Die chinesisch-amerikanische Pianistin Xiaoya Liu hat für das italienische Label Dynamic –erstmals auf einer CD – die bislang vier Klaviersonaten des Australiers Carl Vine (* 1954)eingespielt. Ein ganz vortrefflicher Zyklus in überragender Qualität.
Die australische Komponistenszene wird in Europa bislang zu wenig wahrgenommen. Abgesehen von Peter Sculthorpe (1929–2014), der vielleicht als Erster versucht hat, das kulturelle Erbe der Ureinwohner und landschaftliche Spezifika mit westlicher Kunstmusik in Einklang zu bringen, betrachtete man viele Komponisten als nicht national eigenständig („Ach, ich dachte, der sei Engländer…“) oder ließ sie ganz unter den Tisch fallen. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man alles, was auf dem fernen Kontinent komponiert wurde, als australische Musik bezeichnen sollte. Lediglich Brett Dean (* 1961) – zunächst Bratscher der Berliner Philharmoniker – wird seit einigen Jahren regelmäßig auch auf westlichen Neue-Musik-Podien aufgeführt. Nach Meinung des Rezensenten ist eher Carl Vine, 1954 in Perth geboren, der virtuoseste Vertreter seiner australischen Zunft. Er ist allerdings durch und durch Eklektiker geblieben. Die Vorbilder seiner bislang acht Symphonien und vier Klaviersonaten – oft zu einseitig als Produkte der Neo-Romantik charakterisiert – liegen weniger im 19. Jahrhundert, sondern vielmehr bei Elliott Carter, manchen Minimalisten, im Jazz und – ganz sicher für seine elektronische Musik – bei Karlheinz Stockhausen. Völlig unverständlich, dass Vine bisher noch nicht einmal einen eigenen Artikel in der MGG erhalten hat.
Die vier Klaviersonaten (1990, 1997, 2007 und 2019) bilden nicht nur Vines kompositorische Entwicklung der letzten dreißig Jahre gut ab, sondern erweisen sich allesamt als pianistisch hochvirtuose und dankbare Stücke. Die ersten beiden Sonaten sowie das 1. Klavierkonzert wurden vom Widmungsträger Michael Kieran Harvey früh aufgenommen, und gerade die Sonate Nr. 1 galt bald als Geheimtipp unter Pianisten. Wie auch die zweite Sonate – und das Vorbild Elliott Carters – ist sie zweiteilig. Die recht vertrackte Faktur nutzt von Beginn an die sogenannte metrische Modulation ganz in der Weise Carters, woraus sich komplexe, aber immer hörbar gut nachvollziehbare polyrhythmische Schichtungen ergeben. Harmonisch schwankt das dann zwischen auf Quarten aufgebauten und rein tonalen Episoden. Der zweite Teil beginnt mit schikanösem Sechzehntelgerase im Unisono, was sofort an das Finale von Chopins b-Moll-Sonate oder das Presto misterioso der 1. Sonate von Alberto Ginastera erinnert, dann jedoch weitaus dramatischer fortgeführt wird.
Die chinesisch-amerikanische, nun in Massachusetts lebende Pianistin Xiaoya Liu, – Preisträgerin zahlloser, dafür nicht allzu bekannter Wettbewerbe – debütiert hier mit der ersten Gesamtaufnahme der Vine-Sonaten. Ihre Virtuosität ist umwerfend – vor allem, weil ihr Spiel bei aller Präzision dynamisch mustergültig differenziert und die Musik so stets als pulsierender Organismus am Leben bleibt. Benjamin Boren spielt in der Konkurrenzaufnahme der Sonaten 1–3 rhythmisch noch genauer, wodurch der Kopfsatz der ersten Sonate ein wenig gewinnt, zugleich jedoch emotional quasi tot wirkt: Nicht nur der Beginn des zweiten Teils klingt so tatsächlich wie ein mechanisches Player Piano. Harveys Einspielung kann da technisch nicht mehr ganz mithalten, lässt jede Feindynamik im Forte vermissen, wodurch seine Lesart insgesamt gröber und oberflächlicher daherkommt, was nur zum Teil der schlechteren Aufnahmetechnik geschuldet ist.
In der 2. Sonate steigert Vine sogar die pianistischen Anforderungen – die schnellen Arpeggiokaskaden verweisen auf Ravel und die wilden Toccata-Abschnitte enden schließlich geradezu explosiv, ergeben aber gleichzeitig eine klarere Form als die 1. Sonate. Bei aller emotionalen Ungezügeltheit gelingt wiederum Frau Liu durch ihre phänomenale Kontrolle und Flexibilität die weitaus überzeugendste Darbietung. Interessant, dass alle Interpreten die – nur vom Tempo her – ruhigeren akkordischen bzw. Oktavabschnitte teils deutlich (Boren) zu schnell nehmen. Lius guter Kompromiss zwischen den gedruckten Metronomangaben und Vermeidung drohender Statik scheint diesbezüglich durchaus angemessen.
Die 3. Sonate ist viersätzig ohne Pause und deutlich romantischer bzw. impressionistischer als ihre Vorgänger. Liu setzt hier auf sehr sonoren Klang, scheut sich nicht, die rückwärtsgewandte Emotionalität auszukosten, ohne jedoch je ins Sentimentale abzugleiten. Das abschließende Presto – inklusive des ruhig dahintröpfelnden Mittelteils – wird einfach hinreißend, wo Boren hingegen erneut Leerlauf produziert, der den Hörer ziemlich kalt lässt.
