Archiv für den Monat: Juli 2023

Packende Orchesterwerke von Dieter Ammann auf Naxos

Naxos 8.551474; EAN: 7 3009914743 9

Die Basel Sinfonietta unter ihrem scheidenden Chefdirigenten Baldur Brönnimann hat im Mai 2022 die drei großbesetzten Orchesterstücke Core – Turn – Boost des schweizerischen Komponisten Dieter Ammann (*1962) erstmals als Trilogie aufgeführt und zusammen mit unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (Solistin: Simone Zgraggen) auf Naxos eingespielt. Die Stücke wie ihre Darbietungen erweisen sich als ganz großer Wurf.

Dieter Ammann, 1962 in Aarau geboren und in Zofingen aufgewachsen, wo er immer noch lebt, darf man seit einigen Jahren als wohl bedeutendsten schweizerischen Komponisten seiner Generation bezeichnen. Nach dem Schulmusikstudium und einer Jazzausbildung bewegte sich Ammann in den 1980ern musikalisch vorwiegend in der Jazz- und Funkszene und war mit verschiedenen Instrumenten (Keyboard, Trompete, Bassgitarre…) gerade auch improvisatorisch unterwegs. Erst danach studierte er in Basel Theorie und Komposition, belegte dann Meisterkurse u. a. bei Wolfgang Rihm und Witold Lutosławski. Ammann komponiert langsam, dafür mit der vielzitierten Präzision eines Schweizer Uhrmachers. Daher ist sein Werkkatalog recht schmal geblieben, aber die Musik – ganz gleich, ob für großes Orchester oder kleines Ensemble – immer einfallsreich, von teils unbändiger Energie mit raffinierten Kontrasten und spannenden Entwicklungen geprägt. Vor allem jedoch überzeugt der Komponist durch seine bis ins letzte Detail allerfeinst ausgetüftelten Klänge – selbst bei größter Orchesterbesetzung wirkt das keine Sekunde al fresco oder pauschal, schon gar nicht eklektizistisch. Zuletzt erregte sein gewaltiges Klavierkonzert Gran Toccata (2016–19) weltweites Interesse – dessen Siegeszug wurde lediglich durch die Corona-Pandemie unterbrochen: auch in den Augen des Rezensenten offenkundig ein Meisterwerk.

Die drei hier erstmals als Triptychon aufgeführten, ebenfalls großbesetzten Orchesterwerke Core (UA 2002), Turn (UA 2010) und Boost (UA 2002) entstanden jeweils als Auftragswerke des Lucerne Festivals bzw. des Luzerner Sinfonieorchesters und wurden auch dort aus der Taufe gehoben – Core von der Basel Sinfonietta. Als auf die Pflege zeitgenössischer Musik spezialisiertes Orchester in sinfonischer Stärke (~ 80 Mitglieder) ist dieser 1980 gegründete Klangkörper – keinesfalls zu verwechseln mit dem als Nachfolge von Paul Sachers Basler Kammerorchester zu verstehenden Kammerorchester Basel – ziemlich einzigartig. Die Basel Sinfonietta ist in demokratischer Selbstverwaltung organisiert und hat erst seit 2016 einen Chefdirigenten, Baldur Brönnimann, der die hier vorliegenden Live-Mitschnitte vom 26. Mai 2022 leitet. Ab diesem Herbst wird Titus Engel sein Nachfolger.

Der Konzertsatz unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (2013) liegt als Aufnahme mit der Wittener Uraufführungsbesetzung – dann später aus der Kölner Philharmonie – bereits auf CD vor. Brönnimann und die Geigerin Simone Zgraggen (Schülerin u. a. von Ulf Hoelscher, zurzeit Professorin in Freiburg im Breisgau und Konzertmeisterin der Basel Sinfonietta) lassen sich mit knapp 26 Minuten gut drei Minuten mehr Zeit als Carolin Widmann unter Emilio Pomàrico. Besonders zu Beginn tauchen sie ein wenig tiefer in Stellen mit spektralen Schönklängen ein, versuchen bei alldem, was der Komponist als „intuitive Logik“ charakterisiert (Zit: „eine Logik der Subjektivität, der Assoziation und des inneren Ohrs, die ihre eigenen Regeln zu jedem Zeitpunkt neu erstellen beziehungsweise verwerfen kann“), irgendwie einen großen Bogen zu spannen inmitten aller Unberechenbarkeiten. Geigerisch können Zgraggen wie Widmann gleichermaßen überzeugen; die beinahe schon konventionell wirkende Solokadenz gegen Schluss gerät Zgraggen beruhigender. Insgesamt richtet sich die Neueinspielung mehr nach innen als die äußerlichen Gegensätze zusätzlich zu betonen. Aufnahmetechnisch ist die Basler Produktion dem etwas diffusen Klangbild des WDR-Mitschnitts überlegen, präsenter und durchsichtiger. Lediglich Pomàrico steuert die vielen Facetten, die das Orchester zu beleuchten hat, noch ein wenig bewusster als Brönnimann, setzt dabei – wie gesagt – stärker auf Kontraste. Insgesamt sind die beiden Aufnahmen auf demselben Top-Niveau.

