Porträtkonzert für Pascal Dusapin bei der musica viva

Am 25. April 2025 widmete die musica viva im Münchner Herkulessaal ein gesamtes Konzert dem großartigen französischen Komponisten Pascal Dusapin (*1955), der Ende Mai einen runden Geburtstag feiert. Unter Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben den Soli Nr. 6 und 7 für Orchester und dem Violinkonzert „Aufgang“ mit dem Uraufführungssolisten Renaud Capuçon noch „Wenn du dem Wind…“ – drei Szenen aus der Oper Penthesilea mit der Mezzosopranistin Christel Loetzsch.

Loetzsch, Capuçon, Dusapin, Matiakh © Astrid Ackermann/BR

Zugegebenermaßen mag der Rezensent musica viva Konzerte, in denen Kompositionen von nur einem zeitgenössischen Komponisten erklingen, mit am liebsten, weil man sich dabei – zumeist – auf nur einen Stil und eine dann hoffentlich individuelle Klangwelt einstellen muss als von oft sehr heterogenen Programmen quasi durchgeschüttelt zu werden. Der Franzose Pascal Dusapin feiert Ende Mai seinen siebzigsten Geburtstag und ist in seiner Heimat seit über 30 Jahren ein echter Star, in Deutschland mit seinen Werken freilich noch ein wenig unterrepräsentiert, wenn auch gerade in München kein Unbekannter mehr: Zuletzt war vor knapp zwei Jahren im Herkulessaal sein sehr kontemplatives Orchesterwerk „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island zu erleben – siehe unsere Rezension. Als einziger Schüler Iannis Xenakis‘ ist seine Musik zwar von mathematischen Konzepten durchdrungen, im Vordergrund steht aber immer vermittelbare Emotionalität an oberster Stelle: Der vor allem von Literatur und bildender Kunst geprägte Dusapin legt stets Wert darauf, sein Publikum tatsächlich zu erreichen; sicher mit ein Grund seines Erfolges.

Die beiden Orchesterstücke Reverso (Solo Nr. 6, 2006) und Uncut (Solo Nr. 7, 2009) sind die beiden letzten Teile eines fast 20 Jahre währenden Projekts einer Art Symphonie, die sich zwar „wie russische Babuschkas“ (Dusapin) aus einzelnen Kompositionsaufträgen zusammensetzt, die jedoch im Hinblick auf ein großes Ganzes konzipiert wurden. Eine Gesamtaufführung aller sieben „Sätze“ am Stück (~ 100 Min.) hat indes bisher nicht stattgefunden, und auch die obigen Stücke erklangen am Freitag nicht hintereinander, weil dies ein zu großes zeitliches Ungleichgewicht der beiden Konzerthälften zur Folge gehabt hätte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Konzerten für Orchester der letzten 100 Jahre, wo dann einzelne Gruppen bzw. Solisten besonders hervortreten dürfen, versteht Dusapin den Gesamtapparat als ein Instrument, was deutlich wahrnehmbar vor allem die Holzbläser eher entindividualisiert. Trotzdem zeigen Reverso und Uncut höchst unterschiedliche Charaktere. So erscheint Reverso als in den Raum zusammengefaltete Klangfläche, – wie ein skulpturales Objekt, etwa ein sich dynamisch verändernder Torus – bei der nicht einmal mehr der zeitliche Verlauf linear wahrgenommen wird, trotzdem mit einer sehr harmonischen Hüllkurve. Hier sind in den Feinstrukturen Einflüsse des Minimalismus hörbar, freilich ohne Aleatorik, zugleich die dynamische Energie eines Edgar Varèse, dessen Arcana ein musikalisches Schlüsselerlebnis für Dusapin war. Die vor allem in Wien ausgebildete französische Dirigentin Ariane Matiakh schlägt deutlich, leider meist parallel – die linke Hand gibt fast nur Einsätze – und durchweg zu groß, überzeugt durch sehr klares und organisches Timing, hervorragenden Überblick sowohl bei den übergeordneten dramatischen Verläufen als auch der Agogik im Detail. Weniger Kontrolle hat sie freilich über die Feindynamik: Wenn sie selten mal mit Links etwas anzeigt, schaut da schon niemand mehr hin. Das funktioniert bei den Soli noch ganz gut, erstaunlicherweise sogar bei den drei Opernszenen, rächt sich jedoch später im Violinkonzert. Uncut ist deutlich schärfer konturiert, farbiger, in den Extremlagen intensiver, beginnt mit einer Art Blechbläserfanfare – am Schluss gibt es für die Gruppe und das Schlagwerk Extra-Applaus – und wirkt schon aufgrund des rascheren Grundtempos eben überhaupt nicht statisch: große Begeisterung dafür beim Publikum.

