Das Glière-Quartett hat für Dux das Streichquartett a-Moll op. 32 von Józef Wieniawski (1837–1912) gemeinsam mit dem Streichquartett c-Moll WAB 111 von Anton Bruckner (1824–1896) eingespielt.
Es bedarf meist nur der ersten Töne einer Aufführung oder Aufnahme, um gleich zu wissen, mit wem man es zu tun hat. So ist es auch bei dem in Wien beheimateten Glière-Quartett und seiner neu herausgekommenen CD mit den Streichquartetten in a-moll op. 32 von Józef Wieniawski und dem in c-moll WAB 111 von Anton Bruckner.
Nach den ersten Tönen hören wir also bereits, dass wir es mit wirklichen Tonkünstlern zu tun haben, also mit Musikerinnen und Musikern, die die Werke vollkommen durchgehört und ihren Part individuell in Bezug auf das Ganze der Partitur nicht nur instrumental-musikantisch, sondern auch im symphonischen Sinne geistig durchdrungen haben und beherrschen. Und so hält der Rest der Einspielung, was schon die ersten Takte versprechen: Keine Note steht für sich allein, kein Tempo ist willkürlich, und kein noch so schöner Moment wird isoliert und damit an eine vordergründige Darstellung oder zweckfreie Virtuosität verschenkt.
Mit dieser freien, und im höchsten Maße einfachen wie komplexen Musizierhaltung des Glière-Quartetts ist es wohl möglich, aber kaum nötig, die eingespielten Quartette zu kontextualisieren, um sie aus einer vermeintlich zweiten Reihe des Streichquartett-Kanons hervorzuholen. Wir mögen den tonschönen, aber nie versüßten Wieniawski wohlklingend als Cousin ersten oder zweiten Grades von Brahms hören, und beim oft nicht ganz ernstgenommenen und als Studienwerk abgetanen Bruckner bestätigt finden, was in seinen Symphonien durch eine meist einseitige Klangorientierung zum Wagnerischen gerne mit falscher Verve überdeckt wird: dass er als Nachfolger von Haydn und Schubert deren Sinn für Klarheit und Form und für harmonisch subtile Farbgebung vereint.
Um so zu hören, bedarf es jedoch mit Wladislaw Winokurow (1. Geige), Dominika Falger (2. Geige), Martin Edelmann (Viola) und Endre F. Stankowsky (Cello) vier Musikerinnen und Musikern entsprechender Könnerschaft und Metierbeherrschung, und so geht die vorliegende Aufnahme noch einen Schritt weiter: beide Werke erklingen originär in ihrer Schönheit als das, was sie sind. Es wird, und das ist höchstes zu vergebendes Lob, nicht interpretiert und nicht dargestellt, sondern verwirklicht.
Das Glière-Quartett hat damit eine Referenzaufnahme der Werke, darüber hinaus aber ein Beispiel für das adjektivlose Wesen der Kammermusik, das so-wie-es-ist-wenn-man-aufeinander-hört, geliefert. Man kann es somit nur in den höchsten Tönen loben, ihm dankend auf weitere Zeugnisse ihrer Arbeit hoffen, und ihnen vor allem das Publikum wünschen, das die Ohren hat, so zu hören wie es selbst dazu in der Lage ist.
Am 19. 11. 2023 brillierte der britische Pianist Jonathan Powell mit einem Klavierabend zu Ehren des in Bad Tölz begrabenen Komponisten Hans Winterberg im dortigen Kurhaus. Nach einer hochrangig besetzten, vom BR-Redakteur Bernhard Neuhoff klug geleiteten Podiumsdiskussion über den verschlungenen Lebensweg Winterbergs und die vielschichtigen Wurzeln seiner Musik spielte Powell Stücke von Komponisten, die – bis auf Arnold Schönberg – alle in der späteren Tschechoslowakei geboren wurden, und deren Bedeutung ebenfalls erst nach und nach adäquat gewürdigt wird: Alois Hába, Josef Suk, Vítězslava Kaprálová, Egon Kornauth, Viktor Ullmann und Leoš Janáček, bevor der Abend dann mit Winterbergs beeindruckender 3. Klaviersonate schloss.
Das durch unglückliche – wenn nicht befremdliche – Umstände in Vergessenheit geratene Werk des deutschsprachigen Prager Juden Hans Winterberg (1901–1991), der Theresienstadt überlebte, nichtsdestotrotz 1947 nach Bayern zog, wird erst seit wenigen Jahren durch das Exilarte Zentrum an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien in Zusammenarbeit u.a. mit Boosey & Hawkes – die nun erstmals Musik des Komponisten verlegen – erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gleichzeitig gab es in letzter Zeit einige neue Aufnahmen, u.a. mit Liedern sowie Klavier- und Kammermusik. Die erste CD mit – neu produzierten – Orchesterwerken wurde hier kürzlich ausführlich besprochen. Wer mehr zu Person und Werk sucht, findet die grundlegenden Infos auf der Seite von Dr. Michael Haas, der dem interessierten Publikum als Produzent der legendären Decca-Serie Entartete Musik bekannt sein dürfte.
Am Sonntag, 19. November 2023 fand zu Ehren Winterbergs, der ab den 1970ern einige Jahre in Bad Tölz lebte und auch dort begraben liegt, im Kurhaus der Stadt ein denkwürdiger Klavierabend statt, der mit einer prominent besetzten Podiumsdiskussion begann: Nach sehr engagierten Grußworten des 3. Bürgermeisters, Dr. Christof Botzenhardt, sowie des Enkels Winterbergs, Peter Kreitmeier, beschäftigten sich – unter der umsichtigen und hervorragend getimten Moderation Bernhard Neuhoffs von BR Klassik – Michael Haas (nun Senior Researcher bei Exilarte), Frank Harders-Wuthenow (Boosey & Hawkes), Lubomir Spurny (Masaryk-Universität Brno) sowie der Prager Journalist Petr Brod mit dem verschlungenen Lebensweg und der nicht ganz unkomplizierten Verwurzelung des Komponisten im vielschichtigen Prager Musikleben nach Gründung der Tschechoslowakei. Winterberg gilt nicht nur dem britischen Pianisten Jonathan Powell als „missing link“ zwischen Mahler, Janáček und der Neuen Wiener Schule. Ab den 1960ern hat der Komponist sogar seine ganz persönliche Antwort auf den Nachkriegs-Serialismus gefunden.
