Archiv für den Monat: Dezember 2024

Weihnachtliche Idyllen und Gefängnisgeschichten: Tiroler Weihnachtskonzert 2023

MusikMuseum 73, CD 13072; EAN: 9079700700696

In der Reihe MusikMuseum ist der Mitschnitt des Tiroler Weihnachtskonzerts 2023 herausgekommen. Chor und Orchester der Akademie St. Blasius musizieren gemeinsam mit den Gesangssolisten Stefanie Steger, Eva Schöler, Johannes Puchleitner und Stefan Zenkel unter der Leitung von Karlheinz Siessl Werke von Karl Pembaur, Robert Führer, Carl Santner, Richard Wagner und Franz Xaver Gruber.

Das Tiroler Weihnachtskonzert der Akademie St. Blasius kann mittlerweile als Traditionsveranstaltung gelten. Seit 2012 ist jedes Weihnachtskonzert des in Innsbruck ansässigen Chor- und Orchestervereins mitgeschnitten und auf CD veröffentlicht worden. (Nur 2020 konnte infolge der Covid-19-Restriktionen kein Konzert stattfinden.) Bestanden die ersten dieser Konzerte ausschließlich aus Weihnachtsliedern, die von einem Vokalquartett vorgetragen wurden, so gesellten sich 2014 erstmals Chor und Orchester der Akademie St. Blasius unter ihrem Dirigenten Karlheinz Siessl hinzu, von denen die Konzerte seit 2016 durchgängig bestritten werden. Seit 2019 erscheinen die Mitschnitte in der CD-Reihe MusikMuseum der Tiroler Landesmuseen.

In den Programmen der Tiroler Weihnachtskonzerte zeigt sich nahezu jedes Jahr ein anderer Schwerpunkt. So sind mehrere Alben dem reichen Musikleben der Tiroler Klöster gewidmet und stellen jeweils Werke vor, die im Bestand der betreffenden Klöster überliefert sind. 2019 stand der böhmische Komponist Johann Zach (1713–1773) im Mittelpunkt, der enge Kontakte nach Tirol pflegte und in zahlreichen Kirchen- und Klosterarchiven seine Spuren hinterlassen hat. 2019 kamen mit Franz Baur (*1958) und Elias Praxmarer (*1994) erstmals zeitgenössische Tiroler Komponisten zu Wort.

Das Weihnachtskonzert 2023, dessen Aufzeichnung vor kurzem als Folge 73 des MusikMuseums herausgekommen ist, präsentiert – abgesehen von Franz Xaver Grubers Stille Nacht, heilige Nacht, mit welchem die Konzerte traditionell schließen – Werke aus dem mittleren 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Auswahl ist weniger auf Tirol zentriert als in früheren Veröffentlichungen, sondern betont eher den kulturellen Austausch der Region mit dem übrigen Österreich bzw. mit Deutschland. Bezeichnenderweise entstand die einzige Komposition eines gebürtigen Tirolers, Karl Pembaurs Weihnachtsmesse G-Dur op. 18, in Dresden.

Zwei kurze Stücke mit Orchesterbegleitung machen mit der kirchlichen Gebrauchsmusik bekannt, wie sie um 1850 in ganz Österreich gepflegt wurde. Die beiden Komponisten, der Salzburger Carl Santner (1819–1885) und der in Prag geborene Robert Führer (1807–1861), der nach einem Wanderleben durch Bayern und Oberösterreich in Wien starb, gehörten zu den seinerzeit beliebtesten Schöpfern gut gesetzter, einfach auszuführender Kirchenmusik. Führers Chor Mit süßem Freudenschalle und Santners Sopransolo mit Chorrefrain Jesus an der Krippe orientieren sich deutlich an Mozart, den erst der Cäcilianismus aus seiner Stellung als allgemein anerkanntes Vorbild der österreichischen Kirchenkomponisten drängte. Bei Führer kommt noch ein starker Einfluss alpenländischer Pastoralmusik hinzu. Führer und Santner sind übrigens durch eine biographische Konstellation verbunden, die in der Musikgeschichte nicht allzu häufig sein dürfte: Nachdem Führer seine Stellung als Domkapellmeister in Prag wegen eines Betrugsvorfalls verloren hatte, kam er, zunehmend verarmend, immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt und saß 1859 im oberösterreichischen Garsten eine Haftstrafe ab. Carl Santner, im Brotberuf Staatsbeamter, wirkte dort als Gefängnisdirektor und nutzte die Gelegenheit, sich bei seinem prominenten Gefangenen im Tonsatz weiterzubilden.

