Im Bruckner-Jahr hat das Publikum die Möglichkeit zur eingehenden Beschäftigung mit den Symphonien von Anton Bruckner. Die Aufführung seiner 5. Symphonie durch das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Marek Janowski am 8. März 2024 im Wiener Musikverein gab dabei Gelegenheit, einige grundlegende Überlegungen anzustellen.
Zunächst überraschte und überzeugte das Bruckner Orchester Linz von den ersten Noten an mit etwas, das man tatsächlich Bruckner-Klang nennen kann: ruhige Bogengeschwindigkeit auch bei zunehmend rascheren Tempi und sparsames Vibrato bei den Streichern und ein in jeder Dynamik kompakter, nie überbordener Bläserklang ließen erst aufhorchen und dann vertieft zuhören. Es steht völlig außer Frage, dass dieses Orchester ein echtes Bruckner-Orchester ist, und in der Lage, den besonderen Anforderungen einer Bruckner-Partitur im Hinblick auf dunkle, grundierte Tongebung, langen Atem und Perspektive weiter Klangflächen gerecht zu werden.
Marek Janowski kann man mit höchstem Respekt einen großen Dirigenten der alten Schule nennen, wenn man eine solche in Gegensatz zu einer neuen, bzw. modernen Schule stellen könnte, allein ermangelt es wohl einer solchen. Marek Janowski zeigt eindrücklich, was ein wirklicher Dirigent ist, dem es um das Werk geht und darum, jederzeit mit sicherer Hand und angemessener Zeichengebung einen musikalischen Fluss zu ermöglichen und zu steuern.
Es gibt nicht viele Dirigentinnen und Dirigenten der jüngeren Generation, die dies vermögen, oder überhaupt das Bedürfnis nach einer solchen Berufsauffassung zeigen – was gerne als Aufforderung verstanden werden darf, sich doch wirklich um eine fundierte dirigentische Bildung und Ausbildung mit etwas Demut vor den zu dirigierenden Werken und ihren Komponisten zu bemühen, und sich nicht von frühen und raschen Karriereerfolgen entweder blenden zu lassen oder sich solche zum Vorbild zu nehmen.
Janowski zeigt uns, dass der Dirigierberuf eine Substanz hat, die nicht wegdefiniert werden kann, hochaktuell und gleichzeitig kaum noch vorhanden, und nicht den Schwankungen von Moden oder dem Geschmack des Social-Media-Publikums unterworfen ist, sondern zeitlose Anforderungen stellt, und was es heißt, nicht einem volatilen Erregungsgrad, wodurch auch immer hervorgerufen, beim jederzeit applausbereiten Publikum zu dienen.
Dies vorausgeschickt, muss nun aber trotzdem konstatiert werden, dass der Abend nicht so verlief wie zunächst erhofft. Bruckners 5. Symphonie gilt von jeher als seine schwierigste, vor allem, weil das Finale aus scheinbar unübersichtlichen Kontrapunktstücken besteht, bevor es dann glücklich in einen überwältigenden Schlusschoral mündet, der nicht nur als Coda den letzten Satz, sondern die ganze Symphonie zusammenfasst, abrundet und beschließt. Das kann nur Bruckner.
Beginnen wir mit dem 1. Satz. Die ersten Takte ließen unbedingt klanglich aufhorchen, selten und schon lange nicht mehr so gehört, doch schon bald störte beim ersten „Bewegter“, wo Bruckner das künftige Allegro-Tempo als Referenz vorschreibt, ein etwas zu gewolltes accelerando die natürlich Entwicklung.
Es gibt wohl eine Tradition, hier das Tempo zugunsten eines dramatischen Effekts anzuziehen, doch widerspricht dies nicht nur der Vorgabe Bruckners, sondern überhaupt dem alten Gesetz und klassischen Prinzip der Tempoproportion, dem sich Bruckner als vermeintlicher Romantiker – kaum unpassender kann dieser Begriff sein als im Zusammenhang mit dieser Symphonie – hier verschreibt, und dem auch sein wiederum vermeintlicher Antagonist Brahms, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie, gehorcht hat.
Nun, einer Partitur mit ihren innewohnenden Gesetzen strikt zu gehorchen ist nicht jedermanns Sache; zu gerne und zu leicht stellt man auch unmerklich den Komponisten hintenan und sich selbst vor das Werk, was das Publikum oft dankbar mit einem anerkennenden Seufzer angesichts eines erkennbaren sogenannten Gestaltungswillens des Interpreten honoriert.
