Der Liedermeister Emil Mattiesen – ein Beitrag zu seinem 150. Geburtstag

1875 war ein exzellenter Komponisten-Jahrgang, weswegen wir 2025 die 150. Geburtstage einer ganzen Reihe hervorragender Tondichter feiern dürfen. Der Ehrentag Reinhold Gliéres (11. Januar) liegt bereits hinter uns. In den nächsten Monaten stehen – die Liste ist unvollständig, ich bitte um Ergänzung in der Kommentarspalte – folgende an:

Erkki Melartin und Walter Courvoisier (7. Februar)

Richard Wetz (26. Februar)

Maurice Ravel (7. März)

Franco Alfano (8. März)

Donald Tovey (17. Juli)

Samuel Coleridge-Taylor (15. August)

Paul Scheinpflug (10. September)

Mikalojus Ciurlionis (22. September)

Cyril Rootham (5. Oktober)

Emil Mattiesen (1875-1939)

Auch der heutige Tag kennt einen Jubilar: Emil Mattiesen. Mattiesen gehört zu jenen Komponisten, auf welche die Redakteure der zweiten Auflage des Lexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart meinten verzichten zu können. So strichen sie den ihm in der ersten Auflage gewidmeten Artikel ersatzlos. Das Ansehen, das der Komponist Mattiesen zu Lebzeiten und noch einige Zeit nach seinem 1939 erfolgten Tode genoss, war jedoch größer als es die Einschätzung jener Musikhistoriker vermuten lässt. Auf einem ganz anders gearteten Gebiet ist Emil Mattiesen allerdings ein klassischer Autor: Seine Bücher Der jenseitige Mensch (1925) und Das persönliche Überleben des Todes (3 Bände, 1936–1939) sind bis heute die umfangreichsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Parapsychologie geblieben.

Mattiesen war ein vielseitig interessierter Mann. Am 23. Januar (nach dem damals im Russischen Reich noch gebräuchlichen Julianischen Kalender am 11. Januar) 1875 in Dorpat geboren, wuchs er im intellektuell anregenden Klima dieser bedeutendsten baltischen Universitätsstadt auf, die auch heute noch, unter dem Namen Tartu, das wichtigste Bildungszentrum Estlands ist. Von Anfang an standen Musik, Philosophie und Naturwissenschaften gleichermaßen im Zentrum seines Interesses. Sein wichtigster Musiklehrer war Hans Harthan, ein Schüler Joseph Gabriel Rheinbergers. Mit 17 Jahren legte Mattiesen das Abitur ab und studierte anschließend in Dorpat und Leipzig. 1896 wurde er in Leipzig mit einer Arbeit Über philosophische Kritik bei Locke und Berkeley zum Doktor der Philosophie promoviert. Nach einem kurzen Intermezzo als Redakteur bei der Nordlivländischen Zeitung in Dorpat, heuerte er 1898 als Matrose auf einem Segelschiff an, das ihn nach Java, Sumatra, Borneo und China brachte. 1899 kam er nach Japan, wo er Vorlesungen an der Deutschen Universität in Kyoto hielt. Bereits 1900 setzte er seine Reisen fort und besuchte die Vereinigten Staaten, Mexiko, Indien, Myanmar und Tibet. Er lernte mehrere asiatische Sprachen und betrieb Forschungen zu indischen Religionen. 1904 ließ er sich in England nieder und lebte bis 1908 als Privatgelehrter in Cambridge. Anschließend zog er nach Deutschland und nahm in Berlin seinen Wohnsitz. Erst ab dieser Zeit trat seine musikalische Tätigkeit gegenüber der wissenschaftlichen stärker in den Vordergrund. Nachdem er von 1922 bis 1925 in Fürstenfeldbruck bei München gelebt hatte, fand er in Gehlsdorf, heute Ortsteil von Rostock, seine endgültige Bleibe. 1929 nahm er einen Lehrauftrag für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock an und bekleidete somit im Alter von 54 Jahren erstmals in seinem Leben ein musikalisches Amt. Daneben war er auch als Universitätsorganist und Leiter der akademischen Musiken, sowie als Musikkritiker beim Rostocker Anzeiger tätig. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich vorwiegend mit Parapsychologie und versuchte durch Zusammentragen zahlreicher Fälle das Weiterleben der Seele nach dem Tode empirisch zu beweisen. Emil Mattiesen starb am 25. September 1939 an Leukämie.

Als Komponist war Mattiesen ein ausgesprochener Spezialist. Sein veröffentlichtes Schaffen umfasst ausschließlich Werke für Gesang und Klavier. Dazu kommen laut MGG1 ein Streichquartett, mehrere Chorwerke, Orgelstücke und Bühnenmusik zu Ernst Barlachs Schauspiel Sintflut, die aber sämtlich ungedruckt blieben. Es folgt eine Übersicht über die veröffentlichten Werke, die alle im Verlag C. F. Peters erschienen, zu dessen Inhaber Henri Hinrichsen der Komponist auch privat in freundschaftlicher Verbindung stand:

  • Fünf Balladen vom Tode für Singstimme (vorzugsweise Bariton oder Mezzosopran) und Klavier op. 1 (1910)
  • Zwölf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 2 (Heft I, Nr. 1–6: mittel und hoch; Heft II, Nr. 7–12: tief) (1913)
  • Acht Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier op. 3 (Heft I, Nr. 1–4: mittel und hoch; Heft II, Nr. 5–8: mittel und tief)
  • Willkommen und Abschied nach Johann Wolfgang von Goethe für Tenor und Klavier op. 4
  • Künstler-Andachten, Heft I (Nr. 1–4) für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 5 (1920)
  • Künstler-Andachten, Heft II (Nr. 5–8) für mittlere und tiefe Singstimme und Klavier op. 6 (1920)
  • Vier heitere Lieder für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 7
  • Sieben Gesänge nach Gedichten von Ricarda Huch für Singstimme und Klavier op. 8 (Heft I, Nr. 1–3: hoch; Heft II, Nr. 4–7: mittel und tief) (1920)
  • Zwölf Liebeslieder des Hafis in Georg Friedrich Daumers Nachdichtung für Singstimme und Klavier op. 9 (1920)
  • Balladen von der Liebe für Singstimme und Klavier op. 10 (1920)
  • Stille Lieder, Heft I op. 11 (1922)
  • Stille Lieder, Heft II op. 12 (1922)
  • Zwiegesänge zur Nacht für eine weibliche und eine männliche Mittelstimme mit Klavierbegleitung op. 13 (1925)
  • Vom Schmerz. Fünf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 14 (1930)
  • Überwindungen. Sieben Gedichte für Singstimme und Klavier op. 15
  • Der Pilger. Ein Lieder-Zyklus für Singstimme und Klavier op. 16 (1928)
  • Acht zärtliche Lieder für Singstimme und Klavier op. 17 (1927)

Die Konzentration auf Lieder und Gesänge erinnert nicht von ungefähr an Hugo Wolf, mit dessen Schaffen Mattiesen durch den Wiener Liedkomponisten Theodor Streicher bekannt gemacht wurde. Sowohl hinsichtlich der genauen Deklamation des Textes, als auch im Bezug auf den motivisch durchdrungenen Klaviersatz und die postwagnerische Harmonik hat Wolf bei Mattiesen deutliche Spuren hinterlassen. Sein Debüt mit einer Balladensammlung brachte Mattiesen das Etikett eines ausschließlichen Balladenkomponisten ein, doch fallen nur zwei weitere seiner Veröffentlichungen (op. 4 und op. 10) in dieses Spezialgebiet der Liedkunst. Dennoch hat Mattiesens „reiche Lyrik“, so Hans Joachim Moser in seinem Standartwerk Das Deutsche Lied seit Mozart, „zweierlei von der Ballade gelernt und übernommen: die Freude am Illustrativen und die wirksamen Schlüsse, was beides der Wirkung seiner Lieder im Konzertsaal gewiß nicht abträglich war.“ Mattiesens Liedschaffen bietet eine Vielfalt an Stilen, Stimmungen und Formen. Altertümelndes, wie der sich in barockisierendem Kontrapunkt und bachischer Singstimmenführung ergehende Fröhliche Musikus (op. 7/2), steht neben schwelgerischer Jugendstilromantik (Nachtlied, op. 2/7) und kargen, konzentrierten Stücken, deren raue, dissonante Tonsprache bereits als expressionistisch bezeichnet werden kann (Herbstgefühl, op. 14/4). „[D]erselbe ernste Denker, der in op. 15 das Über ein Grab und Rückerts Stirb und Werde vertont hat, verfügte über drastische Komik im Huhn und Karpfen und bei Storms Von Katzen; sonnigen Humor beweisen die Vertonungen von G[ottfried] Kellers Berliner Pfingsten und von Mörikes Jedem das Seine […]“ (Moser). Kritisiert wurde mitunter Mattiesens Klaviersatz, der gerade in den Frühwerken durch quasi-orchestrale Klangfülle die Pianisten vor große Herausforderungen stellt. Allerdings macht sich in späteren Gesängen eine „wachsende Verfeinerung“ (Moser) in der Behandlung des Klaviers bemerkbar. Die Gesänge op. 17 zeichnen sich durch eine „Rückkehr zur Schlichtheit der Mittel“ (Dieter Härtwig, MGG1) aus.

Mattiesen geriet keineswegs mit seinem Tode in Vergessenheit. Noch Jahrzehnte später führten namhafte Sänger einzelne seiner Lieder im Repertoire. So existieren Aufnahmen Mattiesenscher Gesänge durch Richard Bonelli, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Kurt Moll und Harald Stamm (zwei Duette aus op. 13) sowie Ulf Bästlein. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass Mattiesen von der Wiederentdeckungswelle, von welcher zahlreiche vernachlässigte Komponisten gerade des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts profitierten, bislang kaum erfasst wurde. Der Grund ist weniger in der Qualität seiner Werke als in seiner Konzentration auf das Klavierlied zu sehen, lag der Schwerpunkt der Wiederentdeckungen in unseren Tagen doch vor allem auf symphonischer und Kammermusik. Eine ganz Emil Mattiesen gewidmete Tonträgeredition ist im Jahr seines 150. Jubiläums immer noch Desiderat. So sei also unseren Sängerinnen und Sängern dieses reiche Liedschaffen herzlich empfohlen. Sie werden darin manches Juwel zu Tage fördern können.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

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