NEOS 12305 + 52301 (CD+DVD); EAN: 4 260063 123054
András Hamarys Zyklus von 24 Préludes für Klavier (2021/22) ist nun, gespielt vom Widmungsträger Markus Bellheim, in Koproduktion mit BR Klassik bei NEOS erschienen. Die Musik wie ihre Darbietung können nur als herausragend betrachtet werden.
András Hamary (*1950) kam nach ersten Studien in Budapest bald nach Deutschland, wo Hans Leygraf (Klavier) in Hannover und Thomas Ungar (Dirigieren) in Stuttgart seine wichtigsten Lehrer waren. In beiden Fächern wurde er mehrfach ausgezeichnet, so beim Debussy-Wettbewerb in Paris oder für seine Interpretation von Adriana Hölszkys Oper Bremer Freiheit bei der 1. Münchner Biennale. Von 1986 bis zu seiner Emeritierung hatte Hamary in Würzburg eine Professur für Klavier und Kammermusik inne und lebt nun in Berlin. Als Dirigent konzentrierte sich der Künstler ganz auf die Neue Musik und widmete sich dann seit Mitte der 1970er Jahre auch – zunehmend erfolgreich – der Komposition. Den Pianisten Markus Bellheim, seit 2011 Professor an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, lernte er bereits in dessen Würzburger Zeit kennen. Während der Corona-Einsamkeit entstand – ausgehend von zunächst wenigen Einzelstücken – nach und nach ein Zyklus von 24 Préludes für Klavier, der Bellheim gewidmet ist und von ihm uraufgeführt und inzwischen mehrmals öffentlich gespielt wurde.
Mit 24 Klavierpréludes tritt man fast unweigerlich in die Fußstapfen einer Reihe historischer Vorbilder: Im Falle Hamarys sind dies vor allem Chopin, Skrjabin, Rachmaninoff, Debussy und Schostakowitsch (op. 34). Daneben spürt der Hörer Einflüsse diverser, nicht nur Klavierkomponisten, die keine Prélude-Zyklen geschrieben haben. In ihrer rhythmischen Komplexität oder Motorik weisen manche Abschnitte auf Hamarys Landsmann György Ligeti – insbesondere dessen Klavieretüden. Auch Schubert, Schumann, gar Mahler oder Nancarrow schimmern stellenweise durch. Nicht, dass der Komponist im gut 70-minütigen Werk aus 2 x 12 Stücken wörtlich daraus zitierte; jedoch gibt es zahlreiche Allusionen, die an konkrete musikalische Situationen bei jenen Kollegen anknüpfen, die hier natürlich nicht alle aufgezählt werden können und sollen. Klar ist, dass sich Hamary diesem nicht wegzudenkenden musikhistorischen Bewusstsein stellt, ohne Elemente simpel zu imitieren oder „einzubauen“. So wird aus dem vermeintlichen „Ballast“ eine Quelle für ganz eigene Inspiration. Literatur bildet bei zumindest zwei Préludes den Ausgangspunkt: Attila Jószefs Gedicht Ringató für das „Wiegenlied“ (1. Heft, Nr. 7) und die Erzählung El milagro segreto des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges (2. Heft, Nr. 2).
Das besondere Problem, bei relativ wenig Zeit – die einzelnen Préludes dauern hier zwischen 1‘20“ und knapp 5 Minuten – ohne Umschweife sofort zum Punkt kommen zu müssen, erfordert große Klarheit des musikalischen Materials und eine geradezu plastische Vorstellung der damit erzeugten Klangwelten. Hamary scheut in den meisten der Miniaturen keineswegs tonale Anklänge: Gleich im ersten Prélude haut er die Hörer quasi übers Ohr, indem er deren Erwartungen bezüglich angedeuteter Dominantseptakkorde und der Leittonwirkung des Tritonus zum Mäandern durch den gesamten Quintenzirkel irreführt.