Das umfangreichste Werk des Programms ist die bereits erwähnte Weihnachtsmesse für Soli, Chor, Orchester und Orgel von Karl Pembaur aus dem Jahre 1915. Als Sohn des Komponisten Josef Pembaur und Bruder des gleichnamigen Pianisten gehörte der 1876 geborene Karl Pembaur zu einer der bedeutendsten Musikerfamilien Tirols. Wie Vater und Bruder studierte er in München, dann ging er 1901 nach Dresden, wo er zunächst als Hoforganist, ab 1913 als Direktor der Hofkirchenmusik wirkte. Bis zu seinem Tode 1939 blieb er in der sächsischen Hauptstadt, wo auch seine bedeutendsten Werke entstanden. Pembaur komponierte nahezu ausschließlich Vokalmusik, widmete sich auf diesem Gebiet allerdings den verschiedensten Gattungen und Besetzungen vom Klavierlied bis zum Oratorium. Unter seinen größeren Werken befinden sich mindestens sechs Messen, die sich hinsichtlich des Umfangs und der Besetzung teils deutlich voneinander unterscheiden. Die Weihnachtsmesse ist nicht nur dem Namen nach für Weihnachten bestimmt: Pembaur verwendet hier neben den Texten des Ordinariums auch das weihnachtliche Proprium, wobei er Introitus und Kyrie als ein zusammenhängendes Stück vertont und damit das Proprium untrennbar mit dem Ordinarium verknüpft. Das Orchesternachspiel der Communio, das den Anfang des Introitus zitiert, unterstreicht den zyklischen Gedanken. Mit einer Aufführungsdauer von rund einer halben Stunde ist das Werk relativ kurz. Es enthält auch keine Fugen. Allerdings denkt Pembaur durchaus polyphon, behandelt Chor und Soli abwechslungsreich und hüllt die Singstimmen in vielfarbig schimmernde Orchesterklänge. Oboensoli, Blechbläserchöre, hohe Violinen und eine sanft registrierte Orgel sorgen für weihnachtliche Stimmung. Der Stil der Messe lässt deutlich werden, dass Wagner und Bruckner für den Komponisten keine Unbekannten sind. Insbesondere im Qui tollis des Gloria und im Crucifixus des Credo zeigt Pembaur sich als inspirierter, spätromantischer Harmoniker. Zwischen Gloria und Graduale wurde bei der hier festgehaltenen Aufführung ein weiteres Werk Pembaurs eingeschoben: das kurze Duett Vor der Krippe für Sopran und Alt mit Orgelbegleitung, das mit seiner volksliedhaften Melodik zu einem pastoralen Intermezzo wird. Zur Aufführung selbst lässt sich nur ein Einwand anführen: Warum wurden im Gloria und Credo nicht die traditionellen Intonationsformeln gesungen, mit denen Pembaur doch sicherlich gerechnet hat?

Vor dem abschließenden Stille Nacht erklang ein reines Instrumentalwerk, das mit Weihnachten nur indirekt verknüpft ist, aber mit seiner anmutigen Tonsprache sehr gut in ein solches Programm passt: Richard Wagners Siegfried-Idyll. Diesen symphonischen Nachtrag zum dritten Teil der Ring-Tetralogie hatte Wagner für seine Frau Cosima komponiert und anlässlich ihres Geburtstags am 25. Dezember 1870 erstmals dirigiert. Siegfried ist nicht nur der Name der Oper, aus der das thematische Material der Tondichtung entlehnt wurde, sondern auch der des Sohnes von Richard und Cosima Wagner, der ein Jahr zuvor zur Welt gekommen war. Mithin wird, wie im Falle des Weihnachtsfestes, auch mit dem Siegfried-Idyll der Geburt eines bestimmten Kindes gedacht.

Karlheinz Siessl lässt Wagners Werk in festen Tempi musizieren, kostet die Ruhepunkte aus ohne sich in ihnen zu verlieren und betont die feine Polyphonie, die sich durch die ganze Komposition zieht. Der Kontrast zwischen der spannungsvollen Harmonik und dem „Verweile doch, du bist so schön!“ der freundlichen Themen kommt trefflich zur Geltung. Mit der gleichen Sorgfalt werden die Vokalwerke dargeboten, für die hochmotivierte Chorsänger und ausgezeichnete Solisten (Stefanie Steger, Eva Schöler, Johannes Puchleitner und Stefan Zenkel) zur Verfügung standen. Wer sich zu Weihnachten musikalisch bezaubern lassen möchte, tut nicht falsch daran, zu diesem Album zu greifen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2024]

Loops, Scherben und Whistleblower

Beim musica viva Konzert am 20. 12. 2024 im Münchner Herkulessaal war der Stargeiger Leonidas Kavakos zu Gast und spielte das 2. Violinkonzert „Scherben der Stille“ der diesjährigen Trägerin des Ernst von Siemens Musikpreises, Unsuk Chin. David Robertson leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks außerdem bei der Uraufführung von Bernhard Langs „GAME 18 Radio Loops“ und der deutschen Erstaufführung von Philippe Manourys „Anticipations“.

Leonidas Kavakos, Unsuk Chin, David Robertson, © BR-Astrid Ackermann

Nicht nur die Bühne im Herkulessaal stand – trotz einer nur 50er-Streicherbesetzung – mal wieder randvoll, vor allem mit einer breiten Palette an Schlaginstrumenten. Auch das Publikum war äußerst zahlreich erschienen, zudem sogar alle drei Komponisten des anspruchsvollen Programms, das vom amerikanischen „Neue Musik“-Experten und ehemaligen Boulez-Schüler David Robertson geleitet wurde.