Lius Erstaufnahme der 4. Sonate kann einige Schwächen des Stücks nicht gänzlich verbergen. Die offenkundigen Debussy-Reminiszenzen im ersten Satz Aphorisms und vor allem die allzu schlichten Wasserspiele im langsamen zweiten (Reflection) haben Längen und nur mäßigen Erfindungsreichtum. Das Finale (Fury) zeigt Vine dann wieder von seiner besten Seite: Xiaoya Liu bleibt bei den rhythmisch aggressiv konturierten, unerbittlichen Sechzehntelorgien und selbst den Oktav- oder Akkordballungen immer noch klangschön, selbst der fulminante Schluss erscheint dadurch absolut motiviert.
Tontechnisch – die Aufnahme entstand 2021 in Ann Arbor – wurde alles sehr ordentlich eingefangen, so dass wirklich nichts dagegenspricht, mit dieser Einspielung Carl Vines beeindruckendes Sonatenwerk kennenzulernen. Besser als Frau Liu kann man das wohl kaum spielen.
Vergleichsaufnahmen: [Sonaten Nr. 1 & 2] Michael Kieran Harvey (Tall Poppies TP190, 1999-2004); [Sonaten Nr. 1-3] Benjamin Boren (Enharmonic ENCD11-021, 2011)
Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Komponist der von Gott und Mensch, Mysterium, Passion und Gebet handelnden Kantate Die Botschaft, der Missa In Terra Pax, einer der großen A-cappella-Messen des 20. Jahrhunderts, sowie zahlreicher kleinerer kirchenmusikalischer Werke, war ein sakraler Künstler durch und durch. Wie Anton Bruckner, dem er größte Verehrung entgegenbrachte, und Heinrich Kaminski, der sein wichtigster Lehrmeister war, zählt er zu jenen musikalischen Schöpfernaturen, die sich auch dann in einer geistlichen Sphäre bewegen, wenn sie nicht explizit für kirchliche Anlässe komponieren oder einen religiösen Text vertonen. Ein feierlicher Grundton prägt sein gesamtes Schaffen, verdichtet sich zu innigster mystischer Versenkung oder steigert sich in hymnisch-ekstatische Verkündigung hinein; stets auf Grundlage einer Polyphonie, die keine akademische Handwerksarbeit ist, sondern ein von blühendstem Leben durchdrungenes gegenseitiges Umranken selbstständig geführter Stimmen, die immer singen, das Werk sei vokal oder instrumental.
Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schwarz-Schilling im Laufe seines Lebens auch wiederholt Musik mit Bezug zum Weihnachtsfest geschrieben hat. Der gemeinsamen Thematik zum Trotz handelt es sich bei den entsprechenden Kompositionen um Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Das Thema „Weihnachten“ wird von Schwarz-Schilling musikalisch gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
Aus dem Jahr 1947 stammt eine schlicht Weihnachtsmusik (WV 79) betitelte Sammlung aus zwölf Choral- und Liedsätzen. Sie enthält folgende Titel:
Ave Maria zart
Ein Kind geborn zu Bethlehem
Gott sei Dank durch alle Welt
Herbei o ihr Gläubigen
In dulci jubilo
Kommet ihr Hirten
Kommt und lasst uns Christum ehren
Mein Herz will ich Dir schenken
Singet frisch und wohlgemut
Vom Himmel hoch o Englein kommt
Was ist für neue Freud
Wie schön leuchtet der Morgenstern
Diese zwei- und dreistimmigen Sätze, die gleichermaßen von Singstimmen wie von Instrumenten ausgeführt werden können, sind wunderbare Beispiele edler Einfachheit. Die Spieler und Sänger finden hier handwerklich feinstgearbeitete weihnachtliche Miniaturen vor, ohne vor unüberwindliche Herausforderungen gestellt zu werden. Ohne Weiteres können die Stücke zum häuslichen Musizieren oder als gottesdienstliche Musik verwendet werden.
Eine Schallplattenaufahme aus dem Jahr 1960 (Cantate, T 72719 K/1960) zeigt sehr schön das Potential der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten. Unter der Leitung von Wilhelm Ehmann musizieren hier Maria Friesenhausen und Rotraut Pax (Sopran), Frauke Haasemann (Alt), Rosemarie Lahrs (Violine), Hanni Hennig (Violine und Viola), Heinrich Haferland (Violoncello) und Arno Schönstedt (Orgel) eine Auswahl von acht Stücken der Sammlung, die teils a cappella, teils rein instrumental, teils gemischt erklingen und in der gewählten Anordnung wie eine kleine Kantate klingen. Die Weihnachtsmusik, die der Komponist 1977 einer Revision unterzog, ist in der Edition Merseburger erschienen.
1958 komponierte Schwarz Schilling im Auftrag des RIAS eine Adventskantate für Sopran oder Tenor, zweistimmigen Frauen- oder Männerchor, Violine, Viola und Orgel über das Lied O Heiland reiß die Himmel auf (WV 61). Die Melodie aus dem Rheinfelßischen Gesangbuch von 1666 wird in sämtlichen neun Teilen des etwa zehnminütigen Werkes streng als Grundlage festgehalten, sodaß in rein musikalischer Hinsicht eine Art Variationszyklus entsteht. Dem kleinen Ensemble entlockt der Komponist durch Wechsel in der Besetzung und Satztechnik, nicht zuletzt durch kontrastreiche Charakterisierung der einzelnen Liedstrophen ein Maximum klanglicher Vielfalt.
