Pēteris Vasks: Angele Dei. Gebet an (Deinen) Schutzengel für gemischten Chor
(SATB) a cappella
Schott: C 60012. ISMN: 979-0-001-21421-6.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stimmen immer lauter wurden, dass die Tonalität erschöpft sei und man nun andere Wege beschreiten müsse, wer hätte da gedacht, dass es hundert Jahre später nahezu anders herum ist: Nun scheint gerade das Suchen und Experimentieren erschöpft. Die Grenzen ausgelotet, die Extremata errungen, schlichtweg alles offen. Sich in dieser musikalischen Welt einen Platz zu erringen, beschert unmittelbar Gegenstimmen: Zwischen konservativ-altväterlich und unhörbar-klanglastig, zwischen formalistisch und willkürlich, die Gruppen sind gespalten.
Einen spannenden Weg schlug schon früh der in Lettland geborene Komponist Pēteris Vasks ein. Seine Musik gestaltet sich modern und doch stets der Tonalität verpflichtet. Ihr oberstes Gebot, und das lässt sie unter unzähligen Komponisten unserer Zeit herausleuchten, betont die Schönheit, die Anmut und die Eleganz – andere Stimmungen und Gefühle finden freilich ihren Platz, doch stets einer größeren, im Innersten positiv aufwärts gerichteten Energie verpflichtet. Die Musik bleibt verständlich. Eine Ehrfurcht vor der Natur und dem Raum durchflutet jede Note, die oftmals durch einen christlich geprägten Tonfall ergänzt wird.
Die Werke von Pēteris Vasks werden bei Schott herausgegeben, wo mit großem Eifer auch die neuesten Werke angemessen rasch gedruckt und publiziert werden. In sauberem, gut leserlichem Design laden die Werke Profi- wie auch engagierte Amateurmusikerinnen und -musiker ein, diese Musik auszuprobieren.
Eines der frisch herausgegebenen Werke ist das Chorstück Angele Dei, ein Gebet an „(Deinen)“ persönlichen Schutzengel: „Engel Gottes, mein lieber Schutzengel, wem mich Gottes Liebe hier verpflichtet, immer diesen Tag, sei an meiner Seite, zu beleuchten und zu bewachen, zu regieren und zu führen. Amen“. Es wurde 2021 komponiert und am 16. April des gleichen Jahres unter Leitung seines Widmungsträgers Sigvards Kļava uraufgeführt, der schon mehrere Werke Vasks‘ aufgeführt und eingespielt hat.
Bei Angele Dei handelt es sich um eine Meditation für Chor a cappella, ein inniges Werk voll Gefühl, Dankbarkeit und Licht. Es lässt sich auch von Amateurchören realisieren, wenngleich ein umfangreicher Atem vorausgesetzt wird sowie die Fähigkeit, die Intonation auch bei langen Tönen sauber halten zu können. Die Musik weist eine klare Bogenform auf, hin zu einem Höhepunkt auf das Wort „custodi“ (bewachen), wonach die Musik sich wieder entspannt. Das Werk steht, ohne Vorzeichen notiert, in Es-Dur und bleibt dieser Tonart treu, wenngleich changierende Harmoniewechsel innerhalb der durchspürbaren Grundtonart vielfältige Klangfarben evozieren. Immer wieder würzt Vasks die Akkorde durch Erweiterungen, die aber nie schmerzhaft, sondern warm resonieren und Freundlichkeit ausstrahlen. Die vier Stimmen mäandern allmählich vor sich hin und entwickelt sich stetig, ohne dabei auffallend hervorzustechen, vergleichbar am ehesten mit einer Pflanze, die unaufhaltsam ihren Weg zum Licht sucht, ohne dass wir dieses Streben aktiv mitbekommen, dann aber doch deutlich verspüren. Erreicht wird das Licht am Ende, wo nach einer plagalen Kadenz über f-Moll sich plötzlich ein luzider C-Dur-Akkord fast übernatürlich rein erhebt.
[Oliver Fraenzke, Januar 2024]