Ein fulminantes Plädoyer für Martin Scherbers Metamorphosensinfonik

Aldilà Records, ARCD 012, EAN: 9 003643 980129

Christoph Schlüren und das Orchestra Simfònica Camera Musicae legen eine Maßstäbe setzende Neueinspielung (und gleichzeitig Uraufführung) von Martin Scherbers Sinfonie Nr. 3 vor. Ergänzt wird das Programm durch Musik von Arvo Pärt und Alessandro Marcello.

Es ist nie ganz leicht und vielleicht auch gar nicht immer überhaupt möglich, Entwicklungen auf dem Tonträgermarkt treffend auf einen Nenner zu bringen. Beschäftigt man sich etwa mit Sinfonik des deutschen und deutschsprachigen Raums, so wird man unter anderem feststellen, dass in den vergangenen drei Dekaden eine ganze Reihe von Komponisten, die in der Schallplattenära noch ihre regelmäßigen Veröffentlichungen hatten, mittlerweile fast gänzlich vom Radar verschwunden sind (exemplarisch sind hier sicherlich etliche Komponisten aus der ehemaligen DDR zu nennen, aber eben längst nicht nur diese, sondern auch viele ihrer westlichen Generationskollegen). Andere dagegen, gerade aus der Romantik und solche, die im 20. Jahrhundert auf ihr aufbauten, haben eine gewisse Renaissance erlebt und sind heute wenigstens diskographisch relativ (oft sogar überraschend) gut dokumentiert, selbst wenn es auch hier nach wie vor erkleckliche Lücken gibt oder aber die vorhandenen Einspielungen deutlich Luft nach oben aufweisen.

Unter all diesen Neu- oder Wiederentdeckungen gibt es m. E. nur wenige, die in solchem Maße polarisiert haben bzw. oft genug derart harsche, negative Reaktionen hervorgerufen haben wie die Musik Martin Scherbers, speziell die Ersteinspielung seiner Sinfonie Nr. 3 h-moll (1952–55) mit Elmar Lampson am Pult, erschienen im Jahre 2001. Auf die Gründe (und Hintergründe) wird noch einzugehen sein; in jedem Falle aber ist die vorliegende Neueinspielung dieses Werks durch das katalanische Orchestra Simfònica Camera Musicae (bzw. seit 2021 Franz-Schubert-Philharmonie) unter der Leitung von Christoph Schlüren allein schon deshalb hochwillkommen, um all dies anhand einer zweiten Lesart auf den Prüfstand stellen zu können.

Martin Scherber, 1907 in Nürnberg geboren und 1974 ebenda an den Spätfolgen eines Unfalls verstorben, war ein Schüler von Gustav Geierhaas (dessen Schaffen übrigens auch eine Renaissance zu wünschen wäre) an der Münchner Akademie der Tonkunst. Nachdem er anschließend für nur wenige Jahre im böhmischen Aussig als Korrepetitor bzw. Kapellmeister gearbeitet hatte, kehrte er rasch nach Nürnberg zurück und führte fortan ein zurückgezogenes Leben als privater Musiklehrer, unterbrochen durch die Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Zutiefst geprägt, und zwar insbesondere auch mit Blick auf sein musikalisches Schaffen, wurde Scherber durch Goethe, speziell dessen Metamorphosenlehre, und die Schriften Rudolf Steiners.

Scherbers Œuvre ist schmal, nicht zuletzt deshalb, weil er 1935 nahezu sein gesamtes frühes Schaffen vernichtete. Als seine Hauptwerke dürfen seine drei Sinfonien gelten, gerade die zweite und dritte, beide Anfang der 1950er Jahre entstanden, nachdem Scherber nach dem Krieg sich mit der Erstellung von Klavierauszügen von Bruckners Sinfonien Nr. 3–9 darauf gleichsam „vorbereitet“ hatte. Die Dritte ist so etwas wie sein „Opus summum“, und obwohl ihm nach ihrer Fertigstellung noch 15 Jahre blieben, bis ein betrunkener Autofahrer ihn erfasste und für den Rest seines Lebens schwer zeichnete, schuf Scherber danach keine weiteren größeren Werke mehr.