Der Linzer Bernhard Lang (*1957) bezeichnete sich in der Einführung sogleich etwas ironisch, aber absolut zutreffend, als „Wiederholungstäter“. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich wohl kein Komponist so lange und intensiv mit dem Potential von Wiederholungen, gerade auch in Verbindung mit Live-Elektronik – Stichwort Loops – auseinandergesetzt. Lang verlangt für GAME 18 Radio Loops einen differenzierten Orchesterapparat aus praktisch individuellen Akteuren inklusive Synthesizer samt besonderer Lautsprecherinstallation in zwei Höhenebenen, großartig realisiert von Zoro Babel. Das Grundmaterial besteht – anlässlich des 75-jährigen Bestehens des BR – aus „Pausenzeichen“ (heute sagt man Jingles) nicht nur deutscher Rundfunkanstalten. Diese zerlegt Lang natürlich in seine atomaren Bestandteile, um daraus über etwa 40 Minuten eine faszinierend neue Klangwelt zu schaffen. Von den einzelnen Spielern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks erwartet der Komponist dabei in mehreren der – schon durch deutlich hörbare „Schnitte“ in der Beschallung – gut erkennbaren sieben Abschnitte ein Höchstmaß an Selbstverantwortung, da sie oft, wie aus einem Kartenspiel, das Material, das sie selbst konkret zum Klingen bringen wollen, quasi ziehen dürfen. Das knüpft – wenn auch mit viel weitgehenderer Freiheit – noch an die kontrollierte Aleatorik etwa Witold Lutosławskis an. Und so laufen längere Sequenzen völlig ohne Beteiligung des Dirigenten ab. Überraschend, dass das klangliche Ergebnis zwar undurchschaubar komplex, jedoch keinesfalls chaotisch wird, sondern – im Gegenteil – erstaunlich homogen. So gibt es eine durchaus witzig-groovige Passage, die nur vom Schlagwerk gestaltet wird; die Loops im Raum wandern teilweise in zwei gegenläufigen Kreisen rund um den Saal und erzeugen dann eine Art Weltraumatmosphäre usw. Im letzten Abschnitt generiert Lang u. a. naturnahe Geräusche. Da, wo Robertson eingreifen darf, gelingt ihm enorme Kontrolle. Der immer mit ausgesprochen freundlicher „Ansprache“ agierende Dirigent – schlagtechnisch sieht das bei Lang ähnlich „einfach“ aus wie bei Ligeti – kann trotz allem Klein-Klein in der Partitur vor allem präzise Charakterisierungen zustande bringen, die einfach Freude machen. Ganz am Schluss kommt dann – ausnahmsweise klar erkennbar – das BR-Sendezeichen, der Alte Peter. Große Zustimmung zu einem unerwartet kurzweiligen Werk.

Obwohl sie eigentlich „klassische“ Setups lieber meidet, hat sich die schon lange in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin, Trägerin des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreises, gerade mit ihren Instrumentalkonzerten einen Namen gemacht. Ihr zweites Violinkonzert „Scherben der Stille“ – Anfang 2022 vom Widmungsträger und Solisten des Abends, Leonidas Kavakos, mit dem LSO unter Simon Rattle aus der Taufe gehoben – beginnt mit absichtsvoll brüchigen Flageoletts der Geige. Der praktisch über die gesamten 29 Minuten hochaktive Solopart steht in seinem technisch-musikalischen Anspruch fraglos auf dem Niveau des Berg- oder des großen Pettersson-Konzerts. Chin sieht das Stück als Porträt Kavakos‘, ihn sogar als „Hausherr“ des Geschehens, dessen Emotionalität dabei immer in einen Dialog mit dem Orchester tritt, dort durchaus nicht ohne Konflikte weiterentwickelt wird. Oft berückend schön sind die feinen, unaufdringlichen Schlagzeugfarben, aber etwa ebenso ein Zwischenspiel von vier Solo-Violinen des BRSO, das schließlich zu einem intensiven Flautando von Kavakos mit allen hohen Streichern führt. Robertson bleibt immer glasklar, ohne Mätzchen, kann jedoch, wo nötig, abrupt körperlich ganz energische Impulse geben. Das Orchester bewältigt alles mustergültig. Der unerwartet dramatische Schluss wirkt fast wie eine Erlösung von gewaltiger Anspannung. Dieses Konzert hat offenkundig das Zeug, zu einem Klassiker zu werden – langanhaltender Beifall und Bravos, insbesondere für die Komponistin.

Philippe Manourys (*1952) großbesetzte Anticipations (2019) wirken von Beginn an überwältigend: fasslich dichte, geradezu wuchtige Dramatik. Um es mit Hans Werner Henze zu sagen: wilder, schöner – allerdings weniger neuer – Klang. Wie Langs Live-Elektronik arbeitet Manoury geschickt mit gelenkter Aleatorik und dem Raum: Hier in Gestalt von zwei Bläsergruppen, die als „Whistleblower“ mit einem „Choral“ – als Gegenentwurf zum Geschehen auf der Bühne – von der Rückseite des Herkulessaals aus in mehreren Etappen das Podium entern und schließlich im Orchester zwar die angestammten Plätze einnehmen, aber ihre manipulativen Eingriffe fortsetzen. Das übrige Orchester muss sich damit auseinandersetzen: Das geht, bildlich gesprochen, von Verschmelzung über Konfrontation bis zu Ablehnung. Manoury kann hinreißend für Orchester schreiben: Trotz ungeheurer Intensität wird letztlich alles zu modernem „Schönklang“. Man staunt nicht schlecht, wie sein Schluss – ebenfalls mit einem Tam-Tam-Schlag, hier noch gefolgt von zaghaften Zuckungen der Streicher – dem von Chins Konzert ähnelt. David Robertson führt mit seiner Lockerheit und Konzentration das BRSO zu einem geradezu symbiotischen Musizieren. Alle Mitwirkenden und das Publikum sind anscheinend für derartige, fast konventionelle Formate, die für eine gelungene Realisation zwingend die Qualitäten eines Weltklasse-Klangkörpers benötigen, gleichzeitig dessen Höchstleistung noch zu beflügeln scheinen, sehr dankbar.