Im eigentlichen Klavierproramm hatte Powell mit Bedacht Musik gewählt, die die zuvor beleuchteten unterschiedlichen Wurzeln – bis zurück in die „k.u.k.“ Ära – hörbar machen. Der Pianist startete mit dem für 1918 überraschend tonalen Intermezzo op. 2, Nr. 2 (f-Moll) des späteren Viertelton-Revolutionärs Alois Habá (1893–1973), das klanglich – obwohl weit weniger dicht – an die Sonate Alban Bergs erinnert. Es folgten vier kurze Genrestücke von Josef Suk (1874–1935) – aus den Zyklen Vom Mütterlein op. 28, Wiegenlieder op. 33, Erlebtes und Erträumtes op. 30 und Episoden (1923). Suk, Schüler – und späterer Schwiegersohn – Dvořáks, machte vor allem durch große, in ihrer Orchestrierungskunst Richard Strauss in nichts nachstehende Orchesterwerke Furore, besonders mit der Uraufführung von Zraní nur zwei Tage nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik. Schon an diesen Kleinoden spürten die Zuhörer – man hätte sich da durchaus ein paar mehr gewünscht – Powells klangliche Delikatesse, sein tiefes Verständnis für Harmonik und die empathische Charakterisierungskunst bis ins kleinste motivische Detail. Aus dem interessanten Diskant des Bechstein-Flügels im Kurhaus kitzelte er wunderbare Farben heraus.
Die April-Präludien der viel zu jung verstorbenen kompositorischen Frühbegabung Vítězslava Kaprálová (1915–1940) entstanden noch 1937 in ihrer Heimat, kurz bevor sie nach Paris zu Martinů ging. Pianistisch schon elaboriert – etwa die Ostinati des ersten Stücks oder die Prokofieff-Nähe des vierten –, überzeugte die ergreifende Schlichtheit des dritten Préludes jedoch am meisten. Powell zeigte hier schon mal seine Krallen und stellte mit seiner Darbietung sämtliche mir bekannten Tonträgeraufnahmen in den Schatten.
Mit der 13-minütigen Fantasie op. 10 des aus Olmütz gebürtigen, österreichischen Komponisten Egon Kornauth (1891–1959) erlebte das Publikum dann ein Klavierfest ganz anderen Kalibers. Was der Schüler des berühmten, ganz in der Brahms-Nachfolge stehenden Robert Fuchs hier 1913 an pianistischer Kraftmeierei einerseits, klanglichem Feinsinn und dramaturgischem Überblick andererseits verlangt, kann nur ein echter Virtuose so unter einen Hut bringen, dass der musikalische Gehalt – quasi Richard Strauss zum Quadrat – den äußerlichen Aufwand vergessen macht. Dazu muss man wissen, dass Jonathan Powell 2020 den Preis der deutschen Schallplattenkritik für ein musikalisches Monstrum, die gut 8-stündige Sequentia Cyclica des britischen Exzentrikers Kaikhosru Sorabji erhalten hat: hier mein Bericht über die Aufführung beim Heidelberger Frühling 2022 – eine fast übermenschliche Leistung. Am Sonntag gelang Kornauths Stück jedoch selbst Powell nochmals stärker als auf seiner eigenen CD-Einspielung – emotional hinreißend.
Viktor Ullmann (1898–1944) überlebte Theresienstadt nicht, wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht und sofort ermordet. Von seinen sieben bedeutenden Klaviersonaten ist die letzte zu Recht die berühmteste. Wie weit Ullmanns klare Stilistik und kompositorische Könnerschaft schon bei der 1. Sonate (1936) war, bewies Powell nachdrücklich. Ullmanns immer enormer Tiefgang wurde nicht nur im langsamen II. Satz (In memoriam Gustav Mahler) deutlich, sondern gleichermaßen in den vertrackten Ecksätzen. Leoš Janáčeks (1854–1928) ganz später, leicht kryptischer Erinnerung schloss der Pianist unmittelbar Arnold Schönbergs (1874–1951) berühmte aphoristische, atonale, aber eben noch nicht zwölftönige Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 von 1911 an; wahrscheinlich die einzigen Werke, die Teilen des Publikums schon vor dem Konzert bekannt gewesen sein dürften. Hier konzentrierte sich Powell völlig darauf, Spannung und Emotion rein durch Klang zu erzeugen, wobei das Martellato am Ende des vierten Stücks nicht hart genug erschien. Beim letzten – ebenfalls eingedenk Mahlers Tod – hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Als krönenden Abschluss dann eine der ersten Darbietungen von Hans Winterbergs dritter Klaviersonate von 1947, kurz vor seiner Immigration nach Bayern entstanden. Powell ediert für Boosey auch die vier Sonaten wie die ebenfalls vier Klavierkonzerte des Komponisten. Kein Wunder, dass er diese Musik anscheinend ohne jede Mühe bewältigt. Die bewegte, auf mechanistischer, ein wenig monochrom wirkender quasi Ostinato-Grundierung aufgebaute Entwicklung im knappen 1. Satz erinnerte den Rezensenten merkwürdigerweise sofort an ein viel neueres Stück: Detlev Glanerts Marmormeer (aus den Vier Fantasien op. 15 von 1987) – wie fremdes Leben auf nicht-organischer Grundlage. Viel leichter fasslich danach das konturierte, farbige Molto adagio, dabei expressiv düster wie Bergs Wozzeck – gebändigte Trauer; vielleicht über den Verlust von Heimat? Faszinierend am Ende das rasante, tonaler wirkende, glockige Finale, beschwingt aber stellenweise wie mit schweren Fesseln beladen. Trotz der Konkurrenz einiger großer Namen zuvor konnte sich Winterbergs Stück in diesem höchst anspruchsvollen Programm gut behaupten. Man darf sich schon auf die baldigen Uraufführungen des 4. Klavierkonzerts und weiterer Werke Hans Winterbergs durch Jonathan Powell freuen. Wie Dr. Botzenhardt meinte: „Am besten werden wir ihm gerecht, wenn wir uns mit seiner Musik beschäftigen“. Das Publikum zeigte sich jetzt schon begeistert.
Drei tschechische Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts präsentiert der aus Teheran stammende Meistercembalist Mahan Esfahani mit dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich auf dem Hyperion-Label: Bohuslav Martinůs „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ H 246, Hans Krásas „Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente“ sowie Viktor Kalabis‘ „Konzert für Cembalo & Streichorchester“.
