Archiv für den Monat: Januar 2025

Der Liedermeister Emil Mattiesen – ein Beitrag zu seinem 150. Geburtstag

1875 war ein exzellenter Komponisten-Jahrgang, weswegen wir 2025 die 150. Geburtstage einer ganzen Reihe hervorragender Tondichter feiern dürfen. Der Ehrentag Reinhold Gliéres (11. Januar) liegt bereits hinter uns. In den nächsten Monaten stehen – die Liste ist unvollständig, ich bitte um Ergänzung in der Kommentarspalte – folgende an:

Erkki Melartin und Walter Courvoisier (7. Februar)

Richard Wetz (26. Februar)

Maurice Ravel (7. März)

Franco Alfano (8. März)

Donald Tovey (17. Juli)

Samuel Coleridge-Taylor (15. August)

Paul Scheinpflug (10. September)

Mikalojus Ciurlionis (22. September)

Cyril Rootham (5. Oktober)

Emil Mattiesen (1875-1939)

Auch der heutige Tag kennt einen Jubilar: Emil Mattiesen. Mattiesen gehört zu jenen Komponisten, auf welche die Redakteure der zweiten Auflage des Lexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart meinten verzichten zu können. So strichen sie den ihm in der ersten Auflage gewidmeten Artikel ersatzlos. Das Ansehen, das der Komponist Mattiesen zu Lebzeiten und noch einige Zeit nach seinem 1939 erfolgten Tode genoss, war jedoch größer als es die Einschätzung jener Musikhistoriker vermuten lässt. Auf einem ganz anders gearteten Gebiet ist Emil Mattiesen allerdings ein klassischer Autor: Seine Bücher Der jenseitige Mensch (1925) und Das persönliche Überleben des Todes (3 Bände, 1936–1939) sind bis heute die umfangreichsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Parapsychologie geblieben.

Mattiesen war ein vielseitig interessierter Mann. Am 23. Januar (nach dem damals im Russischen Reich noch gebräuchlichen Julianischen Kalender am 11. Januar) 1875 in Dorpat geboren, wuchs er im intellektuell anregenden Klima dieser bedeutendsten baltischen Universitätsstadt auf, die auch heute noch, unter dem Namen Tartu, das wichtigste Bildungszentrum Estlands ist. Von Anfang an standen Musik, Philosophie und Naturwissenschaften gleichermaßen im Zentrum seines Interesses. Sein wichtigster Musiklehrer war Hans Harthan, ein Schüler Joseph Gabriel Rheinbergers. Mit 17 Jahren legte Mattiesen das Abitur ab und studierte anschließend in Dorpat und Leipzig. 1896 wurde er in Leipzig mit einer Arbeit Über philosophische Kritik bei Locke und Berkeley zum Doktor der Philosophie promoviert. Nach einem kurzen Intermezzo als Redakteur bei der Nordlivländischen Zeitung in Dorpat, heuerte er 1898 als Matrose auf einem Segelschiff an, das ihn nach Java, Sumatra, Borneo und China brachte. 1899 kam er nach Japan, wo er Vorlesungen an der Deutschen Universität in Kyoto hielt. Bereits 1900 setzte er seine Reisen fort und besuchte die Vereinigten Staaten, Mexiko, Indien, Myanmar und Tibet. Er lernte mehrere asiatische Sprachen und betrieb Forschungen zu indischen Religionen. 1904 ließ er sich in England nieder und lebte bis 1908 als Privatgelehrter in Cambridge. Anschließend zog er nach Deutschland und nahm in Berlin seinen Wohnsitz. Erst ab dieser Zeit trat seine musikalische Tätigkeit gegenüber der wissenschaftlichen stärker in den Vordergrund. Nachdem er von 1922 bis 1925 in Fürstenfeldbruck bei München gelebt hatte, fand er in Gehlsdorf, heute Ortsteil von Rostock, seine endgültige Bleibe. 1929 nahm er einen Lehrauftrag für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock an und bekleidete somit im Alter von 54 Jahren erstmals in seinem Leben ein musikalisches Amt. Daneben war er auch als Universitätsorganist und Leiter der akademischen Musiken, sowie als Musikkritiker beim Rostocker Anzeiger tätig. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich vorwiegend mit Parapsychologie und versuchte durch Zusammentragen zahlreicher Fälle das Weiterleben der Seele nach dem Tode empirisch zu beweisen. Emil Mattiesen starb am 25. September 1939 an Leukämie.

Als Komponist war Mattiesen ein ausgesprochener Spezialist. Sein veröffentlichtes Schaffen umfasst ausschließlich Werke für Gesang und Klavier. Dazu kommen laut MGG1 ein Streichquartett, mehrere Chorwerke, Orgelstücke und Bühnenmusik zu Ernst Barlachs Schauspiel Sintflut, die aber sämtlich ungedruckt blieben. Es folgt eine Übersicht über die veröffentlichten Werke, die alle im Verlag C. F. Peters erschienen, zu dessen Inhaber Henri Hinrichsen der Komponist auch privat in freundschaftlicher Verbindung stand:

  • Fünf Balladen vom Tode für Singstimme (vorzugsweise Bariton oder Mezzosopran) und Klavier op. 1 (1910)
  • Zwölf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 2 (Heft I, Nr. 1–6: mittel und hoch; Heft II, Nr. 7–12: tief) (1913)
  • Acht Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier op. 3 (Heft I, Nr. 1–4: mittel und hoch; Heft II, Nr. 5–8: mittel und tief)
  • Willkommen und Abschied nach Johann Wolfgang von Goethe für Tenor und Klavier op. 4
  • Künstler-Andachten, Heft I (Nr. 1–4) für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 5 (1920)
  • Künstler-Andachten, Heft II (Nr. 5–8) für mittlere und tiefe Singstimme und Klavier op. 6 (1920)
  • Vier heitere Lieder für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 7
  • Sieben Gesänge nach Gedichten von Ricarda Huch für Singstimme und Klavier op. 8 (Heft I, Nr. 1–3: hoch; Heft II, Nr. 4–7: mittel und tief) (1920)
  • Zwölf Liebeslieder des Hafis in Georg Friedrich Daumers Nachdichtung für Singstimme und Klavier op. 9 (1920)
  • Balladen von der Liebe für Singstimme und Klavier op. 10 (1920)
  • Stille Lieder, Heft I op. 11 (1922)
  • Stille Lieder, Heft II op. 12 (1922)
  • Zwiegesänge zur Nacht für eine weibliche und eine männliche Mittelstimme mit Klavierbegleitung op. 13 (1925)
  • Vom Schmerz. Fünf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 14 (1930)
  • Überwindungen. Sieben Gedichte für Singstimme und Klavier op. 15
  • Der Pilger. Ein Lieder-Zyklus für Singstimme und Klavier op. 16 (1928)
  • Acht zärtliche Lieder für Singstimme und Klavier op. 17 (1927)

Die Konzentration auf Lieder und Gesänge erinnert nicht von ungefähr an Hugo Wolf, mit dessen Schaffen Mattiesen durch den Wiener Liedkomponisten Theodor Streicher bekannt gemacht wurde. Sowohl hinsichtlich der genauen Deklamation des Textes, als auch im Bezug auf den motivisch durchdrungenen Klaviersatz und die postwagnerische Harmonik hat Wolf bei Mattiesen deutliche Spuren hinterlassen. Sein Debüt mit einer Balladensammlung brachte Mattiesen das Etikett eines ausschließlichen Balladenkomponisten ein, doch fallen nur zwei weitere seiner Veröffentlichungen (op. 4 und op. 10) in dieses Spezialgebiet der Liedkunst. Dennoch hat Mattiesens „reiche Lyrik“, so Hans Joachim Moser in seinem Standartwerk Das Deutsche Lied seit Mozart, „zweierlei von der Ballade gelernt und übernommen: die Freude am Illustrativen und die wirksamen Schlüsse, was beides der Wirkung seiner Lieder im Konzertsaal gewiß nicht abträglich war.“ Mattiesens Liedschaffen bietet eine Vielfalt an Stilen, Stimmungen und Formen. Altertümelndes, wie der sich in barockisierendem Kontrapunkt und bachischer Singstimmenführung ergehende Fröhliche Musikus (op. 7/2), steht neben schwelgerischer Jugendstilromantik (Nachtlied, op. 2/7) und kargen, konzentrierten Stücken, deren raue, dissonante Tonsprache bereits als expressionistisch bezeichnet werden kann (Herbstgefühl, op. 14/4). „[D]erselbe ernste Denker, der in op. 15 das Über ein Grab und Rückerts Stirb und Werde vertont hat, verfügte über drastische Komik im Huhn und Karpfen und bei Storms Von Katzen; sonnigen Humor beweisen die Vertonungen von G[ottfried] Kellers Berliner Pfingsten und von Mörikes Jedem das Seine […]“ (Moser). Kritisiert wurde mitunter Mattiesens Klaviersatz, der gerade in den Frühwerken durch quasi-orchestrale Klangfülle die Pianisten vor große Herausforderungen stellt. Allerdings macht sich in späteren Gesängen eine „wachsende Verfeinerung“ (Moser) in der Behandlung des Klaviers bemerkbar. Die Gesänge op. 17 zeichnen sich durch eine „Rückkehr zur Schlichtheit der Mittel“ (Dieter Härtwig, MGG1) aus.

Mattiesen geriet keineswegs mit seinem Tode in Vergessenheit. Noch Jahrzehnte später führten namhafte Sänger einzelne seiner Lieder im Repertoire. So existieren Aufnahmen Mattiesenscher Gesänge durch Richard Bonelli, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Kurt Moll und Harald Stamm (zwei Duette aus op. 13) sowie Ulf Bästlein. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass Mattiesen von der Wiederentdeckungswelle, von welcher zahlreiche vernachlässigte Komponisten gerade des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts profitierten, bislang kaum erfasst wurde. Der Grund ist weniger in der Qualität seiner Werke als in seiner Konzentration auf das Klavierlied zu sehen, lag der Schwerpunkt der Wiederentdeckungen in unseren Tagen doch vor allem auf symphonischer und Kammermusik. Eine ganz Emil Mattiesen gewidmete Tonträgeredition ist im Jahr seines 150. Jubiläums immer noch Desiderat. So sei also unseren Sängerinnen und Sängern dieses reiche Liedschaffen herzlich empfohlen. Sie werden darin manches Juwel zu Tage fördern können.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

Franz Schmidts 150. Geburtstag – Bericht von der Jubiläumsfeier der Musikschule Perchtoldsdorf

2024 ist vorüber, und damit das Jahr, in welches Franz Schmidts 150. Geburtstag fiel. Im April 2024 hatte ich ein Konzert in Perchtoldsdorf bei Wien besucht und in der Besprechung desselben angemerkt, dass, was das Gedenken an Schmidt betrifft, der Vorort der Hauptstadt den Rang abgelaufen hat. Diese Formulierung hat ihre Gültigkeit behalten. In Wien, dem Hauptwirkungsort des Komponisten, tat sich seitdem nichts, was einen Grund geliefert hätte, an ihr etwas zu ändern.