[Martin Blaumeiser, 22. Dezember 2024]

Zum 150. Geburtstag: Das Vokalwerk von Franz Schmidt

Notre Dame

Capriccio, C5481, EAN: 845221054810

Am 22. Dezember 2024 jährt sich der Geburtstag von Franz Schmidt zum 150. Mal. Aus diesem Anlass hat die Beschäftigung mit dem österreichischen Komponisten, der heute im Schatten von Mahler und Bruckner steht, neuen Auftrieb bekommen. Seinerzeit genoss er im Wiener Musikleben hohes Ansehen: als Cellist bei den Philharmonikern, als Organist, Dirigent, Pädagoge und als Tonschöpfer, der die spätromantische Tradition fortführte. Davon zeugen insbesondere vier gewichtige Symphonien. Über die Neuaufnahme durch Jonathan Berman hat der New Listener umfassend berichtet, ein ergänzendes Interview mit dem Dirigenten über sein Franz Schmidt Project vertiefte das Verständnis für die Musik. Doch auch Schmidts Vokalwerke verdienen mehr Beachtung, obwohl sie mit zwei Opern, einem Oratorium und einer Kantate nur einen kleinen Teil innerhalb des Gesamtoeuvres einnehmen.

Sein Bühnenerstling Notre Dame bescherte dem Komponisten nach der Uraufführung 1914 in Wien einen Anfangserfolg. Die Vertonung von Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame wurde gelegentlich an der dortigen Staats- und Volksoper nachgespielt, in Deutschland gab es sie letztmalig 2010 in Dresden. Doch die gewisse Popularität verdankt sie allein dem melodiösen, wunschkonzerttauglichen Intermezzo, das als Esmeraldas Erkennungsthema das ganze Stück durchzieht. Wer Notre Dame als Ganzes hören will, muss momentan auf die bereits 1989 erschienene Studio-Aufnahme zurückgreifen. Christof Prick, im englischsprachigen Raum unter dem Namen Christof Perick besser bekannt, rückt mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin den instrumentalen Farbreichtum und die schillernden Harmonien der sinfonisch geprägten Partitur ins rechte Licht. Rollendeckend besetzt sind der balsamische Bass Kurt Moll als Mitleid erregender Quasimodo, der ungemein ausdrucksstarke Harmut Welker als Archidiakon und der charaktervolle Horst R. Laubenthal als eifersüchtiger Ehemann Gringoire. Das Liebespaar hingegen – Gwyneth Jones als Esmeralda und James King als Phoebus – setzt mehr auf hochdramatische Kraft denn auf lyrische Sensibilität.

Fredigundis

Orfeo, C5478, EAN: 845221054780

Dürftiger als Notre Dame ist die Rezeptionsgeschichte von Schmidts zweiter, 1922 in Berlin uraufgeführter Oper Fredigundis. Dort fiel sie durch und auch die Wiener Inszenierung zwei Jahre später wurde nur dreimal gespielt. Grund dafür mag das krude Libretto gewesen sein. Im Mittelpunkt steht die historische Frankenkönigin Fredigunde, die als über Leichen gehende Machtfrau gezeichnet wird und am Ende im Angesicht ihrer Schuld stirbt. Musikalisch macht der Dreiakter durch sängerische Expression und spätromantische Orchesteropulenz samt wiederkehrenden Bläserfanfaren Effekt. Die Wiener Konzertaufführung vom September 1979, deren Mitschnitt jüngst veröffentlicht wurde, bietet beides. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Ernst Märzendorfer badet in üppigen Klängen, die Titelrolle singt Dunja Vejzovic, einst Karajans Kundry, mit furioser Attacke und fulminanten Spitzentönen. Großartig ist auch Werner Hollweg. Mit virilem, dabei äußerst kultiviertem Tenor gelingt es ihm, die Wandlung vom aussichtslos Liebenden zum Bischof, der die Königin vergeblich vom Pfad des Bösen abbringen will, stimmlich zu beglaubigen.

Das Buch mit sieben Siegeln

Somm, Ariadne 5026-2, EAN: 758871502627

Zwischen 1935 und 1937 schuf Schmidt trotz schwerer Herzprobleme das Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln, sein bedeutendstes Vokalwerk. Die musikalische Adaption der Apokalypse basiert auf den Offenbarungen des Johannes und führt in eine Klangwelt der Extreme zwischen Entfesselung und Entrückung, die eine gewaltige Herausforderung für den Riesenapparat, bestehend aus Soloquartett, Chor, Orgel (ein bevorzugtes Instrument Schmidts) und Orchester, darstellt. Sie inspirierte auch Regisseure: legendär ist die Inszenierung von Georg Tabori, die bei den Salzburger Festspielen 1987 einen Skandal auslöste und dann wegen Nacktszenen verboten wurde.

Das Buch mit sieben Siegeln liegt in verschiedenen prominent besetzten Aufnahmen vor. Einen besonderen Rang nimmt die anlässlich des Jubiläums wiederveröffentlichte Einspielung aus dem Jahre 1962 ein. Zum einen ist es eines der wenigen Tondokumente des Grazer Domkapellmeisters Anton Lippe, der den Domchor und die Münchner Philharmoniker zu höchsten Leistungen anspornt. Zum anderen singt Julius Patzak auf seine unverkennbare, interpretatorisch eindringliche Art die anspruchsvolle Partie des Johannes. Der Tenor war Schmidt besonders verbunden, er studierte bei ihm Komposition und Dirigieren, bevor er als Autodidakt seine große Gesangskarriere begann.