In den 1950er Jahren war es vor allem der Dirigent Fred Thürmer, der sich um sein Schaffen verdient machte und die ersten beiden Sinfonien zur Uraufführung bringen konnte. Die Dritte hingegen blieb zu Scherbers Lebzeiten allen Mühen zum Trotz (inklusive u. a. einer Absage durch Bruno Walter, der mit dieser Musik nichts anfangen konnte) unaufgeführt. Die weiter oben genannte CD-Einspielung, aufgenommen 1999, dokumentiert in der Tat die erste Mal, dass diese Musik von einem Orchester gespielt wurde. Die eigentliche Uraufführung aber fand tatsächlich erst am 1. Dezember 2019 in Barcelona statt; eine der beiden CDs dieses Albums enthält ihren Mitschnitt.

Natürlich ist schon zu Beginn der Sinfonie deutlich zu hören, dass sich Scherbers Tonsprache deutlich an Bruckner orientiert (hier speziell an dessen Sechster Sinfonie). Die Moderne seiner Zeit spielt für Scherber dagegen keine Rolle, er war (völlig bewusst) gewissermaßen ein „Unzeitgemäßer“, der radikal nur die Musik schrieb, die für ihn selbst Relevanz besaß, unberührt von zeitgenössischen Schulen, Strömungen und Moden. Wenn man daraus nun aber schließt (wie häufig geschehen), einen Bruckner-Epigonen vor sich zu haben, der des Meisters Zehnte schrieb, dann verharrt man lediglich an der Oberfläche dieser Musik und übersieht einige der zentralen Aspekte von Scherbers Ansatz, denn wie schon Fred Thürmer bemerkte: entscheidend ist das „Wie“ (es gemacht ist) in Scherbers Musik.

An diesem Punkt nämlich kommt das Metamorphosenprinzip ins Spiel: was am Anfang in den Violinen wie eine Brucknerreferenz anmutet, ist faktisch der „Hauptrhythmus“ der Sinfonie, und die ersten sechs Noten des in Celli und Bässen einsetzenden Hauptthemas bilden den sogenannten „Themenkern“. Aus diesen beiden Elementen leitet Scherber nun in fortwährender, allmählicher voranschreitender Metamorphose seine gesamte Sinfonie ab. Hier ist, wie Schlüren bemerkt, in der Tat alles mit allem verwoben, gibt es nichts Beiläufiges, nur organisches Wachsen, Sich-Entwickeln, und dies in aller gebotenen Ruhe und Ausführlichkeit. Bei aller Wucht, die diese Musik an ihren machtvollen Höhepunkten entfaltet, handelt es sich also gleichzeitig um ein Werk von äußerster Reduktion, Askese, Radikalität und Konsequenz.

Ebenso interessant ist dabei die Form. Scherbers Dritte ist erst einmal ein einsätziges Werk in der Tradition von Liszts Klaviersonate h-moll im Sinne einer „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit“ (im Rahmen eines riesigen Sonatenallegros). So suggerieren die Anfangstakte zunächst ein sinfonisches Allegro, trifft man ein wenig später auf einen klar definierten Scherzo-Abschnitt, auf den eine Art Adagio folgt, und schließlich setzt gegen Ende so etwas wie eine „Reprise“ ein, die angesichts der permanenten Metamorphose natürlich aber auf keine bloße (oder auch leicht abgewandelte) Wiederholung hinauslaufen kann.

So ist das Werk im Rahmen von Lampsons Ersteinspielung präsentiert worden. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um eine Ebene, und was seinerzeit übersehen wurde (und wohl auch seinen Teil dazu beigetragen hat, dass die Sinfonie teils als „formlos“ missverstanden wurde), ist, dass Scherber sein Werk darüber hinaus in zwölf Abschnitte unterteilt hat, die den Tierkreiszeichen (dem Zodiak also – daher der Titel des Albums) entsprechen. So durchläuft die Sinfonie gleichzeitig einmal das Jahr vom (Frühlings-) Beginn des Widders bis hin zur Rundung und gleichzeitig feierlichen Wiederkehr (des Frühlings, des Jahreszyklus) durch die Fische. Das Scherzo entspricht hierbei dem Krebs, das (beginnende) Adagio dem Löwen, die angedeutete Reprise fällt in den Steinbock (und damit, wie Schlüren bemerkt, in die Wintersonnenwende).

