Der internationale Ernst von Siemens Musikpreis geht 2024 an die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin. Die Auszeichnung für ein Leben im Dienste der Musik ist mit 250.000 Euro dotiert. Die Preisverleihung findet am 18. Mai 2024 im Herkulessaal der Münchner Residenz statt. Die mit je 35.000 Euro ausgestatteten Förderpreise Komposition gehen 2024 an Bára Gísladóttir aus Island, den Italiener Daniele Ghisi sowie Yiqing Zhu aus China.
Die Ernst von Siemens Musikstiftung hat die Preisträger 2024 für Komposition bekanntgegeben. Den Hauptpreis erhält die aus Südkorea stammende Komponistin Unsuk Chin (*1961), die nach Studien in ihrer Heimat mit einem DAAD-Stipendium 1985 in Hamburg Schülerin von György Ligeti wurde und seit langem in Berlin lebt – bei nunmehr 51 Preisträgern erst die fünfte Frau. Als vor zwei Jahren die Deutsche Grammophon die Aufnahmen der 1. & 3. Symphonie der farbigen Amerikanerin Florence Price unter Yannick Nézet-Séguin – zunächst – als erste CD des Labels überhaupt vorstellte, die dem Werk einer einzigen Komponistin gewidmet sei, lag deren PR-Abteilung daneben. Tatsächlich war bereits 2005 in der Reihe DG 20/21 ein Album erschienen, das ausschließlich Musik keiner Geringeren als Unsuk Chin enthielt, darunter zwei Schlüsselwerke: Xi für Ensemble und Elektronik sowie Akrostichon-Wortspiel. Darin vertonte sie – neben Michael Ende – schon Texte von Lewis Caroll, der Dichterin, die später Inspirationsquelle für ihre bisher einzige Oper Alice in Wonderland wurde – 2007 erfolgreich von Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt.
Chin wurde insbesondere durch bis ins kleinste Detail ausgetüftelte, oft großbesetzte Orchesterwerke berühmt. Hier entwickelte die Komponistin eine ganz persönliche Klangsprache von berauschender Farbigkeit und Intensität. Ihre Instrumentalkonzerte – neben je einem für Klavier, Violine und Violoncello erstaunte Chin 2010 mit Šu für die chinesische Mundorgel Sheng – machen längst einen Siegeszug um die ganze Welt. Letzteres war – mit Wu Wei, freilich dem einzigen Solisten, der Šu bislang bewältigt – vor anderthalb Jahren bei der musiva viva in München zu hören. Darin zeigt sich auch, dass Unsuk Chin bei der Einbeziehung fernöstlicher Elemente einen ganz anderen Weg geht als etwa ihr Landsmann Isang Yun. Zu welchen vokalen Großtaten sie fähig ist, beweist nicht zuletzt die Komposition Le silence des Sirènes (2014), erst kürzlich in einer hinreißenden Aufnahme mit Barbara Hannigan und den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle erschienen.
Man darf schon jetzt darauf gespannt sein, welche ihrer Werke bei der offiziellen Preisverleihung am 18. Mai 2024 um 19.30 Uhr im Herkulessaal der Münchner Residenz zu hören sein werden. In diesem Rahmen werden dann auch wieder die drei Förderpreisträger Komposition in filmischen Kurzporträts von Johannes List vorgestellt werden – immer ein echtes, oft witziges Highlight dieser Veranstaltung.
Als diesjährige Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung wurden benannt:
Bára Gísladóttir (*1989), einmal mehr ein herausragendes Beispiel der für ein so kleines Land überaus aktiven Neue-Musik-Szene Islands mit geradezu erstaunlich vielen weiblichen Protagonistinnen.
Daniele Ghisi (*1984) – Der Italiener war u. a. Schüler des in Deutschland immer noch weit unterschätzten Stefano Gervasoni, studierte daneben Mathematik und untersuchte in seiner Dissertation Techniken für computergestützte Komposition.
Yiqing Zhu (*1989) – Der chinesische Komponist und Pianist schloss nach Jahren in Shanghai und Kopenhagen 2019 sein Studium in Stuttgart ab, u. a. bei Marco Stroppa. Neben der zeitgenössischen Musik setzt er sich auch mit der traditionellen östlichen Musik, der elektronischen Musik, dem Jazz, der Welt- sowie der Popularmusik auseinander.