In der südwestlich an Wien angrenzenden Marktgemeinde Perchtoldsdorf, wo Schmidt seit 1926 lebte, hat man es sich dagegen nicht nehmen lassen, den Komponisten angemessen zu ehren. Nicht weniger als zwölf Veranstaltungen hat die im Ort ansässige Franz Schmidt-Musikschule im vergangenen Jahr durchgeführt. Den krönenden Abschluss fand die Reihe am 22. Dezember 2024, dem Tag, an dem sich der Geburtstag des Meisters zum 150. Male jährte. Die musikalisch reich ausgestattete Geburtstagsfeier im Franz Szeiler-Saal der Musikschule war eine durchaus internationale Veranstaltung, denn sie führte, sowohl was die Mitwirkenden, als auch was die Gäste betraf, Freunde des Schmidtschen Schaffens aus mehreren Ländern zusammen.

Durch den Abend führten die Leiterin der Musikschule, Maria Jenner, und der britische Dirigent Jonathan Berman, dessen Gesamtaufnahme der Symphonien Schmidts auf diesen Seiten besprochen wurde (siehe auch das Interview mit Jonathan Berman). Auf unterhaltsame Weise verknüpften sie, teils auf Deutsch, teils auf Englisch, die einzelnen Musikbeiträge, dabei immer wieder Episoden aus Schmidts Leben einflechtend. Im Publikum saßen mehrere Nachkommen von Schülern oder Freunden Franz Schmidts. Auch unter den Musikern fand sich mit dem Cellisten Wolfgang Panhofer der Sohn eines Schmidt-Schülers (des Pianisten Walter Panhofer). Gemeinsam mit dem Pianisten Michael Capek spielte er sehr idiomatisch zwei der Drei kleinen Fantasiestücke nach ungarischen Nationalmelodien, die das älteste Werk Schmidts sind, das dieser als gültig betrachtete. Franz Schmidts einziger noch lebender Enkel, der Schauspieler August Zirner, der sich abseits von Film und Bühne als Flötist betätigt, konnte leider nicht persönlich an der Veranstaltung teilnehmen, hatte aber im Vorfeld ein Video aufgenommen, das nun als Gruß an die Anwesenden gezeigt wurde: Gemeinsam mit vier Schülerinnen der Musikschule (Marlene Stralz, Elisabeth Stix, Anna Dockner und Nevena Vaz Gomes Bairrada) spielte Zirner das Thema des Variationssatzes aus der Zweiten Symphonie seines Großvaters in einer Bearbeitung für vier Flöten und Kontrabass.

Schmidt, der zu den besten Pianisten seiner Zeit gehörte, fühlte sich vom Klang des Klaviers nicht zum Komponieren angeregt, hat aber auf Bestellung des einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein das Repertoire für die linke Hand mit konzertanten, kammermusikalischen und solistischen Meisterwerken reich bedacht. Für Klavier zu zwei Händen schrieb er nur ein einziges Stück: die Romanze aus dem Jahr 1922. Als Geschenk für seinen Trauzeugen verfasst, geriet es dem Komponisten „aus den Augen, aus dem Sinn“ und wurde erst lange nach seinem Tod gedruckt. Der Churer Domkapellmeister Andreas Jetter, der als Organist gerade an einer Gesamteinspielung der Schmidtschen Orgelmusik arbeitet, war genau der richtige Mann darauf hinzuweisen, welche Qualitäten in dem kurzen Werk stecken, dessen Glockenimitationen eine überraschende Brücke zur Klangwelt Debussys schlagen. Auch der schweizerische Pianist Karl Andreas Kolly hat sich für Schmidt eingesetzt und eine CD aufgenommen, wozu er aufgrund des Mangels an zweihändigen Originalkompositionen mehrere Orgelstücke für Klavier übertrug. Die Stärken des Klaviers geschickt nutzend, gab Kolly mit dem Choralvorspiel über O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen aus den Vier kleinen Choralvorspielen von 1927 eine überzeugende Kostprobe seiner Arbeit. Da der Franz Szeiler-Saal auch über eine kleine Orgel verfügt, konnte durch Stefan Donner, dessen wunderbare Darbietung der C-Dur-Toccata in der Perchtolsdorfer Kirche St. Augustin dem Verfasser dieser Zeilen noch in guter Erinnerung war, auch dieser Teil des Schmidtschen Schaffens präsentiert werden. Diesmal spielte Donner Präludium und Fuge A-Dur von 1934.

