Legendary Singers, so der Titel einer vom Label SWR-Music herausgegeben Box, erinnert an Martina Arroyo, Marilyn Horne, Peter Anders, Nicolai Gedda und Dietrich Fischer-Dieskau. Die Erklärung für die auf den ersten Blick beliebig erscheinende Auswahl liegt auf der Hand: der Südwestfunk hat in seinem Archiv Soloalben dieser historischen Gesangsgrößen aufgestöbert und bietet sie nun in einer preislich attraktiven Kassette an.
Mit einer Doppel-CD- wird Peter Anders gewürdigt. Der 1908 geborene Tenor gehörte bis zu seinem Unfalltod mit nur 46 Jahren zu den Publikumslieblingen der Nachkriegszeit. Er begann im lyrischen Fach und eignete sich allmählich jugendlich-heldische Partien an, besaß den Charme für die Operette und ein Gefühl für das Kunstlied. Die beiden Alben mit zwischen 1946 und 1952 entstandenen Aufnahmen versammeln einen Querschnitt aus Anders‘ Repertoire. Dramatische Arien, etwa Wagners Lohengrin und der Florestan aus Fidelio sind darunter, Duette von Verdi-, Puccini- und Bizet mit der hinreißenden Sena Jurinac, Szenen aus Der Zigeunerbaron und vorwiegend deutsche Lieder. Stimmlich ist Anders auf der Höhe seines Könnens, gelegentliche enge Spitzentöne fallen angesichts der vokalen Pracht und des eindringlichen Vortrags bei absoluter Textverständlichkeit nicht ins Gewicht.
Dietrich Fischer-Dieskau, auf Tonträgern so präsent wie kaum ein anderer Klassikkünstler, nahm im Frühstadium seiner Karriere Anfang der 50er Jahre Barock-Kantaten auf. Auch auf diesem Terrain, mit dem man den Bariton weniger verbindet, erweist er sich als gestalterische Kapazität und offen für abseitige Musikpfade. Mit frischem Organ, geschmeidigen Verzierungen, auch in der hier geforderten Basslage, und beispielhafter Diktion singt er Geistliches nicht nur von Buxtehude, sondern auch von weniger geläufigen Komponisten wie Franz Tunder, Nicolaus Bruhns und Adam Krieger.
Das Porträt des gleichaltrigen Nicolai Gedda dokumentiert die enorme stilistische Bandbreite des schwedischen Tenors. Von diesen Aufnahmen kann man nur schwärmen: wegen der durchgehenden Klangschönheit, der perfekten Artikulation in fünf Sprachen und der ausgefeilten Phrasierung. Imponierend, wie mühelos er die Stratosphärenhöhen des Sobinin in Glinkas Ein Leben für den Zaren oder des Chapelou in Adams Postillon von Lonjumeau erklimmt; meisterhaft, wie idiomatisch und elegant er so unterschiedliche Stücke wie Poulenc–Mélodies, italienische Lieder der Spätromantik oder russische von Nikolai Rimski-Korsakow darbietet.
Die beiden weiblichen Gesangslegenden sind in Mitschnitten zweier Liederabende aus Schwetzingen zu hören. Martina Arroyo, zu ihrer Zeit eine der führenden Verdi-Soprane, doch für ihren Rang wenig dokumentiert, gab 1968 dort ein Solokonzert. Ihre üppige, dunkelgolden timbrierte Stimme beeindruckt auch in den Liedern von Rossini (mit federleichten Spitzentönen bei La Danza), Schubert, Brahms und Dvořák. Sie ist eine ausdrucksvolle, dynamisch variable Interpretin, nur hapert es ihr an einer klaren Aussprache. Abgerundet wird das Programm durch vier tief empfundene, mit Wärme gesungene Spirituals, die im hymnischen Witness gipfeln.
Ganz im Zeichen Gioacchino Rossinis stand das Schwetzinger Recital, mit dem Marilyn Horne 1992 dem „Schwan von Pesaro“ anlässlich seines 200. Geburtstags gratulierte. Die Mezzosopranistin mit der unverwechselbaren Stimmfarbe, die im Januar 2024 neunzig Jahre alt wurde, bekräftigte bei dieser Hommage noch im Karriere-Spätherbst ihre Ausnahmestellung als Belcantointerpretin. Mit verblüffenden Koloraturen und Verzierungen, wie in der feurigen Canzonetta spagnuola, mit lang gesponnenen Kantilenen und vollendeter Legatokultur, wie in der berühmten Tancredi– Arie Di tanti palpiti, beschenkte sie den Jubilar. Der vernehmbare Dank des Publikums: Jubel und Bravos zwischendurch und am Ende.
