Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zu Lebzeiten seines Autors nicht auf die Bühne gelangt, entpuppte sich Joachim Raffs Musikdrama Samson bei seiner Uraufführung, die mit 165 Jahren Verspätung im September 2022 im Deutschen Nationaltheater Weimar stattfand (wir berichteten), als ein Werk, das mit Fug und Recht eine der bedeutendsten Opernschöpfungen des mittleren 19. Jahrhunderts genannt werden kann. Ziemlich genau ein Jahr nach dieser Premiere kam es nun erstmals zu einer Aufführung in der Schweiz, dem „Mutterland“ des Komponisten. (Der 1822 in Lachen, Kanton Schwyz, als Sohn eines Württembergers und einer Schweizerin geborene und aufgewachsene Raff unterschied zwischen der Schweiz als seinem „Mutterland“ und Württemberg, dessen Staatsangehöriger er lebenslang blieb, als seinem „Vaterland“.) Zeitgleich zum Musikfestival Bern, aber nicht als Teil desselben, erklang der Samson konzertant als Extrakonzert der Bühnen Bern am 8. September 2023 im Berner Stadttheater. Das Berner Symphonieorchester und der Chor der Bühnen Bern (einstudiert von Zsolt Czetner) spielten und sangen unter dem Dirigat von Philippe Bach. In den einzelnen Rollen waren zu hören: Magnus Vigilius (Samson), Olena Tokar (Delilah), Christian Immler (Oberpriester), Michael Weinius (Micha), Robin Adams (Abimelech), Mirjam Fässler (Oberpriesterin), Christian Valle (Seran von Askalon), Bareon Hong (Gefängniswächter) und Katharina Willi (Frau aus dem Volke). Der Abend wurde von Res Marty, Ehrenpräsident der Joachim-Raff-Gesellschaft, und Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs in Lachen, mit einer ausführlichen Konzerteinführung eingeleitet.
Bereits die Bezeichnung „Musikdrama“ verrät, dass der Komponist, der später vor allem als Symphoniker und Verfasser von Klavier- und Kammermusik berühmt wurde, in dieser, seiner zweiten Oper bewusst an die Errungenschaften Richard Wagners anknüpfte. Raff hatte als Assistent Franz Liszts in Weimar die von diesem geleitete Uraufführung des Lohengrin erlebt und unmittelbar unter jenem Eindruck mit der Arbeit am Samson begonnen, den er ganz in der Art Wagners auch selbst dichtete. Heraus kam ein Werk von echter dramatischer Kraft, dessen Szenen dichterisch wie musikalisch meisterlich aneinander gefügt sind und das mit seiner psychologisch vielschichtigen Charakterisierung der Hauptfiguren unmittelbar fesselt. Raff denkt offensichtlich nicht in Nummern, sondern in ganzen Akten, in welchen Arien, Ensembles, Chöre eine Funktion als Teile eines größeren Ganzen einnehmen, aber keine in sich geschlossenen Stücke mehr sind. Eine zusätzliche Verklammerung wird durch wiederkehrende Themen und Motive erreicht, die allerdings auf die einzelnen Akte beschränkt bleiben und noch keine eigentlichen Leitmotive im Sinne des späteren Wagner sind. Stilistisch lehnt sich das Werk, das einmal wieder von Raffs außerordentlicher Begabung als Instrumentationskünstler zeugt, durchaus nicht sklavisch an Wagner an. Bei aller Wertschätzung war Raff ein zu eigener Kopf, als dass er sich einem bestimmten Vorbild ganz verschrieben hätte. Bezeichnenderweise veröffentlichte er während der Arbeit am Samson ein Buch mit dem Titel Die Wagnerfrage, in welchem er sich an einer kritischen Sichtung des von Wagner Erstrebten und Erreichten versuchte.