Dass die Musikausbildung in Perchtoldsdorf in den Händen fähiger Kräfte liegt, davon zeugte die Aufführung des langsamen Satzes aus dem für Paul Wittgenstein komponierten Klavierquintett G-Dur, zu welcher sich Robert Neumann (Violine), Thomas Kristen (Violoncello) und Michael Capek (Klavier), die als Lehrer an der Franz Schmidt-Musikschule wirken, mit der Schülerin Mirjam Österreicher (Viola) und Eri Ota-Melkus, Violinistin im Streichquartett Wien-Tokyo, zu einem gut miteinander harmonierenden Ensemble zusammentaten. Als eine Begabung, die zu großen Hoffnungen Anlass gibt, erwies sich die zwölfjährige Pianistin Agnes Krenn. Sie trug ein gerade erst anlässlich des Schmidt-Jubiläums entstandenes Werk des österreichischen Komponisten Florian C. Reithner (*1984) vor. Reithner hat diesem Madrigal ein Thema Schmidts zugrunde gelegt, aber nicht verraten, um welches es sich handelt. Da er Schmidt nie wörtlich zitiert, muss man sich beim Versuch, die Frage zu klären, an Assoziationen halten. Ich habe den Eindruck, dass es sich um das Thema des Lammes aus dem Buch mit sieben Siegeln handelt. Einmal davon abgesehen ist das Stück, das stilistisch viel mehr an Olivier Messiaen als an Schmidt erinnert, eine schätzenswerte Arbeit eigenen Rechts und macht neugierig auf weitere Musik seines Autors.

Der Abend, der mit dem Beginn der Ersten Symphonie in Jonathan Bermans Aufnahme eingeleitet wurde, klang mit Schmidts unverwüstlicher Zugnummer, dem Intermezzo aus der Oper Notre Dame, ebenfalls in der von Berman dirigierten Einspielung, aus. Mit diesem gelungenen Abschluss ihres Gedenkprogramms darf die Franz Schmidt-Musikschule Perchtoldsdorf getrost für sich einen Ehrenplatz in der Rezeption ihres Namensgebers im Jahr seines 150. Geburtstags beanspruchen.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

Fabian Enders‘ Gesamtaufnahme von Beethovens „Egmont“

Querstand, VKJK2406; EAN:4025796024067

Die Filharmonie Brno hat unter der Leitung von Fabian Enders bei Querstand eine Gesamteinspielung von Ludwig van Beethovens Schauspielmusik op. 84 zu Johann Wolfgang von Goethes Tragödie Egmont vorgelegt. Als Sopransolistin ist Evelin Novak zu hören, als Rezitator der melodramatischen Abschnitte Klaus Mertens.

Von Beethovens Schauspiel-Musik zu Goethes Drama Egmont wird traditionell zwar meist nur die Ouvertüre aufgeführt, dies jedoch umso häufiger – sie ist ebenso unbestrittenes Meisterwerk wie „Hit“ der klassischen Musik. Über Jahrzehnte wurde die übrige Musik aus Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Drama Egmont hingegen sehr stiefmütterlich behandelt. Öffentlich aufgeführt wird das komplette Werk fast nie, eingespielt nur alle Jubeljahre einmal.

Zu Beethovens Geburtstagsjahr 2020 – geplant als feierliches Jubelfest und letztlich in den Wirren der Coronakrise unter seinen Möglichkeiten geblieben – änderte sich an diesem Umstand aber einiges: Binnen kurzer Frist wurde gleich eine Hand voll Egmonts neu auf CD veröffentlicht, sodass es zusammen mit den historischen Aufnahmen aktuell zehn verschiedene Einspielungen am Markt gibt, unter denen man komfortabel seinen Favoriten wählen kann.

Dirigent Fabian Enders legt nun mit der Filharmonie Brno in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk eine elfte Version beim Label Querstand vor – dies als Ergebnis eines Live-Mitschnitts aus der Potsdamer Friedenskirche vom 19. 11. 2021. Enders hat sich für den Einbezug von Goethe-Textrezitation entschieden, sodass im Rahmen der Gesamtspielzeit dieses Albums immerhin etwa 15 von insgesamt 54:29 min. auf den Textanteil (durch die sonore Stimme von Klaus Mertens vorgetragen) entfallen.

Dabei hat Fabian Enders selbst eigens eine neue Textfassung entwickelt, in der (wie er im Booklet zur vorliegenden CD schreibt) „eine von der Notwendigkeit des Dialogischen gelöste Textgestaltung“ erreicht werden sollte, „die die Szenen gleichsam als Bilder und Bezugsmomente der Musik deutlich … und Motive der Handlung im Hintergrund schlüssig sichtbar werden lässt.“ Das ist zweifellos gut gelungen, und so lässt sich auch der Textanteil in dieser Produktion recht gut anhören, aber eigentlich sind wir ja wegen Beethoven hier.

Da ist Enders Herangehensweise zunächst überraschend: Im Gegensatz zu vielen modernen Beethoven-Deutungen, bei denen die Rolle des Komponisten als Musik-Revolutionär gerne besonders herausgekitzelt wird, indem gern schroffe Akzente und straffe Tempi gesetzt werden, kleidet Enders das übrigens wirklich gut disponierte mährische Orchester in einen samtigen Wohlklang – zumeist perfekt ausbalanciert und durchgehend klangschön.