Die als letzte von Krzysztof Pendereckis insgesamt acht Symphonien entstandene Sechste „Chinesische Lieder“ liegt nun in einer weiteren Einspielung mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Antoni Wit vor. Auf der Naxos-Produktion erklingen zudem das Trompeten-Concertino (2015) und das Concerto Doppio von 2012 in der Version für Violine und Violoncello. Die Solisten sind Jarosław Bręk (Bassbariton), David Guerrier (Trompete), Aleksandra Kuls (Violine), Hayoung Choi (Violoncello) sowie Hsin Hsiao-ling (Erhu).
Die Zählung der acht Symphonien Krzysztof Pendereckis (1933‒2020) verließ bereits früh die Chronologie: So wurde etwa die 3. Symphonie erst nach der vierten und fünften fertig. Eine 6. Symphonie war bereits für Ende 1996 bei den Münchner Philharmonikern angekündigt worden. Nach den Premieren der 7. „Seven Gates of Jerusalem“ (1997) und 8. „Lieder der Vergänglichkeit“ (2005 bzw. 2007) rechnete eigentlich niemand mehr mit der noch fehlenden 6. Symphonie; und so entstanden schon CD-„Gesamtaufnahmen“ eben ohne eine solche. Penderecki hatte allerdings seit 2008 an einem Liederzyklus gearbeitet, der – wie Gustav Mahlers Lied von der Erde – altchinesische Dichtungen in der deutschsprachigen Übertragung Hans Bethges vertonen sollte. Die insgesamt acht Lieder, gesetzt für Bassbariton und relativ kleines Orchester, wurden 2017 vollendet und erschienen dann schließlich als 6. Sinfonie (Chinesische Lieder). Nach der Uraufführung in Guangzhou kamen für die Dresdner Aufführung im März 2018 noch vier Zwischenspiele für Erhu – das vielleicht typischste, lediglich zweisaitige Streichinstrument Chinas – hinzu.
Penderecki hat sich ja bekanntlich vorwerfen lassen müssen, vom Avantgardisten zum hemmungslosen Romantiker mutiert zu sein. Wie schon in der 8. Symphonie bedient der Komponist auch in der Sechsten ausgerechnet Texte auf Deutsch. Im Unterschied zu Mahlers Lied von der Erde, wo dieser alle angesprochenen individuellen Befindlichkeiten der altersweisen chinesischen Lyrik gleich in allgemeinen Weltschmerz umdeutet, bleibt Penderecki bei der Einsamkeit seines Protagonisten. Das ist feine Kammermusik, subtil instrumentiert, und interessanterweise nicht so stark mit Penderecki-typischen Intervallfolgen infiltriert wie lange bei ihm üblich. Ja, man darf sich an romantische Liederzyklen erinnert fühlen und ein im engeren Sinne erwartbarer symphonischer Zusammenhang ist schwer erkennbar.
Antoni Wit (*1944), noch Schüler von Henryk Czyż, Stanisław Skrowaczewski und Nadia Boulanger, erlangte als Karajan-Preisträger schnell Weltruhm. Sein größter Verdienst liegt im unermüdlichen Einsatz für zeitgenössische polnische Komponisten, insbesondere Lutosławski und Penderecki, dessen Orchesterwerke er fast komplett für Naxos eingespielt hat – meist in herausragender Qualität. Bislang kamen dafür fast ausschließlich Warschauer Orchester zum Einsatz. Das vorliegende Programm benötigt zwar weniger große Klangkörper; das Norrköping Symphony Orchestra – zuletzt gelobt für seine Aufnahmen der Symphonik Allan Petterssons – fremdelt nun allerdings ein wenig mit der Musik des polnischen Meisters.
Ein echter Schwachpunkt der Wit-Aufnahme ist der leider kürzlich viel zu jung verstorbene Bariton Jarosław Bręk. Verglichen mit Stephan Genz auf der Erstaufnahme der Symphonie unter Wojciech Rajski stört der überdeutliche polnische Akzent Bręks, mehr jedoch seine seltsam unbeteiligte, über Strecken fehlende Ausdeutung des Textes – fast so, als wisse er nicht, von was er da singen soll. In den mittleren Sätzen IV. und V. (Die wilden Schwäne/ Verzweiflung) erweist sich sein deutlich dunkleres Timbre als vorteilhaft, aber selbst hier wirkt der Vortrag blass. Das Orchester bleibt bei der Symphonie ebenfalls nur präzis routiniert, kann höchstens punktuell mal emotional mitreißen. Wenigstens aufnahmetechnisch gewinnt die Neueinspielung, ist durchsichtiger und dynamisch besser ausbalanciert als die recht mulmige CD Accord Veröffentlichung. Kurios allerdings, dass die vier kurzen Erhu-Zwischenspiele mit Hsin Hsiao-ling völlig gesondert ein halbes Jahr später in Hong Kong aufgezeichnet wurden.
