte. Das Neusser Publikum war – wie auch das Orchester – restlos begeistert von dieser großen Überraschung, die statt imponierend auftrumpfen zu müssen ganz aus ihrer Tiefe der Substanz schöpft. Zweimal tritt der langsameren Grundbewegung eine Art walzernd beschleunigte Bewegung entgegen, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und beim zweiten Mal erwirkt diese den Übergang in die Schlussphase. Wir können jedenfalls berichten, dass hier ein großer Komponist auf den Plan getreten ist, von dem – vielleicht ja gerade für die symphonische Gattung – noch ganz Großes erwarten dürfen.

Danach Schuberts Unvollendete, und hier möchte ich einfach nur sagen, dass sich eine großartigere Aufführung dieses so viel gespielten – und so oft unzulänglich langweilig oder überzogen schroff dargebotenen – Meisterwerks kaum vorstellen lässt. Mit innigster Gesanglichkeit umgarnten die lyrischen Themen, die dramatischen Umbrüche kamen mit einer elementaren Wucht so überraschend, dass es war, als erklänge die Musik zum ersten Mal. Also sozusagen noch eine Uraufführung, indem das scheinbar Bekannte so unvorhersehbar und dabei vollkommen logisch aus den innewohnenden Kräften entwickelt, das Ganze offenbarend entstand, dass einfach kein Platz war für den relativierenden Geist – denn: Egal, wie schnell oder langsam es gewesen sein mag, die Dimension der Zeit wurde aufgehoben, die Beteiligten gingen vollkommen im Dienst an der Musik Schuberts auf, die seelische Regionen eröffnet, von denen das heutige Musikleben in seiner Veräußerung in der Regel nicht einmal mehr träumt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass das Orchesterspiel in allen Belangen auch von grandioser Makellosigkeit war, dass das klein besetzte Orchester einen ungeheuer dichten, runden Klang entfaltete, und dass die Soli von Oboe und Klarinette uns unmittelbar ins Reich reinsten Zaubers entführten, das nicht den Streichern allein vorbehalten war. So kann also auch heute musiziert werden, als stünde hier ein Furtwängler, Talich, de Sabata oder Celibidache.

Als Zugabe brachte Skou Larsen ein ‚Gebet’ von seinem brasilianischen Landsmann Alberto Nepomuceno (1864-1920), das einst sein gleichfalls dirigierender Vater für Streichorchester gesetzt hat: eine wehmütige Kantilene der Violinen wird vom Tutti-Pizzicato begleitet, und im Schlussklang vereinigt man sich zum arco. Schöner, edler, verinnerlichter, aber auch innerlich belebter kann man das nicht spielen. Danach stimmte das Orchester in den Applaus hinein Piazzolla an, Lavard Skou Larsen entwand dem exzellenten Konzertmeister spontan die Geige und ging noch einmal völlig in seinem Element auf. Diesen Mann wird man vermissen, und wir können nur mutmaßen, was ihn bewogen hat, nach zwölf so einmalig erfolgreichen Jahren die Deutsche Kammerakademie zu verlassen und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Er hat Neuss zu einem idealen Ort der Musik werden lassen, und das Publikum dankte es ihm und seinem wunderbaren Orchester mit auch bei entlegensten Programmen ausverkauftem Saal in den Abonnementkonzerten. Immerhin: zum Abschied sagte Skou Larsen mit schelmischem Seitenblick auf einen weltweit prominenten kalifornischen Gouverneur ‚Hasta la vista’…

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Neusprech-Lexikon der Frontberichterstatter

Jörn Peter Hiekel und Christian Utz (Herausgeber): Lexikon Neue Musik
Bärenreiter; ISBN 978-3-7618-2044-5