Im Orchester gibt es allerdings erkennbar Solisten und Instrumentengruppen, die unzweifelhaft besser sind als andere. Besondere Erwähnung verdienen die schön samtigen Streicher, während die Holzbläser zuweilen angestrengt wirken. Die Solo-Oboe schießt dabei des Öfteren über das Ziel hinaus und stört die ansonsten gute Abstimmung.

Die Tempi sind durchweg recht bedächtig, was nicht weiter stört, wenn die innere Spannung gehalten werden kann. In einigen Nummern jedoch (z.B. „No. 3, Zwischenakt II“ oder „No. 7 Clärchens Tod bezeichnend“) würde man sich in der Tat etwas mehr Dynamik wünschen. Alles in allem ist die Interpretation aber so stimmig, dass man sich als Hörerin oder Hörer hier in eine regelrechte Wohlfühlstimmung eingleitet.

Die Gesangsdarbietungen lassen sich ebenfalls ganz auf diese Klangvision ein. Sopranistin Evelin Novak ist leider nicht optimal textverständlich, jedoch ist das nur ein kleiner Malus, denn ihr warmes, lyrisches Klang-Timbre entschädigt ausreichend dafür, dass man sich den Text der Lieder im Booklet zusammensuchen muss.

Das Melodram „Süßer Schlaf…“ ist ein Musterbeispiel für Enders‘ wirklich gute Aufführungs-Leitung: In optimalem Atem koexistieren hier Rezitator und Orchester. Auch die Balance innerhalb des Orchesters ist hier ganz wunderbar. Speziell dieses Stück wirkt auffällig gut eingeprobt. Rezitator Klaus Mertens hat zudem sichtliche Freude daran, sich in hymnischer, schwelgender Art diesem Relikt des frühesten 19. Jahrhunderts ganz hinzugeben.

Vom Aufnahmeklang gibt es Gutes zu berichten: Angenehm räumlich, ohne ein „zu viel“ an Hall. Ja, man nimmt diesem Klang den Live-Ursprung durchaus ab, während sich jedoch die Nebengeräusche, die Live-Aufnahmen manchmal mit sich bringen, auf ein Mindestmaß reduziert sind. Man sollte wohl noch anmerken, dass die als von Beethoven als „Siegessymphonie“ betitelte Schlussnummer in dieser Einspielung vom Schlussapplaus des Konzert-Publikums gefolgt ist (das ohrenscheinlich sehr zufrieden war).

Als Fazit lässt sich ziehen, dass wir es hier mit einer im besten Sinne unauffälligen Egmont-Aufnahme zu tun haben: statt Überbetonung von Extremen gibt es hier wohligen Schönklang und gute Orchesterleistungen – Ein Album zum „Am-Stück-Durchhören“. So etwas kann stellenweise etwas altmodisch wirken und ist gewiss nicht dazu angetan, „Originalklang“-Enthusiasten zu begeistern. Eher schon haben wir es hier mit einer modernen Alternative zu der in die Jahre gekommenen Karajan-Aufnahme von 1969 zu tun. Und das ist für manche ja vielleicht sogar die erfreulichere Nachricht als wenn dies die neueste Einspielung im Grenzbereich der aktuellsten Strömungen der historischen Aufführungspraxis wäre.

[René Brinkmann, Januar 2025]

Ein reines Boulez-Programm beim zweiten „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für die Freunde Neuer Musik wird 2025 in erster Linie wohl ein Boulez-Jahr. Aus Anlass dessen 100. Geburtstags (26. März) widmete die Ernst von Siemens Musikstiftung ihr zweites „räsonanz“ Stifterkonzert am 9. Januar 2025 ganz dem großen Franzosen und präsentierte dem Publikum im Münchner Prinzregententheater endlich auch das fantastische Ensemble Les Siècles, dessen schon lange geplanter Auftritt wegen der Corona-Pandemie weit verschoben werden musste. So erklangen nun unter der Leitung von Franck Ollu zwei der Hauptwerke von Pierre Boulez: „Éclat/Multiples“ und „Pli selon pli. Portrait de Mallarmé“. Für die anspruchsvolle Sopranpartie konnte Sarah Aristidou gewonnen werden.

Sarah Aristidou und Franck Ollu mit dem Ensemble Les Siècles ©BR/Severin Vogl

Pierre Boulez (1925–2016) zählt noch immer zu den wichtigsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde – völlig zu Recht, wie man am Donnerstag schon zur Pause des zweiten „räsonanz“ Stifterkonzerts im so gut wie ausverkauften Münchner Prinzregententheater feststellen durfte. Unter den meist in einem Atemzug genannten Zeitgenossen Xenakis, Berio, Nono, Ligeti und Stockhausen gilt Boulez vielleicht als der am verkopftesten agierende Intellektuelle, der zwar typische Techniken der 1950er Jahre wie den Serialismus aufgreift, jedoch zugleich mit geschickt gelenkter Aleatorik seine Musik sehr offen hält, zudem vielen Werken nie eine endgültige Fassung gab – Stichwort: work in progress –, sondern immer wieder daran weiterbastelte. Als Dirigent war Boulez spätestens ab Mitte der 1960er nicht nur einer der präzisesten Interpreten neuester Musik – seine manchmal als „Karate“ verspottete Schlagtechnik erwies sich als ungemein effektiv. Bei vielen modernen „Klassikern“ wie der Neuen Wiener Schule, Bartók und Strawinsky, insbesondere jedoch Ravel und Debussy wirkte er als Klangsensualist allererster Güte.

