Archiv für den Monat: März 2025

Simon Rattle dirigiert exemplarisch Boulez, Berio und Lachenmann

Diesmal – ungewohnt an einem Samstag: 22. März – leitete Simon Rattle „sein“ musica viva Konzert der Saison im Herkulessaal, das ausschließlich älteren Werken von Jubilaren des Jahres 2025 gewidmet war: Pierre Boulez‘ „Cummings ist der Dichter“, Luciano Berios „Laborintus II“ sowie Helmut Lachenmanns „Harmonica“ – mit dem Tubisten Stefan Tischler. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirkte auch wieder der Chor mit, teilweise solistisch.

Simon Rattle, Stefan Tischler, Helmut Lachenmann © Astrid Ackermann; BR

Im sehr gut besuchten Herkulessaal gab es letzten Samstag ein außergewöhnliches Symphoniekonzert der musica viva: zwar keine Uraufführung, dafür jedoch gleich drei Klassiker der Neuen Musik, die trotz ihres Nimbus eigentlich sehr selten gespielt werden. Damit sollten wohl deren Komponisten als Jubilare des Jahres 2025 besonders geehrt werden.

Cummings ist der Dichter (1970) von Pierre Boulez (1925–2016) war in München zuletzt 2016 im Prinzregententheater unter der Leitung George Benjamins zu hören – mit dem gerade noch bestehenden SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem SWR Vokalensemble. Damals erklang die Fassung mit 16 Solostimmen. Zum Glück hat sich Sir Simon Rattle für die dreifache Besetzung – bei den in der Partitur von 1986 als solchen gekennzeichneten Tutti-Passagen – entschieden, die dem Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung hierfür: Max Hanft) viel besser das nötige chorische Atmen bei den zahlreichen sehr lange liegenden Klängen in dieser Vertonung eines Gedichts des Amerikaners Edward Estlin Cummings erlaubt. Ebenso erreicht der bei diesem Stück ausnahmsweise ohne Taktstock dirigierende Sir Simon so eine deutlich bessere Balance mit dem nie aufdringlich werdenden Orchester. Und zum Glück betont er überhaupt nicht die vielen an- und abschwellenden Triller der Partitur, die den Rezensenten bei anderen Darbietungen auf Dauer nervten und an diesem Abend öfter als Ausschwingvorgänge verstanden werden. Rattle widmet sich mehr der Feindynamik innerhalb des höchst anspruchsvollen Chorsatzes und darf dem in dieser Hinsicht enorm selbstständigen Agieren seiner nur 27 Spieler des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks – ohne Schlagzeug! – voll vertrauen. Insgesamt erstaunt die Lebendigkeit, Natürlichkeit und Transparenz des Klanges dieser unter der Motorhaube freilich seriellen, zugleich irgendwie frühlingshaften Musik, die auch das Publikum anspricht.

Vielschichtiger und eher Musiktheater als ein konzertantes Werk, präsentiert sich Luciano Berios (1925–2003) gut halbstündiges Laborintus II von 1965, auf einen collage-ähnlichen Text Edoardo Sanguinetis, deutlich experimenteller. Eine Sprecherin – als Gast und nicht wirklich überzeugend: Marie Goyette – sowie aus dem Chor des BR drei singende Frauenstimmen und acht mit Sprechgesang im weitesten Sinne befasste Solisten (alle exzellent!) müssen sich also mit einem Dschungel an Texten – von der Bibel über Dante, Ezra Pound, T. S. Eliot und natürlich Sanguineti selbst – auseinandersetzen (Einstudierung: Stellario Fagone). Dazu kommt dann wiederum ein ähnlich dimensioniertes Orchester wie bei Boulez, diesmal allerdings mit äußerst effektivem Schlagzeug, plus ein 2-Kanal-Zuspielband. Für alle Stimmen fordert Berio Mikros, und einmal mehr schafft die Klangregie Norbert Ommers optimale Voraussetzungen für eine immer stimmige Balance, so dass Rattle hier souverän extrem unterschiedliche Klangräume bedienen kann. Vieles kommt aus historischen Kontexten mittelalterlicher Musik, aber dagegen gibt es gelenkte Aleatorik à la Lutosławski, wiederholte Patterns wie im Musical, eine Stelle mit Jazzimprovisationen, Agitprop der 1960er Jahre und dann im letzten Drittel noch das unerbittliche Tonband. Wie Rattle – völlig klar in seiner konzentrierten Zeichengebung – dieses komplexe Geflecht zu einem durchaus unterhaltsamen, faszinierenden Organismus verschmilzt, ist eine wirkliche Glanzleistung und weil Berio trotzdem immer auch eine Prise italienischen Humors einfließen ließ, letztlich echt begeisternd.

Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, hat neben einer gewissen Verweigerungsästhetik oft vermocht, klangliche Opulenz mit einer unglaublichen Palette ganz neuartiger Klänge des immer ganzheitlich betrachteten Instrumentariums zu erzeugen. Ein Musterbeispiel dafür ist Harmonica (1981/83): Nach der Pause spielt so das volle Orchester mit seinem praktisch durchgehend beschäftigtem Solo-Tubisten: Stefan Tischler. Man gönnt ihm natürlich, das Stück als eines der wenigen vorzeigbaren Konzerte für sein Instrument aufzufassen. Doch trotz der ungeheuren physisch-technischen Anforderungen, die Tischler sensationell bewältigt, der enormen Vielfalt an Spielanweisungen und Ausdruckscharakteren: Harmonica ist ebenso wenig ein Solokonzert im herkömmlichen Sinn wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das beim BRSO im Juni gespielt werden wird. Der Solist erscheint fast nie als Auslöser des gleichermaßen hochdifferenzierten Geschehens im Orchester, sondern eher als der neunmalkluge Kommentator im Hintergrund, der vielleicht sogar emotional vieles steuert, gleichzeitig jedoch hinterfragt. Lachenmann hat den Solopart übrigens nachträglich komponiert. Ein geistreiches Spiel und ein überwältigendes Klangbad, schon an der Grenze zur Überinstrumentierung, das jedoch zweifellos seinesgleichen sucht. Hier scheinen Rattle und sein Orchester endgültig in ihrem Element zu sein: Lachenmanns Musik hat, gerade auch wegen dessen kritischer Grundhaltung, nach über 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. Der Komponist, der am Schluss auf die Bühne kommt, und alle Mitwirkenden dürfen hochverdient minutenlangen Applaus entgegennehmen.

[Martin Blaumeiser, 23. März 2025]

Grace – The Music of Michael Tilson Thomas

Pentatone PTC 5187 355 (4 CDs & Buch)

EAN-Nr.: 8 717306 263559

Michael Tilson Thomas gehört zu den namhaftesten Dirigenten unserer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat Pentatone eine 4-CD-Edition veröffentlicht, die es ermöglicht, Tilson Thomas nun auch als Komponisten umfassend kennenzulernen.

Am 21. Dezember des vergangenen Jahres feierte Michael Tilson Thomas seinen 80. Geburtstag. Seit den Siebzigerjahren ist der Dirigent bekannt und beliebt – nicht nur in seiner amerikanischen Heimat. Sein Repertoire ist zwar vielfältig, aber auch von konkreten Vorlieben geprägt. Oper gehört nicht dazu, die Musik des Barock auch eher weniger. MTT, wie er von seinen Freunden und Fans genannt wird, hat sich vor allem in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts hervorgetan. Besonders die Werke amerikanischer Komponisten haben in Tilson Thomas einen ebenso begeisterten wie hochkompetenten Interpreten gefunden: Er ist bislang der Einzige, der das Gesamtwerk von Carl Ruggles einspielte, seine Ives-Einspielungen zählen zu den besten, die es auf dem Markt gibt, und auch die Musik Aaron Coplands, den er persönlich kannte, zählt zu seinen Spezialitäten: Im Juni 2022 brachte er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal Coplands Dritte Symphonie zur umjubelten Aufführung.