Weitere Informationen – darunter ausführlichere Essays – zu den Preisträgern 2024 findet man auf der Website der Ernst von Siemens Musikstiftung. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist der Besuch des Preisverleihungskonzertes keineswegs nur geladenen Gästen vorbehalten, sondern die Veranstaltung steht – wie bisher – auch dem interessierten Publikum offen, wenn man sich vorher bei der Stiftung anmeldet (preisverleihung@evs-musikstiftung.ch).
Begeisterte der Brite Neil Thomson in der engagierten Naxos-Serie „The Music of Brazil“bereits auf 3 CDs mit Symphonik Claudio Santoros, widmet er sich auf der vorliegenden Veröffentlichung – diesmal mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo samt Chor – zwei Schlüsselwerken von José Antônio de Almeida Prado: Den Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo von 1969 – mit den Solisten Clarissa Cabral und Sabah Teixeira – sowie der Sinfonia dos Orixás von 1985.
Das mit bald 400 Werken – darunter viel Klavier- und Kammermusik – äußerst umfangreiche Schaffen des Brasilianers José Antônio de Almeida Prado (1943–2010) hat es noch kaum nach Europa geschafft, obwohl der Komponist nach den Lehrjahren bei seinem Landsmann Camargo Guarnieri in den 1960ern an den Darmstädter Ferienkursen teilnahm – bei György Ligeti und Lukas Foss – und später noch bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen studierte. Bei dieser ihn prägenden stilistischen Vielfalt verwundert es nicht, dass Almeida Prados eigene Musik oft zunächst heterogen erscheint, aber bei allem Abwechslungsreichtum teils divergierender Elemente formal – gewissermaßen unter der Motorhaube versteckt – einer sehr persönlichen Strenge folgt.
Die hier vorgestellten Stücke darf man getrost als Schlüsselwerke – zumindest innerhalb der Gattungen von Chor- und Orchestermusik – bezeichnen. Die Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo erhielten 1969 den 1. Preis beim Guanabra Musikfestival, machten Almeida Prado über Brasilien hinaus bekannt. Die Sinfonia dos Orixás (1985) ist ein Hauptwerk seiner letzten Schaffensperiode. Die Pequenos funerais folgen Hilda Hilsts gleichnamigem Gedicht auf den Tod des aus Portugal stammenden, später in Brasilien lebenden Dichters Carlos Maria de Araújo (1921–1961), der bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, worauf sich der kurze, rein instrumentale Anfang (Corpo de fogo)bezieht. Die sechs zentralen Segmente (Corpo de terra I–VI) vertonen entsprechend weitere Strophen aus Hilsts Dichtung: Der Text wird emotional aufwühlend von Chören und später einem Bassbariton- und einem Mezzosopran-Solo gestaltet. Die Instrumentation ist jeweils völlig individuell – wie die unterschiedlichen, beleuchteten Facetten des Verstorbenen; nie gibt es ein Tutti. Im wiederum sehr kurzen Schlussteil verebbt die Musik bis zur Stille.
Das melodische und rhythmische Material der 50-minütigen, instrumentalen Sinfonia dos Orixás sammelte teilweise Almeida Prados Ehefrau im Umfeld der Umbanda-Religion. Der aus 15 Teilen bestehende Hauptteil (Manifestação dos orixás) wird wiederum von zwei knappen „Ritualen“ umrahmt. Enorm farbige, rein rhythmische Abschnitte – von quasi Ostinati bis zu komplexen Entwicklungen – wechseln mit ausdrucksstarken, von Soloinstrumenten getragenen Teilen ab. Auch wenn das Ganze zwar nie langweilig, dafür jedoch mehr wie eine Suite als eine Symphonie erscheint, rechtfertigt die thematisch-motivische Arbeit – mit jeweils den weiblichen bzw. männlichen Geistern (Orishas) zugeordneten Hauptthemen – den Titel. Freilich erschließt sich zumindest beim ersten Hören nicht wirklich die persönliche Haltung des eigentlich streng-katholischen Almeida Prado zu dieser synkretistischen Götterwelt.