Marek Janowski ist jedoch erkennbar kein Egomane, dem die Partitur in dieser Beziehung egal wäre, sondern als Dirigent immer ein Diener des Werks und Metierbeherrscher, jedoch scheint er hier der obengenannten Tradition zu folgen, die aus Althergebrachtheit noch nicht das Bedürfnis oder die Gelegenheit hatte, eine Bruckner-Partitur nicht nur als Empfehlung anzusehen, und sogar als eine Art Verfügunsgmasse, mit der man irgendetwas anstellen muss, um sie zur Wirkung zu bringen. Nun hat man mit Bruckner‘schen Symphonien bekanntermaßen schon zu seinen Lebzeiten alles Mögliche angestellt, und es fehlt auch heute noch oft, und das ist eine bittere Erkentnis, eine Befreiung von falschen Traditionen, durch die Bruckner nicht mehr als irgendetwas interpretiert, sondern wirklich durchgehört und dann entsprechend musiziert wird. Das gab es vereinzelt hier und da, doch liegt das schon eine Zeit zurück und ist wohl nicht durchwegs auf fruchtbaren Boden gefallen.
So braucht man zunächst viel Vertrauen in Bruckner, um sich auf die Mächtigkeit seiner Symphonien einzulassen und die absolute Klarheit seiner Partituren zu erkennen, und sie letztlich ausschließlich aus den Gesetzlichkeiten des Tonsatzes entstehen zu lassen.
Beim Beginn des 1. Satzes, störte also das so willkürlich-traditionelle wie traditionell-willkürliche accelerando die auskomponierte, also nicht interpretierbare, Tempoproportion, auch wurde die höchste Spannung des dem Allegro unmittelbar vorausgehenden Adagios mit seinen dominantischen Nonen-Akkorden bedeutungslos überspielt anstatt seine Funktion als unmittelbarer Auslöser des Allegros hörbar zu machen, um das Tempo nun gänzlich ohne Berücksichtigung des Tempoverhältnisses noch weiter zu beschleunigen, vielleicht in der Hoffnung, diese gefürchtete „symphonische Riesenschlange“ (so der unvermeidliche Hanslick) am Ende nicht zu lang werden zu lassen.
Musik hält oft einiges aus; so sind Symphonien von Beethoven vergleichbar eingreifenden Ansätzen gegenüber, die meist als Geschmacksfragen abgetan und dadurch einer substanziellen Diskussion enthoben werden, durchaus resilient. Bruckner hat solchen Eingriffen weniger entgegenzusetzen, scheint es, und so zerfiel der 1. Satz nach und nach, doch noch unmerklich, da das Heilsuchen in schnellen Tempi, in der Coda auf die Spitze getrieben, und in oberflächlicher Dramatisierung zumindest den Effekt hatte, über die verlorengehenden Details hinwegzuwischen. Bruckner ist aber kein Dramatiker, sondern ein Symphoniker.
Und so war kaum etwas irgendwann die musikalische Konsequenz des Vorhergegangenen. Das ging an, solange man als Hörer nicht den wunderbaren Klang des Orchesters vom ersten Beginn vermisste, der mit zunehmender Länge des ersten Satzes nach und nach seine innere Gefasstheit, und damit von seiner ureigenen Bruckner-Orchester-Linz-Qualität, verlor.
Wirklich virulent wurde dieses wie ein Riss in einer Mauer fortschreitende Phänomen mit dem zweiten Satz, der denn auch als nicht gelungen bezeichnet werden muss. Es existiert hier eine immerwährende Diskussion darüber, ob der Beginn eigentlich im vogegebenen alla-breve Metrum in sechs oder in vier geschlagen werden soll. Das mit vier Takten beginnende Streicher-Pizzicato ist in triolischen Vierteln notiert, das dann einsetzende Thema in duolischen Vierteln.
Die erste Meinung, durchaus schwierig umzusetzen, geht dahin, gegen die Triolen des Pizzicatos der Streicher vier zu schlagen, was zu einer starken – aber so komponierten – metrischen Spannung führt, die von der mit dem Thema einsetzenden Oboe komplettiert wird. Eine andere, pragmatischere Meinung, der Marek Janowski hier folgt, findet es besser, sechs zu schlagen, weil es einfacher für die Streicher sei, und auch im Verlauf des Satzes seine Vorteile habe. Oder man argumentiert gar, Bruckner habe falsch notiert – welch köstlich-naive Vorstellung!
Es war nun sehr interessant zu beobachten, was daraus folgte. Das Tempo ist zu Beginn als „Sehr langsam“ bezeichnet, resultierte an diesem Abend dann aber durch im Tempo nicht ganz stabile Triolen-Viertel, hörbar am unweigerlichen Davonrennen der Sextolen-Achtel, die das erste Thema in das zweite überleiten, in ein dahinfließendes Andante, und wurde durch dieses etwas zu rasche Tempo, bedingt durch das nicht stattgefundene Gegen- und Übereinander von Triolen und Duolen beim Beginn, zur Ursache einer durchgehend wachsenden klanglichen inneren Nervosität der Ausführung.