Ihre erstaunliche Überzeugungskraft gewinnt Hamarys Musik allerdings auffällig mittels extrem durchdachter und konsequenter Einbeziehung von Resonanzen und Obertoneffekten, was virtuose Nutzung aller Möglichkeiten des Sostenuto-Pedals verlangt. Allseits überraschen stimmige Modifikationen sogar während des Verklingens, eines ja sonst als eher statisch wahrgenommenen Klangphänomens, die dann immer den Raum mit einbeziehen.
Dies öffnet in einer Reihe von Préludes („Zyklus im Zyklus“ [Hamary]), darunter die drei Funerals des ersten Hefts, eine schon erschütternde emotionale Tiefe: Musik sozusagen als Vorbote des Totenreichs – und Aufarbeitung des eigenen Pandemie-Traumas? Im zweiten Heft unterstreichen zudem wiederkehrende Fragmente des anfänglichen Chorals (Track [13]) dessen zyklische Anlage. Weiterhin finden sich einige bildhafte (Terramoto [„Erdbeben“], Der Trommler) sowie heitere, „helle“ Stücke mit einer gehörigen Prise Humors: z. B. Paganini met Gershwin on 5th Avenue (2. Heft, Nr. 10), das Paganinis Caprice Nr. 9 La caccia pianistisch höchst wirkungsvoll paraphrasiert.
Markus Bellheim spielt diese Tour de Force absolut kongenial. Der ihm quasi auf den Leib geschriebene, enorm anspruchsvolle Klaviersatz wirkt unter seinen Händen – und Füßen! – trotzdem nie angestrengt. Bellheims Konzentration und hochdifferenzierte Anschlagskunst, wie man sie ja längst von seinen Messiaen-Aufführungen kennt, kommt bei jedem der 24 Stücke voll zur Geltung. Die rasanten Nummern (etwa Nr. 10 Csillagszóró [„Wunderkerzen“] oder die zunächst an Ligeti erinnernde, später hemmungslos tonale Nr. 12 Mandolin), aber genauso die perfekt dargebotenen, oft wie eine Fata Morgana erscheinenden besagten Oberton-Kunststücke gelingen ihm staunenswert. Die unmittelbare Entfaltung der musikalischen Ideen hinter den Einzelstücken und das Erfassen des großen Ganzen – oft fordert Hamary Attacca-Übergänge zwischen zwei Préludes – gehen stets Hand in Hand und erhalten den Spannungsbogen unentwegt aufrecht: Empathie, die sich sofort auf den Hörer überträgt.
Interessant, dass als Instrument bei der im März 2023 entstandenen Aufnahme aus dem Reitstadel in Neumarkt (Oberpfalz) ein Steingraeber Grand Piano E zum Einsatz kommt, wo gerade die basslastigen Préludes (Terramoto: Heft I, Nr. 4 oder Schwarze Trompeten: Heft II, Nr. 3) einerseits etwas weicher, zugleich jedoch bedrohlicher klingen als auf den gewohnten Steinways. Aufnahmetechnisch ist die CD makellos, das Booklet mit Liner Notes vom Komponisten und Detlef Heusinger – wie von Neos gewohnt – sehr ansprechend aufgemacht. Als entbehrliche Zugabe erweist sich die DVD: 24 mit computergenerierter Musik unterlegte Videoanimationen Hamarys aus den letzten 15 Jahren, die in keinem Zusammenhang mit den Préludes zu stehen scheinen. Der Komponist präsentiert sich damit – sowie dem Cover-Gemälde – zusätzlich als bildender Künstler.
Hamarys Zyklus seiner 24 Préludes ist, verglichen mit mancher – polemisch ausgedrückt – „Massenware“ z. B. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, ein echter Markstein in der Gattungsgeschichte, offenkundig ein sensibles Meisterwerk mit – hoffentlich – nachhaltiger Repertoirefähigkeit. Der Rezensent kann jedenfalls das Erscheinen der Notenausgabe (Musikverlag V. Nickel, München) kaum erwarten. Die CD-Einspielung hat jetzt schon eine vorbehaltlose Empfehlung an alle Freunde der Klaviermusik verdient.
[Martin Blaumeiser, Mai 2023]