Musik in Bern 2: Ein humoristischer Abend

Der Tragödie folgt bei den alten Griechen das Satyrspiel. Ganz ähnlich erging es dem Verfasser bei seinem Aufenthalt in Bern, denn er bekam die Gelegenheit, einen Tag nach der Aufführung des Raffschen Samson, am 9. September 2023, im Konzertsaal des Berner Casinos einen musikalischen Abend besonderer Art zu besuchen. Die Schweizer Bundesstadt stand ganz im Zeichen des Musikfestivals Bern, dessen vielgestaltiges Programm ernstes und heiteres, klassisches und modernes vereinte. „Im Orchester Graben“ war die unter der Regie von Tom Ryser zustande gekommene Veranstaltung betitelt, die das beliebte Schweizer Komiker-Duo Ursus & Nadeschkin (Ursus Wehrli und Nadja Sieger) gemeinsam mit der Camerata Schweiz unter der Leitung ihrer Ersten Gastdirigentin Graziella Contratto, der Produzentin der Raff-Aufführung und -Einspielung, auf die Bühne brachte.

Zwar ahnt man schon zu Beginn, wenn Ursus und Nadeschkin sich auf dem Podium einen Platz suchen, aber die Stühle immer wieder den hinzukommenden Orchestermitgliedern überlassen müssen, dass man hier kein gewöhnliches klassisches Konzert erlebt, doch scheint mit dem Auftritt der Dirigentin genau ein solches anzufangen. Es gibt Beethovens Fünfte. Der erste Satz erklingt, rasant, streng, unerbittlich, ganz so wie Graziella Contratto sich im Folgenden auch selbst verhält. Denn da Ursus und Nadeschkin es wagen, bereits nach dem ersten Satz zu klatschen, werden sie von der Kapellmeisterin zurechtgewiesen: Das tue man nicht, die Symphonie sei zerrissen worden! Sie gibt das Zeichen zum zweiten Satz, doch weit kommt da Orchester nicht. Nur zu berechtigt ist der in quirligem Schwyzerdütsch vorgebrachte Einwand der Komödianten, warum denn mit dem zweiten Satz fortgefahren werde, da doch die Einheit des Werkes verloren gegangen sei. In dem folgenden Wortwechsel stellt sich heraus: Ursus und Nadeschkin sind heute hier als Botschafter der Musik, um den Graben zuzuschütten zwischen „denen mit Konservatorium“ auf dem Podium und „denen ohne Konservatorium“ im Parkett. Nachdem die Dirigentin empört das Podium verlassen hat, geht es zu wie beim Zauberlehrling: Ursus greift zum Taktstock, das Orchester fängt wieder an zu spielen, allerdings schrecklich falsch. In dem Momant aber, als Graziella Contratto wieder ans Pult kommt und den Taktstock wieder in ihre Hand nimmt, stimmt sofort wieder alles. Anschließend werden Ursus und Nadeschkin von Contratto geprüft, was sie über Beethoven, aber auch allgemein über Musikgeschichte und Musiktheorie wissen, doch die Fachtermini der Sonatenhauptsatzform haben sie nur ungenügend gelernt. Danach kann das Publikum zeigen, wie „die ohne Konservatorium“ ihren Beethoven beherrschen. Nadeschkin dirigiert, das Publikum singt die Anfangstakte der Fünften, aber schon einige Takte später stellt sich Unsicherheit ein. Contratto will zeigen, wie man es besser macht, tatsächlich singen die Leute sofort mit mehr Kraft, aber auch hier verliert sich der Gesang nach wenigen Takten. Nun demonstriert die Dirigentin, was „die mit Konservatorium“ alles können, und lässt ihr Orchester souverän Takte von Rachmaninow und Tschaikowskij in der Kopfsatz der Fünften einfügen. Die Musiker gehen nach einer gewissen Zeit in die ihnen vertraglich zustehende Pause. Contratto bleibt allein zurück. Ursus und Nadeschkin kommen mit ihr ins Gespräch, wobei sich herausstellt, dass sie nur die strenge Chefin ist, wenn sie vor dem Orchester steht.

So beginnt der zweite Teil versöhnlicher: Das Publikum wird aus der Pause von Klängen eines Kinderkeyboards in den Saal zurückgelockt: Contratto wechselt zwischen Disco-Musik, Mozarts Alla turca, Beethovens Für Elise und Bachs d-Moll-Toccata, Ursus und Nadeschkin kommen hinzu, ale drei spielen und singen Falco (Amadeus), dann Abba (Money, Money, Money), zu welchen Tönen das Orchester freudig auf die Bühne stürzt. Man beginnt wendet sich dann wieder Beethovens Fünfter zu, doch nun alles andere als streng: Der Erste Satz (bzw. nur die Exposition) wird verjazzt, in Dur gespielt, rückwärts gespielt (sodass ein unbefriedigender Dominanschluss stehen bleibt). Dann kommen Ursus und Nadeschkin auf die Idee, die Noten zu vertauschen: So erhält der erste Hornist die Paukenstimme und soll zum Vergleich spielen, was er selbst und was die Pauke in den ersten vier Takten des Werkes zu spielen hat. Man stellt fest: Es klingt genau gleich! Also wird von allen Orchestermitgliedern das Notenmaterial eingesammelt und anders wieder ausgeteilt. Contratto dirigiert unter Protest. Es klingt schief, so schief, dass während des Spiels (!) die Musiker ihre Noten untereinander zurücktauschen, bis jeder wieder die richtige Stimme vor sich hat. Man wird noch rechtzeitig fertig, um den Schluss des Satzes korrekt wiederzugeben. Zu guter Letzt singen Ursus und Nadeschkin die ganze Exposition des Satzes virtuos vor (der Text besteht aus den Namen der jeweils erklingenden Instrumente) und werden daraufhin von Contratto als Botschafter der Musik anerkannt. Als Zugabe gibt es Beethovens Fünfte, wie Beethoven sie selbst gehört hat…

Damit endete in geschäftiger Stille ein höchst vergnüglicher Abend! Und gewiss wird der eine oder andere Besucher Beethovens Fünfte nun mit anderen Ohren hören.

[Norbert Florian Schuck, September 2023]

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