Die drei Werke für Cembalo und Ensemble bzw. kleines Orchester, die Hyperion hier mit Mahan Esfahani und dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich vorgelegt hat, spiegeln in gewisser Weise die Vielfalt tschechischer Musik des 20. Jahrhunderts wider. Der aus Teheran stammende, in den USA aufgewachsene und zunächst dort ausgebildete Esfahani war der letzte Schüler der legendären Cembalistin Zuzana Růžičková (1927–2017) und lebt nun sogar in Prag. Neben seinen gefeierten Bach-Aufführungen und Einspielungen hat er sich schon immer gleichermaßen für zeitgenössische Literatur eingesetzt.
Abgesehen von der Musik des Barock, die – folgt man historischer Aufführungspraxis – selbstverständlich das Cembalo benötigt, war das Instrument durch die Fortschritte im Klavierbau als Soloinstrument mit Orchester lange obsolet geworden. Erst mit eben dem zunehmenden Interesse an historisch „korrekten“ Interpretationen Alter Musik sowie dem aufkommenden Neoklassizismus ab den 1920er Jahren, schrieben einige Komponisten dann auch wieder Cembalokonzerte. Die hier präsentierten Gattungsbeiträge waren schon Paradenummern von Růžičková und wurden von ihr ebenfalls eingespielt.
Bohuslav Martinůs (1890–1959) Konzert für Cembalo und kleines Orchester H 246 entstand 1935 für die französische Cembalistin Marcelle de Lacour, eine Schülerin der berühmten Wanda Landowska. Der Komponist traut allerdings insbesondere dem gegenüber tiefen Streichern mit Stahlsaiten eher schwachbrüstigen Bass nicht: So gibt es neben dem Cembalo noch ein obligates Klavier im kleinen Ensemble, das nicht nur den Bass unterstützt oder ganz übernimmt, sondern durchaus auch mal solistisch in den Vordergrund tritt und dem Cembalo zeitweise die Schau stiehlt. Andererseits ergeben sich dadurch feine, sehr interessante Klangkombinationen – das Zusammenspiel beider Instrumente haben später andere Komponisten, z. B. Elliott Carter oder Frank Martin, erneut aufgegriffen. Der Cembalosatz ist gegenüber dem nur oberflächlich an das Concerto Grosso erinnernden, recht brav agierenden Ensemble mit vielen Dissonanzen angereichert, ohne das Ganze zu dekonstruieren. Esfahani spielt mit Leidenschaft; Liebreich begleitet präzise, setzt aber kaum eigene Akzente. Zwar reicht Martinůs Stück nicht an die beiden folgenden Werke heran, man langweilt sich freilich keine Sekunde.
Hans Krása (1899–1944) wird heute gern zu den Theresienstädter Komponisten gezählt, obwohl natürlich die meisten seiner Werke vor der Internierung entstanden sind, darunter die wunderbare, zweisätzige Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente (1936). Krása entstammte einer deutschsprachigen, jüdischen Prager Familie, und in seiner Musik spielen ebenso deutsche Traditionen eine viel größere Rolle als etwa beim gleichaltrigen Pavel Haas – beide wurden am selben Tag in Auschwitz ermordet –, der mehr der Janáček-Nachfolge zuzurechnen ist. Esfahani steigt mutig in die hier vorherrschende, oft dichte Kontrapunktik ein – über Strecken nur die solistischen Bläser begleitend, in den eigenen Soli recht zerbrechlich wirkend, aber immer mit Charme. Das Stück ist mit seinen Anklängen sowohl an zeitgenössische Popularmusik (eigenes Liedzitat im 2. Satz, fast wie Kurt Weill) wie auch durch seinen klar kammermusikalischen Charakter vielschichtiger als Martinůs Konzert – wirklich großartige Musik.
Zuzana Růžičková dürfte Krása in Theresienstadt begegnet sein – später überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Seit 1952 war sie mit dem Komponisten Viktor Kalabis (1923–2006) verheiratet, der ihr mehrere Werke gewidmet hat. Kalabis‘ Musik – u. a. fünf Symphonien – führt gerade in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Dabei verbindet sie auf sehr persönliche Weise neoklassizistische Elemente mit avantgardistischeren Techniken bis hin zum Serialismus und ist quasi ein Musterbeispiel für die unterschiedlichen Tendenzen in der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg. Trotz der Besetzung nur mit Streichern überzeugt sein Cembalokonzert von 1975 durch eine ungemeine Farbigkeit und Differenziertheit, die Liebreich wunderbar herüberbringt. Esfahani beherrscht die außerordentliche Virtuosität des Cembalosatzes souverän, kommt an seine Lehrerin durchaus heran. Dieses fast halbstündige Konzert ist ein Gipfelwerk der Gattung. Sowohl die Lyrik des Andantes als auch die atemberaubende Beweglichkeit des abschließenden Allegro vivos – hier alles sehr bewusst vorgetragen – versetzen den Zuhörer in Staunen. Jeder Cembalist sollte dieses Stück kennen!
Die Neuaufnahmen machen Růžičkovás Interpretationen keinesfalls überflüssig. Zumindest aufnahmetechnisch sind sie deren Einspielungen aus den 1980ern und 1990ern deutlich überlegen. Das Klangbild ist hier geradezu optimal – durchsichtig und hochdynamisch. Zudem sind die drei wertvollen Stücke so bislang nie auf einer CD zu hören gewesen, die schon deshalb eine klare Empfehlung verdient.
Das zweite Saisonkonzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fand am Freitag, 10. November 2023, wieder im üblichen Herkulessaal statt. Johannes Kalitzke dirigierte neben einer eigenen Uraufführung („Zeitkapsel“) noch Lisa Streichs„Jubelhemd“ und Luc Ferraris „Histoire du Plaisir et de la Désolation“. Die Solisten in Streichs Komposition waren Marco Blaauw (Trompete), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Maria Stange (Harfe) und Axel Porath (Viola).