Zusammen mit dem Metzler-Verlag legt der Bärenreiter-Verlag in Kassel ein neues ‚Lexikon Neue Musik’ vor, das uns vor allem in Ästhetik- und Sprachregelung jener Kreise einführt, die sich nach wie vor als Avantgarde der Musikentwicklung begreifen. Die Enzyklopädie besticht mit großem Detailreichtum hinsichtlich des Mainstreams der Moderne, wie er sich in Mitteleuropa seit Dodekaphonie und Serialismus präsentiert. Was sich an der von hier aus als solche wahrgenommenen Peripherie abspielte und abspielt, wird nur sehr lückenhaft wiedergegeben und fällt vielfach unter den Tisch. So erstaunt es dann aber doch, dass im Indien-Artikel die bahnbrechenden Neuerungen von John Foulds unerwähnt bleiben (wahrscheinlich hat Bhagwati seinen Namen noch nie gehört), und dass in der Übersicht der nordischen Länder mit dem Isländer Jón Leifs einer der radikalsten Modernisten (zudem der bekannteste Komponist des Landes) keiner Erwähnung für würdig befunden wird. Das ist peinlich und zeigt wieder einmal, wie viel von der Qualifikation der einzelnen Autoren abhängt, und natürlich auch von deren Vorlieben. Es wird an entsprechender Stelle auch ignoriert, dass beispielsweise der Däne Per Nørgård ein entscheidender Vorläufer des Spektralismus war. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den üblichen Verdächtigen mitteleuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, mit einigermaßen hilfreicher Einbeziehung der russischen Avantgarde. Ganz unzureichend ist der Artikel über Pop und Rock, denn dort fehlen alle entscheidenden Schrittmacher des Fortschritts wie King Crimson, Henry Cow, Univers Zero, auch Van der Graaf Generator oder Soft Machine. Klar, die Autorin kennt sich einfach nicht genug aus.

Die umfangreichen Hauptartikel am Anfang des Buches, die dem alphabetischen Teil vorausgehen, beschäftigen sich mit: ‚Die Avantgarde der 1920er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (Ulrich Mosch), ‚Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (Wolfgang Rathert), ‚Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation’ (Christian Utz), ‚Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik’ (Jörn Peter Hiekel), ‚Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert’ (Elena Ungeheuer), ‚Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen’ (Christa Brüstle), ‚Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren’ (Lukas Haselböck), ‚Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945’ (Jörn Peter Hiekel) und ‚Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 (Christian Utz). Diese Artikel sind durchaus teils fundiert und interessant, zeigen aber auch zum Teil bereits auf, wie hier die Herausgeber ihre Idee vom Fortschritt als alleingültig verstehen. Christian Utz insbesondere hat sich auf eine ‚Argumentationsweise’ spezialisiert, die jede Kritik allgemeiner Art an diesem Fortschritt als Polemik abtut. Das ist natürlich sehr beschädigend für jegliche fruchtbare Selbstreflexion, und tatsächlich sind wir jetzt bei einem vom Begriff der ‚Postmoderne’ abgeleiteten Begriff der ‚Posttonalität’ angekommen. Das ist natürlich reine Willkür und besagt eigentlich gar nichts außer der Tatsache, dass man weder im umfassenden Sinn je verstanden hat, was Tonalität ist, noch, was Atonalität ist. Unglaublich klug und kompliziert wird hier argumentiert, ohne dass ein generelles Verständnis der musikalischen Grundlagen vorhanden wäre. Solche ‚Denker’ sind ebenso reaktionär wie die konservativen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, die in der Selbstverständlichkeit der dur-moll-tonalen Welt als alleinseligmachender Grundlage befangen waren. Stattdessen herrscht heute eben die reine, auf keinem zusammenhängenden Erleben basierende Willkür und Orientierungslosigkeit, die alles interessant findet, was irgendwie einen Weg aus der Tradition heraus zu weisen scheint. Qualität wird so einfach behauptet wie ihr Gegenteil. Jedoch ist dieses Lexikon sehr nützlich und hilfreich für all jene, die mitreden wollen im aktuellen Diskurs innerhalb des geschlossenen Zirkels derjenigen, die sich als die an der Front der neuesten Musik stehend wähnen – also die Macher, Mitwirkenden, Profiteure und Mitläufer der Festivals und Konzertreihen ‚Neuer Musik’, die nur eines scheuen ‚wie der Teufel das Weihwasser’: erlebt und damit erlebbar zusammenhängendes Komponieren. Das Buch gibt wie kein anderes umfassenden Einblick in die intellektuellen ‚Fundamente’ der Echokammer einer ‚posttonalen’ Welt, die sich selbstherrlich um sich selbst dreht und nur dank massiver Subventionen weiterhin existiert. Wer verstehen will, wie die denken, sollte sich anhand dieser spröden Lektüre damit auseinandersetzen. Die Informationsfülle ist gigantisch, auch wenn sie weitgehend ideologisch programmiert und voll blinder Flecken ist. Diesmal übrigens kann Herr Utz, Frontberichterstatter aus dem heroischen Krieg für das innerlich Zusammenhangslose, in der Ästhetik der 1920er Jahre Steckengebliebene und Mitherausgeber dieser epochalen ‚Neusprech’-Enzyklopädie, zurecht von Polemik sprechen – die er allerdings wie so oft nicht faktisch, sondern lediglich ideologisch kontern könnte.