In einem kurzen Vorspiel für die Orgel allein wird die Melodie des Liedes angedeutet, bevor sie in Orgel und Streichinstrumenten vollständig erklingt. Bereits hier werden ihre einzelnen Abschnitte imitatorisch verarbeitet. Anschließend singt der Chor, dezent von den Instrumenten begleitet, die erste Strophe. Die zweite Strophe wird vom Solosopran vorgetragen, wobei die Streichinstrumente leise bebende, rezitierend anmutende Tonwiederholungen spielen. Der sehr sanfte Charakter dieses Abschnitts korrespondiert mit dem „Tau“, den Gott in dieser Strophe aufgefordert wird vom Himmel zu gießen. In belebterem Rhythmus verdeutlicht der Chor das Ausschlagen der „Blümlein“ aus der Erde. Die Fragen und Bitten der nächsten Strophe („Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“, „O komm, ach komm vom höchsten Saal“) lässt Schwarz-Schilling echoartig versetzt vom Chor vortragen. Dem sorgenvollen Ton dieses Teiles antwortet der Sopran in höchster Lage, unterstrichen vom Strahlen der Violine: „O klare Sonn, du schöner Stern.“ In imitatorischem Satz klagt der Chor ein letztes Mal: „Hier leiden wir die größte Not.“ Dann wird das Stück von einer Choralbearbeitung nach traditioneller Art beschlossen, die das innere Gleichgewicht wieder herstellt und dem Ganzen ein zuversichtliches Ende gibt: „Da wollen wir all danken Dir, unserm Erlöser für und für.“ O Heiland reiß die Himmel auf ist wie die Weihnachtsmusik bei Merseburger erschienen und wurde auf derselben Schallplatte aufgenommen wie diese. Beide Aufnahmen erschienen nach dem Tode des Komponisten in einer 5 CDs umfassenden Privatedition der Familie Schwarz-Schilling, die nicht für den Handel bestimmt war, sich aber in einigen Musikhochschulbibliotheken finden lässt.
Bereits unter Schwarz-Schillings Jugendwerken findet sich ein weihnachtlich konnotiertes Stück. Es handelt sich um die Variationen über ein Weihnachtslied, die im Januar und Februar 1920 entstanden, als der Komponist im 16. Lebensjahr stand und noch seinen ursprünglichen Namen Reinhard Schwarz trug. Ihnen liegt das Lied „Menschen, die ihr wart verloren“ zugrunde. Zwar sind sie für Klavier gedacht, dürften sich aber auch für die Orgel eignen und in weihnachtlichen Aufführungen verwenden lassen. Mit der komplexen Polyphonie der späteren Werke Schwarz-Schillings wartet diese frühe Arbeit noch nicht auf, zeugt aber bereits von der Phantasie des Komponisten als Harmoniker und von seinem Sinn für tonale Entwicklungen: Die letzte Variation steht in Des-Dur, bevor die Coda zum C-Dur des Themas zurückkehrt. Mit zwei weiteren frühen Klavierstücken zu einem Band vereinigt, sind diese Variationen in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich erschienen.
SWR Classic hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Schätze aus den Archiven des Südwest-Rundfunks zu Tage gefördert. Ich erinnere nur an die 30-CD-Packung mit den gesammelten Einspielungen von Carl Schuricht und an die glücklicherweise immer noch fortschreitende Hans-Rosbaud-Edition, von welcher zuletzt hervorragende Aufnahmen mit Symphonien von Jean Sibelius und Werken französischer Komponisten erschienen sind. Mit der Veröffentlichung eines Studiokonzerts aus dem Jahr 1959 ist der Reihe ein weiteres Glanzstück hinzugefügt worden. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt unter der Leitung von Sergiu Celibidache Joseph Haydns Symphonie B-Dur Hob. I:102 und Pjotr Iljitsch Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll Pathétique.
Das Orchester, das Sergiu Celibidache am 17. September 1959 in der Villa Berg dirigierte, hat im Laufe seiner Geschichte mehrfach den Namen gewechselt. 1946 als „Großes Orchester von Radio Stuttgart“ ins Leben gerufen und seit 1949 als „Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks geführt“, war es wenige Monate vor dem auf der vorliegenden CD festgehaltenen Konzert in „Südfunk Sinfonieorchester“ umbenannt worden. Den Namen „Radio-Sinfonieorchester Stuttgart“, unter dem es heute vor allem bekannt ist, erhielt es 1975. Durch die Fusionierung zum SWR Sinfonieorchester 2016 beendete der Südwestrundfunk die Geschichte seiner Stuttgarter und Freiburger Orchester als eigenständige Klangkörper. Wie die Rosbaud- und Schuricht-Veröffentlichungen, lässt sich also auch diese Celibidache-CD als musikalisches Denkmal begreifen.
Mit Celibidache verband das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart eine langjährige Zusammenarbeit. Er stand zum ersten Mal 1958 an der Spitze des Orchesters, und kehrte bis 1982, als er sich mit der Übernahme der Münchner Philharmoniker erstmals seit drei Jahrzehnten wieder fest an ein Orchester band, immer wieder nach Stuttgart zurück. Die Verbindung intensivierte sich in den 70er Jahren. Von 1972 bis 1979 war Celibidache ständiger Gastdirigent des Radio-Sinfonieorchesters, das damals keinen Chefdirigenten hatte, und fungierte als dessen künstlerischer Leiter. Da das Orchester als Rundfunkklangkörper, dessen Schwerpunkt auf nicht alltäglichem Repertoire lag, dem Dirigenten viel Einstudierungszeit zur Verfügung stellen konnte, fand Celibidache hier optimale Arbeitsbedingungen vor, um seine künstlerischen Ziele zu realisieren. Bekanntlich nicht an der Produktion von Tonträgern interessiert, duldete Celibidache aber, dass der Rundfunk seine Konzerte aufzeichnete, um sie gelegentlich senden zu können. Mitschnitte zahlreicher Aufführungen aus dieser Zeit (z. B. Symphonien von Bruckner und Brahms, Tondichtungen von Richard Strauss) wurden nach dem Tode des Dirigenten von der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Aufzeichnungen von Proben, die den Editionen beigegeben wurden, dokumentieren die äußerste Sorgfalt, mit der Celibidache bei den Einstudierungen zu Werke ging, und die Hingabe, mit der die Stuttgarter Musiker seine Anweisungen in Klang umsetzten.