Bei der Trilogie Core – TurnBoost machen alle drei Stücke (10, 13 bzw. 16 Minuten lang) einen ungeheuren Spaß: Üppiger, wild zupackender Orchesterklang voller Vitalität, aber ebenso enorm sensible Momente mit immer neuen, vielschichtigen Überraschungen langweilen zu keiner Zeit, lassen den Zuhörer schon mal den Atem anhalten. Hatten die einzelnen Teile bei Publikum wie Kritik bereits jeweils höchst positive Resonanz erfahren, erscheinen sie als Gesamtschau nochmals beeindruckender. Insbesondere versteht man so Turn klar als geplanten Mittelteil: Ein tiefgründiges „Adagio“, welches dann abrupt völlig umschlägt. Die Basel Sinfonietta und Brönnimann sind bei dieser hinreißenden und zwingenden Musik offensichtlich in ihrem Element und die Hommage zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten wird zu einem echten Fest neuer Orchesterkultur. Dieter Ammanns prächtige Tonkunst sollte ab jetzt wirklich in keiner Sammlung fehlen: Der Mann beherrscht nicht nur perfekt sein Handwerk, sondern hat uns zeitgemäß unglaublich viel zu sagen. Für den Rezensenten ist diese fürs Repertoire wichtige Naxos-Veröffentlichung eine der bislang faszinierendsten Neuerscheinungen des Jahres 2023 mit ganz klarer Empfehlung.

Vergleichsaufnahme: [unbalanced instability] Carolin Widmann, WDR Sinfonieorchester, Emilio Pomàrico (in: Grammont Sélection 7 – Schweizer Uraufführungen 2013, Musiques Suisses MGB CTS-M 142, 2013)

[Martin Blaumeiser, Juli 2023]

Ersteinspielung dreier Orchesterwerke Hans Winterbergs

Capriccio, C5475; EAN: 84522105476

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Johannes Kalitzke präsentiert auf diesem bei Capriccio erschienenen Album erstmals Orchestermusik Hans Winterbergs (1901–1991) auf CD. Es erklingen die Symphonie Nr. 1 Sinfonia drammatica (1936), das Klavierkonzert Nr. 1 (1948) und die Rhythmophonie (1967). Solist im Klavierkonzert ist Jonathan Powell.

Der 1901 in Prag geborene, 1991 im oberbayerischen Stepperg gestorbene Hans Winterberg ist ein Komponist, der sich schwerlich in eine Schublade stecken und mit einem Etikett versehen lässt. Die zeitgenössischen Strömungen reflektierend, ohne sich aber dezidiert einer von ihnen anzuschließen, schuf er in relativer Abgeschiedenheit ein umfangreiches Gesamtwerk, das vor allem Orchester-, Kammer- und Klaviermusik umfasst. Eine ganze Reihe seiner Kompositionen wurde zu seinen Lebzeiten vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, jedoch gelangte keines seiner Werke in den Druck. Nachdem der Nachlass Winterbergs lange Zeit der Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war, wird seine Musik nun systematisch erforscht, wieder zu Gehör gebracht, erstmals publiziert und auf Tonträgern festgehalten. Nach Veröffentlichungen von Klavier- und Kammermusikwerken bei Toccata Classics hat nun Capriccio erstmals eine CD mit Orchesterwerken Winterbergs vorgelegt.