 

[Annabelle Leskov, Dezember 2016]

Französische Spezialitäten, nivelliert auf hohem instrumentalen Niveau

Albert Roussel: Bacchus et Ariane-Suiten op. 43 Nr. 1 & 2; Claude Debussy/orchestr. Ernest Ansermet: Six Épigraphes antiques; Francis Poulenc: Les Biches-Suite
Orchestre de la Suisse Romande, Kazuki Yamada
Pentatone SACD PTC 5186558 (EAN: 827949055867)

Ein grandioses französisches Programm mit einem der Traditionsorchester, die sich seit jeher dafür zuständig sehen, auf einem Label, das für herausragende Klangqualität bekannt ist: Da ist die Vorfreude groß.

Das Genfer Orchestre de la Suisse Romande, einst unter seinem legendären Leiter Ernest Ansermet für Decca zuständig für Strawinsky-Aufnahmen und vieles andere, tritt mit seinem mittlerweile weltweit erfolgreichen japanischen, 1979 in Kanagawa geborenen Gastdirigenten Kazuki Yamada an, um eher selten, jedenfalls in Konzerten hierzulande kaum je zu hörende Meisterwerke französischer Musik der klassischen Moderne darzubieten. Roussels Suiten aus seinem erfolgreichen Ballett ‚Bacchus et Ariane’ gehören zum bekanntesten von diesem auch in seiner Heimat sträflich vernachlässigten Großmeister. André Cluytens, Charles Münch, Georges Prêtre, Charles Dutoit gehören zu den Dirigenten, die diese herrlich üppige und zugleich so charakteristisch querständige, eigenwillige Musik auch immer wieder im Konzertsaal präsentierten, und die Referenz dürfte bis heute Cluytens (für EMI, heute Warner Classics) zuzuschreiben sein, auch wenn bei ihm wie bei den anderen das Harsche, Ruppige dieser für französische Verhältnisse sehr bodenständig kraftvollen Musik besser umgesetzt, als das gleichfalls vorhandene zart Verästelte, klanglich fein Abzustimmende. Roussel ist auf jeden Fall der nächste Meister seiner Generation, gleich nach Debussy und Roussel, und allenfalls Paul Dukas und Florent Schmitt können ihm gleichwertig zur Seite gestellt werden. Unter diesen ist er jedenfalls in seinem reifen Schaffen der Unverwechselbarste. Sehr schade, dass ein Celibidache, der das besser konnte als irgendein anderer, von Roussel nur die Petite Suite und die Suite en fa (beide mit den Münchner Philharmonikern, bei Warner Classics) sowie die Dritte Symphonie (mit dem Orchestre National de France, beim japanischen Label Altus, nur Export) aufs Programm setzte.

Technisch spielt das Orchestre de la Suisse Romande unter Yamada vorzüglich, allerdings ohne besondere Finesse, es ist einfach nur tadellos solide, aber wo bleibt von Seiten des Dirigenten die Feinabstimmung der Akkorde, das Ausschöpfen der orchestral mischenden Farbpalette, das für die organische Verbidnung so unentbehrliche subtile Rubato? Nein, über korrekt – und vorzüglich aufgenommen – geht das nicht hinaus. Was natürlich in den späten Six Épigraphes antiques von Debussy, in der nicht genialen, aber sehr gekonnten Orchestration Ansermets, mit ihrer heikleren Faktur noch deutlicher zu spüren ist. In dieser Musik ist so viel mehr drin, als hier rauskommt, und das kann die beste Tontechnik nicht kompensieren! Am ehesten gelingt der frivole Schwung von Francis Poulencs neoklassizistisch unterhaltender Ballett-Suite ‚Les Biches’, wenn auch hier alles Hintergründige, Verfeinertere fehlt, und gewiss kein Sinn für den größeren Zusammenhang – der eben einer gewissen weitschauenden Bündelung der Energien von Seiten Yamadas bedürfte – zu finden ist. Fazit: toll zusammengestellt, exzellent aufgenommen, technisch tadellos und musikalisch mit Powerplay, aber relativ nichtssagend umgesetzt. Übrigens war auch schon Ansermet, wenngleich viel mehr auf die Aussage individueller Details bedacht, kein großer Klangalchimist und auch kein Meister durchgehend tragfähiger Spannungsentwicklung, sondern stets immer recht schulmeisterlich… Aber heute sollten wir doch eine gewisse Entwicklung erhoffen dürfen, auch wenn das kaum vorkommt, und vorliegende Einspielung durchaus auf der Höhe der Zeit ist.