Neil Thomson leitet diesmal nicht sein Orchester aus Goiás, sondern das große OSESP (São Paulo) samt Chor. Gerade die perkussiven Abschnitte erreichen eine höchst beeindruckende Durchschlagskraft, aber ebenso überzeugend agieren die hervorragenden Instrumentalsolisten dieses Spitzenorchesters in den lyrisch-melodischen Momenten. Der Chor setzt die höchstdifferenzierten Anforderungen der Pequenos funerais kongenial um; deren momentaner Chorleiter (William Coelho) wird leider nur am Rande im sonst informativen Booklet erwähnt. Die beiden Gesangssolisten (Clarissa Cabral und Sabah Teixeira) machen ihre Sache zumindest ordentlich. Auch die Aufnahmetechnik fängt das sehr dynamische Geschehen gekonnt ein. Mal wieder ist der Hörer fasziniert von der schillernden, exotischen Klangwelt einer letztlich unverkennbar eigenständigen Komponistenpersönlichkeit: Man darf bei dieser inspirierenden CD-Reihe wohl weiter auf positive Überraschungen gespannt sein.
Pēteris Vasks: Angele Dei. Gebet an (Deinen) Schutzengel für gemischten Chor
(SATB) a cappella Schott: C 60012. ISMN: 979-0-001-21421-6.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stimmen immer lauter wurden, dass die Tonalität erschöpft sei und man nun andere Wege beschreiten müsse, wer hätte da gedacht, dass es hundert Jahre später nahezu anders herum ist: Nun scheint gerade das Suchen und Experimentieren erschöpft. Die Grenzen ausgelotet, die Extremata errungen, schlichtweg alles offen. Sich in dieser musikalischen Welt einen Platz zu erringen, beschert unmittelbar Gegenstimmen: Zwischen konservativ-altväterlich und unhörbar-klanglastig, zwischen formalistisch und willkürlich, die Gruppen sind gespalten.
Einen spannenden Weg schlug schon früh der in Lettland geborene Komponist Pēteris Vasks ein. Seine Musik gestaltet sich modern und doch stets der Tonalität verpflichtet. Ihr oberstes Gebot, und das lässt sie unter unzähligen Komponisten unserer Zeit herausleuchten, betont die Schönheit, die Anmut und die Eleganz – andere Stimmungen und Gefühle finden freilich ihren Platz, doch stets einer größeren, im Innersten positiv aufwärts gerichteten Energie verpflichtet. Die Musik bleibt verständlich. Eine Ehrfurcht vor der Natur und dem Raum durchflutet jede Note, die oftmals durch einen christlich geprägten Tonfall ergänzt wird.
Die Werke von Pēteris Vasks werden bei Schott herausgegeben, wo mit großem Eifer auch die neuesten Werke angemessen rasch gedruckt und publiziert werden. In sauberem, gut leserlichem Design laden die Werke Profi- wie auch engagierte Amateurmusikerinnen und -musiker ein, diese Musik auszuprobieren.
Eines der frisch herausgegebenen Werke ist das Chorstück Angele Dei, ein Gebet an „(Deinen)“ persönlichen Schutzengel: „Engel Gottes, mein lieber Schutzengel, wem mich Gottes Liebe hier verpflichtet, immer diesen Tag, sei an meiner Seite, zu beleuchten und zu bewachen, zu regieren und zu führen. Amen“. Es wurde 2021 komponiert und am 16. April des gleichen Jahres unter Leitung seines Widmungsträgers Sigvards Kļava uraufgeführt, der schon mehrere Werke Vasks‘ aufgeführt und eingespielt hat.
Bei Angele Dei handelt es sich um eine Meditation für Chor a cappella, ein inniges Werk voll Gefühl, Dankbarkeit und Licht. Es lässt sich auch von Amateurchören realisieren, wenngleich ein umfangreicher Atem vorausgesetzt wird sowie die Fähigkeit, die Intonation auch bei langen Tönen sauber halten zu können. Die Musik weist eine klare Bogenform auf, hin zu einem Höhepunkt auf das Wort „custodi“ (bewachen), wonach die Musik sich wieder entspannt. Das Werk steht, ohne Vorzeichen notiert, in Es-Dur und bleibt dieser Tonart treu, wenngleich changierende Harmoniewechsel innerhalb der durchspürbaren Grundtonart vielfältige Klangfarben evozieren. Immer wieder würzt Vasks die Akkorde durch Erweiterungen, die aber nie schmerzhaft, sondern warm resonieren und Freundlichkeit ausstrahlen. Die vier Stimmen mäandern allmählich vor sich hin und entwickelt sich stetig, ohne dabei auffallend hervorzustechen, vergleichbar am ehesten mit einer Pflanze, die unaufhaltsam ihren Weg zum Licht sucht, ohne dass wir dieses Streben aktiv mitbekommen, dann aber doch deutlich verspüren. Erreicht wird das Licht am Ende, wo nach einer plagalen Kadenz über f-Moll sich plötzlich ein luzider C-Dur-Akkord fast übernatürlich rein erhebt.