Mit der neuen SWR-Classic-CD wird dem Bild, das uns die früheren Veröffentlichungen von Celibidaches Wirken in Stuttgart vermittelten, ein weiterer wichtiger Mosaikstein hinzugefügt. Die Platte bietet ein ganzes Konzert des damals 47-jährigen Dirigenten. Es umfasst, wie es Celibidache gerade zu jener Zeit liebte, mit Joseph Haydns B-Dur-Symphonie Hob. I:102 und Pjotr Tschaikowskijs Pathetique zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: ein Programm extremer Kontraste. Celibidache war keiner jener Dirigenten, die glaubten, durch einseitige Überbetonung bestimmter Aspekte den Charakter eines Werkes besonders deutlich machen zu können, oder gar an den Stücken einen persönlichen Interpretationsstil demonstrieren zu müssen. Solche Darbietungsweisen, die letztlich den Beigeschmack der Einseitigkeit hervorrufen, haben ihn nie interessiert. Stattdessen sichtete er die Partituren phänomenologisch, indem er die Fortschreitung der Harmonien verfolgte, der Beschaffenheit des Tonsatzes auf den Grund ging, die Phrasierung der melodischen Linien in Haupt- und Nebenstimmen bis ins kleinste Detail nachvollzog und über all dem nie vergaß, dass Instrumente Stellvertreter menschlicher Stimmen sind. Seine Dirigate vermitteln den Eindruck eines zwanglosen Entfaltens der in den Partituren angelegten Kräfte, denen nichts von außen hinzugefügt werden muss, um sie zur Wirkung zu bringen.
Und was fördert Celibidache auf diese Weise nicht alles zu Tage! Beide, Haydn und Tschaikowskij, stehen als runde Charaktere vor uns, als scharf profilierte Persönlichkeiten, die man nicht auf wenige Schlagworte reduzieren kann. Natürlich ist Haydn auch unter Celibidache geistvoll, witzig, von nie nachlassendem Spieltrieb durchdrungen, aber bereits die sehr breit genommene Einleitung des ersten Satzes verrät, dass dem Komponisten das Feierliche und Erhabene durchaus vertraut gewesen ist. Die liebevoll ausmusizierten Sechzehntelnoten in breit schwingendem 3/4-Takt verleihen dem langsamen Satz eine Stimmung apollinischer Gelassenheit. Der hervortretende Trompetenton kurz vor seinem Ausklang wird nicht zum groben Effekt, sondern sendet sanftes Licht von innen. Die von langen Noten geprägten Takte in der Coda des Finales klingen wie ferne Choräle in den Trubel dieses Satzes hinein. Dass auch die turbulente Seite der Haydnschen Kunst in Celibidaches Händen bestens aufgehoben ist, davon zeugen etwa der äußerst markant herausgemeißelte Kanon in der Durchführung des Kopfsatzes und der unaufhaltsame Schwung des Finales.
Die bei EMI (später Warner) erschienenen Mitschnitte der letzten drei Symphonien Pjotr Tschaikowskijs mit den Münchner Philharmonikern dokumentieren, dass Celibidache wie kein anderer Dirigent berufen war, die ganze Größe dieses Symphonikers deutlich werden zu lassen. Vergleicht man die hier vorliegende Sechste mit der späteren Aufnahme, fällt zwar auf, dass der 80-jährige Celibidache sich gegenüber den knapp 50 Minuten der Stuttgarter Aufführung insgesamt 10 Minuten mehr Zeit nimmt, doch die Herangehensweise an die Musik ist im Wesentlichen gleich geblieben. Wir erleben denselben Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, aber stets seinen Prinzipien treu. Diese frühe Pathétique vermittelt unmissverständlich, nicht anders als die späte, wie schlüssig Tschaikowskij komponiert hat. Die extremen Tempo- und Ausdruckskontraste des Kopfsatzes, in welchem zudem mehrfach Themen eingeführt werden, die im weiteren Verlauf nicht wiederkehren, haben schon manchen Kapellmeister dazu verführt, das Stück als bloße Abfolge locker miteinander verbundener Episoden aufzufassen und entsprechend zerrissen darzubieten. Celibidache erkennt, wie eng aufeinander bezogen die einzelnen Abschnitte des Satzes sind, wie ihre stark gegensätzlichen Stimmungen einander gegenseitig beleuchten und wie durch diese Gegensätze die musikalische Handlung vorangetrieben wird. „Verweile doch, du bist so schön“, meint man es aus dem Seitensatz tönen zu hören, wenn der Dirigent in Übereinstimmung mit dem harmonischen Gefälle Phrasenenden leicht verlangsamt, um mit dem jeweils nächsten Phrasenanfang wieder ins Grundtempo zurückzukehren. Und ist dann scheinbar Ruhe eingetreten, bricht mit einer manischen Energie sondergleichen die Durchführung in die friedliche Szenerie herein wie die apokalyptischen Reiter. Das largamente forte possibile vor der Wiederkehr des Andante-Themas hat die Intensität eines alles mit sich reißenden Lavastroms. Aber nicht nur im Extremen ist Celibidache in seinem Element. Auch die feineren Schwankungen arbeitet er trefflich heraus. Man höre etwa im zweiten Satz, wie der Mittelteil durch die deutliche Hervorhebung der lastenden Blechbläsertöne und eine geringfügige Verlangsamung des Tempos einen ganz anderen Klang erhält als der lichte Hauptteil. Die Überleitung, die zu ihm zurückführt, wirkt wie ein erneutes Aufblühen nach vorübergehender Eintrübung. Das vielleicht Wunderbarste an dieser Tschaikowskij-Darbietung ist, dass man merkt, mit welchem Geschick der Komponist Neben- und Gegenstimmen eingesetzt hat. Celibidache hatte die Gabe, seinen Musikern eine konkrete Vorstellung von ihrer Rolle im Ganzen zu vermitteln. Nicht nur wer gerade das Thema hat, hat etwas zu sagen, sondern auch diejenigen, die es begleiten, oder die ihm einen Kontrapunkt zur Seite stellen. Man kann nahezu in jedem Moment darüber staunen, welch ein Leben hier in allen Stimmen pulsiert.
