Pentatone PTC 5187 355 (4 CDs & Buch)
EAN-Nr.: 8 717306 263559

Michael Tilson Thomas gehört zu den namhaftesten Dirigenten unserer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat Pentatone eine 4-CD-Edition veröffentlicht, die es ermöglicht, Tilson Thomas nun auch als Komponisten umfassend kennenzulernen.
Am 21. Dezember des vergangenen Jahres feierte Michael Tilson Thomas seinen 80. Geburtstag. Seit den Siebzigerjahren ist der Dirigent bekannt und beliebt – nicht nur in seiner amerikanischen Heimat. Sein Repertoire ist zwar vielfältig, aber auch von konkreten Vorlieben geprägt. Oper gehört nicht dazu, die Musik des Barock auch eher weniger. MTT, wie er von seinen Freunden und Fans genannt wird, hat sich vor allem in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts hervorgetan. Besonders die Werke amerikanischer Komponisten haben in Tilson Thomas einen ebenso begeisterten wie hochkompetenten Interpreten gefunden: Er ist bislang der Einzige, der das Gesamtwerk von Carl Ruggles einspielte, seine Ives-Einspielungen zählen zu den besten, die es auf dem Markt gibt, und auch die Musik Aaron Coplands, den er persönlich kannte, zählt zu seinen Spezialitäten: Im Juni 2022 brachte er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal Coplands Dritte Symphonie zur umjubelten Aufführung.
Leider wurde vor einigen Jahren ein bösartiger Gehirntumor beim Dirigenten festgestellt; nach Behandlungen ist er wiedergekehrt, und so wie es jetzt aussieht, wird MTT Ende April sein Abschiedskonzert mit des San Francisco Symphony Orchestra geben, dem er von 1995 bis 2020 als Chefdirigent vorstand.
Dass sich Michael Tilson Thomas immer auch als Komponist betätigte, ist allerdings zumindest außerhalb Amerikas nie so recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Daher hat die Firma Pentatone zu Tilson Thomas‘ 80. Geburtstag eine luxuriöse Box mit 4 CDs herausgegeben, auf der zumindest ein großer Teil seiner Musik vertreten ist. Und nicht nur das: Die Box kommt in Form eines luxuriösen Buchs daher, in dem sich zahlreiche Fotografien, Kommentare und Einführungstexte finden, letztere meist von Tilson Thomas selbst. Die Qualität dieser Hommage ist kaum zu übertreffen – das betrifft nicht nur die wunderschöne Aufmachung, sondern auch durchweg die Klangqualität und vor allem die Interpretationen: Natürlich ist zumeist MTT persönlich (als Dirigent) an ihnen beteiligt, und die diversen Solisten lesen sich wie ein Who is Who der Musikszene: Renee Fleming, Thomas Hampson, Jean-Yves Thibaudet und andere. Nicht zu vergessen sind sämtliche Gesangstexte mit abgedruckt. Ein tolles Geburtstagsgeschenk also.
Kommen wir nun wenigstens kurz zur Hauptsache der Box: Michael Tilson Thomas‘ Musik. Die meisten werden es schon ahnen: Wer hier Avantgarde europäischer Prägung erwartet, wird enttäuscht werden. Größtenteils bewegt sich Tilson Thomas auf dem Boden der Tonalität, und er hat auch keine Angst vor Polystilistik: Jazz, Broadway, Vaudeville: Alles taucht in den Stücken auf, und sei es nur ganz kurz. In ihrer Ablehnung jeder Form von Purismus erinnert diese Musik an die von Thomas‘ Kollegen wie André Previn und vor allem Leonard Bernstein, mit dem er auch befreundet war.
Einige kurze Stücke sind Musikerfreunden gewidmet – nicht zuletzt das Lied Grace, das der Sammlung ihren Namen gab und Lenny Bernstein zugeeignet wurde. Oder (für mich einer der Glanzpunkte der Box) Symphony Cowgirl, ein echter Country-Song für Nancy Bechtle, die für das San Francisco Symphony Orchestra arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, MTT in die Stadt zu holen; sie liebte Country Music, und dies ist ihr Abschiedsgeschenk.
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tilson Thomas sich in (relativ) kleiner Form am glücklichsten äußerte: Dazu zählt das Orchesterstück Lope, das die Liebe des Komponisten zu Hunden thematisiert, die drei Klavierstücke Upon Further Reflection (hier gespielt von John Wilson) oder Urban Legend, ein kleines Konzert für Kontrafagott und Orchester, hier vorgetragen in einer Version für Bariton-Saxophon.
Zwei große Gesangszyklen (Poems of Emiliy Dickinson und Meditations on Rilke) finden sich ebenso wie Tilson Thomas‘ wohl bekannteste Komposition From the Diary of Anne Frank für Sprecherin und Orchester. Tilson Thomas schrieb dieses Stück für die Schauspielerin Audrey Hepburn, mit der er es auch uraufführte; Solistin der vorliegenden Aufnahme ist Isabel Leonard. Kurz gesagt: Wer sich für Michael Tilson Thomas interessiert, wird um die Box nicht herumkommen. Ein hochsympathischer Dirigent, Komponist und – Mensch.
[Thomas Schulz, März 2025]