BIS hat ein Album mit drei symphonischen Werken Anders Eliassons herausgebracht. Zu hören sind die Symphonie Nr. 3 für Sopransaxophon und Orchester, gespielt von Anders Paulsson, Sopransaxophon, und den Göteborger Symphonikern unter Leitung von Johannes Gustavsson, sowie das Posaunenkonzert und die Symphonie Nr. 4, gespielt vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Sakari Oramo. Solist im Posaunenkonzert ist Christian Lindberg, die Flügelhornsoli in der Vierten Symphonie spielt Joakim Agnas.
Anders Eliassons Musik ist ein Abenteuer. Irgendwo entspringt ein Quell – sei es dezent oder mit einem Knall, blitzschnell hervorzischend oder sanft plätschernd: Die Musik, als wäre sie bereits vor Erklingen des ersten Tons in Bewegung gewesen, fließt und fließt und bahnt sich ihren Weg. Mächtig anwachsend, dann wieder entschleunigend, bald dunkle, tiefe Seen, bald schäumende Katarakte bildend, drängt sie voran, unaufhaltsam wie das neptunische Element. Es ist, als hörte man Urstromtäler in Tönen sich formen – und so oft man den Werken Eliassons auch lauschen mag: Man wird doch jedes Mal von neuem der erste Mensch, der diese ewig unberührte Landschaft betreten darf.
Den Theoretikern hat dieser große Mann freilich härteste Nüsse zu knacken gegeben. Diese Musik ist ohne Frage tonal. Eliasson hat nie einer jener Theorien angehangen, denen zufolge sich angeblich Atonalität erzeugen und die vielbeschworenen (aber kaum je ordentlich definierten) „Grenzen der Tonalität“ überwinden ließen. Als Student studierte er fleißig alles, was es um 1970 an aktuellen Modernismen zu studieren gab – „Rhythmus, Melodien und gewisse Intervalle waren tabu“ –, aber heimlich ging er dabei dem nach, „was ich immer schon in mir gehört hatte“. Hört man Eliassons Musik, merkt man sofort, dass sie ebenso von harmonischen Spannungen bestimmt wird wie die Werke der Klassiker abendländischer Tonalität. Aber man gehe nur als Theoretiker heran und versuche Dominanten, Subdominanten etc. auszumachen! Wie würde man Bachs oder Mozarts Musik beschreiben, hätte man die ganzen Funktionsbegriffe nicht? Aber war es denn Bach oder Mozart so wichtig zu wissen, wie Riemann und andere Professoren ihre Stilmittel bezeichneten? Der Analytiker, der sich Eliasson mit dem üblichen Vokabular nähert, findet sich früher oder später ganz zurück an den Anfang versetzt – je nachdem wie lange er braucht, um zu merken, dass er einen am Ziel sicher vorbeiführenden Weg eingeschlagen hat. Aber ermahnt ein solcher Rückschlag nicht dazu, nun wirklich anzufangen?