Als Dirigent seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei der musica viva, leitete Johannes Kalitzke (*1959) im Konzert am 10. 11. 2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zunächst bei der Uraufführung einer eigenen Komposition mit dem Titel Zeitkapsel. Das 25-minütige Stück hat äußerlich die Form eines Totentanzes, besteht aus mehreren, recht klar getrennten „Sätzen“, die durch eine Art Concertino – hier sechs Fagotte und zwei Saxophone mit herrlich dunklem Klang – wie im Concerto Grosso zusammengehalten werden. Stilisierte, dysfunktionalisierte Tanzrhythmen im Orchester wurden durch elektronisch zugespielte Samples ergänzt – entsprechend den persönlichen Fundstücken (Zeitkapseln), die Erbauer in alten Gemäuern oder eigene Vorfahren etwa auf Dachböden hinterlassen haben; darunter so divergente Klänge wie Flammenwerfer oder am Schluss die älteste Tonaufnahme auf Wachspapier von 1860: das Kinderlied Au Claire de la Lune. Dass diese durchgängigen elektronischen Einsprengsel – die erkennen lassen, dass Kalitzke u. a. Schüler von York Höller war – nicht wie Fremdkörper, sondern als echte Erweiterungen des Orchesterklangs wirkten, war nicht zuletzt der exzellenten, unaufdringlichen Klangregie von Sebastian Schottke zu verdanken. Kalitzke dirigierte wie gewohnt stets präzise, glasklar, engagiert, suggestiv und ohne Mätzchen, hörte den Musikern genau zu und griff zuvorkommend ein, wenn nötig. Seine wirkungsvolle, sehr virtuose Musik – am Ende spooky – kam auch beim Publikum gut an.
Die schwedischstämmige, aber vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Lisa Streich (Jahrgang 1985) wurde bereits mit Preisen überhäuft – u. a. dem Ernst von Siemens Förderpreis (2017) – und nennt ihr Stück Jubelhemd (2021) ausdrücklich Concerto Grosso. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination des Concertinos – Trompete, Schlagzeug, Harfe und Viola – sollte wohl als Projektion des recht großen, enorm farbig gesetzten Orchesters auf kammermusikalische Ebene fungieren. Dabei wird die für die Komponistin leicht zwanghafte Vorgabe einer jubilierenden Musik – ein Auftrag schwedischer Orchester inmitten der Pandemie – derart konterkariert, dass sich die Solisten trotz höchster virtuoser Anforderungen – besonders hervorzuheben der Trompeter Marco Blaauw – nicht wirklich entfalten können. Jubelgesten, von Anklängen an Bach-Trompete bis zu U-Musik – „Mutantenstadl“ mit Zitaten von Offenbach oder Johann Strauss – werden im Keim erstickt. Streichs regelmäßig genutzte, detonierte, aus der tonalen (Chor-)musik stammenden Akkorde, wirkten hingegen erstaunlich fein und schön – und regten die Zuhörer offensichtlich ähnlich an wie die berühmte Madeleine in Prousts Recherche. Die vielen tollen Ansätze in dieser sensiblen Musik wurden leider dadurch zunichte gemacht, dass der monorhythmische Beginn nie wirklich verlassen wird, bis auf einen hilflosen Ausbruchsversuch mit merkwürdiger Kirmesmusik kurz vor Schluss. Insgesamt erhielt die doch über Strecken ziemlich fade Komposition dann auch lediglich freundlichen Beifall.
Den Pariser Luc Ferrari (1929–2005) dürfte man vor allem mit musique concrète in Form von Tonbandkompositionen in Verbindung bringen. Abgesehen von seinem rein instrumentalen Frühwerk – als Pianist war er z. B. noch Schüler des berühmten Alfred Cortot – sind Stücke ohne Tonbänder oder Elektronik eine Seltenheit, Histoire du Plaisir et de la Désolation (1982 uraufgeführt) somit ein echtes Unikum. Die 35-minütige, gewaltig besetzte Komposition besteht aus drei attacca aufeinanderfolgenden Sätzen mit klar unterscheidbarem Material. Grundidee dabei ist laut Kalitzke die sogenannte Bandschleife. Obwohl hier also ständig Repetitionsmuster werkelten und der kurze erste Satz über gleichmäßigen Fundamentalbässen des Schlagzeugs – fast wie ein Auftritt Godzillas – höllische Klänge entwickelte, wurde das Stück nie langweilig. Ferraris Musik, opulent und voller Lebensenergie, beschäftigte sich allerdings, offenkundig geprägt vom französischen Existenzialismus, sehr ernsthaft mit dem Gegensatz von Lust und Verzweiflung – letztlich wie Kalitzkes Totentanz mit Vergänglichkeit. Im zweiten Abschnitt dominierten hellere Farben, teils mit Becken-Grundierung und man wurde eingeschobener, bestimmten Frauen gewidmeter Zitate gewahr. Die Désolation des langen dritten Satzes manifestierte sich u. a. mit dem x-maligen Ansetzen einer a-Moll Kadenz, auf deren Auflösung man jedoch vergeblich wartete. Ein eindrucksvolles Stück, bei dem Kalitzke auch effektiv die Langstrecken-Dynamik des einmal mehr großartig aufgelegten BRSO führte und den Herkulessaal in einen wahren Klangrausch versetzte, der dann mit langanhaltendem Applaus bedacht wurde.
Herausgegeben von Anja Ganschow und Hartmut Wecker ist im Verlag Königshausen & Neumann der fünfte Band der Friedrich-Kiel-Forschungen erschienen. Neun Autoren kommen zu verschiedenen Themen rund um Friedrich Kiel (1821–1885) und sein Schaffen zu Wort.