Viel besser gelingen die beiden konzertanten Werke: Pendereckis Concerto doppio – 2012 ursprünglich für Violine und Viola konzipiert – ist, so wie sein Bratschenkonzert, inzwischen auch für andere Besetzungen, selbst für Akkordeon, adaptiert worden. Dem Rezensenten gefällt die Fassung für Violine und Cello – die Violastimme wird dazu durchgängig nur nach unten oktaviert – eigentlich besser als das Original. Der zusammengenommen nun größere Ambitus der beiden Solistinnen bietet den in diesem Konzert überwiegenden Duopassagen differenziertere Klangmöglichkeiten. Die polnische Geigerin Aleksandra Kuls – u. a. Schülerin von Kaja Danczowska und Wienawski-Preisträgerin – und die Südkoreanerin Hayoung Choi – Siegerin des Queen Elizabeth Competition 2022 für Cello – übertreffen hier an gestalterischer Energie sogar die Interpreten der Urfassung in Pendereckis eigener Aufnahme. Wit bewegt sich in gewohntem Fahrwasser mit nachtwandlerischer Sicherheit und inspiriert dabei ebenso das schwedische Orchester.
Vom gut 10-minütigen Trompeten-Concertino (2015) existieren bereits mehrere Aufnahmen. David Guerrier, 2003 Erster Preisträger des ARD-Wettbewerbs und seit Anfang des Jahres Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, musiziert das dankbare, zugleich denkbar traditionelle viersätzige Stück mit Hingabe und vollster Überzeugung, perfekt von Wit unterstützt – eine makellose Darbietung, die nur begeistern kann. Für Sammler ist die mit dieser CD vollständige „echte“ Gesamtaufnahme aller Penderecki-Symphonien unter Antoni Wit wohl ein Muss, obwohl eine rundum befriedigende Wiedergabe der 6. Symphonie noch aussteht. Die Konzerte verdienen eine uneingeschränkte Empfehlung.
Vergleichsaufnahmen: [6. Symphonie] Stephan Genz, Polska Filharmonia Kameralna Sopot, Wojciech Rajski (CD Accord ACD 270-2, 2019); [Concerto doppio – Fass. für Violine & Viola] Bartłomiej Nizioł, Katarzyna Budnik, Jerzy Semkow Polish Sinfonia Iuventus Orchestra, Krzysztof Penderecki (DUX 1537, 2018)
Das Wiener Publikum hat am letzten Dienstag [30. Juli] die Möglichkeit gehabt und leider teilweise verpasst, einem außergewöhnlichen Klavierabend beizuwohnen. Es ist durchaus entschuldbar: es ist Sommer, und man hält sich großteils auf dem Land oder in der Ferne auf; alles macht Pause, während die Touristen mit Touristenkonzerten in Perücke und Kostüm abgespeist werden. Andererseits ist es aber vollkommen unentschuldbar, da es hier wenigstens zwei Entdeckungen zu machen gab, und einem Konzert zu lauschen, wie man es nicht oft zu erleben das Glück hat.
Die erste Entdeckung betrifft den Konzertort. Man kennt das etwas renovierungsbedürftige, aber gerade dadurch sehr charmante Jugendstiltheater im Otto-Wagner-Areal mehr vom Hörensagen. Dem Publikum ist es hauptsächlich durch die Wiener Festwochen bekannt, und zur Zeit finden dort die Konzerte der Wiener Meisterkurse statt.
Die Geschichte des Areals, erbaut zwischen 1905 und 1907, umfasst einerseits die Absicht, einen echten Fortschritt für die Patienten in der Psychatrie zu erreichen, andererseits war das Areal aber auch Schauplatz der NS-Euthanasie-Morde am Spiegelgrund, denen Hunderte von Kindern zum Opfer fielen, an die das Mahnmal aus einem zarten Meer von Lichtstelen vor dem Jugendstiltheater erinnert. Diese Gegenwärtigkeit der Vergangenheit verleiht dem schönen Ort einen Ernst, dem sich die Konzertbesucher vor allem beim Verlassen des Theaters in der Dunkelheit nicht entziehen können
Der kleine Saal des Jugendstiltheaters verfügt über eine schöne Akustik dieses kleinen Saals. Im ersten Eindruck etwas überakustisch, verwandelt sich der Saal im Konzert in einen Resonanzraum für feinste musikalische Details.