Zum nicht sehr tiefgehenden Booklettext sei erwähnt, dass der Autor, der offenkundig erstmals mit der Musik Roussels zu tun hatte, fälschlich behauptet, Vincent d’Indy sei ein Schüler Roussels gewesen – es war natürlich umgekehrt. So etwas kann passieren, wenn man sich bei Wikipedia in der Eile verliest, doch dass auch die Übersetzer und die Redaktion es nicht bemerken, ist schon bemerkenswert. Schauen wir mal, wer das dann wieder abschreibt…

[Annabelle Leskov, Oktober 2016]

Das beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music

Philip Glass – ‚Prophecies’: Music from ‚Einstein on the Beach’ and ‚Koyanisquatsi’, arranged for piano solo by Anton Batagov
Anton Batagov, Klavier

Orange Mountain Music CD 0110 (EAN: 801837011029)

Anton Batagov, geboren 1965 in Moskau, ist seit Anfang der 1990er Jahre Kennern bekannt als einer der interessantesten Musiker seiner Generation. Er ist nicht nur ein hochorigineller und phänomenaler Pianist, sondern auch ein singulärer Komponist sogenannter Minimal Music, der auch plakativ als „russischer Terry Riley’ angepriesen wurde. Alben wie das bei Arbiter Records in New York erschienene ‚The New Ravel’ oder seine auf einer Art präpariertem Klavier gespielte ‚Kunst der Fuge’ sind längst zeitlose Klassiker. Mehr über ihn ist hier zu erfahren: en.wikipedia.org/wiki/Anton_Batagov.

Nun präsentiert er uns seine eigenen Klavierfassungen von Musik aus Philip Glass’ New Age-Heiligtümern ‚Einstein on the Beach’ und ‚Koyanisquatsi’, und so sehr viel ist gar nicht darüber zu sagen. Es ist eine Minimal-Darbietung in schlichter Vollendung, von einem Pianisten gespielt, der ebenso mit späten Beethoven-Sonaten, Scriabin oder Debussy begeistern könnte, mit einer unglaublich feinen Durchformung und Abschattierung der Monochromie vorgetragen, nie ins rhythmisch Mechanische oder melodisch Plätschernde abgleitend, auch nie oberflächlich gefällig, sondern mit einer stoischen Spontaneität der Empfindung vorgetragen, die jenseits auch nur der geringsten Willkürlichkeiten jeden Moment aus dem großen Fluss heraus gestaltet. Das ist schlicht das musikalisch beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music. So funktioniert es und erfreut sowohl den anspruchsvollen Hörer als auch den, der einfach nur etwas zum Träumen haben möchte.

Batagov trägt im spartanischen Booklet einen lesenswerten Essay ‚On the Term Minimalism’ bei, wo er unter anderem schreibt: „Nichts ist absolut tragisch, nichts ist absolut fröhlich. Alles ist fröhlich und tragisch zur gleichen Zeit. Alles existiert in immerzu unteilbarer Einheit.

Minimalismus ist nicht ein Stil oder eine Technik, die in den 1960ern erfunden wurde und vorüber ging. Tatsächlich können wir uns kaum vorstellen, vor wie vielen tausend Jahren der ‚Minimalismus’ entstanden ist.“

Wer also wissen will, was Minimalismus im besten Fall sein kann, sollte nicht zögern, sich Glass in Batagovs Fassung anzuhören.