Die musikalische Urlandschaft, die Anders Eliasson als erster betrat, zeigte sich mit jedem neuen Werk, das er schrieb, größer und reicher als zuvor vermutet. Er selbst war zu sehr mit ihrer Erkundung beschäftigt, als dass er in die Versuchung hätte geraten können, die Grundlagen seines Komponierens in ein theoretisch festgefügtes System zu überführen. Allenfalls sprach er von einem „System, das kein System ist“ und beschrieb sein musikalisches Material als „Alphabet“. Musik sei, so sagte er weiterhin, „wie H2O: Melos, Harmonik und Rhythmus sind eine Einheit. Und sie muss fließen.“ Versuche, absichtlich originell zu sein (wobei er „originell“ in Anführungszeichen setzte), waren ihm ein Ding der Unmöglichkeit, denn: „Man kann sich nicht von mehr als 1000 Jahren Tradition lösen, ohne unverständlich zu werden.“ Seine eigene Musik nannte er zwar „etwas völlig Neues“, doch bestand dieses Neue darin, „dass man das (tonale) Universum von einer neuen Position sieht“. Diese neue Perspektive verdeutlichte er einmal in einer Zeichnung, die in vereinfachter Form auch seinen Grabstein ziert: Eliasson ordnet darin die Töne des Quintenzirkels als eine Folge ineinander verschlungener Dreiecke an, wobei die einander entsprechenden Seiten der Dreiecke die drei möglichen Tonvorräte des verminderten Septakkords ergeben. Er überblickte die quintengestützte Ordnung also von einem Standpunkt aus, welcher deren Möglichkeiten zum Uneindeutigen deutlich hervortreten lässt. Nicht die Eindeutigkeit der Tonika-Dominant-Spannung, die ja selbst Schönbergs zwölftönige Werke gegen den Willen ihres Schöpfers beherrscht, interessierte Eliasson, sondern eine tonale Ordnung, die beständig mehrere Möglichkeiten der harmonischen Fokussierung anbietet. Die „triangulatorische“ Harmonik lässt die Musik auf eine Art und Weise flüssig erscheinen, wie dies zuvor bei keinem anderen Komponisten vorgekommen ist.
Eliassons Dreiecksskizze wurde als Titelbild zu einer CD-Veröffentlichung von BIS ausgewählt, die einen optimalen Einstieg in die Klangwelt des 1947 geborenen schwedischen Meisters bietet. Sie enthält ausschließlich Ersteinspielungen: Die Vierte Symphonie (2005) wurde vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm (Royal Stockholm Philharmonic Orchestra) unter der Leitung von Sakari Oramo aufgenommen, ebenso das Posaunenkonzert (2000), in dem Christian Lindberg, der das Werk seinerzeit uraufgeführt hat, als Solist zu hören ist. Die 1989 entstandene Dritte Symphonie erscheint bereits zum zweiten Mal auf CD, nun aber erstmals in ihrer überarbeiteten Fassung von 2010. Das Werk ist als konzertante Symphonie mit solistischem Saxophon angelegt und war ursprünglich für den Altsaxophonisten John-Edward Kelly geschrieben, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin der Komponist die Solostimme in Höhen führte, die außer Kelly selbst kaum ein anderer Spieler bewältigen konnte. Um Aufführungen des Werkes zu erleichtern, erstellte Eliasson schließlich 20 Jahre nach der Uraufführung eine Fassung für Sopransaxophon, deren erste Aufnahme hier durch den Solisten Anders Paulsson und die Göteborger Symphoniker unter Johannes Gustavsson vorgelegt wurde. Somit sind nun sämtliche vollendete Symphonien Eliassons für großes Orchester auf CD greifbar. Die Erste Symphonie (1986) wurde von Gennadij Roshdestwenskij und dem Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR aufgenommen (Caprice). Die Dritte in der Fassung für Altsaxophon liegt mit John-Edward Kelly und dem Finnischen Rundfunksymphonieorchester unter Leif Segerstam vor (NEOS). Seine Symphonie Nr. 2 hat Eliasson nie vollendet. Es existiert nur eine Anzahl von Skizzen, anhand derer sich kein geschlossener Werkverlauf erkennen lässt.