Es besteht also ein guter Grund, SWR Classic für die Veröffentlichung dieser CD dankbar zu sein. Da Haydns Symphonie Nr. 102 in den Celibidache-Editionen von Audite, Deutsche Grammophon und EMI/Warner fehlt, wird zudem eine diskographische Lücke geschlossen. Ein Begleittext, der ein lebendiges Bild von Celibidache als Mensch und Künstler vermittelt, rundet die Produktion trefflich ab.
Das Jahr 2022 war hinsichtlich der Veröffentlichung von Tonträgern nicht weniger interessant und ergiebig als die vorangegangenen Jahre. Wenn nun also das große Fest des Verschenkens und Beschenktwerdens vor der Tür steht, dann gibt es so einiges, was in Frage kommt: die sensationellen Ersteinspielungen der Streichquartett-Symphonie von Gavriil Popov (Quartet Berlin Tokyo auf eigenem Label) und der Quartette Nr. 3 und 5 von Conrado del Campo (Quatuor Diotima im Vertrieb von outheremusic); Celibidache und die Münchner Philharmoniker mit Sibelius’ 5. Symphonie und Stravinskys Feuervogel-Suite von 1919 (Eigenlabel der Philharmoniker) oder Karel Ančerl mit einer großen Vermächtnis-Box mit vielen wunderbaren Raritäten (Supraphon); einiges weitere fällt mir noch ein, doch editorisch steht der Höhepunkt des Jahres fest, und dies nicht nur, weil vieles bisher nicht Greifbare erstmals zu bekommen ist, sondern überhaupt, weil es sich um eines der ganz großen Vermächtnisse des vergangenen Jahrhunderts handelt: sämtliche kommerziellen Aufnahmen von Dimitri Mitropoulos, dem überragenden Genie der griechischen Musik.
Nicht nur seit Beginn der Digital-Ära, nein: seit mehr als 60 Jahren warten die Verehrer von Dimitri Mitropoulos auf eine Anthologie seiner durchweg US-amerikanischen Studio-Aufnahmen, die er zwischen Dezember 1938 und Februar 1958 fast ausschließlich in New York und Minneapolis machte: in den 1940er Jahren als Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra (des heutigen Minnesota Symphony), in den 1950er Jahren als Chefdirigent des Philharmonic Symphony Orchestra von New York (des heutigen New York Philharmonic) und als erster Gastdirigent an der Metropolitan Opera. Warum hat das so lange gedauert – während die meisten anderen legendären Chefdirigenten der großen US-Orchester wie Arturo Toscanini, Fritz Reiner, Pierre Monteux, George Szell, Charles Munch, John Barbirolli, Eugene Ormandy, Jean Martinon oder Leonard Bernstein längst mehrfach abgefeiert und auch Serge Koussevitzky oder der unglaublich vielseitige Leopold Stokowski mit einer unüberschaubaren Zahl von Editionen bedacht wurden?
Manchmal sind es die Nachwehen einer großen Tragödie, die auch dann noch ihre Echos aussenden, wenn die Nachgeborenen die einstigen Ereignisse längst nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen. Und in diesem Fall ist es auch noch eine griechische Tragödie…
Geboren 1896 in Athen, wuchs Dimitri Mitropoulos in einer Familie auf, deren hochbegabte junge Männer meist Priester wurden. Zugleich war seine musikalische Begabung früh offensichtlich, und der belgische Komponist Armand Marsick – einst Schüler von Ropartz und d’Indy sowie Freund von Saint-Saëns und Ysaÿe, bis zum Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges Direktor des Athener Konservatoriums – nahm ihn unter seine Fittiche. Mitropoulos wollte seine beiden Lebensadern unter einen Hut bringen und erbat die Aufnahme ins orthodoxe Klosterleben unter Beibehaltung seines Musikerstatus. Die Absicht scheiterte am Verbot des instrumentalen Musizierens, sonst wäre aus ihm vielleicht eine Art griechischer Parallelerscheinung des piemontesischen Priester-Komponisten Lorenzo Perosi geworden. Also begleitete er Marsick nach Rom und wurde zu einem lebenslangen Anhänger der Lehren des San Francesco d’Assisi. Dessen Ideal einer nicht-hierarchischen, jedem Mitglied gleichen Rang gewährenden Gemeinschaft wollte er als Musiker verwirklichen, und als sich herausstellte, dass er vor allem Dirigent sein würde, übertrug er diese Haltung auf seine Orchester, wofür ihn seine Musiker liebten, was ihm aber letzten Endes auch zum Verhängnis werden sollte.