[Annabelle Leskov, September 2016]

Auf verwachsenem Pfade im Streichergewand

Leoš Janáček
Streichquartette Nr. 1 Kreutzer-Sonate’ und Nr. 2 ‚Intime Briefe’, Streichquartette des Klavierzyklus ‚Auf verwachsenem Pfade’ (Buch 1) von Jarmil Burghauser
Quartetto Energie Nove (Hans Liviabella, Barbara Ciannamea, Ivan Vukcevic, Felix Vogelsang)
Dynamic CDS 7708 (EAN: 8007144077082)

Das seit 2008 bestehende Schweizer Quartetto Energie Nove hat 2013/14 in Lugano für Radio Svizzeria Italiana die beiden Streichquartette von Leoš Janáček aufgenommen. Man kann die Noten zusammen spielen. Mehr ist nach dem Anhören eigentlich kaum darüber zu sagen, es sei denn, ich wollte auf die Mängel eingehen, die z. B. in unsanglicher Schwerfälligkeit der Phrasierung, der Abwesenheit vorausschauender Gestaltung und seltsamem Auf-der-Stelle-Treten in den rhapsodischen und mit abrupten Einwürfen operierenden Abschnitten bestehen. Diese Quartette sind zu großartig, auch zu schwierig, und definitiv schon zu oft auf viel höherem Niveau gespielt worden (ich denke jetzt nur mal an das Smetana- oder das Janáček-Quartett, aber gerne auch in diesem Zusammenhang an die jungen Wilden des einstigen Helsinki-Quartetts), als dass es dieser Neuaufnahme bedurft hätte, und da hilft es auch nicht weiter, dass die Einspielung aufgrund der originalen Manuskripte erfolgte, was eigentlich sehr hilfreich sein müsste, denn die Interpretationen dieser Quellen können wie so oft bei Janáček, wo manchmal kaum zu entscheiden ist, ob etwas doppelt so schnell oder doppelt so langsam sein soll, aufgrund bestimmter Uneindeutigkeiten der Notationsweise sehr unterschiedlich ausfallen.

Das Spannende an dieser Aufnahme ist die Ersteinspielung des berühmten Klavierzyklus ‚Auf verwachsenem Pfade’ in der Fassung für Streichquartett vom bekannten Janáček-Forscher Jarmil Burghauser (1921-97). Allein deswegen lohnt es sich für alle Interessierten sowohl an Janácek als auch an wertvoller Quartettliteratur. Ich finde, dass man den Zyklus nicht als Ganzes spielen muss im Konzert, eine Auswahl kann da viel schlüssiger sein, etwa die in diesem Arrangement besonders fesselnden Stücke ‚Die Madonna von Frydek’, ‚Sie plapperten wie Schwalben’,  ‚So unsagbar bange’ oder ‚Das Käuzchen ist nicht davongeflogen’, aber auch die meditativen ‚Gute Nacht!’ oder ‚In Tränen’. Burghausers Bearbeitung funktioniert wunderbar, und hier ist auch die Ausführung dem Gegenstand überwiegend etwas angemessener, was mit den geringeren gestalterischen Anforderungen der Miniaturformate zu tun hat. Also bitte, das ist auch etwas für andere Formationen!

Es seit hinzugefügt, dass die recht grobe Aufnahmetechnik den Musikern nicht zum Vorteil gereicht, wogegen der Begleittext vom ausgewiesenen Kenner Miloš Štědroň wie nicht anders zu erwarten tadellos ist.

[Annabelle Leskov, August 2016]

Heimeliges Amerikabild

Kevin Puts
2. Symphonie (2002), Rivers Rush (2004), Flötenkonzert (2013/14)
Adam Walker, Flöte
Peabody Symphony Orchestra
Marin Alsop
Naxos 8.559794 (EAN: 636943979426)

Eine neue CD mit Orchesterwerken von dem 1972 in St. Louis geborenen und an der Eastman School in Rochester ausgebildeten Kevin Puts – nachdem unlängst schon eine andere Orchester-CD von ihm bei harmonia mundi erschienen ist: hier scheint sich eine neue Hoffnung der Tonträger-Industrie auf mehr Breitenwirkung zeitgenössischer Musik zu artikulieren. Nicht verstaändlich ist, warum in der Biographie des Komponisten so bedeutende Lehrer wie Christopher Rouse, William Bolcom, Jacob Druckman oder Samuel Adler verschwiegen werden – als käme der neue Hoffnungsträger aus dem jungfräulichen Nichts daher… Puts schreibt wohlklingend, absolut verbindlich, freundlich, eingängig, eigentlich sehr naiv. Die entscheidende Frage ist: Hat es auch Substanz? Und die ist mit Einschränkung zu beantworten. Das Orchesterspiel ist bestechend, und das erstaunt nun wirklich in dieser makellosen Qualität bei einem studentischen Klangkörper. Und Marin Alsop beherrscht die Sache routiniert, wobei mehr Empfindung für die modulatorischen Subtilitäten, und der Ausdruck dessen, das Ganze spannender erscheinen lassen würde. Aber sie ist eben auch eine Maestra, die sich mit Perfektion, Schönklang, guten Effekten und dem Umsetzen des vital Rhythmischen zufrieden gibt. Ausgezeichnet und reich nuancierend, auch sanglich spielt der Flötensolist Adam Walker. Die Aufnahmetechnik ist brillant und ausgewogen, der Booklettext authentisch, da vom Komponisten.