In Winterbergs Biographie haben die Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen. In eine assimilierte jüdische Familie hineingeboren, wuchs er, ähnlich wie Franz Kafka und Max Brod einige Jahre vor ihm, als Kind der späten Habsburgerzeit zwischen Tschechen und Deutschböhmen auf. Obwohl deutschsprachig, ließ sich seine Familie bei der tschechoslowakischen Volkszählung 1930 aus Sympathie mit der tschechischen Kultur als „tschechisch“ registrieren (Hans Winterberg schreib seinen Vornamen darum auch „Hanuš“). Nach der Besetzung Tschechiens durch das nationalsozialistische Deutschland musste Winterberg erleben, wie seine Mutter und mehrere weitere Verwandte deportiert und ermordet wurden. Die Ehe mit der Pianistin Maria Maschat, die nach der NS-Ideologie als „Arierin“ galt, bewahrte ihn lange Zeit vor der Verhaftung, doch wurde er schließlich im Januar 1945 ins KZ Theresienstadt verschleppt. Am Tag des Kriegsendes befreit, kehrte er nach Prag zurück. Von der Vertreibung der Deutschböhmen blieb er aufgrund seines Status als Tscheche zwar verschont, doch fühlte er sich in der Nachkriegs-Tschechoslowakei zunehmend unwohl, sodass er eine 1946 bewilligte Auslandsreise („um nach seinen handschriftlichen Kompositionen zu suchen“), zur Übersiedelung nach Bayern nutzte. Er lebte, nun als Sudetendeutscher wahrgenommen, bis 1969 meist in der Gegend am Ammersee, dann in Bad Tölz, zuletzt, ab 1981, in Stepperg.

Winterberg war Schüler namhafter Lehrer. In Prag hatte er bei Fidelio F. Finke und Alois Hába Komposition, bei Alexander Zemlinsky Dirigieren studiert. Spürbare Einflüsse dieser recht unterschiedlichen Musikerpersönlichkeiten finden sich in seinen Kompositionen allerdings nicht. Winterberg war ein durchaus eigener Kopf. Seine Musik ist überwiegend introvertierten Charakters und bewegt sich, meist linear-kontrapunktisch gesetzt, in einer freien Tonalität, der Quartenharmonien nicht fremd sind. In der Instrumentation setzt er auf schwarz-weiß-Kontraste mittels klar voneinander getrennter Klanggruppen, auch auf schroffe Gegensätze zwischen Tutti- und kammermusikalisch ausgedünnten Abschnitten, wobei in letzteren oft Soli vor kontrastierenden Hintergründen spielen. Immer wieder auftauchende abtaktige Motive in markanten Rhythmen zeugen von der tschechischen Herkunft des Komponisten. Auch kommen regelmäßig Abschnitte vor, in denen ein eindeutig böhmischer Musikantengeist durchschlägt. Die nationalen Elemente in Winterbergs Musik dominieren insgesamt jedoch nicht so sehr, dass man ihn einen folkloristischen Komponisten nennen möchte. Sie klingen eher aus der Ferne an, wirken abstrahiert. Das unbekümmerte Losmusizieren, wie es beispielsweise in den Werken des etwas älteren Landsmannes Martinů beständig anzutreffen ist, weicht bei Winterberg einem grüblerischen Ernst. Der Reiz dieser Musik liegt in ihrer Knorrigkeit.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hat unter der Leitung Johannes Kalitzkes drei Orchesterwerke Hans Winterbergs aus verschiedenen Schaffensphasen aufgenommen. Die Sinfonia drammatica, die erste der beiden Symphonien des Komponisten, stammt aus dem Jahr 1936. Es handelt sich um eine viertelstündige Komposition in einem einzigen Satz, in welchem zwei miteinander korrespondierende, bewegtere Eckteile einen zurückgenommenen, karg instrumentierten Mittelteil umschließen. Das Stück basiert auf wenigen kurzen Grundmotiven, die einem permanenten Verwandlungsprozess unterworfen werden. Charakteristisch für die Außenteile ist, dass die Aufschwünge stets durch ein resignierendes Zurücksinken aufgefangen werden, was dem Ganzen den Eindruck des In-Sich-Kreisens verleiht. In den letzten rund zwei Minuten stellt sich ein paradoxes Gleichgewicht zwischen Aufschwung und Abklingen in Form eines ruhelosen Brütens und Grübelns ein. Unwillkürlich kommt mir ein Vers Georg Heyms in den Sinn, mit welchem sich die Stimmung dieser Takte gut beschreiben lässt: „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen.“