Natürlich muss man dieser Bedeutungsebene nicht in jeder Konsequenz folgen, obwohl es zweifelsohne ein sehr schönes Bild ist, wenn Schlüren den still-fahlen Beginn des fünften Abschnitts mit einem durch die sommerliche Mondnacht schleichenden Löwen assoziiert. Was aber entscheidend ist: die zwölfteilige Struktur, zusammen mit Schlürens exzellenten, detaillierten Erläuterungen zum musikalischen Geschehen in diesen Abschnitten, hilft immens dabei, sich in diesem Koloss zurechtzufinden, und auf einmal erscheint diese Musik überhaupt nicht formlos, sondern man wird in der Tat Zeuge all der „Verpuppungen“ des Grundmaterials, des Auseinander-Hervorgehens der einzelnen Teilabschnitte, und lauscht gebannt, bis die Fische Schritt für Schritt die Moll-Tonalität in den triumphalen H-Dur-Schluss der Sinfonie verwandeln, wobei sich die neapolitanischen Wendungen selbstredend auf den Themenkern zurückführen lassen.

In der Vergangenheit haben einige von Scherbers Äußerungen zu seiner Musik gelegentlich zum Polemisieren gereizt, und sicherlich mutet einiges davon eigenwillig an. Am Ende erscheint mir all dies allerdings bestenfalls zweitrangig und eher geeignet, den Blick vom Wesen und Wesentlichen seiner Musik abzulenken. Insbesondere sei betont: um diese Musik schätzen zu lernen, benötigt man keinerlei Affinitäten zur Anthroposophie und auch nicht zur Astrologie – man kann sich natürlich in dem Umfang, der einem selbst hilfreich erscheint, mit vielen Hintergründen befassen, doch am Ende ist die entscheidende Frage doch stets „nur“, ob ein Stück Musik als solches funktioniert, bereichernd ist, ungeachtet aller zusätzlichen Bedeutungsebenen. Letztlich spricht Scherbers Musik ganz für sich, man muss nur ihre Strukturen begreifen, bereit sein, sich auf ihr langsam voranschreitendes Wachsen einzulassen, um sich für sie begeistern zu können.

Dies gilt übrigens umso mehr, als dass sich manchmal ein wenig der Eindruck aufdrängt, als begegne man wenig(er) bekannten Komponisten von Musik, die erhebliche Dimensionen aufweist, Ambitionen jenseits des Erwartbaren verrät, oft genug mit einer gewissen grundsätzlichen Skepsis. Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur etwa die Reaktionen auf die Musik Felix Weingartners, der in seinen besten Werken ein unterhaltsamer Eklektiker ist, mit denjenigen auf das Schaffen Wilhelm Furtwänglers, der ein ungleich substantiellerer Komponist ist, dessen Musik aber oft genug auf hartnäckige Vorbehalte trifft. So unähnlich scheint mir der Fall Scherber nicht gelagert.

Eine Besonderheit des vorliegenden Albums ist, dass es (fast) das gesamte Programm in doppelter Ausführung liefert, nämlich einmal als Konzertmitschnitt vom 1. Dezember 2019, einmal als Studioaufnahme vom Tag darauf. Ein reizvolles Konzept, dessen Vorzüge in diesem konkreten Fall Schlüren selbst auf den Punkt bringt: der Konzertmitschnitt kommt mit etwas besserer, vollerer Akustik daher, die Studioaufnahme ist noch etwas „perfekter“, vielleicht in der dramaturgischen Stringenz einen Hauch zwingender. Von solchen Details abgesehen, tragen beide Aufnahmen natürlich eindeutig dieselbe Handschrift.

Insbesondere sind die Einspielungen fast exakt gleich lang, nämlich jeweils gut 66 Minuten. Dem mit der Aufnahme Lampsons vertrauten Hörer wird also auffallen, dass Schlüren deutlich mehr Zeit für die Sinfonie in Anspruch nimmt. Dies hat gewiss musikimmanente Gründe, denn die komplexen, verflochtenen Strukturen dieser Sinfonie benötigen ihre Zeit, ihren Raum, um sich entfalten zu können. Zum anderen hat Scherber (zusammen mit Martin Held) seine Sinfonien selbst in Fassungen für zwei Klaviere eingespielt, und Lampson (wie übrigens auch Samuel Friedmann in seiner Einspielung der Zweiten Sinfonie) hat sich an den Tempi dieser Aufnahmen orientiert. Vom vollen Orchester gespielt, schwebten Scherber aber andere, deutlich breitere Tempi vor, und so sah er für seine Zweite Sinfonie eine Spieldauer von 60 Minuten und für die Dritte eben mehr als 60 Minuten vor. Hieran orientiert sich, im Übrigen in bestechender musikalischer Logik, Schlürens Neueinspielung.