Der Vollständigkeit halber muss noch die Kantate Deutsche Auferstehung erwähnt werden. Schmidt komponierte diese Führer-Verherrlichung im Auftrag der nationalsozialistisch gesonnenen Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, konnte sie aber nicht mehr vollenden. Robert Wagner, ein Kenner seines Schaffens, stellte sie nach dem Particell fertig, die Uraufführung fand 1940 statt, ein gutes Jahr nach Schmidts Tod. Seinem Ansehen schadete das „Festlied“ posthum, er galt nach 1945 als Mitläufer. Heute jedoch ist es umstritten, ob Schmidt das Regime mit dem Stück tatsächlich hofieren wollte oder wie seine Haltung tatsächlich war. Was für ihn spricht: statt Deutsche Auferstehung abzuschließen komponierte der bereits Sterbenskranke zwei Konzertstücke für den jüdischen Pianisten Paul Wittgenstein.

[Karin Coper, Dezember 2024]

Der Bogen des Odysseus, und noch etwas wirklich Wichtiges

Ein kurzer, nicht abschließender Bericht aus Wien in der Vorweihnachtszeit.

Die Inszenierung und Aufführung von Monteverdis Oper Il ritorno d’Ulisse in Patria in der Wiener Staatsoper war eine bunte und traurige Angelegenheit.

Eine Personenführung fand nicht statt, wo und wohin die Sängerinnen und Sänger sich bewegten, schien ratloser Willkür zu folgen, die teilweise schönen Stimmen waren im Vorfeld wohl nicht an die Klangwelt der Musik von Monteverdi herangführt worden; so blieb Penelope blass, auch Ulisses entfaltete keine stimmliche oder stilistische Strahlkraft, da die Regie aus ihm eine Karikatur des Monsieur Bonacieux aus der legendären Musketier-Verfilmung von Richard Lester aus dem Jahr 1973 machte (es gab also wenigstens eine Idee?), einzig Isabel Signoret als Minerva konnte wirklich darstellerische und stimmliche Präsenz entfalten. Erfreulich war auch das Trio der Freier von Penelope, die mit ihrer Stimmschönheit aber eher bei La Bohème ein Genuss zu hören wären, hier aber stilistisch nicht am rechten Platz waren.

Das Bühnenbild war ein sinnfreies Caroussel einer größeren Anzahl Sitzgruppen – den Göttern waren dabei originellerweise die Firstclass-Sitze eines Flugzeugs vorbehalten. Der Concentus Musicus als Platzhalter der Alten Musik in Wien lebt noch von der Vergangenheit: matt kam die Musik aus dem Graben, trotz der fordernden Gestik des musikalischen Leiters Stefan Gottfried, oder gerade wegen ihr: sie war zu viel des Guten, nicht am Metrum oder Takt, sondern meist am melodischen und rezitativischem orientiert; eine klare Eins hätte hier und da geholfen, und das Tastencontinuum wurde ja ohnehin von jemand anderem gespielt, was sein Wechseln vom Gestischen zum Tastenspiel in mindestens sportlichem Licht erschienen ließ.

Vielleicht ist es im Ganzen keine gute Idee, in einem Repertoirehaus solche Projekte in den Spielplan zu quetschen; möglicherweise gibt es einfach keine Zeit für eine der Sache Monteverdis angemessene gründliche Arbeit, um die Mühen der Freier, den Bogen zu spannen, nicht zu einem derartigen Klamauk verkommen zu lassen.

Stimmig und gefasst war alles erst am Ende mit dem Auftritt des Chores und dem abschließenden, innig gesungenen Duett von Penelope und Ulisses, die endlich ganz bei sich waren, wunderbar eingeleitet und gestützt vom Chor.

Der gewohnheitsmäßige Jubel erinnerte daran, welch herrliches Haus die Wiener Staatsoper im Bewusstsein seines Publikums dennoch ist und bleibt.

Den odysseischen Bogen vergeblich zu spannen versucht hat auch Klaus Mäkelä, umjubelter und gleichzeitig, da man nicht nur in Wien beginnt, dem Braten nicht mehr zu trauen, skeptisch und irritiert zur Kenntnis genommener Chefdirigent einer Handvoll internationaler Spitzenorchester bei seinem Debut mit den Wiener Philharmonikern. Gespielt wurde die Sechste Symphonie von Gustav Mahler.

Diese zweite seiner großen Instrumentalsymphonien überbordet vor tief empfundenen Einfällen, entbehrt aber größtenteils einer geschlossenen Form; speziell im langsamen Satz und im ausufernden Finale tritt dies als Schwäche zutage. Dieses weiß dann so gar nicht, wo es eigentlich hinwill, bis der erste Hammerschlag daran erinnert, welchem Umstand die Symphonie ihre Berühmtheit verdankt.

Der Schlag des Schicksals wurde hier allerdings geschönt, da man zwar zur Ausführung einen optisch spektakulär großen Holzhammer wählte, der, wie von Mahler vorgesehen, jedoch nicht, wie in der Partitur gefordert, „wie ein Axthieb“ wirkte und sich zu homogen in den Gesamtklang einfügte. So blieb es hier eher bei einer Visualisierung jenes Dramas, das eigentlich musikalisch hätte wirken sollen.