Leider wurde vor einigen Jahren ein bösartiger Gehirntumor beim Dirigenten festgestellt; nach Behandlungen ist er wiedergekehrt, und so wie es jetzt aussieht, wird MTT Ende April sein Abschiedskonzert mit des San Francisco Symphony Orchestra geben, dem er von 1995 bis 2020 als Chefdirigent vorstand.

Dass sich Michael Tilson Thomas immer auch als Komponist betätigte, ist allerdings zumindest außerhalb Amerikas nie so recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Daher hat die Firma Pentatone zu Tilson Thomas‘ 80. Geburtstag eine luxuriöse Box mit 4 CDs herausgegeben, auf der zumindest ein großer Teil seiner Musik vertreten ist. Und nicht nur das: Die Box kommt in Form eines luxuriösen Buchs daher, in dem sich zahlreiche Fotografien, Kommentare und Einführungstexte finden, letztere meist von Tilson Thomas selbst. Die Qualität dieser Hommage ist kaum zu übertreffen – das betrifft nicht nur die wunderschöne Aufmachung, sondern auch durchweg die Klangqualität und vor allem die Interpretationen: Natürlich ist zumeist MTT persönlich (als Dirigent) an ihnen beteiligt, und die diversen Solisten lesen sich wie ein Who is Who der Musikszene: Renee Fleming, Thomas Hampson, Jean-Yves Thibaudet und andere. Nicht zu vergessen sind sämtliche Gesangstexte mit abgedruckt. Ein tolles Geburtstagsgeschenk also.

Kommen wir nun wenigstens kurz zur Hauptsache der Box: Michael Tilson Thomas‘ Musik. Die meisten werden es schon ahnen: Wer hier Avantgarde europäischer Prägung erwartet, wird enttäuscht werden. Größtenteils bewegt sich Tilson Thomas auf dem Boden der Tonalität, und er hat auch keine Angst vor Polystilistik: Jazz, Broadway, Vaudeville: Alles taucht in den Stücken auf, und sei es nur ganz kurz. In ihrer Ablehnung jeder Form von Purismus erinnert diese Musik an die von Thomas‘ Kollegen wie André Previn und vor allem Leonard Bernstein, mit dem er auch befreundet war.

Einige kurze Stücke sind Musikerfreunden gewidmet – nicht zuletzt das Lied Grace, das der Sammlung ihren Namen gab und Lenny Bernstein zugeeignet wurde. Oder (für mich einer der Glanzpunkte der Box) Symphony Cowgirl, ein echter Country-Song für Nancy Bechtle, die für das San Francisco Symphony Orchestra arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, MTT in die Stadt zu holen; sie liebte Country Music, und dies ist ihr Abschiedsgeschenk.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tilson Thomas sich in (relativ) kleiner Form am glücklichsten äußerte: Dazu zählt das Orchesterstück Lope, das die Liebe des Komponisten zu Hunden thematisiert, die drei Klavierstücke Upon Further Reflection (hier gespielt von John Wilson) oder Urban Legend, ein kleines Konzert für Kontrafagott und Orchester, hier vorgetragen in einer Version für Bariton-Saxophon.

Zwei große Gesangszyklen (Poems of Emiliy Dickinson und Meditations on Rilke) finden sich ebenso wie Tilson Thomas‘ wohl bekannteste Komposition From the Diary of Anne Frank für Sprecherin und Orchester. Tilson Thomas schrieb dieses Stück für die Schauspielerin Audrey Hepburn, mit der er es auch uraufführte; Solistin der vorliegenden Aufnahme ist Isabel Leonard. Kurz gesagt: Wer sich für Michael Tilson Thomas interessiert, wird um die Box nicht herumkommen. Ein hochsympathischer Dirigent, Komponist und – Mensch.

[Thomas Schulz, März 2025]