Von einer anderen Seite zeigt sich Winterberg in seinem ersten Klavierkonzert von 1948. Die drei Sätze sind als „Vorspiel“, „Zwischenspiel“ und „Nachspiel“ bezeichnet und sämtlich in knappen Dimensionen gehalten, namentlich der erste, der nur drei Minuten dauert. Die etüdenartigen Klaviermotive und die Perpetuum-Mobile-Rhythmik der Ecksätze lassen französische Einflüsse vermuten, wobei sich im letzten Satz – der beinahe zur Hälfte aus einer Solokadenz besteht – dem „jeu“ hörbar Tschechisches hinzugesellt. In der Instrumentation bleibt Winterberg jedoch seinem Klangideal treu und verzichtet weitgehend auf Mischklänge in der Art seiner französischen Zeitgenossen, wie sich vor allem im langsamen zweiten Satz zeigt, dem längsten des Werkes, der über weite Strecken von Konduktrhythmen geprägt ist.

Das Programm wird beschlossen durch die 1967 vollendete Rhythmophonie, ein Werk, das zu Lebzeiten des Komponisten aufgrund seiner hohen spieltechnischen Anforderungen nie erklungen ist. In drei Sätze nach dem Modell schnell-langsam-schnell gegliedert und gut eine halbe Stunde lang, erscheint es rein äußerlich wie eine Symphonie. Bei näherer Betrachtung wird aber recht schnell deutlich, warum der Komponist diese Gattungsbezeichnung vermieden hat. Man kann in diesem Stück kaum noch von Motiven oder gar Themen sprechen. Auch lassen sich keine exponierenden, durchführenden oder rekapitulierenden Abschnitte ausmachen. Die beständige metamorphotische Umbildung des Materials, wie sie sich in der Sinfonia drammatica angewendet findet, wird hier auf die Spitze getrieben. Das musikalische Geschehen wird von rhythmischen Verwandlungsprozessen dominiert. Es entsteht eine Art klingendes Kaleidoskop. Das Ganze wirkt dabei keineswegs spielerisch, sondern ist von dem gleichem Ernst durchdrungen, der auch die frühe Symphonie auszeichnet.

Johannes Kalitzke, der mit dieser CD seinen Ruf als Fürsprecher wertvoller, zu wenig beachteter Musik des 20. Jahrhunderts aufs Neue unterstreicht, hat sich mit dem Idiom Winterbergs gut vertraut gemacht und führt das hervorragend disponierte Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit sicherer Hand durch die anspruchsvollen Partituren. Ein besonderes Plus besteht darin, dass für das Klavierkonzert mit Jonathan Powell ein wahrhaft meisterlicher Pianist gewonnen wurde, der mit Leichtigkeit, Energie und viel Sinn für die Dramaturgie des musikalischen Geschehens Winterbergs Musik lebendig macht.

Eine Fortsetzung dieses Projekts ist durchaus erwünscht!

Zum an sich guten und informativen Begleittext aus der Feder von Michael Haas ist kritisch anzumerken, dass „der lebendige Verbund tschechischer Komponisten“ während des Zweiten Weltkriegs zwar tatsächlich wegen der Ermordung zahlreicher jüdischer Meister durch die Nationalsozialisten empfindlich geschwächt wurde, die Behauptung jedoch, seine musikalische Sprache wäre ohne Bohuslav Martinů oder Hans Winterberg spurlos ausgelöscht worden, angesichts beispielsweise eines Ladislav Vycpálek, Otakar Jeremiáš, Iša Krejčí, Miloslav Kabeláč oder Jan Hanuš eine Übertreibung darstellt.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2023]

[Meinem geschätzten Kollegen Martin Blaumeiser danke ich für die Hinweisung auf ein 2019 von der Pierian Recording Society veröffentlichtes Doppelalbum mit historischen Rundfunkeinspielungen mehrerer Orchesterwerke Hans Winterbergs, das auf CD 2 eine Aufnahme der Sinfonia drammatica enthält. Im Falle dieses Werkes hat Capriccio also keine Erstaufnahme vorgelegt. N. F. Schuck, 31. August 2023]