Und damit sind wir bei Klaus Mäkelä, auf den diese Beobachtung ebenso zutrifft. Als Kind seiner Zeit ist seine Gestik einfach und klar impulsorientiert. Eine dirigentische Schlagfigur, die ursprünglich den Sinn hat, über einen einfachen Impuls hinaus eine Phrase musikalisch zu ordnen und ihr eine weiterführende Perspektive zu verleihen, sucht man vergebens, und was wie Frische und Spontaneität juveniler Gefühlswelt erscheint, entpuppt sich bald als durchchoreographierte Pose.

Bereits nach der ersten rhythmisch geprägten Phase des ersten Satzes hat Mäkelä denn auch seine Geschichte auserzählt. Seine gestische Spezialität sind Akzente im tiefen Register, die er mit publikationswirksamem Nachwippen seines Kopfes, dem der Sinn für etwas darüber Hinausgehendes fehlt, unterstreicht. Gestus ohne Ductus, Augenblicksgewerkel ohne Ziel, Plan und Weitsicht, und ohne Idee für die sich ausbreitende Klangfläche einer Symphonie, die aufgrund ihrer Komplexität eine andere Herangehensweise benötigen würde.

Auch rein kapellmeisterlich ist Mäkelä der Aufgabe an manchen Stellen überraschenderweise nicht gewachsen: Bei diversen Tempowechseln im 3. Satz überlässt er das Orchester sich selber, da er nur mitschlägt, statt ein neues Tempo vorzubereiten, was aber schon zum Handwerk jedes 2. Kapellmeisters eines Provinzopernhauses gehört. Das Orchester reagiert instinktiv, so dass diese Momente kaum merklich vorbeigehen.

Es fehlt hier schlicht an einer geistigen Einstellung, die über die Wiedergabe der äußerlichen Effekte der phänomenal instrumentierten Partitur hinausgeht, vielleicht aber einfach an Bedarf und Interesse, oder auch an einer sorgsamen Ausbildung, die ihn über diese elementare Ebene hinaus orientiert hätte. Wer sich als Hörer am Klangspektakel berauschen mag, wird es zufrieden sein. Für alle anderen ist es schwer, diese Leere auszuhalten.

Es wäre nicht weiter tragisch, und hier liegt ein grundsätzliches Problem, wäre Mäkelä als Dirigent nicht Protagonist einer Generation junger, künstlerisch unbedarfter und mehr und mehr austauschbarer Dirigentinnen und Dirigenten; mithin schon jetzt ein Vorbild für einen Nachwuchs, für deren komplexe Profession er künstlerisch keine Perspektive aufzeigt, die über eine möglichst gute Wirkung auf Photos und Videoclips und einen damit gesteuerten Hype hinausgeht; ganz zu schweigen vom Publikum, das auf diese Weise von der Tiefe und unbedingten Wahrhaftigkeit der Mahler’schen Musik entweder entwöhnt wird, oder gar nicht erst mit dieser Tiefe der musikalischen Empfindung in Berührung kommt.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass diese Dimension des menschlich-künstlerischen Ausdrucks, die Mahler durch seine unerreichte, aber doch sehr leicht als vordergründig misszuverstehende Kunst der Orchesterbehandlung erst möglich gemacht hat, hier als krachendes Orchesterspektakel von Mäkelä geradezu konterkariert wird.

Wo ist das Logentür-schmeißende, „Scandalo“-rufende Fachpublikum, für das Wien einst berühmt war? Stattdessen erfährt man in einer Pressenotiz im Internet, dass Mäkelä mit Freunden, Familie und seiner derzeitigen Freundin nach dem Konzert im Hotel Imperial speiste.

Neulich huschte ein Interview mit Egon Wellesz, der Mahler in seiner Jugend als Dirigenten erlebt hat, durch die sozialen Medien. Nach seinem Zeugnis waren Mahlers Dirigierbewegungen zurückhaltend und funktionell, fast benutzte er nur die rechte Hand, die linke fast nie, und er gebar sich keineswegs so wild, wie man es sich angesichts der berühmten Scherenschnitte von Otto Böhler vorstellen mag (Celibidache nannte ihn, Mahler, mehrfach den besten Dirigenten aller Zeiten). Diesem Beispiel zu folgen wäre eine andere Empfehlung für den Nachwuchs. Ein anderes kürzlich aufgetauchtes Video zeigt Otto Klemperer, wie er im hohen Alter die Siebte von Beethoven dirigiert. Dreht man den Ton ab, hört man trotzdem, was gemeint ist.

Als Chef großer Orchester ist jemand wie Mäkelä folglich nur geeignet, wenn er sich mit seiner Popularität für die Sicherung der Finanzierung und Marktbeteiligung der jeweiligen Institution einsetzt, und dafür im Gegenzug durch häufige Abwesenheit glänzt, da ansonsten der Klangkörper zwangsläufig leiden muss.

Wie gesagt, Mahlers Sechste ist ein sehr schwieriges Werk, und seine Kohärenz darzustellen ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch die ureigenste Aufgabe eines Dirigenten. Eben darum gilt es, durch Verständnis für Gestalt und Form, aus dem alleine die künstlerische Aussage eines Werkes zum Leben erweckt werden kann, den odysseischen Bogen zu spannen. Dazu reichte es bei Mäkelä aber nicht. Es ist ein Scheitern, und das nicht einmal auf hohem Niveau.

Dirigierkarrieren starten früh und geben einer notwendigen Entwicklung, abgesehen von einer kommerziellen, kaum einen Raum. Die Ausbildung scheint vor allem intellektuell verkürzt und auf das Praktisch-Pragmatische und Persönlich-Willkürliche beschränkt; daraus muss dann eine Marke entwickelt werden – anders lässt sich die grassierende professionelle Oberflächlichkeit in der Ausübung dieses Berufs wohl nicht erklären.