Doch zunächst verstand er sich noch primär als tiefschürfender Komponist und brillanter Pianist. Er ging nach Berlin zu Ferruccio Busoni, der ihm auf einen Schlag das austrieb, was man damals in fortschrittlichen Kreisen als romantische Flausen ansah. Mitropoulos, der von seiner Grundveranlagung her immer rückhaltlos aus tiefster Seele schöpfen musste, war als Komponist auf sich selbst zurückgeworfen. Schnell zeigte sich seine immense dirigentische Begabung, 1921–25 wirkte er als Assistent unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper, also bei genau dem richtigen Mann, um den Pionier der Moderne in ihm heranreifen zu lassen. Dann folgte er einem Ruf zurück nach Athen, wo er sich in der muffigen, von Eifersucht vergifteten musikalischen Provinz unter widrigsten Bedingungen als begnadeter Orchestererzieher emporarbeitete. Eine gigantische Sensation war dann sein Debüt 1930 bei den Berliner Philharmonikern: Egon Petri, der allseits beglaubigte Statthalter der Busoni-Schule, sagte im letzten Moment als Solist in Prokofieffs 3. Klavierkonzert ab, und Mitropoulos fragte zuerst bescheiden nach, ob das akzeptabel sei, um dann in diesem horrend herausfordernden Werk am Klavier einzuspringen. Er dirigierte vom Instrument aus, lieferte eine fulminante Vorstellung ab und frappierte die etablierte musikalische Welt. Fortan stand seiner internationalen Karriere nichts Wesentliches mehr im Wege, und überall wurde er mit seinem eine Sensation garantierenden Prokofieff-Wunderkonzert eingeladen.
1936 debütierte er beim Boston Symphony Orchestra, wo er sofort als Kronprinz von Serge Koussevitzky gehandelt wurde, und als er im folgenden Jahr wiederkehrte, lud man ihn auch nach Minnesota ein, wo das Orchester gerade – nach dem Weggang Eugene Ormandys nach Philadelphia – nach einem neuen Leiter Ausschau hielt. Ormandy hatte übrigens 1934–35 in Minneapolis für RCA als Recording Pioneer erstaunliche Einspielungen gemacht, darunter Mahlers Zweite und Bruckners Siebte, die auf unzählige Schellacks verteilt wurden und soeben sämtlich in einer 11-CD-Box bei Sony Classical verfügbar gemacht worden sind. Man kann, wenn man beispielsweise die damals so populäre Hary-János-Suite von Kodály hört, sehr eindrücklich den Unterschied zwischen dem frischen, charmant entspannten Musikanten Ormandy in seiner wohl besten Zeit und dem Existenzialisten Mitropoulos hören. (Auch Schönbergs Verklärte Nacht und Jaromír Weinbergers robust zündende Polka und Fuge aus Schwanda der Dudelsackpfeifer laden zum direkten Vergleich ein.)
Jedenfalls nahm Mitropoulos die Herausforderung in Minneapolis im Sturm, und auch die Fortführung der RCA-Aufnahmen übernahm er, nachdem er seine Musiker zu nie dagewesenem Glanz geführt hatte. Er leitete die Geschicke dieses Orchesters, das plötzlich von einem provinziellen Klangkörper zu einem der angesehensten der USA wurde, durch die schweren Jahre des II. Weltkriegs und machte Minneapolis zu einer musikalischen Bastion des Unerhörten und Modernen. Ab 1946 US-amerikanischer Staatsbürger, war er auf die Musikszene in seiner Heimat kaum besser zu sprechen als später sein Kollege Sergiu Celibidache auf das Musikleben im kommunistischen Rumänien unter Ceaușescu. 1950 wurde er, nach mehreren umjubelten Arbeitsphasen am Big Apple, von den New Yorker Philharmonikern abgeworben. Im ersten Jahr teilte er sich die Leitung mit Leopold Stokowski, der zu jener Zeit durch eine schwere persönliche Krise ging, und im darauffolgenden Jahr war er alleiniger Chefdirigent des prestigeträchtigsten Orchesters jenseits des Atlantiks.