In Sachen Friedrich Kiel gibt es noch einige Desiderate, namentlich was CD-Einspielungen betrifft. So sucht man beispielsweise vergeblich nach seinem wichtigsten Klavierwerk, den einst von Hans von Bülow emphatisch rezensierten und oft gespielten f-Moll-Variationen op. 17, angesichts deren Johannes Brahms 1861 angemerkt hatte – etwas grollend, da Kiel ihm knapp zuvorgekommen war: „Was sind nun meine Händel-Variationen anderes als dieses Stück?!“ (Eine sehr gute alte Rundfunkaufnahme von Friedrich Wilhelm Schnurr findet sich auf Youtube.) Auch mehrere Kammermusikwerke warten immer noch auf ihre erste Aufnahme, so seine sämtlichen vier Violinsonaten und drei seiner sieben Klaviertrios, unter denen Wilhelm Altmann, der ein großer Verehrer Kiels war, in seinem Handbuch für Klaviertriospieler das Vierte in cis-Moll (op. 33) besonders hervorhebt. Aber die schmerzlichsten Lücken klaffen doch in der Diskographie der geistlichen Werke, denn auf diesem Gebiet hat Kiel, der große Kontrapunktiker, sein Bestes geleistet. Von der Missa solemnis c-Moll op. 40, die ich, gäbe es die Brucknerschen Messen nicht, als das hervorragendste Werk seiner Art aus dem mittleren 19. Jahrhundert bezeichnen würde, haben wir immerhin eine Aufnahme – aber in übertrefflicher Qualität. Das ist auch der Fall beim Christus op. 60, einem der meistaufgeführten Oratorien seiner Zeit, das seinem Autor den Ruf einbrachte, ein „moderner Bach“ zu sein. Kiel hat den Text des Requiems zweimal vertont. Von seiner zweiten Vertonung (As-Dur op. 80) wurde bislang von den Plattenproduktionen keine Notiz genommen. Von der ersten (f-Moll op. 20), die einst seinen Ruhm begründete, liegt eine Einspielung des Klavierauszugs [!] vor, die eine Aufnahme des symphonisch angelegten Stückes natürlich nicht ersetzen kann. Also: Hier können sich tüchtige Musiker, die mit Zuneigung und Einsicht zu Werke gehen, noch viel Ehre erwerben. Wer traut sich?
Gerechterweise muss man anmerken, dass es in den letzten vier Jahrzehnten eine kleine Kiel-Renaissance gab, die sich in einer doch recht stattlichen Anzahl an Einspielungen niedergeschlagen hat. Auch die Musikwissenschaft hat sich seitdem mit Kiel intensiver beschäftigt. So lässt sich heute sagen, dass er unter denjenigen Komponisten des 19. Jahrhunderts, die lange „vergessen“ waren und seit Ende des 20. Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangten, mittlerweile zu den gut erforschten gehört. Dies ist nicht zuletzt der 1979 gegründeten Friedrich-Kiel-Gesellschaft zu verdanken, die zwischen 1993 und 2006 fünf Bände Friedrich-Kiel-Studien und von 2008 bis 2013 vier Bände Friedrich-Kiel-Forschungen herausgebracht hat. Eine große Gesamtmonographie, die den heutigen Wissensstand über Leben und Werk des 1821 im westfälischen Puderbach geborenen, seit 1842 in Berlin wirkenden Komponisten zusammenfasst, steht zwar noch aus, doch wer sich über Kiel informieren möchte, wird aus besagten Bänden mit Informationen gut versorgt: Sie enthalten zeitgenössische Dokumente (v. a. Briefe), Forschungen zur Biographie, Werkbetrachtungen und Essays zur Stellung Kiels in der Musikgeschichte.
Das runde Jubiläum des Komponisten im Jahr 2021 wurde von der Friedrich Kiel-Gesellschaft zum Anlass genommen, einen weiteren, den fünften Band Friedrich-Kiel-Forschungen herauszubringen. Dieser, ausdrücklich als Jubiläumsband zum 200. Geburtstag gekennzeichnet, erschien 2022 im Studiopunkt Verlag, der bereits die früheren Bände der Reihe veröffentlicht hat, mittlerweile allerdings zum Verlag Königshausen & Neumann gehört. Als Herausgeber zeichnen die Sopranistin Anja Ganschow, Vorsitzende der Gesellschaft, und der Musikwissenschaftler Hartmut Wecker verantwortlich, die ebenso Beiträge zum Buch beigesteuert haben wie der Mitherausgeber der ersten vier Bände, Dietmar Schenk, Leiter des Archivs der Universität der Künste Berlin. Anja Ganschows Text ist ein Gedenkartikel zu Ehren von Peter Pfeil (1938–2018), Gründungsmitglied und bis zu seinem Tod 1. Schriftführer der Kiel-Gesellschaft, der gemeinsam mit Dietmar Schenk die bisher vorgelegten Bände der Kiel-Forschungen herausgegeben hat. Über 50 Jahre lang hat Pfeil sich der Erforschung von Kiels Leben und der Verbreitung seiner Kompositionen gewidmet und die moderne Kiel-Bewegung dadurch erst richtig in Gang gebracht. Ein umfangreicher Dokumentenbestand über Kiel und seine Schüler, den Pfeil im Laufe mehrerer Jahrzehnte zusammengetragen hatte, wurde 2005 dem Archiv der Universität der Künste Berlin als Depositum übergeben. Über die fruchtbare Zusammenarbeit, die die Kiel-Gesellschaft seitdem mit dem Archiv verbindet, berichtet Dietmar Schenk in seinem Buchbeitrag.
Kiels Bedeutung als wichtigster Kompositionslehrer Preußens an der Königlichen Musikhochschule in Berlin hat dazu geführt, dass seine Anfänge im Wittgensteiner Land in der biographischen Forschung eher unterrepräsentiert sind. Umso willkommener muss man deshalb Hildegard Schultes Aufsatz über „Musik im Fürstenhaus Sayn-Wittgenstein-Berleburg“ heißen, der ein Bild von jener Welt vermittelt, in der Kiel als Jugendlicher entscheidende Prägungen erfuhr. Der ungewöhnliche Umstand, dass der erste Musiklehrer des späteren Komponisten niemand anders gewesen ist als Prinz Carl zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg höchstselbst, der Bruder des damaligen Fürsten, erscheint keineswegs mehr verwunderlich, hat man erfahren, wie intensiv die Musikpflege an diesem kleinen Fürstenhof, der 1806 seine Territorialherrschaft eingebüßt hatte, über Generationen hinweg betrieben wurde. In Berleburg begnügten sich die Fürsten nicht damit, eine Hofkapelle zu unterhalten, sondern betrieben aktiv Musik. Die Mitglieder der fürstlichen Familie spielten selbst im Orchester mit, einige brachten es als Instrumentalisten zu virtuosem Können oder verfassten eigene Kompositionen – der Druck eines Liedes von Friedrich zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1837–1915) ist im Band vollständig wiedergegeben. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war Berleburg somit ein wichtiges Musikzentrum des westfälischen Raumes, dessen Geschichte durchaus verdient, genauer erforscht zu werden. Die Anmerkung der Autorin, dass die Musikbibliothek im Schloss dringender wissenschaftlicher Aufarbeitung bedarf, sollte man ernst nehmen!