Es ist vollkommen klar, dass auch die Karajans, Kleibers, Klemperers, Wands, Boulez‘, Abbados, Mutis, auch ein Janssons, und viele andere mehr (die gibt es übrigens auch heute, aber abseits der dirigentischen Popkultur) eine Entwicklung nehmen mussten, aber ihre Arbeit hatte eine Grundlage, die eine solche ermöglicht hat. Davon ist heute bei den dem Publikum als Maßstab präsentierten Dirigentinnen und Dirigenten wenig zu spüren.

Gerettet wird das wie immer von der stupenden individuellen Qualität der Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker (die es nicht nur in den nominellen Spitzenorchestern gibt!), und ihrer geballten und zu oft unfair missbrauchten Routine. Man darf gespannt sein, wie lange sie das noch auszuhalten bereit sind, und wohin dieses unsinnige Theater noch führen soll. Swarowsky (nein, nicht der mit den Perlen, der andere) hat’s gewusst – in welchem Beruf ist es eigentlich noch möglich, dass Können und Karriere folgenlos so enorm auseinanderklaffen?

Genug davon, hinweg damit, denn es gibt auch gute Nachrichten: die wichtigste Konzertreihe der Stadt findet alle paar Wochen im kleinen Ehrbarsaal statt: Das „Echo des Unerhörten“, veranstaltet vom ExilArte Institut der mdw. Letztens war der ins Exil vertriebene Komponist Egon Lustgarten zu entdecken. Als nach dem 1. Weltkrieg die Musikzeitschrift Der Anbruch erschien, „fiel allgemein der Leitaufsatz “Philosophie der Musik” auf. Darin waren die subtilsten und tiefgründigsten Probleme der Musik mit großer Klarheit behandelt. Die künstlerische Eigenart Lustgartens kam schon damals voll zum Ausdruck: seine schöpferische Phantasie benötigt in gleicher Weise Wort und Ton….Eine Oper “Dante im Exil“ ist eben beendet worden; sie ist voll der zarten, doch eindringlichen Musiksprache, die ihn seit langen Jahren zu einem der bekanntesten Vertreter der gediegenen Wiener Schule gemacht hat.“ (Karl Wiener, 1937).

Hier, liebe Wiener Opernhäuser, und in anderen liegengelassenen Werken dieser erst annulierten, dann und jetzt peinlich vernachlässigten Generation, liegt eine wirkliche Chance für eine Erfrischung der Spielpläne.

Unbedingt lohnend ist auch der Besuch in der Kammeroper, wo die Neue Oper Wien einen szenisch und musikalisch umwerfenden Der Prozess von Gottfried von Einem nach Franz Kafka auf die Beine gestellt hat. Auf Alice von Kurt Schwertsik im Odeon (Sirene Operntheater/Serapion-Theater) und die zu Weihnachten allfällige, über das Publikum hinwegfegende und mit immer wieder großäugigem Staunen und Applaus bedachte Hexe in Hänsel und Gretel in der Volksoper freut sich der Rezensent auch schon.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2024]

„Da Jesus auf Erden ging“ – Felix Woyrschs Mysterium im Würzburger Adventskonzert

Am 7. und 8. Dezember erklang das Mysterium Da Jesus auf Erden ging von Felix Woyrsch durch den Monteverdichor Würzburg und die Jenaer Philharmonie unter der Leitung von Matthias Beckert in der Würzburger Neubaukirche. Die Soli sangen Mechthild Söffler (Sopran), Bernhard Gärtner (Tenor) und Hanno Müller-Brachmann (Bariton).

Das Innere der Würzburger Neubaukirche

Wer Chorkonzerte liebt und Abwechslung im Spielplan schätzt, der ist in Würzburg gut aufgehoben. Dem Monteverdichor und seinem Dirigenten Matthias Beckert ist es zu verdanken, dass die fränkische Bischofsstadt seit vielen Jahren zu den interessantesten Pflegestätten der Chormusik in Deutschland gehört. Beckert ist ein echter Entdecker, der bezüglich des Repertoires seines Chores auf maximale Vielfalt setzt. So finden sich auf den Spielplänen mit schöner Regelmäßigkeit selten gespielte Werke der Vergangenheit, aber auch zeitgenössische Stücke, teils als Ur- oder Erstaufführung. Wiederholungen werden nach Möglichkeit vermieden. Ein gutes Beispiel dieser Praxis sind die Adventskonzerte des Monteverdichors, bei denen man alle Jahre wieder darauf gespannt sein darf, welche Werke diesmal auf dem Programm stehen.

Das Adventskonzert von 2024, das am 7. und 8. Dezember in der Neubaukirche, dem Konzertsaal der Würzburger Universität, gegeben wurde, lässt sich als eine nahtlose Fortsetzung des letztjährigen ansehen. Damals stand neben Werken von Gabriel Pierné und Hermann Zilcher auch das Kurzoratorium Die Geburt Jesu von Felix Woyrsch auf dem Programm (zum Bericht siehe hier). Dieses Jahr erklang nun eines der drei abendfüllenden Oratorien Woyrschs, das 1917 uraufgeführte Mysterium Da Jesus auf Erden ging.