Diese Position klingt nach künstlerischer Allmacht, wird jedoch in ihrer Autorität überschätzt. Vom Management wurde ihm schnell signalisiert, dass er sich in der Repertoireauswahl mehr am etablierten Werkkanon und den berühmten Solisten – also am immer noch lebendigen Vorbild Toscaninis – zu orientieren habe, und so focht er bis zum Ende einen leidenschaftlichen Kampf für alles Neue und Unbekannte. In seiner Auswahl findet sich kein Anzeichen ideologischer Scheuklappen, jedoch natürlich ein Schwerpunkt US-amerikanischer Musik, worunter ihm Zeitgenossen wie Morton Gould, Peter Mennin, Roger Sessions, Howard Swanson oder auch David Diamond besonders am Herzen lagen. Im Laufe der Jahre wurde er allerdings zur Zielscheibe der New Yorker Kritik, die auf die zunehmenden Unruhen und Beschwerden aus dem Orchester reagierte und ihn letztlich – in Person des neuen Chefkritikers der New York Times, Howard Taubman – abschoss. Er wollte Gleicher unter Gleichen sein, was er – nicht bereit, offenkundig sich gegen ihn verhaltende Musiker abzustrafen – mit dem Messer im Rücken bezahlte. Zu jenem Zeitpunkt, 1957, hatte er schon seinen ersten Herzinfarkt hinter sich, doch dachte er nicht an Schonung und verausgabte sich weiterhin komplett im Dienst an der Kunst. Mittlerweile war er zudem zum Favoriten der MET avanciert, wo auch die Kritik nicht anders konnte, als seine umwerfend dramatischen, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufführungen zu bejubeln. Und als Orchesterdirigent wandte er sich nun zurück nach Europa, wo er nach dem Tode des in vielem geistesverwandten Wilhelm Furtwängler schnell der Lieblingsdirigent der Wiener Philharmoniker wurde. Vor allem seine Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers und von Werken von Richard Strauss und Franz Schmidt machten ihn zum Gegenstand einer kultischen Verehrung, die aufgrund der vielen erhaltenen Live-Aufnahmen unverändert anhält. Mitropoulos starb – wie es sich gehört, kann man in seinem Fall sagen – am 2. November 1960 während einer Probe für Mahlers Dritte in der Mailänder Scala an seinem dritten Herzinfarkt. Das Bergsteigen, das er so sehr liebte, hatte er längst aufgeben müssen, doch Kettenraucher war er nach wie vor. Er hat alles, auch die komplexesten neuen Werke, auswendig dirigiert und kannte die Musik bis ins kleinste Detail besser als die versiertesten unter den Komponisten, die das Glück hatten, von ihm aufgeführt zu werden. Leider gibt es von ihm nur ganz wenige Aufnahmen von Werken der Klassiker, und da hat viel Neid und üble Nachrede dazu geführt, seine Leistungen zu marginalisieren. Mitropoulos war im Leben ein Asket, manche haben ihn sogar als Masochisten bezeichnet, in der Musik hingegen von unwiderstehlicher Strahlkraft mit seinem alles und jeden in Bann ziehenden Lebenswillen, seiner unaufhaltsam pulsierenden Entdeckungsfreude und einer Intensität ohnegleichen.
Nun also wird die weltweite Mitropoulos-Gemeinde für ihr 60jähriges Warten entschädigt, indem Sony Classical sämtliche RCA- und Columbia-Aufnahmen des bedeutendsten griechischen Musikers des 20. Jahrhunderts in einer luxuriös ausgestatteten 69-CD-Box veröffentlicht. Das hat so lange gedauert, da die Plattenfirma in diesem Unternehmen vom New York Philharmonic – wo Mitropoulos seit Bernsteins Zeiten bis heute ein ähnlicher Interimsstatus zugeschrieben wird, wie ihn die Berliner Philharmoniker unter Karajan gegenüber Celibidache als Image etablierten – kaum nennenswerte Unterstützung erfuhr. Und in Minneapolis hatte man einfach nicht die Ressourcen, um dies ambitionierte Vorhaben entsprechend mit voranzutreiben. Dass Mitropoulos ein Genie – dies nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist und (was man erst heute allgemein anzuerkennen beginnt) als Komponist – war, stand stets außer Zweifel, und mit genau dieser Etikettierung warb die Columbia schon damals für seine New Yorker Aufnahmen. Doch zugleich war es seine kompromisslos auf die Angelegenheiten der Musik konzentrierte Hingabe, die ihn für Fragen des Prestiges und der Macht blind sein ließ. Er agierte selbstlos als Dirigent, bezahlte oft Projekte, die nicht die nötige Unterstützung erhielten, aus der eigenen Tasche, half auch jedem anderen Bedürftigen großzügig mit seinem Geld aus, bis er selbst keines mehr hatte; und diese Selbstlosigkeit erwartete er zugleich von seinen Mitstreitern, was dazu führte, dass er von der Columbia keine besseren Bedingungen forderte und daher schlechter behandelt wurde als beispielsweise die Kollegen aus Philadelphia unter ihrem viel oberflächlicheren, jedoch sehr auf gute Politur bedachten Chefdirigenten Eugene Ormandy. Nicht nur hatte Ormandy wie auch Bruno Walter und George Szell bei der Auswahl des Repertoires überwiegend freie Hand, es wurde dort auch weitaus großzügiger mit den zur Verfügung gestellten Aufnahme-Sessions verfahren. In New York unter Mitropoulos hingegen wurden alle Beteiligten auslaugende Mammut-Sessions anberaumt, die heute schlicht absurd überfordernd wirken, und man kann sich nur wundern, wie es unter derart desaströsen Bedingungen überhaupt zu solchen Leistungen kommen konnte. So wurden am 2. November 1952 Borodins 2. Symphonie (eine der großartigsten Mitropoulos-Einspielungen), 4 Tänze von de Falla und von Mendelssohn drei Ouvertüren und die Symphonien Nr. 3 und 5 aufgenommen. Und am 11. November 1957, als das gemeinsame Schiff schon im Sinken begriffen war, brachte man nach Star Spangled Banner Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, eine umfangreiche Suite aus Prokofieffs Romeo und Julia sowie Tschaikowskys Slawischen Marsch und – zum Schluss – die Pathétique unter Dach und Fach. Wie sollte der Tschaikowsky da noch so passioniert gespielt werden können wie der Prokofieff? Und wie hätten die Mendelssohn-Symphonien noch jene Frische haben können, die sie im Konzert hatten? Ganz abgesehen davon, dass es auch kaum Zeit für Nachkorrekturen gab und möglichst alles sofort reibungslos zu klappen hatte. Es ist also ein schlichtes Wunder, dass die meisten dieser Einspielungen trotzdem zum Fesselndsten und Mitreißendsten gehören, was je auf Schallplatte gebannt wurde. Die Mendelssohn-Symphonien beispielsweise genießen bis heute Referenzstatus. Und die legendäre Aufnahme des Schönberg-Violinkonzerts mit Mitropoulos’ Freund Louis Krasner wurde – wie Krasner ausführlich geschildert hat – in der letzten halben Stunde eines ganztägigen Aufnahmeprojekts spontan eingeschoben, ohne die Gelegenheit zu auch nur einer minimalen Nachkorrektur.