Nun zur Kernangelegenheit, zu Puts’ Musik selbst. Die Zweite Symphonie ist seine Reflektion des anlässlich des Desasters von 9/11 Erlebten. In idyllisch vor sich wabernde Unbedarftheit, in der Art einer Prärieimpression, bricht via einer Geigensolo-Überleitung das Verhängnis herein. Man merkt, dass er nicht dabei war und in Klängen derlei nicht adäquat wiedergeben kann. Wie auch? Dazu bräuchte es entwickelnde Qualitäten, die im musikalischen Material potenziell begründet sein müssten. Stattdessen schlägt dann eben die Fröhlichkeit in Melancholie um, um am Ende wieder – jawohl – Hoffnungsschimmer hervortreten zu lassen. Besser wüssten wir nichts über den katastrophischen Hintergrund, dann wären es einfach 20 Minuten hübsche Musik.

Besser gelungen, auch weit dramatischer und folgerichtiger, ist die 10minütige Tondichtung ‚River’s Rush’, die ein wenig von der inneren Bewegtheit kündet, die Puts beim Anblick des Mississippi erfasst.

Zum Schluss gibt es ein unlängst entstandenes, kammerorchestral besetztes Flötenkonzert, dessen Außensätze dem Flötisten gute Gelegenheit geben, solistische Qualitäten zu zelebrieren. Das zentrale Andante ist in freier Fantasieweise über dem berühmten, schwebend-schwingenden Mittelsatz von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467 gebaut – sozusagen, angemessen postmodern gesprochen, eine so gefällige wie fein ausgearbeitete ‚Elvira Madigan-Hommage’. Der Bezug ist so offenkundig, dass es keines Kommentars bedurft hätte, die Entwicklung natürlich nicht bezwingend wie beim großen Vorbild, aber immerhin recht vornehm unterhaltend. Da ist beispielsweise der viel minimalistischere, geheimnisraunende Mittelsatz seines neobarock gerahmten Konzerts für Oboe und Streicher weit faszinierender. Fazit: gut gemachte Hintergrundmusik, die das positive Amerika, wie es gerne erscheinen würde, als äußerlich wohltuende Heimeligkeit all jenen vermitteln darf, die gerne etwas Unproblematisches hören, das einen komfortabel abgefederte, zärtlich umschmeichelnde Langatmigkeit verbreitet. Und ein womöglich therapietaugliches Genussmittel, das die Unschuld der Welt wieder herstellen möchte. Spannung oder Herausforderung im musikalischen Sinne ist hier kein Thema. Relax, friends, nothing really happens…

[Annabelle Leskov, August 2016]

Oberflächlich präsentierte Nebenwerke

Emil Nikolaus von Reznicek
Idyllische Ouvertüre ‚Goldpirol’ (1903), ‚Wie Till Eulenspiegel lebte’ (1900), Konzertstück für Violine und Orchester E-Dur (1918), Präludium und Fuge c-moll für Orchester (1912), Nachtstück für Violine und Kammerorchester (1905)
Sophie Jaffé, Violine (Konzertstück)
Erez Ofer, Violine (Nachtstück)
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Marcus Bosch
cpo 777983-2 (EAN: 761203798322)