Die Dritte Symphonie besteht aus fünf Abschnitten, die nahtlos ineinander übergehen und gemeinsames Material verarbeiten. Sie sind mit Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (Nebel) überschrieben. Zweimal lässt Eliasson einen raschen Satz in einen langsamen münden, wobei der Kontrast zwischen Teil 3 und Teil 4 denjenigen zwischen den ersten beiden deutlich übertrifft. Am Ende des dritten Abschnitts wird ein frenetischer Höhepunkt erreicht, auf den die düstere Musik des Lugubre antwortet. Der letzte Teil des Werkes ist kein umfangreicher Satz mehr, sondern eine kurze Coda, in der die Kontraste aufgehoben werden. Wenn der Nebel aufsteigt, beschleunigt sich die Musik wieder, ohne schnell zu werden. Helle Klangfarben scheinen auf, ohne zu strahlen. Kein Triumph, keine Tragödie, vielleicht das unvermutete Ergebnis der anfänglichen Suche, auf jeden Fall ein Ausatmen in frischer Luft. Das Saxophon ist eindeutig das führende Instrument. Es ist durchweg präsent, gibt meist die Richtung vor und hat Aufgaben zu bewältigen, die einen virtuosen Spieler verlangen. In John-Edward Kellys Worten hat Eliasson das Werk dennoch „Symphonie“ genannt, da „der ästhetische Schwerpunkt tiefer liegt als in einem Konzert“. Durch die Einspielung Paulssons kann man nun beide Fassungen der Symphonie vergleichend hören. Auf dem Sopransaxophon gespielt, wirkt sie deutlich leichtfüßiger, spielerischer als in Kellys Aufnahme mit Altsaxophon. Kelly hat den Komponisten ja explizit um höchste Anforderungen gebeten, er wollte mit der Materie kämpfen. Das ist ihm bravourös in seiner Einspielung gelungen. Einen vergleichbaren Existenzialismus strahlt Paulssons Aufnahme nicht aus. Das Werk zeigt sich hier allerdings von einer abgeklärten Seite, wie sie eine Aufführung der Altsaxophonversion kaum hervorbringen dürfte. Letzten Endes ist das Werk eine der größten Kompositionen für Saxophon und Orchester, die je geschrieben wurden, und sowohl Alt-, als auch Sopransaxophonisten erhalten höchst lohnende Aufgaben. Freilich wird die Fassung für Sopransaxophon wohl in Zukunft wesentlich häufiger gespielt werden als diejenige für Altsaxophon, da die Schwierigkeiten für letzteres Instrument wesentlich größer sind.
Das einsätzige Posaunenkonzert ist weniger virtuos als die Saxophon-Symphonie und betont nicht nur in der Einleitung und im Schlussteil, die beide in langsamem Tempo gehalten sind, die kantable Seite des Instruments. Im lebhaften Hauptteil, der in mehreren Steigerungswellen verläuft, fehlt es aber auch nicht an Machtworten in der Solostimme, namentlich wenn der Satz gegen Ende auf einen gewaltigen Höhepunkt zusteuert. Die Posaune steht nicht eigentlich im Gegensatz zum Orchester, eher scheint sie als ein Anführer die übrigen Instrumente aus dem Inneren des Orchesterverbandes heraus anzuspornen. Am deutlichsten tritt sie aus der Gruppe heraus, wenn sie zum Abschluss des Ganzen einen breit ausschwingenden Gesang anstimmt. Dass Eliasson mit diesem Stück auch den Posaunisten ein Werk höchsten Ranges geschenkt hat, braucht eigentlich nicht betont zu werden.
Wie die beiden anderen Werke auf der CD ist auch die Vierte Symphonie ein ununterbrochenes Kontinuum, das sich in mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi gliedert. Hier wechseln zweimal schnelle und langsame Musik einander ab, wobei der Schlussteil einen knappen Epilog darstellt, der das Werk mit der Musik des langsamen zweiten Teils beschließt. Das eigentliche Finale ist damit der dritte Teil, zugleich der lebhafteste der Symphonie. Lässt Eliasson die Musik in der Dritten Symphonie zu Beginn hervorsprudeln und im Posaunenkonzert mit dezenten Wellenschlägen einschwingen, eröffnet er die Vierte mit lauten Orchesterschlägen. Das Hauptmotiv besteht nur aus zwei Tönen, aber wie prägnant ist es formuliert und wie abwechslungsreich verwandelt! Tatsächlich erleben wir in diesem Werk, wie ein Motiv von alleräußerster Knappheit zur Grundlage eines höchst belebten Geschehens wird. Auch in der Vierten Symphonie spielt ein Soloinstrument, allerdings nicht durchgängig: Im langsamen zweiten Teil führt über weite Strecken ein Flügelhorn die Melodie (in der Aufnahme gespielt von Joakim Agnas), auch behält es in der Coda der Symphonie mit einem sanften Anschwellen, ohne laut zu werden, das letzte Wort. Virtuose Passagen, wie sie in der Dritten Symphonie und in geringerem Maße im Posaunenkonzert vorkommen, fehlen allerdings völlig. Die Vierte präsentiert sich als ein überwiegend lichtes, helles Werk. Mit ihrer markanten Thematik und der zarten Lyrik der Flügelhorngesänge kann sie als eine der unmittelbar ansprechendsten Kompositionen Eliassons bezeichnet werden.