Die oft sehr vom instrumental hochdifferenzierten Schlagzeug dominierte, schon deshalb über Strecken leicht exotisch angehaucht klingende Musik Boulez‘ vermittelt sich dann auch dem Hörer überhaupt nicht über ihre oft mathematisch akribisch angelegten inneren Strukturen, sondern durch Raum, Resonanz, Hall und eben äußerst subtile und fantasievolle Farbmischungen. Éclat/Multiples (1970) entstand zunächst in zwei Etappen, wobei Multiples eine Art Erweiterung des ursprünglich für 15 Instrumentalisten geschriebenen Éclat (1965) darstellt, von der Besetzung her um 10 Bratschen erweitert. Sonst gibt es nur noch ein Cello in den Streichern. Abgesehen davon kann das Publikum schon optisch die beiden Abschnitte gut unterscheiden. In Éclat existieren weder durchgängige Metren noch Takte oder ein fixierbares Tempo, so dass der Dirigent – Franck Ollu, bereits in einem Konzert der musica viva 2023 mit dem BRSO ein überragend souveräner Leiter – hier wirklich jedes (!) einzelne Klangereignis dezidiert anzeigen muss. Bei Multiples gibt es streckenweise dann wieder Takt und Tempo: Der ungemein farbige, aber eben punktuelle Klang weicht dank der Bratschen stark auf und erscheint so insgesamt flächiger. Faszinierend sind die sich gegenseitig bespiegelnden Momente zwischen den einzelnen Orchestergruppen. Und kein Mensch merkt, dass Boulez dieses Werk ebenfalls nie wirklich beendet hat. Das von François-Xavier Roth gegründete, stets auf historisch korrekten Instrumenten spielende Orchester Les Siècles bewältigt all dies mit größter Konzentration, enormer Einigkeit mit dem Dirigenten, gerade was die Länge und den Nachhall einzelner Töne betrifft, und echter Sinnlichkeit – von wegen verkopft! Hier sind praktisch alle Musiker Solisten; besonderen Dank für eine gelungene Darbietung zollen Dirigent und Saal jedoch dem Pianisten, dem Bassetthorn sowie den Spielerinnen von Celesta und Cimbalom.

Pli selon pli. Portrait de Mallarmé (1957–1962) – vielleicht das wichtigste Werk des Komponisten – ist ebenso wieder in Boulez-typischer Manie mehrfach umgearbeitet worden, teils mit einschneidenden Veränderungen, zuletzt 2010/11, wo es mit Barbara Hannigan unter Boulez so hier aufgeführt wurde. Zum Glück entschieden sich Ollu und Les Siècles doch für die Fassung von 1989 – der letzte Satz Tombeau wirkte 2011 nicht nur nach Meinung des Rezensenten arg kastriert, worunter die symmetrisch angelegte Gesamtform spürbar litt. Wie der Komponist mit den revolutionär erratischen, hochästhetischen Texten des Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) arbeitet, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel: Das gut 65 Minuten dauernde Werk besteht aus 5 Sätzen. In allen wirkt auch eine Sopranistin mit, die jedoch in den beiden großbesetzten Ecksätzen – Don und Tombeau – eher eine untergeordnete, in den drei mehr kammermusikalisch angelegten Improvisations, die allerdings minutiös ausnotiert sind, klar die Hauptrolle spielt. Es gibt nur wenige Künstlerinnen, die dies so überzeugend schaffen wie Sarah Aristidou – seit erst wenigen Jahren eine der profiliertesten jungen Koloratursopranistinnen und wegen ihres besonderen Engagements für Neue Musik da längst ein Star. Ihre Stimme ist bis auf wenige tiefe Töne – Boulez‘ Partie hat einen irrwitzigen Umfang – immer tragfähig, dabei jedoch nie grell, verströmt stets Wärme und bringt vor allem ein gewaltiges Charisma herüber, wodurch Aristidous Gesang eben nie nur instrumental wirkt, sondern menschlich und überraschend natürlich. Der Hörer klebt quasi an ihren Lippen, die von sirenenhaftem Schmelz bis zum aggressiv Hässlichen quasi sämtliche Schattierungen hervorbringen, die man einer Stimme überhaupt zutrauen mag. Eine absolute Glanzleistung, obwohl dieses Stück die erste Begegnung der aus Paris stammenden Sängerin französisch-zypriotischer Herkunft mit Boulez‘ Musik ist. Zwar enttäuschte der berühmte erste Zwölftonakkord von Don etwas – der sollte eigentlich wie der Urknall reinhauen –, doch danach klangen die Musiker von Les Siècles schlicht überwältigend: egal, ob solistisch-kammermusikalisch oder als Teil des faszinierenden Gesamtklangs agierend. Ollu hat dies natürlich perfekt im Griff: Ohne Allüren dient er der Musik und hält die Spannung über das gesamte, tief beeindruckende Werk, das wieder mit besagtem Zwölftonakkord endet, diesmal mit durchschlagendem Effekt. Mehr kann man als Dirigent für Pierre Boulez nicht leisten. Riesiger Beifall für Aristidou, Les Siècles und Ollu. Und entgegen verbreiteter Meinungen in einigen Medien: Boulez‘ Musik ist nicht tot. Man muss nur ihre Schönheiten entdecken.