Aus dem spätromantischen Umfeld der Kapellmeistermusik, als deren Anführer Richard Strauss und Gustav Mahler herausragen, ist Emil Nikolaus von Reznicek einer der charmantesten, reichsten, humorvollsten. Wie es sich gehört, ist die Orchestration phänomenal, von schwindelerregender Virtuosität, und überhaupt ist die opulente handwerkliche Meisterschaft in allen Belangen staunen machend. Reznicek hat ja mit ‚Schlemihl’, dem ‚Sieger’ oder der f-moll-Symphonie einige wirklich originelle und auch ziemlich substanzielle Werke geschrieben, die wie viele andere bei cpo unter der sehr soliden Leitung von Frank Beermann erschienen sind. Das war insgesamt erfreulich. Bei dieser neuen Folge handelt es sich – außer dem recht umfangreichen Konzertstück – um Nebenwerke, die ungefähr so wichtig sind wie die Handgelenksübungen von Richard Strauss – also gekonnt, gewitzt, um keinen Einfall verlegen, immer geeignet, um die Sammlung zu ergänzen, und eben auch unwesentlich. Nicht alles, was ein Meister schreibt, muss vom Genie der Ewigkeit durchdrungen sein. Aber man könnte seine ungetrübte Freude damit haben, wenn die Ausführung dies ermöglichte. Doch genau da wäre zumindest die gelb-rote Karte zu zücken!

Natürlich können heutige Rundfunk-Orchester das alles, auch wenn es so kapriziös hin- und hergeht und schelmisch irrlichtert wie es eben typisch für Reznicek ist, doch bleibt der Eindruck dann auch fast ausschließlich an der Noten-Oberfläche. Marcus Bosch dirigiert flott, flott, durchaus routiniert. Zu sagen hat er – nichts. Und die Solistin Sophie Jaffé ist im dreiteilig angelegten Konzertstück nicht nur über Gebühr hervorgehoben, sondern kann inhaltlich nichts mit der Musik anfangen. So kommen nur Klischee-Eindrücke heraus, und es fehlt sowohl an suggestiver Gestaltung der Linie als auch an Feinheit des Ausdrucks. Da ist Erez Ofer – auch er viel zu sehr in den Vordergrund gerückt – im Nachtstück, das wie der langsame Satz einer Serenade anmutet, nun doch inniger bei der Sache, aber hat er wirklich eine Chance, damit auch das ganze Ensemble aus der Neutralität des kundigen Notenlesens heraus zu bewegen – nicht unter Bosch jedenfalls, der offenkundig unverbindlich bleibt. Die Ouvertüren ‚Goldpirol’ und ‚Wie Till Eulenspiegel lebte’ – letztere eine offenkundige Referenz an den verehrten Meister Strauss, der allerdings zu jener Zeit die Weichen Richtung ‚Salome’ stellte – sind gute, in der Länge dem Gehalt entsprechende Stücke, die eine mitreißendere, den Charakter ausdrücklicher entfaltende Darbietung verdient hätten. Und die eigentümliche ‚Fuge’ gerät unter Boschs Händen ganz mau. Hatte man nur einfach keine Zeit, sich zu vertiefen, oder auch gar kein Bedürfnis?

Die Aufnahmetechnik ist nicht nur hinsichtlich der unprofessionell isolierenden Zurschaustellung der Geigensolisten nicht auf dem erwarteten cpo-Niveau, der gut und übersichtlich informierende Begleittext von Michael Wittmann – der natürlich nicht so pfiffig unterhält wie in den vorangegangenen Folgen Rezniceks ‚alter ego’ Eckhard van den Hoogen – hingegen schon. Nun, was machen wir damit? Stellen wir das routiniert gefertigte Stück ins Sammlerregal und – so wir denn Noten lesen können – sehen uns erst mal nach den Partituren um!

[Annabelle Leskov, August 2016]

Impressionen aus einer verkehrten Welt – Guttenberg statt Strauss

Handbuch Dirigenten – 250 Porträts
Herausgegeben von Julian Caskel und Hartmut Hein
Autoren: die Herausgeber, Kai Köpp, Michael Stegemann, Christine Drexel, Annette Kreutziger-Herr, Andreas Domann, Andreas Eichhorn, Alberto Fassone, Alexander Gurdon, Dieter Gutknecht, David Witsch, Florian Kraemer, Gesa Finke, Hans-Joachim Hinrichsen, Michael Schwalb, Michael Werthmann, Peter Niedermüller, Tobias Pfleger
Bärenreiter/Metzler; ISBN: 9783476023926