Diese waren an diesem Abend, und das ist die zweite und eigentliche Entdeckung, dem Pianisten Martin Hughes zu verdanken, der dem Publikum in Wien vor allem als ehemaliger Vorstand der Klavierabteilung der Musikuniversität mdw ein Begriff ist. Dass er selber ein außergewöhnlicher Pianist und Musiker ist, ist ein vielleicht allzu gut gehütetes Geheimnis, das sich jedoch dem mit Staunen zuhörenden Publikum sofort offenbarte.
Das Konzert begann mit der 1. Klaviersonate op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven, die Martin Hughes mit größter Klarheit und Unmittelbarkeit zu Gehör brachte. Man horcht auf, weil alles, was man vom Pianisten an dem hervorragenden Bösendorfer-Flügel hörte, einfach und richtig war, man folgt der erhellend selbstverständlichen Bewegung der Musik: frei von interpretatorischer Über-Absichtlichkeit der Darstellung geschieht ein natürliches Sich-Entfaltenlassen der Musik durch den Pianisten, dem das Publikum gebannt lauschte.
Alles war an seinem Platz, jede Note, jede Phrase, jede Gestalt, und nicht zuletzt der Raum selber: dass dieser mit seiner Akustik immer ein Teil der klanglichen Realität ist, und damit einen Einfluss auf Spiel und Tempo hat, ist eine Erkenntnis, die sogar unter Musikerinnen und Musikern nicht selbstverständlich ist, sich an diesem Abend aber als ein Aspekt der absoluten Meisterschaft von Martin Hughes zeigte.
Die pianistische und kompositorische Brillanz der Intermezzi op. 4 von Robert Schumann entfalten sich unter seinen Händen frei und umstandslos. Doch lief alles an diesem Abend auf die Sonate in B-Dur, op. posth. D960, von Franz Schubert hinaus.
Diese spielte Martin Hughes auf eine Weise, dass man Angst hat, sie jemals wieder anhören zu müssen, weil es schwer vorstellbar ist, dass es mehr als einmal im Leben möglich ist, dieses Werk in seiner Schönheit, Tiefe und geistigen Klarheit so vollkommen wiedergegeben zu hören.
Dabei folgt Martin Hughes einem scheinbar einfachen Ansatz; einem, der streng genommen keiner ist: er hört dem Stück zu und sich selber, während er spielt. Es scheint banal und wie eine Selbstverständlichkeit, es ist aber keine. Und in welche seelische Tiefe sich der langsame Satz damit ausbreitet, wie die Dinge, die man einfach nicht beim Namen nennen kann, erscheinen und entstehen, ist eine wunderbare und schlüssige Konsequenz aus dieser Musizierhaltung.
Die Idee, dass man als Musiker oder Musikerin sich selber ausdrückt durch das Werk, dass man es interpretiert, dass man eine persönliche Art der Darstellung, also eine eigene Interpretation, formt, wird auf diese Weise obsolet und löst sich ganz in Luft auf, weil es bei Martin Hughes nur noch um das freie Spiel der Kräfte geht, die Schubert auf dem Notenpapier gebunden und niedergeschrieben hat.
Man kann diese Sonate natürlich auch anders spielen, da sich das Spiel der Kräfte unter anderen Bedingungen vielleicht auch anders entfalten mag, aber an diesem Abend war die Sonate so wahrhaftig und vollkommen wie nur möglich, und wie sie komponiert wurde.
Die Schönheit der Musik existiert ja tatsächlich nur im Moment des Erklingens; also in einer Zeitspanne, die so jenseits der gemessenen Zeit ist, dass sie ohne Zeit wahrgenommen wird, also nicht eigentlich als Zeit wahrgenommen wird. Das ist nun nicht neu, aber der Zeit auf diese Weise als Maß des Vergehens zu entkommen, ist immer wieder eine besondere, schöne, und vor allem plötzliche Erfahrung, der man erst gewahr wird, wenn sie gerade wieder vorüber ist. Und mit dem Verklingen des Werkes ist der Moment, das Momentum des musikalischen Erlebnisses vorbei und unwiderruflich vergangen. Und so klingt die Musik in den Konzertbesuchern noch lange nach. Denn es ist ja nicht nur die Musik, die nachklingt, sondern ihr Wesen, dem wir in Konzerten wie diesem begegnen und lauschen.