[Martin Blaumeiser, 10. Januar 2025]

30 Jahre Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e.V. – Bericht vom Symposium 2024

[Anmerkung des Verfassers: Der folgende Text ist ein Bericht über das zweitägige musikwissenschaftliche Symposium, das die in Hamburg ansässige Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e. V. anlässlich des 30. Jahrestages ihrer Gründung im September 2024 veranstaltete. Der Verfasser ist selbst Mitglied der Gesellschaft und hielt im Rahmen dieses Symposiums einen Vortrag. Im Anschluss daran schrieb er auf Bitten der Organisatoren einen Bericht, um in knapper Form den Inhalt der Veranstaltung festzuhalten. Ursprünglich war angedacht, den Text an eine im Druck erscheinende Musikzeitschrift zur Veröffentlichung zu geben. Nachdem die Zeitschrift Bedenken angemeldet hatte, da es sich bei dem Verfasser um einen der Mitwirkenden handelte, entschied selbiger in Übereinstimmung mit den Organisatoren des Symposiums, das Maß voll zu machen und zur Personalunion von Teilnehmer und Verfasser noch die des Herausgebers hinzuzufügen. Ich betrachte die folgenden Zeilen als Bericht. Wenn er gelegentlich den Charakter einer Rezension, gar einer zustimmenden, annimmt, so geschieht dies in Anerkennung der wissenschaftlichen, künstlerischen und organisatorischen Leistungen meiner geschätzten Kolleginnen und Kollegen. N.F. Schuck, Januar 2025]

Seit 30 Jahren pflegt die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft das Andenken zweier Komponisten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf das Musikleben Hamburgs ausübten: Ferdinand Pfohl (1862–1949) und Felix Woyrsch (1860–1944). Einander in gegenseitiger Wertschätzung verbunden, waren sie sehr verschiedene Künstler. Pfohl, der in einem impressionistischen Stil vorrangig Lieder, Klavierwerke und orchestrale Programmmusik schuf, war zugleich ein Virtuose des Wortes und als solcher einer der einflussreichsten Musikkritiker seiner Generation. Diese Tätigkeit ließ ihn zeitweise als schöpferischen Musiker verstummen, sodass die meisten seiner Kompositionen entweder Früh- oder Alterswerke sind. Im Gegensatz zu Pfohl geizte Woyrsch mit verbalen Äußerungen, sodass wir über seine Persönlichkeit wenig wissen. Sein Lebensmittelpunkt war Altona, die einst selbstständige Nachbarstadt, die erst nach Hamburg eingemeindet wurde, als ihr Städtischer Musikdirektor Woyrsch bereits in den Ruhestand getreten war. Neben seinem über vierzigjährigem Wirken als Kirchenmusiker und Leiter der Altonaer Singakademie gelang es ihm, erstmals in Altona regelmäßige Symphoniekonzerte zu etablieren. Sein kompositorisches Werk, im klassischen Gattungskanon verankert, ist sehr breit gefächert, wobei sich mit der Zeit der Schwerpunkt von Opern, Oratorien, Chören und Liedern auf Kammermusik und Symphonik verlagert und die Harmonik herber und kühner wird.

Anlässlich ihres 30. Gründungstages veranstaltete die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft am 20. und 21. September 2024 in Kooperation mit dem KomponistenQuartier Hamburg im Lichtwarksaal der Carl-Toepfer-Stiftung ein wissenschaftliches Symposium. Zwischen den beiden Vortragsreihen gaben der Sänger Johannes Wedeking (Bass) und die Pianistin Tatjana Dravenau einen Liederabend mit Werken beider Komponisten.

Der erste Tag des Symposiums war Woyrsch gewidmet. Andreas Dreibrodt (Neumünster), Pionier in der Erforschung des Woyrsch-Nachlasses, beschrieb die Rezeptionsgeschichte der Musik des Komponisten, ihr allmähliches Verschwinden aus dem Repertoire und die zunehmende Beachtung, die ihr seit der Wiederaufführung des Oratoriums Da Jesus auf Erden ging anlässlich des 800. Hamburger Hafengeburtstags 1989 zuteil wird. Einen entscheidenden Wendepunkt bedeutete der 150. Geburtstag Woyrschs 2010. Seitdem hat die Repräsentation seines Schaffens auf Tonträgern und im Notendruck bedeutende Fortschritte gemacht. (Es folgte der Vortrag des Verfassers dieser Zeilen über die sechs zwischen 1908 und 1941 entstandenen Symphonien Woyrschs: eine Betrachtung hinsichtlich Form und Harmonik, sowie der stilistischen Entwicklung des Komponisten.) Cornelia Picej (Graz) und Hazal Akyaz (Linz) verfolgten die Rezeptionsgeschichte des Oratoriums Totentanz in Österreich. Der Totentanz, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg international erfolgreich und eines den meistgespielten deutschen Oratorien, erklang in Österreich bislang nur zweimal. Picej und Akyaz berichteten über die Hintergründe der Aufführungen 1926 in Linz unter Georg Wolfgruber (Vater) und 1949 in Wels unter Georg Wolfgruber (Sohn), wobei sie auch biographische Irrtümer über die beiden gleichnamigen Dirigenten aufklären konnten. Ein Vortrag über Woyrschs bedeutendsten Schüler Ernst Gernot Klussmann (1901–1975), Autor von zehn Symphonien und fünf Opern, beschloss den ersten Teil des Symposiums. Der Komponist Wolfgang-Andreas Schultz (Wedel), Schüler Klussmanns (und Ligetis), erzählte vom persönlichen Umgang mit seinem Lehrer, umriss dessen Biographie und schilderte die Entwicklung Klussmanns von einer post-brahmsischen Tonsprache bis zur Dodekaphonie. Besondere Aufmerksamkeit widmete er Klussmanns persönlicher Zwölftonmusik aus dreiklangsbasierten Reihen. Die späten Opern des Komponisten klingen trotz strengster Reihenkonstruktion auffallend geschmeidig, eher an Richard Strauss erinnernd als an Schönberg.