Busonis Größe – ein Artikel von Heinrich Pfitzner

Der nachfolgende Artikel ist ein historisches Dokument, das hier zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Er entstammt der US-amerikanischen Zeitschrift The Midwestern Magazine, in deren April-Ausgabe des Jahres 1911 er erschienen ist (S. 101f.). Anlass war ein Konzert Ferruccio Busonis in Des Moines, der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Heinrich Pfitzner, der Autor des Artikels, war der ältere Bruder Hans Pfitzners. Er wurde 1867 in Moskau geboren, wuchs in Frankfurt am Main auf, wo er an Dr. Hoch’s Konservatorium studierte, und lebte seit 1891 in den Vereinigten Staaten, nur unterbrochen von kurzen Lehrtätigkeiten in Koblenz 1893 und am Stern’schen Konservatorium in Berlin von 1898 bis 1901. Er erwarb sich in Amerika den Ruf eines vortrefflichen Pianisten und Musikpädagogen, arbeitete teils als Professor an verschiedenen Bildungseinrichtungen, teils als selbstständiger Klavierlehrer und gründete 1907 in Des Moines ein eigenes Konservatorium. Seine Spur verliert sich 1935 in Tupelo, Mississippi. Spätestens 1940 muss er gestorben sein, da im US-Zensus dieses Jahres seine Ehefrau als verwitwet geführt wird. Heinrich Pfitzners Artikel über Busonis Größe dokumentiert nicht nur den überwältigenden Eindruck, den dieser große Musiker auf einen „Mann vom Fach“ ausgeübt hat, sondern fasst in Kürze grundlegende Bedingungen musikalischer Darbietungskunst zusammen. Er ist ein zeitloses Dokument und sei als solches nun der Leserschaft deutscher Zunge erstmals präsentiert. (D. Red.)

Alle veröffentlichten Berichte über Busoni beschreiben ihn übereinstimmend als größten Interpreten der Gegenwart, wenn nicht aller Zeiten; aber seit ich ihn am 6. März [1911] zum ersten Mal gehört habe, kann ich nicht umhin festzustellen, dass der grundlegende und krönende Faktor seiner Überlegenheit nie erwähnt worden ist. Und gerade dieser eine Punkt ist von äußerster Wichtigkeit – nicht nur, um dem Künstler gerecht zu werden, sondern auch im Interesse der Kunstwelt. Es ist ganz richtig, dass Busonis technische Fertigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht wunderbar und wohl unerreicht ist; wobei ich hinzufügen möchte, dass seine Technik sich besonders durch das erfolgreich angewandte Prinzip auszeichnet, „auf den Punkt zu kommen“, dass sie von einem „Zielbewusstseins“ durchdrungen ist, das sich in einer meisterhaften Sparsamkeit der Kräfte und in einer völligen Abwesenheit all jener schauspielerischen Manierismen äußert, denen sich so viele der besten Darsteller hingeben. Es ist auch wahr, dass diese großartige Technik gekrönt wird (denn die Tonerzeugung ist nichts anderes als das Endergebnis – die Blüte – der Technik) durch die vollkommenste Modulation des Anschlags; das bedeutet die Fähigkeit, mit gleicher Vollkommenheit jede Art von Ton zu erzeugen, sowohl in Bezug auf die Farbe als auch auf die Stärke; ganz zu schweigen von bestimmten einzigartigen Tricks des Pedalspiels, die eine gründliche Kenntnis des Klaviers als Mechanismus zeigen, aber nichts mit Talent, Genie oder sogar Technik zu tun haben. Ferner ist es auch wahr, dass Busoni sogar in Bezug auf die musikalische Phrasierung ein Altmeister ist, der, wie von vielen Kritikern erwähnt wurde, „das Klavier zum Sprechen bringen kann“ und „musikalische Beredsamkeit besitzt“ wie kein anderer; in welcher Hinsicht niemand außer ihm selbst (nach dem, was ich durch Lektüre und mündliche Überlieferung weiß) mit Liszt persönlich verglichen werden kann. Nicht zuletzt ist es wahr, dass seine bloße Persönlichkeit jeden als die eines wahren Genies beeindruckt; wozu ich noch hinzufügen darf, dass bei all seiner beherrschenden Präsenz eine herzergreifende Aufrichtigkeit und Einfachheit an ihm ist, die das Kennzeichen wahrer Größe ist; und dass diese Eigenschaften ihn wie keinen anderen befähigen, seine Zuhörer alles über die Tatsache vergessen zu lassen, dass da ein Mensch am Klavier sitzt. Alle diese Eigenschaften, in solcher Vollkommenheit und Kombination, genügen gewiss, um Busoni zu einem phänomenalen Künstler zu machen; aber sie machen ihn noch nicht zu dem wirklich unvergleichlichen Busoni, der er ist; denn er besitzt noch eine andere und viel bedeutendere Eigenschaft, die ihm seine überragende Stellung auf diesem Gebiet verschafft; und das ist: seine einzigartige Gabe der konzentrierten genialen Auffassung, verbunden mit der Kraft, diese in die Tat umzusetzen. Das bedeutet: Busoni begreift eine musikalische Komposition in ihrer Gesamtheit, als eine Einheit („platonische Idee“ wäre zur Charakterisierung gewissermaßen der geeignetste Begriff), und er behandelt sie dementsprechend; jedes Teilchen der Komposition, vom größten Bestandteil bis hinunter zum einzelnen Ton, erhält seinen passenden Platz im Rahmen des Tonbildes; keinem von ihnen wird auch nur ein Quäntchen mehr oder weniger Bedeutung zugemessen, als es vom Standpunkt der perfekten Proportion und der eigentümlichen Konzeption der gesamten Komposition aus zulässig ist. Das Ergebnis ist eine unvergleichliche Wirkung auf den Zuhörer, sie sei bewusst oder unbewusst. Am Ende der Wiedergabe erschließt sich ihm die Komposition in ihrer Gesamtheit, die ihr zugrunde liegende Idee in toto; so wie man ein Bild sehen würde, von dem ein Schleier allmählich weggezogen wurde, bis es ganz freigelegt ist; oder, um ein vielleicht beredteres Gleichnis zu gebrauchen: während der Wiedergabe steigt man unablässig einen Berghang hinauf, und am letzten Ton steht man auf dem Gipfel des Berges und überschaut – mit einem Blick zurück – aus der Vogelperspektive die gesamte Strecke, die man zurückgelegt hat. Es ist diese Fähigkeit des konzentrierten, genialen Erfassens einer Komposition als Einheit, verbunden mit der Kraft, sie zur Geltung zu bringen, was Busoni wirklich unvergleichlich macht, denn gerade diese besondere Eigenschaft (und nicht die bloße Meisterschaft in Technik, Anschlag, Schattierung und Phrasierung, von Pedaltricks ganz zu schweigen) ist sein hervorstechendes Merkmal und zugleich der höchste Wert des ausführenden Künstlers. Die Kultivierung und Ausnutzung dieser Qualität bedeutet nichts weniger als den höchsten Triumph der Kunst der Wiedergabe und eine Demonstration ihrer einzig wahren Theorie – was sie auch sein muss, denn sie steht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Wesen der Kunst, des Genies und der genialen Schöpfung, wie diese schon von den größten Denkern der Menschheit beschrieben worden sind: Platon, Kant und Schopenhauer.