Insgesamt ist Schlüren und seinem Orchester hier ein famoses Plädoyer für diese Sinfonie gelungen, eine Einspielung, die nicht nur durch ihre Transparenz besticht, das sorgfältige Herausarbeiten aller Stimmen (in einem gar nicht einmal direkt kontrapunktischen Satz, bei dem sich aber dennoch alle Stimmen ergänzen, in stetig fließendem Bezug zueinander stehen), sondern auch durch ihre vorzügliche organische Disposition, ihren sorgfältigen Aufbau von Höhepunkten über weite Strecken hinweg. Schlüren selbst verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf das Scherzo, dessen finale Kulmination es erfordert, nicht zuvor bereits alle Reserven aufgebraucht zu haben; ich möchte aber ebenso hervorheben, wie klar in dieser Aufnahme das finale „Drängen“ der Sinfonie „heim“ nach H gestaltet wird, gerade gegen Ende des Steinbocks und des Wassermanns. Hier „will“ die Musik förmlich zu ihrem (tonalen) Ursprung zurück, in die finale Apotheose münden. Und natürlich profitieren ganz grundsätzlich die vermeintlich repetitiven, in Wahrheit eben in einem stetigen Prozess allmählichen Wandels begriffenen Strukturen dieser Musik enorm von einer so umsichtigen, weitsichtigen Darbietung wie auf diesen CDs geschehen.

Viel Zeit bleibt angesichts der zeitlichen Ausdehnung von Scherbers Sinfonie zwar nicht mehr, aber Schlüren nutzt dennoch (einmal mehr) die Gelegenheit, die Musik „einzuordnen“, ihr einen Rahmen zu geben und auch Parallelen aufzuzeigen. Dies gilt in besonderem Maße für Arvo Pärts (* 1935) Festina lente für Streichorchester (1988), einem Proportionskanon, bei dem das Thema in drei Geschwindigkeiten gespielt wird, mit den Bratschen als Referenzpunkt in der Mitte, einer schnelleren Variante in den Violinen und einer langsamen in den Kontrabässen. Schlüren bezieht dieses Stück dabei explizit auf den Löwen in Scherbers Sinfonie, der mit Pärts Stück nicht nur die Tonart a-moll teilt, sondern in der Tat auch sonst in vielerlei Hinsicht (klanglich, atmosphärisch) verblüffende Parallelen aufweist und Scherber so auf einmal in Bezug zu minimalistischen Techniken setzt, die tatsächlich seinem Metamorphosenprinzip so fremd gar nicht einmal sind. Vereint Pärts Stück also drei Zeitebenen, so tut ebendies auch die CD (bzw. in diesem Fall nur die erste), wenn das Programm noch um den Mittelsatz von Alessandro Marcellos (1673–1747) Oboenkonzert d-moll (1717) ergänzt wird, versehen mit Verzierungen aus Johann Sebastian Bachs Adaption dieses Werks für Cembalo (BWV 974). Den Solopart spielt hierbei Pau Roca Carreras, der Solooboist des Orchesters.

Abschließend sei noch einmal auf Schlürens extensiven Begleittext hingewiesen; allein die deutsche Variante ist bereits ein kleines Buch von 35 Seiten. Schlüren geht hier ausführlich auf Scherbers Leben und Werk ein, natürlich auch auf die Stücke von Pärt und Marcello, ganz besonders eingehend aber wie bereits erwähnt auf Scherbers Dritte Sinfonie. Allein, um diese Ausführungen lesen zu können und dadurch einen wesentlich geschärften Blick auf das zu erhalten, was sich in dieser Sinfonie eigentlich ereignet, lohnt es sich bereits, die CDs zu kaufen und eben nicht zu streamen, herunterzuladen oder was auch immer. Schließlich diskutiert Schlüren noch verschiedene grundsätzliche Aspekte wie die Genese einsätziger Sinfonik, Musik mit Bezug auf die Jahreszeiten oder eben die Tierkreiszeichen sehr eingehend und speziell mit ausführlichen Auflistungen. Der interessierte Leser sollte dies alles vor allem auch als Angebot begreifen, mit Zeit und Muße diese Listen studieren und in eigener Initiative nach dem ein oder anderen ihm womöglich bislang unbekannten Werk oder Namen forschen. Insgesamt ist dies eine von äußerster Sorgfalt und größtem Engagement geprägte, in jeder Hinsicht vorbildliche Produktion.

[Holger Sambale, August 2024]

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