Auch in Haino Rindlers Text „Friedrich Kiel – zwischen Tradition und Moderne“ wird ausführlich von Kiels Zeit am Berleburger Hof berichtet, ebenso von seinen Lehrjahren in Berlin bei Siegfried Dehn. Anschließend stellt der Autor Kiel als „modernen Pädagogen“ vor, der seinen Unterricht traditionsbewusst auf Bach und Händel, Mozart und Beethoven gründete, aber weder der antiquierten Auffassung einiger seiner Berliner Akademie-Kollegen anhing, die Instrumentalmusik sei eine Verfallserscheinung, noch offen gegen Wagner und Liszt opponierte. Auch der „außergewöhnliche Komponist“ Kiel wird gewürdigt, wobei ein Chorsatz aus seinem Oratorium Christus näher besprochen wird. Leider sind die Noten dem Aufsatz nicht beigegeben, obwohl auf S. 30 ausdrücklich von einem „angehefteten Klavierauszug“ die Rede ist. An dieser Stelle merkt man, dass es sich bei dem Text um eine offenbar nicht ganz gründliche Überarbeitung einer älteren Seminararbeit handelt. Leider sind auch im Text mehrere Ungenauigkeiten zu beanstanden. So wird Kiel in der Kapitelüberschrift auf S. 31 zum „Hofkapellmeister zu Berleburg“, obwohl man aus dem folgenden Text erfährt, dass er dort nur Konzertmeister war. Sein Schüler Ignacy Jan Paderewski wird als „polnischer Staatspräsident im Exil“ (S. 39) bezeichnet – tatsächlich war er 1919 im neugegründeten polnischen Staat Ministerpräsident, 1940 im Exil Vorsitzender des Nationalen Rates der Republik Polen. Ganz misslungen ist Rindler die Charakterisierung Felix Draesekes auf S. 41, den er als Beispiel für einen „ins Maßlose“ greifenden, auf „Aktion und Sensation“ setzenden Komponisten anführt, als „populären“ Vertreter einer Mode, von der sich Kiel als ein „Komponist der leisen Töne“ abhebe. Dazu ist zu sagen: Draeseke war, bei aller ihm entgegengebrachten Achtung und Wertschätzung, nie ein populärer Komponist, der es seinerzeit in der Publikumsgunst etwa mit Bruch, Raff, Rubinstein, geschweige denn mit Wagner oder Brahms aufnehmen konnte. Der frühe Germania-Marsch, den Rindler ganz richtig als Skandalstück erwähnt, mag in der Wahl der Mittel tatsächlich maßlos sein, aber gerade deswegen fiel er durch und wurde nicht populär. Von dieser Art Musik kam Draeseke bald ab und ließ es, namentlich in seiner Kammermusik, an leisen Tönen nicht fehlen. Sein Christus-Mysterium als weiteres Beispiel musikalischer Maßlosigkeit anzuführen ist absurd! Das Werk ist, anders als Rindler meint, nie dazu gedacht gewesen, als fünfstündiger „Marathon“ an einem Abend aufgeführt zu werden, und auch nie dergestalt erklungen! Es handelt sich um einen vierteiligen Oratorienzyklus, der auf drei Abende verteilt wird, was dann jeweils Konzerte von anderthalb bis zwei Stunden Dauer ergibt. Rindlers Arbeit stammt ursprünglich aus dem Jahr 1998. Man kann verstehen, dass der Autor damals als Student zu solch falschen Annahmen kam, nicht aber, dass er sie nach all diesen Jahren unkorrigiert stehen ließ.
Wer sich näher mit Kiels Christus, seinem umfangreichstem Werk, beschäftigt, für den werden Jonas Pfohls Anmerkungen zum Textbuch dieses Oratoriums sehr nützlich sein. Vor einigen Jahren hat Daniel Ortuño-Stühring in seinem Buch Musik als Bekenntnis. Christus-Oratorien im 19. Jahrhundert das Werk ausführlich betrachtet und dabei namentlich seine dramatische Konzeption untersucht. Pfohls Aufsatz vertieft diese Thematik und geht dem von Kiel nach Worten der Heiligen Schrift selbst zusammengestellten Text erstmals Vers für Vers auf den Grund. Das Oratorium beginnt mit dem Einzug Christi in Jerusalem und schließt mit der Auferstehung, ist also über weite Strecken ein Passionsoratorium, ohne freilich ganz in diese Kategorie zu passen. Im Gegensatz zu Vertonungen früherer Epochen verzichtet Kiel auf die Rolle des Evangelisten und gestaltet den Text in dialogisch-szenischer Form. Da die Evangelien dazu unterschiedlich viel Material hergeben, kombiniert Kiel verschiedene Texte, formuliert indirekte Rede zu direkter Rede um und fügt gelegentlich passende Verse aus dem Alten Testament ein. Wie Pfohl darlegt, stieß dieses Vorgehen in der Kreuzigungsszene an seine Grenzen, sodass Kiel zum Abschluss dieses Abschnitts ein einziges Mal zu nicht-biblischen Versen griff und ein (von ihm selbst?) leicht umformuliertes Gedicht Johann Samuel Dieterichs als Choralbearbeitung auf die Melodie von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ vertonte. Das gesamte Libretto findet sich dem Aufsatz als Anhang beigegeben, wobei jeder einzelne Vers mit einer Quellenangabe versehen ist. Ein Versehen auf S. 81 muss korrigiert werden: Nur der erste Vers auf dieser Seite (Mt 27,5) wird vom „Volk“ gesungen, ab dem zweiten Vers (Jes 53,7) singt bis zum Ende der Szene „eine Stimme“.