Dusapin schreibt momentan bereits an seiner elften Oper, und seine Penthesilea (2015) – nach Kleists bizarrer Umdichtung des Mythos – gehört sicher zu seinen beeindruckendsten Werken. Aus dem kurzen Prolog und den Szenen 2 und 4 schuf der Komponist eine dreisätzige Suite für den Konzertgebrauch ‒ lediglich mit der Hauptprotagonistin als Vokalpartie. Die Mezzosopranistin Christel Loetzsch hat die im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Partie konzertant schon komplett mit Frau Matiakh aufgeführt, verfügt über eine außergewöhnlich präsente Höhe und beherrscht alle stimmlichen Facetten, die vom „normalen“ Operngesang über Sprechgesang, Sprechen, Geschrei bis zu animalischeren Lautäußerungen reichen ‒ dies zum Glück eher im tieferen Register ‒ gemäß den hochdifferenzierten Anweisungen der Partitur; und so werfen sich hier mit der souverän vermittelnden Dirigentin die Solistin und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem hochdramatischen Rausch gekonnt die Bälle zu. Wie vereinzelt bei manchen Ensemblewerken Xenakis‘ kommt der Harfe fast die Rolle eines Mediums zu, das ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der furienhaften Penthesilea ermöglicht. Was Frau Loetzsch gänzlich fehlt, ist leider ein für einen so großen Saal ausreichendes Fundament in der Mittellage und damit leider einhergehend jegliche stimmliche Wärme: Selbst mit der teils manierierten Überartikulation mancher Konsonanten ist nicht auszugleichen, was den Vokalen an Klangfarben mangelt. So bleibt die einstudierte Exaltiertheit streckenweise unglaubwürdig und ihr Vortrag geht doch stellenweise unter ‒ ohne Schuld des Orchesters. Trotzdem erntet die Sängerin am Schluss dieser emotionalen tour de force wahre Beifallsstürme.

Dusapins deutsch betiteltes Violinkonzert Aufgang von 2011 ist ein Musterbeispiel für sein Vermögen, zeitgemäße Klangwelten selbst in für viele Kollegen „überkommenen“ Formen kompromisslos zur Geltung zu bringen. Das Stück wird mit seiner traditionellen Dreisätzigkeit ‒ schnell, langsam, schnell ‒ schon äußerlich üblichen Hörerwartungen gerecht. Renaud Capuçon, bereits der Uraufführungsinterpret, hat den klangfarblichen Reichtum und die virtuos darzubietende Ausdrucksstärke des Werks in jeder Hinsicht verinnerlicht und kann die Schönheit und Energie des Violinparts mühelos aufs Publikum übertragen. Dieser erfordert Sanglichkeit in der Höhe, zupackende Verve, aber auch kontemplative Innigkeit in zahlreichen Solopassagen und extrem präzises Aufeinander-Reagieren zwischen Violinisten und Orchester. Diesem fehlt hier nun die erwähnte Kontrolle Frau Matiakhs über die Feindynamik, und so muss Capuçon leider – insbesondere bei Laufwerk – zu oft vergeblich um eine angemessene Balance kämpfen. Der sehr lange langsame Satz hat eine bemerkenswerte Steigerung nach der Mitte und endet dann in typisch Dusapinscher Melancholie. Das Finale ist absolut hinreißend und rundet ein vielschichtiges Konzert zu aller Zufriedenheit ab. Capuçon verzichtet trotz lautstarker Zustimmung allerdings auf die von manchem erwartete Zugabe.

[Martin Blaumeiser, 27. April 2025]

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