Man kann nur wünschen, dass diese wunderbare CD, auf der hervorragende Dirigenten, Orchester und Solisten ihr Bestes geben, der Musik des 2013 vorzeitig gestorbenen Komponisten (der sich zum Zeitpunkt seines Todes mit Plänen zu einer Fünften Symphonie trug) viele Freunde gewinnen und zu weiteren Entdeckungsreisen in die abenteuerliche Welt des Anders Eliasson einladen wird. Angesichts solcher Werke in solchen Aufführungen ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Anders Eliasson war einer der ganz großen Meister der Tonkunst nicht nur unserer Zeit.
Fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung war die Uraufführung von Eugen Engels (1875–1943) Oper „Grete Minde“ im Februar 2022 am Theater Magdeburg unter Leitung von Generalmusikdirektorin Anna Skryleva schon eine kleine Sensation, die auch überregional hohe Beachtung fand. Ein erstaunliches Beispiel für bislang im Verborgenen schlummerndes Opernschaffen; hier eines der Öffentlichkeit bis dato völlig unbekannten deutsch-jüdischen Hobbykomponisten, der 1943 von den Nazis ermordet wurde, dessen einziges Bühnenwerk jedoch als Partitur überlebte, die erst von der Enkelin ihres Schöpfers ans Licht gebracht worden war. Der Live-Mitschnitt der Premiere auf Orfeo ist zumindest eine hörenswerte Rarität.
Nicht ganz zu Unrecht wurde bei der Wiederentdeckung und Uraufführung von Eugen Engels „Grete Minde“ hinterfragt, ob angesichts der Unmengen an Opern, die es bislang nie auf eine Bühne geschafft haben, nicht allein das persönliche Schicksal des Komponisten die entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Eugen Engel – geboren 1875 im masurischen Teil des damaligen Ostpreußens, später hauptberuflich Kaufmann in Berlin – war als engagierter deutsch-jüdischer Bildungsbürger insbesondere der Musik zugewandt. Privat hatte er Kompositionsunterricht bei Otto Ehlers genommen, war aber anscheinend weitgehend Autodidakt. Nach 1905 wurden zwar einige Werke von Laienmusikern aufgeführt – eine abendfüllende Oper war allerdings schon ein anderes Unterfangen. Dass Engels Wahl des Stoffes hier ausgerechnet auf Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ fiel, der ein historisches Ereignis zugrunde liegt, erscheint zunächst merkwürdig, da die typische, distanzierte und lakonische Sprache des Dichters wenig Opernhaftes bietet. Engels Librettist Hans Bodenstedt – der später als überzeugtes NSDAP-Mitglied der Nazi-Propaganda zuarbeitete und nach dem 2. Weltkrieg Karriere beim NWDR machte – verfasste den Operntext bereits 1914, und der Komponist arbeitete somit bald 20 Jahre an seinem Projekt. Nach der Vollendung 1933 war natürlich an eine Aufführung in Deutschland nicht mehr zu denken, und auch die Korrespondenz mit Bruno Walter, Leo Blech und Edwin Fischer ebnete keine neuen Wege außerhalb der Heimat. Während Engels Tochter Eva 1935 nach Amsterdam floh und 1941 in die USA gelangte, wurde Eugens geplante Ausreise über Kuba im letzten Moment vereitelt: Sein Schicksal endete 1943 in der Mordmaschinerie des Vernichtungslagers Sobibor.