Ließ sich von der Weimarer Aufführung bereits sagen, dass es sich um eine musikalisch hochwertige Darbietung handelte (die nur leider durch die unwürdige Inszenierung mit ihren vielen störenden Nebengeräuschen Schaden nahm), so bot sich in Bern ein noch deutlich erfreulicherer Eindruck, denn die Leistung der Weimarer wurde von den Bernern in jeder Hinsicht übertroffen. Es war, um es kurz vorweg zu nehmen, ein musikalischer Abend beinahe ohne alle Abstriche und Eintrübungen. Mit Philippe Bach war ein Dirigent für die Unternehmung gewonnen worden, der es versteht, Orchester wie Chor mit deutlicher, funktionaler Zeichengebung, mit wachem Sinn für die Entwicklung der Musik im Großen wie für die klanglichen Feinheiten der einzelnen Momente zu Höchstleistungen zu führen. Was das Gesangsensemble betrifft, so kann man nur konstatieren, dass bei der Besetzung eine glückliche Hand zu Werke ging: Nicht nur für die Hauptpersonen, sondern selbst für Nebenrollen, die nur in einem einzigen Akt kurze Auftritte haben, hat man kraftvolle, frische Stimmen gefunden, angesichts derer man sich schlichtweg über jeden neuen Auftritt einer Figur, jede neue Figurenkonstellation freut. Besonders loben muss man die Textverständlichkeit aller Sängerinnen und Sänger – dies umso mehr, da es sich um ein internationales Ensemble handelte, dessen Mitglieder mehrheitlich aus nicht-deutschsprachigen Ländern stammen. So konnte man sich nicht nur an der Schönheit der Stimmen erfreuen, sondern auch der Handlung folgen, ohne dass Hilfsmittel wie Textbuch oder Untertitel (was es beides nicht gab) nötig gewesen wären. Das Zusammenspiel der Hauptfiguren lebte von der begnadeten Charakterisierungskunst ihrer Darsteller. Magnus Vigilius, Olena Tokar und Robin Adams zeigten Samson, Delilah und den König Abimelech (der bei Raff Delilahs Vater ist) als runde Charaktere mit Stärken und Schwächen, die, hin- und hergerissen von den komplizierten Situationen, in die sie durch politische und persönliche Konstellationen hineingeraten sind – man beachte, dass die Beziehung zwischen Samson und Delilah in diesem Stück eine echte, von beiderseitiger Zuneigung getragene Liebe ist –, schwere Entscheidungen treffen müssen. Diesen Figuren, die eine Entwicklung durchmachen – Samson und Delilah gelingt die Selbstüberwindung, Abimelech scheitert an der Staatsräson –, stehen in Form des Kriegers Micha und des Oberpriesters die beharrlichen, unversöhnlichen Elemente gegenüber, die durch Michael Weinius und Christian Immler eine nicht minder treffliche Verkörperung erfuhren. Angesichts dieser Leistungen fiel gar nicht ins Gewicht, dass man auf das Bühnenspiel verzichten musste. Die handelnden Figuren standen dem Verfasser dieser Zeilen derartig prägnant vor dem inneren Auge, dass er nur wenig Phantasie brauchte, sich die Bühnenbilder, Kostüme und Aktionen hinzuzudenken. Außerdem ist es im Zweifelsfall besser, gar keine Inszenierung zu haben als wenn mit dem Stück solcher Unfug getrieben wird, wie bei der Weimarer Aufführung geschehen. Dennoch möchte ich an dieser Stelle andere Theater ausdrücklich dazu ermutigen, den Samson szenisch umzusetzten, aber bitte gut!
Man merkte den Ausführenden an, dass ihrem Auftritt neun Tage intensiver Arbeit vorangegangen waren: Die Premiere markierte den Abschluss eines von der Dirigentin Graziella Contratto initiierten Aufnahmeprojekts für die CD-Produktion Schweizer Fonogramm. Angesichts der Tatsache, dass die Einspielung den ganzen Samson umfassen wird, lässt sich auch der einzige Wermutstropfen verschmerzen, dass die Aufführung keine vollständige war: Aus gewerkschaftlichen Gründen, wie es hieß, war die Oper um etwa eine halbe Stunde auf eine Länge von drei Stunden (die Pause nicht eingerechnet) gekürzt worden. Dass das Berner Stadttheater das Opfer brachte, eigens wegen dieser Produktion seinen Betrieb für über eine Woche zu unterbrechen, verdient nichtsdestoweniger Anerkennung und Lob! Die Aufnahme wird, einer Mitteilung im Programmheft zufolge, als 3-CD-Packung um die Weihnachtszeit 2023 herauskommen.
[Norbert Florian Schuck, September 2023]
Ein Gedanke zu „Musik in Bern 1: Die schweizerische Erstaufführung von Joachim Raffs „Samson““