Wir können daran sehen, wie widrigste Bedingungen die Menschen über sich selbst hinaus wachsen lassen, wie sie aber auch der langfristigen Stabilität einer Beziehung im Wege stehen und die Strahlkraft und Begeisterung auch großartigster künstlerischer Erlebnisse allmählich aushöhlen. Mitropoulos und sein Orchester haben sozusagen Übermenschliches geleistet, und am Ende hat man ihn dafür verflucht und sich seinem Zögling Leonard Bernstein, der ihn letztlich auch verriet, an die Brust geworfen. Zumal Bernstein das damals so gefährliche Thema seiner Homosexualität mit einer glanzvollen Heirat kaschierte, wogegen Mitropoulos, der stets lebte wie ein Mönch, wegen seiner homosexuellen Veranlagung ins Gerede geriet. Insofern ist die nun vorliegende CD-Anthologie nicht nur ein später Triumph seiner unnachahmlichen Kunst, sondern auch ein Akt dessen, was man Wiedergutmachung nennt.
Es ist nicht einfach, Highlights aus dieser Sammlung zu benennen. Viele, darunter die Opernaufnahmen wie Bergs Wozzeck, Barbers Vanessa, Mussorgskys Boris Godunov oder Verdis Maskenball – allesamt mit Traumbesetzungen –, wie seine Berlioz-, Scriabin-, Prokofieff- oder Schostakowitsch-Einspielungen, Schönbergs Erwartung mit Dorothy Dow oder das 5. Beethoven-Konzert mit Robert Casadesus galten sofort als maßstabsetzend und sind es bis heute geblieben. Andere sind weniger bekannt geworden, und unter diesen möchte ich besonders die hinreißende Aufnahme von Tschaikowskys 1. Orchestersuite erwähnen, mit ihrem frappierend fugierenden Kopfsatz, der zu seinen symphonischen Gipfelleistungen zählt und hier mit maximaler Differenzierung, Spannkraft und bezwingend organischer Geschlossenheit dargeboten wird; eine feine, in ihrer erfüllten Unschuld besonders berührende Aufnahme des 3. Beethoven-Konzerts mit dem jungen Jean Casadesus; Dukas’ Zauberlehrling und die Schumann-Symphonien. Oder die nur mit Hilfe unabhängiger Funds eingespielten Symphonien Nr. 2 von Roger Sessions und Nr. 3 von Peter Mennin sowie das Symphonic Allegro des jungen Roy Travis. Besonders Mennins Dritte – vom meines Erachtens bedeutendsten Symphoniker, den die USA hervorgebracht haben – ist auf die Fähigkeiten Mitropoulos’ geradezu ideal zugeschnitten: unaufhaltsames Momentum in den Ecksätzen, dabei ständig in vollem Auskosten der Sensitivität der Tonbeziehungen, von flammendem Leben erfüllt. Und verinnerlichter Fluss, Palestrina-artiges Verständnis des kontrapunktischen Gewebes in modernem Harmoniegewand im lyrischen Mittelsatz. Da findet man auch die Verbindung zum Komponisten Mitropoulos, wie sie in der lyrischen Ekstase des 19jährigen im Orchesterstück Taphé (Begräbnis) mitzuerleben ist, von welchem bei YouTube eine wunderbar einfühlsam disponierte Aufführung unter Ioannis Protopapas vorhanden ist. Oder in seinem letzten Orchesterwerk, dem gnadenlos über Stock und Stein jagenden, quasi den mittleren Bartók vorwegnehmenden Concerto grosso von 1928, welches unlängst in einer Neuaufnahme bei Bridge Records veröffentlicht wurde. Wie sehr bedaure ich, dass Mitropoulos selbst sich nicht mehr um seine eigenen Kompositionen kümmerte, wie dies Furtwängler und de Sabata gelegentlich und selbst Celibidache bei einer Gelegenheit getan haben. Doch das Vermächtnis Mitropoulos’ ist – auch wenn er kaum Skalkottas dirigiert hat und seine Aufführungen großer Werke seiner Landsmänner Perpessas und Petrides nicht ins Aufnahmestudio mitbrachte – eine gigantische Lebensleistung, und was in dieser Anthologie von den von ihm so geliebten Meistern Mahler, Strauss, Schönberg, Krenek oder Schnabel fehlt, kann man großenteils in seinen Live-Aufnahmen nacherleben. Und es steht außer Zweifel, dass – wenn man die Entstehungsbedingungen der Columbia-Aufnahmen in Betracht zieht – der Unterschied zwischen Konzert- und Studioaufnahmen bei ihm nicht größer war als etwa bei Celibidache die Differenz zwischen Konzerten und Aufnahmen in den Rundfunkstudios. Es ist eigentlich immer live, wie es die Musik ihrem Wesen nach seit jeher ist.
Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)
Karin Bonelli, Flöte
Klangkollektiv Wien
Rémy Ballot, Dirigent
Zugleich Vorstellung der CD:
Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135
Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481
Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.
Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.
Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.
Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.
Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.
Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.
Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.
Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.