[Heinrich Pfitzner, April 1911]

Raffs Cellokonzert Nr. 2 – deutsche Erstaufführung

Elbphilharmonie Hamburg, Donnerstag 06.07.2023, 19:30 Uhr

Felix Mendelssohn Bartholdy: Ouvertüre „Die Hebriden“ (Die Fingalshöhle) op. 26
Joachim Raff, Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2 G-Dur WoO 44 (Deutsche Erstaufführung)
Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92


Hamburger Juristenorchester
Christoph Croisé, Violoncello
Dirigent: Simon Kannenberg

„Im Jahr nach dem 200. Geburtstag von Joachim Raff wartet das Hamburger Juristenorchester mit einer Erstaufführung des deutsch-schweizerischen Komponisten auf, der im 3. Viertel des 19. Jahrhunderts zu den meistgespielten Sinfonikern zählte: Das 1876 komponierte Cellokonzert Nr. 2 war ursprünglich dem berühmten Cellovirtuosen David Popper zugedacht. Doch aus unbekannten Gründen zerschlugen sich diese Pläne und das Werk blieb unaufgeführt, obwohl das Vorgängerwerk [d-Moll op. 193] mit seinem Widmungsträger Friedrich Grützmacher beiderseits des Atlantiks sehr erfolgreich war. Erst 1997 kam das Werk zur Uraufführung durch Yves Savary an Raffs Geburtsort Lachen am Zürichsee. Die zweite Aufführung des Werks mit Christoph Croisé fand ebenfalls in Lachen statt, sodass an diesem Abend die deutsche Erstaufführung eines romantischen Solokonzerts und dessen dritte Aufführung überhaupt zu erleben ist.“ (Simon Kannenberg)