Isabell Tentler führt uns nach Leipzig, dem Wirkungsort des Chordirigenten Carl Riedel (1827–1888). Riedel leitete seit 1855 den Riedel-Verein, der unter den damals drei großen Leipziger Chören der bedeutendste war, was die Pflege zeitgenössischer Musik betraf. Für Friedrich Kiel waren Riedel und sein Chor die wichtigsten Interpreten seiner Werke in der traditionsreichen Musikstadt, denn im Gewandhaus, das unter Ferdinand David, Julius Rietz und Carl Reinecke ein sehr konservatives Repertoire pflegte, kamen Kompositionen Kiels kaum zur Aufführung. Die große Ausnahme ist die Leipziger Erstaufführung des Requiems op. 20 als Gedenkkonzert zum Todestag Felix Mendelssohn Bartholdys 1862, der sich später nur noch Darbietungen zweier Kammermusikwerke im Rahmen von Tonkünstlerversammlungen des Allgemeinen Deutschen Musikvereins anschlossen. Durch den Riedel-Verein wurde dagegen zwischen 1867 und 1886 im Durchschnitt etwa alle zwei Jahre Musik von Kiel in Leipzig zur Aufführung gebracht, darunter zweimal die Missa solemnis und dreimal der Christus, stets in der Thomaskirche. Riedel beschränkte sich dabei nicht auf Chorwerke, sondern spielte auch als Zwischenspiel in einem Chorkonzert eine Kielsche Orgelfantasie. Zum Gedächtnis des Komponisten brachte er 1886 neben Teilen beider Requiem-Vertonungen die Cellosonate und das Erste Klavierquartett Kiels zu Gehör. Aus Tentlers Darstellung lernt man Riedel als einen Musiker kennen, der sein bestes tut, um einem von ihm geschätzten zeitgenössischen Komponisten zu möglichst guten Aufführungen zu verhelfen: 1873 organisiert er für den Christus die neuesten Maschinenpauken der Firma Hoffmann, zehn Jahre später, im Vorfeld einer weiteren Aufführung des Oratoriums, schreibt er Thomaskantor Wilhelm Rust mehrere (im Anhang vollständig wiedergegebene) Briefe und erreicht, dass dieser ihm zur Verstärkung der Sopran- und Altstimmen mehrere Thomaner zur Verfügung stellt. Es verwundert angesichts dieses Einsatzes nicht, dass Riedel für Kiel auch privat zum Freund wurde. Leider haben seine Nachfolger in der Leitung des bis 1950 existierenden Vereins seine Kiel-Pflege nicht fortgesetzt.
Der Beitrag Susanne Büchners über „Die Musikalien Friedrich Kiels in der Library of Congress (Washington, DC)“ gibt nicht nur ein vollständiges Verzeichnis des ziemlich umfangreichen Bestandes an Kiel-Noten in der größten Nationalbibliothek der USA (mehr als die Hälfte seiner gedruckten und zwei ungedruckte Werke), sondern informiert auch darüber, wie diese Sammlung im Laufe der Zeit durch Schenkungen und Ankäufe zusammengetragen wurde. Im Anhang finden sich Kurzbiographien der einzelnen Personen, aus deren Besitz die Musikalien nach Washington gelangten – interessante, anregende Skizzen zum europäisch-amerikanischen Kulturtransfer.
Die Friedrich-Kiel-Gesellschaft widmet sich nicht nur ihrem Namensgeber. Auch seine zahlreichen Schüler finden bei ihr Beachtung und werden erforscht. So ist in dem Band auch ein Portrait eines Kiel-Schülers zu finden. Der Organist Peter Brusius, der die Veröffentlichung seines Textes leider nicht mehr erlebte, stellt den 1847 im schweizerischen Schliers geborenen Komponisten Theophil Forchhammer vor. Forchhammer wirkte als Organist zunächst in der Schweiz, dann in Wismar, Quedlinburg und zuletzt, von 1885 bis 1918, am Magdeburger Dom. Er starb 1923. Heute sind von ihm noch 287 Kompositionen bekannt, doch war der Umfang seines Schaffens bedeutend größer: Der Musikwissenschaftler Peter Schmidt, der 1937 eine Dissertation über Forchhammer schrieb, hatte noch Einsicht in eine mehrbändige Sammlung, die rund 1800 Choralvorspiele umfasste – die reiche Ernte eines schöpferisch erfüllten Organistenlebens. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese Bände nach Staßfurt ausgelagert, konnten aber bislang nicht wiedergefunden werden. Forchhammer arbeitete wiederholt mit dem von ihm sehr geschätzten Orgelbauer Ernst Röver zusammen, dessen Wirken Brusius gleichfalls würdigt. Leider haben auch mehrere Instrumente Rövers den Krieg nicht überstanden, darunter Forchhammers eigene Dienstorgel in Magdeburg, die 1945 bei einem Fliegerangriff zerstört wurde. Forchhammer war offenbar ein sehr bescheidener Mensch, der sich um die Verbreitung seiner Werke wenig gekümmert zu haben scheint. So ist nur ein kleiner Bruchteil davon veröffentlicht worden, darunter zwei Orgelsonaten. Ein Oratorium Königin Luise und eine chorsymphonische Vertonung des 130. Psalms blieben Manuskript. Ausgehend von den wenigen Eindrücken, die mir bislang von Forchhammers Kompositionsstil zuteil geworden sind, kann ich jedenfalls sagen, dass er seinem Lehrer Kiel alle Ehre gemacht hat und es verdiente, mehr beachtet zu werden. Seine Choräle und Chorsätze stecken voller feiner Wendungen in der Stimmführung, die die diatonisch fest gegründete Harmonik stets abwechslungsreich halten.
Bevor Anja Ganschow mit der bereits erwähnten Würdigung Peter Pfeils das letzte Wort hat, versucht sich Hartmut Wecker zum 200. Geburtstag Friedrich Kiels an einer Standortbestimmung. Er beschreibt das Ansehen, das Kiel zu Lebzeiten genoss, und belegt es mit einschlägigen Zitaten. Die Antwort auf die Frage, warum Kiels Musik bald nach seinem Tode vernachlässigt wurde, findet er teilweise im Charakter der Werke, denen Exaltiertheit fremd ist, was sie in der Nachbarschaft eines Liszt oder Wagner manchem Zeitgenossen spröde erscheinen ließ, teilweise aber auch in der zurückhaltenden Persönlichkeit des Komponisten selbst, der es, obwohl sein einziger öffentlicher Auftritt als Pianist erfolgreich verlief, ablehnte als Interpret in eigener Sache tätig zu sein, und auch außerhalb seines beruflichen Umfelds kaum Kontakte zu Kollegen pflegte. „Von einer umfassenden Rückkehr Kiels in das zeitgenössische Musikleben kann noch nicht die Rede sein, aber es gibt hoffnungsvolle Ansätze“, schließt Wecker. Der vorliegende Band, der aus Weckers Feder auch ein kurzes Curriculum Vitae Friedrich Kiels enthält, sodass sich Leser, die mit der Biographie des Komponisten weniger vertraut sind, einen schnellen Überblick verschaffen können, ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Möge er dazu beitragen, das Interesse an Kiel zu steigern, auf dass man sich bald über weitere Aufführungen und Aufnahmen seiner meisterhaften Musik freuen kann!
