Aldilà Records, ARCD 017; EAN: 9 003643 980174
Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.
Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.
Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.
Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:
„Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.“
Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.
Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.
Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.
(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).
Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.
Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.
Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.
Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.
Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.
Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.
Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.
[Jacques W. Gebest, April 2024]
Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zur Besprechung des Konzerts, das auf der CD festgehalten wurde.