Woyrschs Jesus gehört zu den nicht wenigen Oratorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Handlung das gesamte Leben Christi umspannt. In einem Weihnachtskonzert ist es durchaus am Platze, da das Geschehen der Heiligen Nacht gegen Anfang recht ausführlich abgehandelt wird. Auf einen gewaltigen Eingangschor, der mit den Worten „Mache dich auf, werde Licht!“ anhebt, folgen ein Orchesterzwischenspiel mit pastoralen Bläsersoli, die Verkündigung durch einen Frauenchor, ein Hirtenchor in reizvoll wechselnden Taktarten auf den Text des schlesischen Volkslieds Auf dem Berge da weht der Wind, in welchen ein Duett Marias und Josephs eingefügt ist, eine orchestrale Bearbeitung des einstimmig gesungenen Chorals Euch ist ein Kindlein heut geborn (= Vom Himmel hoch da komm ich her) und schließlich ein eigener vierstimmiger Choral Woyrschs auf die bekannten Worte „Vom Himmel hoch, ihr Englein, kommt“. Jede Szene dieser Weihnachtsmusik hat ihren eigenen Klang und unterscheidet sich hinsichtlich der satztechnischen Komplexität von den übrigen. Die Spanne reicht vom chorsymphonischen Tutti und strenger Fugenarbeit bis zur Einstimmigkeit. Was hier im Kleinen an Abwechslung geboten wird, wird in den folgenden Teilen des Werkes weiter ausgeführt.

Woyrsch gliedert sein Oratorium in fünf große Abschnitte. Der Heiligen Nacht folgen die Seligpreisungen mit abschließendem Vaterunser, Christi Wandeln auf dem Meere, die Heilige Woche und der Gang nach Emmaus. Die Bezeichnung „Mysterium“ geht auf die mittelalterlichen Mysterienspiele zurück, deren Tradition sich im Text des Werkes insofern niederschlägt, als dass Woyrsch neben Auszügen aus Evangelien und Psalmen vor allem auf volkstümliche geistliche Dichtung zurückgegriffen hat. Am deutlichsten zeigt sich dies im vierten Teil, in welchem das Geschehen von Christi Einzug in Jerusalem bis zum Karfreitag durch einen einzigen längeren Volksliedtext abgedeckt wird. Dieser ist ein Dialog zwischen Maria und Jesus, eingeleitet von einer instrumentalen Passacaglia und einem Vorspruch des Chores. Die Kreuzigung wird dabei textlich nur angedeutet („Ach Mutter, liebste Mutter mein, mög‘ dir der Freitag verborgen sein!“), musikalisch ist sie durch abrupte Harmoniewechsel und Dissonanzen an der entsprechenden Textstelle durchaus präsent.

Der dramatischste Abschnitt des Werkes ist der Seesturm in der Mitte. Packend schildert Woyrsch die heraufziehenden Windböen, die unruhige See und die Hilferufe der verzweifelten Jünger, bevor er das Ganze zur eigentlichen Sturmszene steigert, die rein musikalisch eine chromatische Fuge mit einem Choral als Cantus firmus ist – ähnlich wie in der verwandten Flut-Fuge in Franz Schmidts Buch mit Sieben Siegeln, mit der sie sich durchaus messen kann, wird hier größtes Chaos durch strengste Ordnung geschildert. Mit dem Erscheinen Christi beruhigt sich das aufgewühlte Meer und die Jünger stimmen erleichtert den Dankeschor an („Du bist wahrlich Gottes Sohn“), zu dessen Begleitung die Wellen nun sanft und angenehm rauschen. Die ganze Szene ist nicht nur ein Höhepunkt in Woyrschs Oratorienschaffen, man darf sie getrost zu den hervorragendsten Momenten der chorsymphonischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts rechnen.

Ja, Da Jesus auf Erden ging ist ein großes Werk, und die beiden Aufführungen in der Würzburger Neubaukirche ließen keinen Zweifel daran aufkommen. Mit der Jenaer Philharmonie und dem aus hochmotivierten jungen Leuten bestehenden Monteverdichor standen Matthias Beckert ausgezeichnet disponierte Kräfte zur Verfügung. Der Dirigent nahm sich die nötige Zeit, übereilte nichts, ließ namentlich den fugierten Schlusschor mit der gebotenen Wucht und Feierlichkeit ausführen, und widmete sich liebevoll der Ausgestaltung von Details. Sehr schön gelangen beispielsweise stets die Kadenzen der dem Chor zugedachten Abschnitte. Bernhard Gärtner (Tenor) überzeugte in den ihm zugedachten kurzen Soli und in der Rolle des Evangelisten ebenso wie Hanno Müller-Brachmann (Bariton) als Jesus. Neben diesen beiden sehr kräftigen Männerstimmen hatte es die Sopran-Solistin Mechthild Söffler mitunter schwer, sich zu behaupten. An Tonschönheit, Lyrik, Zartheit fehlt es ihr nicht, wie bei ihren Soli deutlich wurde, im Zusammenwirken mit dem Chor oder mit den anderen Solisten trat sie allerdings ein wenig zu sehr zurück.

Beide Abende waren sehr gut besucht und endeten mit enthusiastischem Applaus. Auf Felix Woyrschs Bedeutung als Instrumentalkomponist ist durch Einspielungen seiner symphonischen, kammermusikalischen, Klavier- und Orgelwerke in den letzten Jahren wieder stärker hingewiesen worden. Die Würzburger Aufführungen waren nun ein starkes Plaidoyer dafür, auch dem Chorsymphoniker Woyrsch wieder gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Möge Beckert darin würdige Nachfolger unter den Chorleitern finden!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2024]