Nur Menschen, die ihr Leben damit verbringen, in das Wesen der Musik einzudringen, sind in der Lage, solche seltenen Ewigkeitsmomente zu erschaffen. Michelangeli sagte einmal, dass ein Leben gerade so dazu ausreicht, eine Sache gut zu machen. Dies ist das Niveau, auf dem sich Martin Hughes pianistisch, musikalisch, und vor allem geistig bewegt, und das ist das eigentliche, das das Publikum in diesem Konzert erleben konnte.
Christoph Schlüren und das Orchestra Simfònica Camera Musicae legen eine Maßstäbe setzende Neueinspielung (und gleichzeitig Uraufführung) von Martin Scherbers Sinfonie Nr. 3 vor. Ergänzt wird das Programm durch Musik von Arvo Pärt und Alessandro Marcello.
Es ist nie ganz leicht und vielleicht auch gar nicht immer überhaupt möglich, Entwicklungen auf dem Tonträgermarkt treffend auf einen Nenner zu bringen. Beschäftigt man sich etwa mit Sinfonik des deutschen und deutschsprachigen Raums, so wird man unter anderem feststellen, dass in den vergangenen drei Dekaden eine ganze Reihe von Komponisten, die in der Schallplattenära noch ihre regelmäßigen Veröffentlichungen hatten, mittlerweile fast gänzlich vom Radar verschwunden sind (exemplarisch sind hier sicherlich etliche Komponisten aus der ehemaligen DDR zu nennen, aber eben längst nicht nur diese, sondern auch viele ihrer westlichen Generationskollegen). Andere dagegen, gerade aus der Romantik und solche, die im 20. Jahrhundert auf ihr aufbauten, haben eine gewisse Renaissance erlebt und sind heute wenigstens diskographisch relativ (oft sogar überraschend) gut dokumentiert, selbst wenn es auch hier nach wie vor erkleckliche Lücken gibt oder aber die vorhandenen Einspielungen deutlich Luft nach oben aufweisen.
Unter all diesen Neu- oder Wiederentdeckungen gibt es m. E. nur wenige, die in solchem Maße polarisiert haben bzw. oft genug derart harsche, negative Reaktionen hervorgerufen haben wie die Musik Martin Scherbers, speziell die Ersteinspielung seiner Sinfonie Nr. 3 h-moll (1952–55) mit Elmar Lampson am Pult, erschienen im Jahre 2001. Auf die Gründe (und Hintergründe) wird noch einzugehen sein; in jedem Falle aber ist die vorliegende Neueinspielung dieses Werks durch das katalanische Orchestra Simfònica Camera Musicae (bzw. seit 2021 Franz-Schubert-Philharmonie) unter der Leitung von Christoph Schlüren allein schon deshalb hochwillkommen, um all dies anhand einer zweiten Lesart auf den Prüfstand stellen zu können.
Martin Scherber, 1907 in Nürnberg geboren und 1974 ebenda an den Spätfolgen eines Unfalls verstorben, war ein Schüler von Gustav Geierhaas (dessen Schaffen übrigens auch eine Renaissance zu wünschen wäre) an der Münchner Akademie der Tonkunst. Nachdem er anschließend für nur wenige Jahre im böhmischen Aussig als Korrepetitor bzw. Kapellmeister gearbeitet hatte, kehrte er rasch nach Nürnberg zurück und führte fortan ein zurückgezogenes Leben als privater Musiklehrer, unterbrochen durch die Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Zutiefst geprägt, und zwar insbesondere auch mit Blick auf sein musikalisches Schaffen, wurde Scherber durch Goethe, speziell dessen Metamorphosenlehre, und die Schriften Rudolf Steiners.
Scherbers Œuvre ist schmal, nicht zuletzt deshalb, weil er 1935 nahezu sein gesamtes frühes Schaffen vernichtete. Als seine Hauptwerke dürfen seine drei Sinfonien gelten, gerade die zweite und dritte, beide Anfang der 1950er Jahre entstanden, nachdem Scherber nach dem Krieg sich mit der Erstellung von Klavierauszügen von Bruckners Sinfonien Nr. 3–9 darauf gleichsam „vorbereitet“ hatte. Die Dritte ist so etwas wie sein „Opus summum“, und obwohl ihm nach ihrer Fertigstellung noch 15 Jahre blieben, bis ein betrunkener Autofahrer ihn erfasste und für den Rest seines Lebens schwer zeichnete, schuf Scherber danach keine weiteren größeren Werke mehr.