Eva Lowen versuchte kurz, den Namen ihres Vaters bekannt zu machen, aber erst Eugens Enkel beschäftigten sich ab 2006 intensiver mit dessen kompositorischen Hinterlassenschaften. Der Weg bis zur Uraufführung von „Grete Minde“ in Magdeburg ist einigen glücklichen Umständen geschuldet, hauptsächlich der Tatsache, dass die neue Generalmusikdirektorin, die Russin Anna Skryleva, von dem Stück absolut überzeugt war. Das Theater scheute dann keine Kosten und Mühen, das Werk auf die Bühne zu bringen. Einige Qualitäten von Engels Arbeit werden sofort deutlich: Zunächst einmal funktioniert – unerlässlich für eine Oper – das richtige Timing. Bodenstedt hat die Handlung klug gerafft, behielt die in Fontanes Fassung enthaltenen „Volkslieder“ bei, und bietet in den Szenen gelungene, essenzielle Psychogramme der Protagonisten. Die Geschichte der Margarete von Minden, die durch Fontane stark abgewandelt wird, soll hier nicht dargestellt werden. Engels Musik, inspiriert einerseits durch Werke wie Wagners Meistersinger oder Leoncavallos Verismo in I Pagliacci, andererseits durchaus noch von Carl Maria von Weber, wechselt geschickt zwischen Massenszenen, die oft heiter und gezielt volkstümlich wirken, und recht bewegenden Auseinandersetzungen der Hauptfiguren. Musikalisch erstaunt vor allem Engels versierte Instrumentation, die zumeist Richard Strauss, Humperdinck – mit dem der Komponist in Kontakt stand – und Schreker als Vorbildern folgt, teils (Glockenspiel etc.) Korngold-nah klingt. Skryleva hat das Orchester leicht ausgedünnt – etwa vier statt sechs Hörner –, erreicht so ein hohes Maß an Durchsichtigkeit und ermöglicht ihrem Sängerensemble immer adäquates Durchkommen.
Wollte Engel hier eine Art spätromantische „Volksoper“ schreiben? Die dafür aufgewandten Mittel erscheinen eher naiv und sind Anfang der 1930er schon klar aus der Zeit gefallen. Trotzdem gelingt, die stets unterschwellig vorhandenen Religionskonflikte kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg durchgängig zu thematisieren. Wirklich berühren dann etliche Dialog-Momente, so der Tod von Gretes Partner Valtin oder die Zuspitzungen im dritten Akt. Etwas übernommen hat sich der Komponist leider in der rein dramaturgisch durchaus zwingenden Schlussszene. Wenn Grete Tangermünde abfackelt und mit ihrem Sohn schließlich im brennenden Kirchturm als eine Art Fanal zu Tode kommt – die historische Figur endete auf dem Scheiterhaufen –, will die Musik dann trotz erkennbarer Rückgriffe auf Wagners „Feuerzauber“ der Walküre nicht so recht zünden. Sowas beherrschten etwa Schreker oder Strauss doch um Klassen besser.
Die Leistungen der Magdeburgischen Philharmonie und des Chores sind fast makellos. Skryleva schafft es, die heterogenen Momente dieser leicht querständigen Oper unter einen Hut zu bringen. Bei der Sängerriege zeigen sich die Damen den männlichen Protagonisten deutlich überlegen, allen voran die großartige Raffaela Lintl in der Titelrolle: emotional mitreißend, dabei immer mit klanglich ausgewogener Sopranglut. Auf gleichermaßen hohem Niveau bewegt sich Kristi Anna Isene als Trud. Von den Herren begeistern allenfalls Marko Pantelić als Gerdt sowie Benjamin Lee als Hanswurst, wo hingegen Zoltán Nyári (Valtin) ziemlich blass agiert. Bei den kleineren Rollen hört man teils nicht deutlich genug akzentuiertes Deutsch – sei’s drum.
Der Live-Mitschnitt – eine Co-Produktion mit Deutschlandradio Kultur – ist aufnahmetechnisch ohne Tadel, mit den üblichen Einschränkungen einer Bühnenaufnahme. Nur hätte man für eine CD-Veröffentlichung auf gute fünf Minuten (!) Schlussapplaus gerne verzichten können. Die Booklet-Infos der Dramaturgin Ulrike Schröder sind ausführlich, das Libretto ist komplett abgedruckt. Was bleibt? Zündende Melodien oder gar Ohrwürmer hat „Grete Minde“ nicht zu bieten; die Dramatik hält sich in Grenzen. Bruno Walter lobte zwar Eugen Engels solides Handwerk, vermisste dabei jedoch jegliche Individualität. Dem darf man zustimmen, muss dabei aber anerkennen, dass diese Oper zumindest funktioniert – wenn die Beteiligten mit so viel Herz an die Sache herangehen wie in Magdeburg. Einmal mehr reift die Erkenntnis, wie groß doch die Zahl ungehobener, hörenswerter Opernschätze tatsächlich sein mag. Auf CD eine willkommene Rarität – die es schon in die Vierteljahresliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik schaffte –, muss sich die Repertoirefähigkeit dieser Entdeckung erst noch erweisen.