Evgeny Kissin spielte am 2. und 3. November 2023 erstmals in der Isarphilharmonie zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein Klavierkonzert: Rachmaninows Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30. Krzysztof Urbański debütierte damit beim BRSO und dirigierte nach der Pause Schostakowitschs 10. Symphonie e-Moll op. 93. Unser Rezensent besuchte das zweite Konzert am Freitag, 3. 11. 2023.
Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an gleichem Ort Rachmaninows berühmtes drittes Klavierkonzert mit dem Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2015, Seong-Jin Cho, unter Leitung von James Gaffigan aufgeführt, der kurzfristig für Zubin Mehta eingesprungen war. Der Rezensent zeigte sich von dieser Darbietung wenig begeistert und kritisierte insbesondere ein völlig unausgegorenes, überhetztes Finale und eine generell schwache Leistung des Dirigenten. Beim Konzert am Freitag war dies zum Glück ganz anders: Evgeny Kissin hat den ganzen Saal inspiriert, und insbesondere das BRSO lief unter dem Debütanten Krzysztof Urbański zu absoluter Höchstform auf – verglichen mit letztem November nicht wiederzuerkennen.
Das Thema des Kopfsatzes wird von Kissin vom Tempo her bewusst zurückgenommen, sofort äußerst gesanglich und elegisch, im Gegensatz zum quasi neutralen Beginn der meisten Interpreten – einschließlich des Komponisten selbst; direkt beim zweiten Auftreten zieht der Apparat dann mächtig an, genau der Partitur folgend. Gleichermaßen verfährt Kissin mit den Parallelstellen, wo das Hauptthema schlicht im Oktavabstand erscheint, also zu Beginn der Durchführung und in der Coda – gewöhnungsbedürftig, jedoch konsequent. Was dann über fast 50 Minuten geschieht, ist eine echte Offenbarung: Der Pianist gibt noch der kleinsten Begleitfigur motivische Bedeutung, alles erhält Linie und Tiefe. Rachmaninows maßlose Virtuosität steht keinen Augenblick im Vordergrund, nicht einmal in der gewaltigen Kadenz, die nur zwischen zwei Aggregatzuständen zu vermitteln scheint: der Dramatik zuvor und den folgenden, fast schwebenden Dialogen mit den fantastischen Holzbläsern inklusive Horn. Kissins Anschlag bleibt immer schön, differenziert und ausdrucksstark, auch wenn er mal beherzt mit fundamentalen Bässen zupacken muss. Von seiner legendären, traumwandlerischen Sicherheit hat er nichts verloren, kontrolliert und gestaltet den Klavierklang dieses Gipfelwerks der Konzertliteratur subtil wie kaum jemand sonst.
Urbański ist schon technisch eine Augenweide: Die linke Hand formt unentwegt die Feindynamik, zeigt jeden Akzent, jedes Pizzicato – alles atmet ganz natürlich. Sehr konzentriert geht er auf Kissins ausgefeilte, flexible und oft schwierig zu verfolgende Agogik ein; nur kurz vor Schluss des Finales klappert es für einen Moment. Dafür deckt das Orchester an diesem Abend den Pianisten wirklich niemals zu und geht doch emotional total mit – die Höhepunkte kommen auf den Punkt. Den Bläsern gelingen traumhaft schöne Passagen, rhythmisch ist alles hochpräzise, ohne jede Unruhe. Die Streicher spielen ungemein samtig, mit der für Rachmaninow angemessenen, fast dekadenten Zartheit und Wärme. Wie im Vorjahr überzeugt gerade der zweite Satz, aber selbst die kompositorisch weniger starken Einfälle im Finale – diesmal im genau richtigen Tempo – werden nun sinnvoll in einen größeren Zusammenhang eingebettet, ebenso der flirrende, jedoch keinesfalls überdrehte Scherzando-Abschnitt oder die wehmütige Reminiszenz des Hauptthemas. So zerfällt keiner der Sätze ins Episodische. Kissin beseelt und überhöht diese romantische Welt, ohne in Kitsch zu verfallen – reine Poesie. Der Applaus nach dieser musikalischen Großtat ist riesig und wird durch vier vermeintlich leichte, unwiderstehlich gespielte Zugaben – Chopin und Brahms – vom Pianisten auf bald 25 Minuten ausgedehnt.
Wenn man schon beim BRSO debütiert, dann richtig: Der mit seinen 41 Jahren immer noch jugendlich, fast spitzbübisch wirkende Krzysztof Urbański wagt sich gleich an Schostakowitschs 10. Symphonie und dirigiert das lange Stück souverän auswendig. Die Symphonie gehört seit 40 Jahren zum Standardrepertoire des BRSO, stand noch in einem der letzten Konzerte Mariss Jansons‘ auf dem Programm. Für dieses Stück – das unmittelbar nach Stalins Tod 1953 entstand und sowohl eine Auseinandersetzung mit dessen Barbarei als auch der Symphonik Tschaikowskys darstellt – bedarf es also großer Überzeugungskraft. Den hohen Erwartungen wird Urbański in jeder Hinsicht gerecht. Wie oben bemerkt, verfügt der polnische Dirigent, der bereits die bedeutendsten Klangkörper geleitet hat und kürzlich zum Chef des Berner Sinfonieorchesters berufen wurde, über erstaunliches Handwerk. Dies bringt er hier auf erfrischend lockere Art zur Geltung. Selten klar modelliert er sämtliche Details und behält dabei die großen Zusammenhänge im Auge, besonders im sehr langen Kopfsatz. Der blutige Rausch des kurzen Allegros („Stalin-Scherzo“) wird vom Orchester furios in sagenhaftem Tempo vermittelt: präzise, nicht übertrieben. Dmitri Schostakowitschs eigenes „Ich“, durch die Tonfolge D-S (Es)-C-H repräsentiert, im teils wieder an Mahler erinnernden Allegretto zunächst noch deformiert, übersteht die Wiederkehr des Stalin-Motivs im Finale und gewinnt schließlich eindrucksvoll die Oberhand. Die Dramaturgie dieser Entwicklung kann Urbański mit Überblick perfekt auf Orchester wie Publikum übertragen. Dieses spürt, dass hier ein Dirigent mit Leidenschaft und Können musiziert, honoriert auch diese Glanzleistung mit Bravos und langanhaltendem Beifall. Ein durch und durch beglückender Abend – und Herrn Urbański darf man bitte noch öfter einladen!