In den 1950er Jahren war es vor allem der Dirigent Fred Thürmer, der sich um sein Schaffen verdient machte und die ersten beiden Sinfonien zur Uraufführung bringen konnte. Die Dritte hingegen blieb zu Scherbers Lebzeiten allen Mühen zum Trotz (inklusive u. a. einer Absage durch Bruno Walter, der mit dieser Musik nichts anfangen konnte) unaufgeführt. Die weiter oben genannte CD-Einspielung, aufgenommen 1999, dokumentiert in der Tat die erste Mal, dass diese Musik von einem Orchester gespielt wurde. Die eigentliche Uraufführung aber fand tatsächlich erst am 1. Dezember 2019 in Barcelona statt; eine der beiden CDs dieses Albums enthält ihren Mitschnitt.
Natürlich ist schon zu Beginn der Sinfonie deutlich zu hören, dass sich Scherbers Tonsprache deutlich an Bruckner orientiert (hier speziell an dessen Sechster Sinfonie). Die Moderne seiner Zeit spielt für Scherber dagegen keine Rolle, er war (völlig bewusst) gewissermaßen ein „Unzeitgemäßer“, der radikal nur die Musik schrieb, die für ihn selbst Relevanz besaß, unberührt von zeitgenössischen Schulen, Strömungen und Moden. Wenn man daraus nun aber schließt (wie häufig geschehen), einen Bruckner-Epigonen vor sich zu haben, der des Meisters Zehnte schrieb, dann verharrt man lediglich an der Oberfläche dieser Musik und übersieht einige der zentralen Aspekte von Scherbers Ansatz, denn wie schon Fred Thürmer bemerkte: entscheidend ist das „Wie“ (es gemacht ist) in Scherbers Musik.
An diesem Punkt nämlich kommt das Metamorphosenprinzip ins Spiel: was am Anfang in den Violinen wie eine Brucknerreferenz anmutet, ist faktisch der „Hauptrhythmus“ der Sinfonie, und die ersten sechs Noten des in Celli und Bässen einsetzenden Hauptthemas bilden den sogenannten „Themenkern“. Aus diesen beiden Elementen leitet Scherber nun in fortwährender, allmählicher voranschreitender Metamorphose seine gesamte Sinfonie ab. Hier ist, wie Schlüren bemerkt, in der Tat alles mit allem verwoben, gibt es nichts Beiläufiges, nur organisches Wachsen, Sich-Entwickeln, und dies in aller gebotenen Ruhe und Ausführlichkeit. Bei aller Wucht, die diese Musik an ihren machtvollen Höhepunkten entfaltet, handelt es sich also gleichzeitig um ein Werk von äußerster Reduktion, Askese, Radikalität und Konsequenz.
Ebenso interessant ist dabei die Form. Scherbers Dritte ist erst einmal ein einsätziges Werk in der Tradition von Liszts Klaviersonate h-moll im Sinne einer „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit“ (im Rahmen eines riesigen Sonatenallegros). So suggerieren die Anfangstakte zunächst ein sinfonisches Allegro, trifft man ein wenig später auf einen klar definierten Scherzo-Abschnitt, auf den eine Art Adagio folgt, und schließlich setzt gegen Ende so etwas wie eine „Reprise“ ein, die angesichts der permanenten Metamorphose natürlich aber auf keine bloße (oder auch leicht abgewandelte) Wiederholung hinauslaufen kann.
So ist das Werk im Rahmen von Lampsons Ersteinspielung präsentiert worden. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um eine Ebene, und was seinerzeit übersehen wurde (und wohl auch seinen Teil dazu beigetragen hat, dass die Sinfonie teils als „formlos“ missverstanden wurde), ist, dass Scherber sein Werk darüber hinaus in zwölf Abschnitte unterteilt hat, die den Tierkreiszeichen (dem Zodiak also – daher der Titel des Albums) entsprechen. So durchläuft die Sinfonie gleichzeitig einmal das Jahr vom (Frühlings-) Beginn des Widders bis hin zur Rundung und gleichzeitig feierlichen Wiederkehr (des Frühlings, des Jahreszyklus) durch die Fische. Das Scherzo entspricht hierbei dem Krebs, das (beginnende) Adagio dem Löwen, die angedeutete Reprise fällt in den Steinbock (und damit, wie Schlüren bemerkt, in die Wintersonnenwende).