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Ein Handbuch über Dirigenten in deutscher Sprache, das sich nicht nur der großen Namen annimmt, sondern ein breiteres beschreibendes Spektrum bietet, war lange überfällig, und insofern kann man dem Bärenreiter-Verlag nur danken, dies endlich umgesetzt zu haben. Ob man dafür die richtigen Herausgeber und Autoren gewonnen hat, ist allerdings mehrheitlich – gelinde gesagt – sehr in Frage zu stellen. Das beginnt schon mit dem – immer sehr problematischen – Thema der Auswahl, wo man es natürlich keinem Kenner recht machen kann. Jedoch wird hier die Grenze des Zumutbaren überschritten, man muss geradezu von gezielter Manipulation der Geschichte sprechen: Egal, was der eine oder andere über Richard Strauss denkt, dass er – wie auch immer bereits im Vorwort vollkommen unplausibel begründet – ausgesondert wurde, ist eine absolute Peinlichkeit: nicht nur einer der überragenden Dirigenten der Geschichte, sondern auch einer der stilprägendsten, ohne den Legenden wie Fritz Reiner, Clemens Krauss oder Karl Böhm undenkbar wären. Kaum weniger verstörend ist das Fehlen von Gustav Mahler, der für Kleiber, Klemperer und Bruno Walter das Maß der Dinge war – wenigstens sind Bülow, Hans Richter, Nikisch und Levi dabei als die Vertreter einer Epoche, die diskographisch nicht dokumentiert ist.

Was die jungen und jüngsten Kapellmeister betrifft, ist die Auswahl ohnehin noch von vielen wackligen Faktoren bestimmt, und natürlich nehmen Spezialisten der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis’ und Dirigentinnen hier, dem Trend entsprechend, mehr Raum ein als objektiv angemessen. Dann muss man sich allerdings umso mehr fragen, warum die großen Kammerorchesterleiter (außer Rudolf Barschai) ignoriert wurden: Edwin Fischer, Adolf Busch, Josef Vlach, Benjamin Britten, Sándor Végh usw. – das sind durchweg weit bedeutendere Musiker als die meisten Herrscher der großen Orchester.

Auf der anderen Seite werden diskographisch überpräsente Halbdilettanten wie Helmuth Rilling oder Enoch zu Guttenberg ausführlich und höchst bedeutsam vorgestellt. Man sieht, hier ist keine wirkliche herausgeberische Professionalität am Werke, sondern der Versuch, sich politisch korrekt an den Erwartungen der KlassikRadio-gewohnten Unbedarften zu orientieren. Das dürfte ein Fehlkalkül sein, denn ein solches Buch erwerben meist dann doch die, die ein echtes Interesse haben, und die sind nicht alle so ahnungslos, dass sie widerspruchslos kommerziellen und modischen Auswahlkriterien folgen wollen.

Das Niveau der einzelnen Artikel ist natürlich höchst unterschiedlich. Besondere Tiefstände werden in der Regel da erreicht, wo der betreffende Dirigent in irgendeiner Weise in Deutschland 1933-45 involviert war. Gewiss gab es bekennende Nationalsozialisten, sei es aus Karrierismus oder schlichter Feigheit, und Namen wie Karajan, Böhm oder Knappertsbusch liegen hier auf der Hand. Dass Clemens Krauss hier nach wie vor – nicht auf dem Erkenntnisstand der Zeit – als besonders belastet abgehandelt wird, ist zum Beispiel eine Unverschämtheit. Das geht so weit, dass über ihn als Musiker fast nichts Brauchbares dasteht. Wie einfach ist es, Herr Caskel, mit Halbwissen und verblendetem Missionsdrang ausgestattet einen Wehrlosen postum in die Tonne zu treten!

Vieles wird in diesem Kompendium auf den Kopf gestellt, Ideologie überwiegt Beobachtung, aber das ist symptomatisch für den debilen Gesamtzustand unserer hoffnungslos unterbezahlten deutschen Musikfeuilleton-Kreise, wo das Wort Intelligenz nostalgische Gefühle hervorruft. Und in den meisten Fällen hat – zumindest die englische – Wikipedia rein faktisch mehr zu bieten. Aber ich habe vergessen: Es geht ja um die subjektive Meinung selbsternannter Experten ohne konkreten musikalischen Hintergrund…

Man muss also ein intelligenter Leser sein – also einer, der sich ständig um die bewusste Unterscheidung zwischen Fakten und feuilletonistisch manipulierendem Kommentar bemüht –, um durch dieses Buch nicht nebenbei verblödet zu werden, während man sich informiert. Davon abgesehen ist es allerdings ein nützliches Nachschlagewerk, wie es in dieser Form, zu einem vernünftigen Preis, erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Wer Meinung und Tatsachen zu unterscheiden versteht, kann getrost Nutzen daraus ziehen.

[Annabelle Leskov, August 2016]