Die zweite, Pfohl gewidmete Vortragsreihe, wurde am folgenden Tag durch Andreas Willscher (Hamburg) mit einer Einführung in Pfohls kompositorisches Schaffen eröffnet. Willscher, selbst Komponist, hat die erste Biographie über Pfohl samt Werkverzeichnis verfasst und zahlreiche von dessen Werken bearbeitet. Anhand von Kompositionen verschiedener Gattungen beschrieb er Pfohls Klangideal, das stets ins Orchestrale tendiert, sowie seine Vorliebe für Synkopen und Nonakkorde. Tristan Eissing (Halle) widmete sich dem Musikkritiker Pfohl und analysierte mittels statistischer Auswertung von Stichproben aus über 800 Rezensionen, welche Schwerpunkte dieser in seinem Schreiben über musikalische Aufführungen setzte. Beispielsweise nahm in seinen Opernkritiken die genaue Beurteilung der stimmlichen Qualität und interpretatorischen Leistung der Sänger und vor allem der Sängerinnen den größten Raum ein, während er die Werke selbst meist nur dann besprach, wenn es sich um Neuheiten handelte. Pfohls Beziehungen zur Hasse-Gesellschaft in Hamburg-Bergedorf wurden von Wolfgang Hochstein (Geesthacht) ausführlich dargestellt. Mehr als ein Vierteljahrhundert in Bergedorf ansässig, hielt Pfohl seit 1913 Vorträge im Rahmen von Veranstaltungen der Gesellschaft, wobei sich diese Zusammenarbeit in den 1930er Jahren intensivierte. Auch wurden Geburtstagskonzerte zu Pfohls Ehren durchgeführt. Da ein Großteil dieser Aktivitäten in die Zeit des Nationalsozialismus fällt, widmete sich Hochstein auch dem Verhältnis Pfohls zu den damaligen Machthabern. Zwar hat sich Pfohl als Bewunderer Wagners positiv zur Förderung der Bayreuther Festspiele durch die Nationalsozialisten geäußert, doch waren ihm, seit er 1933 in einem Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags von Brahms dessen jüdische Freunde und Vorliebe für Zigeunermusik hervorgehoben hatte, Auftritte im Rundfunk untersagt. Als Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie kann Pfohl jedenfalls nicht bezeichnet werden. Johannes Wedeking (Haan), der Sänger des Liederabends, berichtete von dem Fund Pfohlscher Liedmanuskripte im Deutschen Literaturarchiv Marbach, der die Geschichte der „Halkyonischen Akademie für unangewandte Wissenschaften“ erhellt, einem von dem Dichter Otto Erich Hartleben gegründeten Künstlerbund. Die Manuskripte, darunter auch bislang unbekannte Lieder, belegen die enge Zusammenarbeit Pfohls und Hartlebens bei der Entstehung der Mondrondels auf Texte aus Hartlebens Nachdichtung von Girauds Pierrot Lunaire. Der letzte Vortrag stammte von Simon Kannenberg (Detmold), dem Anreger und Hauptorganisator des Symposiums, und befasste sich mit der Rhapsodie Twardowsky für Mezzosopran, Männerchor und Orchester, die u. a. von Max Reger geschätzt und aufgeführt wurde. Neben einer Einführung in den Sagenkreis um den „polnischen Faust“ Twardowsky, stellte Kannenberg das Werk ausführlich vor und ging seiner Aufführungsgeschichte nach, die 1932 mit einer Darbietung im Hamburger Rundfunk (vorläufig?) endete.

Der Liederabend, der nach Ende der ersten Vortragsfolge die Überleitung von Woyrsch zu Pfohl bildete, machte nicht nur die verschiedenen Ansätze beider Komponisten in ihren Liedkompositionen deutlich, sondern beeindruckte auch durch das ungewöhnliche Unterhaltungstalent Johannes Wedekings, der zwischen den Liedvorträgen geistreiche, leichtfüßig vorgetragene Überleitungen voller kulturgeschichtlicher und philosophischer Anspielungen einflocht.

Eine Veröffentlichung der auf dem Symposium gehaltenen Vorträge ist geplant.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2024]