Natürlich muss man dieser Bedeutungsebene nicht in jeder Konsequenz folgen, obwohl es zweifelsohne ein sehr schönes Bild ist, wenn Schlüren den still-fahlen Beginn des fünften Abschnitts mit einem durch die sommerliche Mondnacht schleichenden Löwen assoziiert. Was aber entscheidend ist: die zwölfteilige Struktur, zusammen mit Schlürens exzellenten, detaillierten Erläuterungen zum musikalischen Geschehen in diesen Abschnitten, hilft immens dabei, sich in diesem Koloss zurechtzufinden, und auf einmal erscheint diese Musik überhaupt nicht formlos, sondern man wird in der Tat Zeuge all der „Verpuppungen“ des Grundmaterials, des Auseinander-Hervorgehens der einzelnen Teilabschnitte, und lauscht gebannt, bis die Fische Schritt für Schritt die Moll-Tonalität in den triumphalen H-Dur-Schluss der Sinfonie verwandeln, wobei sich die neapolitanischen Wendungen selbstredend auf den Themenkern zurückführen lassen.
In der Vergangenheit haben einige von Scherbers Äußerungen zu seiner Musik gelegentlich zum Polemisieren gereizt, und sicherlich mutet einiges davon eigenwillig an. Am Ende erscheint mir all dies allerdings bestenfalls zweitrangig und eher geeignet, den Blick vom Wesen und Wesentlichen seiner Musik abzulenken. Insbesondere sei betont: um diese Musik schätzen zu lernen, benötigt man keinerlei Affinitäten zur Anthroposophie und auch nicht zur Astrologie – man kann sich natürlich in dem Umfang, der einem selbst hilfreich erscheint, mit vielen Hintergründen befassen, doch am Ende ist die entscheidende Frage doch stets „nur“, ob ein Stück Musik als solches funktioniert, bereichernd ist, ungeachtet aller zusätzlichen Bedeutungsebenen. Letztlich spricht Scherbers Musik ganz für sich, man muss nur ihre Strukturen begreifen, bereit sein, sich auf ihr langsam voranschreitendes Wachsen einzulassen, um sich für sie begeistern zu können.
Dies gilt übrigens umso mehr, als dass sich manchmal ein wenig der Eindruck aufdrängt, als begegne man wenig(er) bekannten Komponisten von Musik, die erhebliche Dimensionen aufweist, Ambitionen jenseits des Erwartbaren verrät, oft genug mit einer gewissen grundsätzlichen Skepsis. Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur etwa die Reaktionen auf die Musik Felix Weingartners, der in seinen besten Werken ein unterhaltsamer Eklektiker ist, mit denjenigen auf das Schaffen Wilhelm Furtwänglers, der ein ungleich substantiellerer Komponist ist, dessen Musik aber oft genug auf hartnäckige Vorbehalte trifft. So unähnlich scheint mir der Fall Scherber nicht gelagert.
Eine Besonderheit des vorliegenden Albums ist, dass es (fast) das gesamte Programm in doppelter Ausführung liefert, nämlich einmal als Konzertmitschnitt vom 1. Dezember 2019, einmal als Studioaufnahme vom Tag darauf. Ein reizvolles Konzept, dessen Vorzüge in diesem konkreten Fall Schlüren selbst auf den Punkt bringt: der Konzertmitschnitt kommt mit etwas besserer, vollerer Akustik daher, die Studioaufnahme ist noch etwas „perfekter“, vielleicht in der dramaturgischen Stringenz einen Hauch zwingender. Von solchen Details abgesehen, tragen beide Aufnahmen natürlich eindeutig dieselbe Handschrift.
Insbesondere sind die Einspielungen fast exakt gleich lang, nämlich jeweils gut 66 Minuten. Dem mit der Aufnahme Lampsons vertrauten Hörer wird also auffallen, dass Schlüren deutlich mehr Zeit für die Sinfonie in Anspruch nimmt. Dies hat gewiss musikimmanente Gründe, denn die komplexen, verflochtenen Strukturen dieser Sinfonie benötigen ihre Zeit, ihren Raum, um sich entfalten zu können. Zum anderen hat Scherber (zusammen mit Martin Held) seine Sinfonien selbst in Fassungen für zwei Klaviere eingespielt, und Lampson (wie übrigens auch Samuel Friedmann in seiner Einspielung der Zweiten Sinfonie) hat sich an den Tempi dieser Aufnahmen orientiert. Vom vollen Orchester gespielt, schwebten Scherber aber andere, deutlich breitere Tempi vor, und so sah er für seine Zweite Sinfonie eine Spieldauer von 60 Minuten und für die Dritte eben mehr als 60 Minuten vor. Hieran orientiert sich, im Übrigen in bestechender musikalischer Logik, Schlürens Neueinspielung.