Auch das zweite Thema, mit „Sehr kräftig, markig“ bezeichnet, brachte keine Ruhe ins Spiel, vielmehr zog der Dirigent ganz ohne Not oder Partituranweisung das Tempo noch einmal an und versäumte so schon zu Beginn, dem Werk den breiten Atem zu geben, den es braucht, um auch der Steigerung zum Schluss hin ihre ganz von innen kommende Wirkung zu ermöglichen.
Das Werk bekam keine Zeit, sich vollends zu entfalten, und das Ergebnis war nun, wo Ruhe in der Bewegung hätte sein müssen, eine eigenartige, nervöse Unruhe und klangliche Instabilität, die sich durch den gesamten zweiten Satz zog; dies mit der äußerst eigentümlichen Folge, dass das Publikum, von dieser inneren Unruhe zunehmend erfasst, nach dem zweiten Satz plötzlich zaghaft und fast ratlos applaudierte, als wenn es sich von seiner eigenen Nervosität zu befreien suchte (und keineswegs, weil es die Regel, zwischen den Sätzen nicht zu klatschen, etwa nicht gekannt hätte).
Was dem zweiten Satz so abträglich war, störte beim dritten Satz viel weniger, da Bruckner hier deutliche Tempoveränderungen zwischen den Ideen, bzw. Themen, vorschreibt, die die robuste Materie des Scherzos sogar fördern; eine gewisse Willkür in der Tempowahl ist hier sowohl weniger auffällig, als auch schwerer zu bewerkstelligen, und kann sich nicht so negativ auswirken wie in den beiden vorangegangenen Sätzen.
Das Orchester nahm intuitiv die Möglichkeit wahr, im Verlaufe dieses Satzes wieder zu einer gewissen Solidität zu finden, wenn auch das Versprechen der ersten Takte des ersten Satzes nicht wieder eingelöst werden konnte. Hier sei am Rande empfohlen, zumindest die ersten Holzbläser im forte und fortissimo zu verdoppeln, da das wunderbare Blech das Holz in dieser Lautstärke meist überdeckte, trotz der unfassbar guten Akustik des Musikvereins, die großen Ton und Transparenz im Klang gleichermaßen begünstigt – es fällt wahrhaftig schwer, dort zu sitzen und nicht zu glauben, dass es irgendwo auf der Welt eine bessere Akustik geben könnte.
Der letzte Satz verging dann, wie es nach dem Verlauf der ersten drei Sätze zu erwarten war: der Beginn mit den Zitaten der vorigen Sätze wurde schnell abgehandelt, die Klarinette warf lustvoll und etwas zu keck (es ist eben noch kein Mahler) das zukünftige Hauptmotiv des Finales ein, das sich dann mehr oder weniger, aber immer kraftvoll artikuliert, entfaltete.
Der vorherrschende Kontrapunkt des Satzes ist in einer heilsamen Weise bestimmend, da er sui generis keine zu schnellen Tempi zulässt und deutlich ausformuliert sein möchte. Gleichwohl fand die große Form des Satzes nicht mehr statt, der große Faden war längst gerissen und verloren, es blieb beim Klein-Klein, bis sich am Ende in der Choral-Coda alles doch glücklich miteinander versöhnte.
Das Publikum spendete beherzten und anhaltenden Beifall, denn es hatte das Glück, ein an sich wunderbares Bruckner-Orchester mit einem hervorragenden Dirigenten, der eine absolute Zierde für die Profession und unbedingt ein Vorbild für die nachwachsende dirigentische Generation ist, zu erleben, dessen Ausführung gleichwohl von obsoleten Traditionen und einer diesen innewohnenden, ganz unangebrachten Angst, das Ende der Symphonie nicht zu erreichen, geprägt war.
Es sind eben doch keine symphonischen Riesenschlangen, und auch keine symphonisch-oberösterreichischen Hügellandschaften, sondern lediglich große, sehr große Symphonien, die dem Gedanken der persönlichen Interpretation, dem Gedanken, der Interpret sei frei und solle oder könne etwas mit einem Stück „machen“, klare Grenzen setzen. Das war an diesem Abend zu lernen, und das ist schon einmal eine Erkenntnis für das Brucknerjahr, die Hoffnung für die Zukunft der Bruckner-Praxis weckt.
Ein Wunsch für das laufende Bruckner-Jahr wäre, dass sich die Aufführenden immer neu mit den Partituren und den diesen innewohnenden Gesetzlichkeiten auseinandersetzen und diese umzusetzen versuchen, und gerne daran scheitern, ohne sich in einfache Antworten oder Routine zu retten. Diesmal hat uns Bruckner geprüft, und es hat noch nicht ganz gereicht.
[Jacques W. Gebest, März 2024]