Insgesamt ist Schlüren und seinem Orchester hier ein famoses Plädoyer für diese Sinfonie gelungen, eine Einspielung, die nicht nur durch ihre Transparenz besticht, das sorgfältige Herausarbeiten aller Stimmen (in einem gar nicht einmal direkt kontrapunktischen Satz, bei dem sich aber dennoch alle Stimmen ergänzen, in stetig fließendem Bezug zueinander stehen), sondern auch durch ihre vorzügliche organische Disposition, ihren sorgfältigen Aufbau von Höhepunkten über weite Strecken hinweg. Schlüren selbst verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf das Scherzo, dessen finale Kulmination es erfordert, nicht zuvor bereits alle Reserven aufgebraucht zu haben; ich möchte aber ebenso hervorheben, wie klar in dieser Aufnahme das finale „Drängen“ der Sinfonie „heim“ nach H gestaltet wird, gerade gegen Ende des Steinbocks und des Wassermanns. Hier „will“ die Musik förmlich zu ihrem (tonalen) Ursprung zurück, in die finale Apotheose münden. Und natürlich profitieren ganz grundsätzlich die vermeintlich repetitiven, in Wahrheit eben in einem stetigen Prozess allmählichen Wandels begriffenen Strukturen dieser Musik enorm von einer so umsichtigen, weitsichtigen Darbietung wie auf diesen CDs geschehen.
Viel Zeit bleibt angesichts der zeitlichen Ausdehnung von Scherbers Sinfonie zwar nicht mehr, aber Schlüren nutzt dennoch (einmal mehr) die Gelegenheit, die Musik „einzuordnen“, ihr einen Rahmen zu geben und auch Parallelen aufzuzeigen. Dies gilt in besonderem Maße für Arvo Pärts (* 1935) Festina lente für Streichorchester (1988), einem Proportionskanon, bei dem das Thema in drei Geschwindigkeiten gespielt wird, mit den Bratschen als Referenzpunkt in der Mitte, einer schnelleren Variante in den Violinen und einer langsamen in den Kontrabässen. Schlüren bezieht dieses Stück dabei explizit auf den Löwen in Scherbers Sinfonie, der mit Pärts Stück nicht nur die Tonart a-moll teilt, sondern in der Tat auch sonst in vielerlei Hinsicht (klanglich, atmosphärisch) verblüffende Parallelen aufweist und Scherber so auf einmal in Bezug zu minimalistischen Techniken setzt, die tatsächlich seinem Metamorphosenprinzip so fremd gar nicht einmal sind. Vereint Pärts Stück also drei Zeitebenen, so tut ebendies auch die CD (bzw. in diesem Fall nur die erste), wenn das Programm noch um den Mittelsatz von Alessandro Marcellos (1673–1747) Oboenkonzert d-moll (1717) ergänzt wird, versehen mit Verzierungen aus Johann Sebastian Bachs Adaption dieses Werks für Cembalo (BWV 974). Den Solopart spielt hierbei Pau Roca Carreras, der Solooboist des Orchesters.
Abschließend sei noch einmal auf Schlürens extensiven Begleittext hingewiesen; allein die deutsche Variante ist bereits ein kleines Buch von 35 Seiten. Schlüren geht hier ausführlich auf Scherbers Leben und Werk ein, natürlich auch auf die Stücke von Pärt und Marcello, ganz besonders eingehend aber wie bereits erwähnt auf Scherbers Dritte Sinfonie. Allein, um diese Ausführungen lesen zu können und dadurch einen wesentlich geschärften Blick auf das zu erhalten, was sich in dieser Sinfonie eigentlich ereignet, lohnt es sich bereits, die CDs zu kaufen und eben nicht zu streamen, herunterzuladen oder was auch immer. Schließlich diskutiert Schlüren noch verschiedene grundsätzliche Aspekte wie die Genese einsätziger Sinfonik, Musik mit Bezug auf die Jahreszeiten oder eben die Tierkreiszeichen sehr eingehend und speziell mit ausführlichen Auflistungen. Der interessierte Leser sollte dies alles vor allem auch als Angebot begreifen, mit Zeit und Muße diese Listen studieren und in eigener Initiative nach dem ein oder anderen ihm womöglich bislang unbekannten Werk oder Namen forschen. Insgesamt ist dies eine von äußerster Sorgfalt und größtem Engagement geprägte, in jeder Hinsicht vorbildliche Produktion.