Ausdruck durch Wort und Ton

Sonus Eterna 37423; EAN: 4 260398 610076

Im Zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Liedkompositionen des amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood stehen die Four Romantic Songs op. 32, Seven Songs Of Mother Nature op. 46 und Songs From My Childhood op. 43, jeweils nach eigenen Texten, auf dem Programm. Die Künstlerinnen der Aufnahme sind die Sopranistin Felicitas Breest und Masha Dimitrieva am Klavier.

Das Klavierlied stellt besonders für Komponisten des 20. Jahrhunderts eine Gattung von zentraler Bedeutung dar. In einer Zeit, da die Suche nach einem Individualstil sich schwieriger gestaltet denn je, wo sich Tonsetzer zuerst durch den Dschungel an unerschöpflichen Möglichkeiten zu einer für einen selbst stimmigen Ausdruckssphäre bahnen müssen, da liegt es auf der Hand, sich zunächst an definierten Worten zu orientieren, anstelle sich von Anbeginn an auf absolute, textlose Musik zu setzen. Eine Liste derer, deren Frühwerk vornehmlich aus Liedern besteht, ließe sich lange erweitern, man denke allein an Namen wie Alban Berg, Richard Strauss, Walter Braunfels oder Eduard Erdmann. Die meisten dieser Komponisten blieben der Stimme als Ausdrucksmedium ihr Leben lang treu, zumeist später allerdings in Form großformatiger Bühnenwerke – doch manche fokussierten sich nach der Lehrzeit durch das Lied hauptsächlich auf rein instrumentale Musik, so beispielsweise Erdmann, aber auch Gordon Sherwood.

Gordon Sherwoods Liedschaffen lässt sich mit Ausnahme eines Nachzüglers (op. 96 von 1994) vollständig auf die Jahre zwischen 1967 und 1978 datieren. Zu dieser Zeit war der 1929 geborene Komponist freilich nicht mehr auf der Suche nach einem Einstieg in die Komposition: Im Gegenteil, er war durchaus gefragt vor allem durch die Uraufführung von Introduction and Allegro 1957 durch Dimitri Mitropoulos, hatte durch Studien bei den drei stilprägenden Meistern Aaron Copland, Philipp Jarnach und Goffredo Petrassi handwerklichen Feinschliff erfahren. Und doch steht das Lied an bedeutsamer Position Sherwoods Biographie. Denn nach seinem Abschluss 1967 in Rom, wo der erste der Liederzyklen entstand, wandte sich Sherwood vom großen Musikbetrieb ab, nutzte keine der ihm offenstehenden Türen, sondern zog sich zurück, eigene Erfahrungen zu machen und die Welt zu erleben. Er ging mit seiner Frau Ruth nach Beirut, wo die beiden sich durch Auftritte in Bars und Hotels durchschlugen – und auf diese Weise beiläufig mit dem später nicht mehr aus Sherwoods Stil fortzudenkenden Boogie- und Blues-Element vertraut wurden –, später nach Kenia. 1980, also kurz nach seinen Liederjahren, trennte sich Sherwood von seiner Frau und ging nach Südostasien, den Buddhismus näher kennenzulernen. So begleitete ihn das Lied von seiner Stellung als anerkannter Komponist bis hin zur Entscheidung zu seinem späteren Leben, das geprägt war durch unermüdliches Reisen, Selbstsponsoring durch Betteln, dem Komponieren und Entdecken als Hauptinhalte seines Lebens.

Insgesamt zwanzig von Sherwoods hundertdreiundvierzig Opusnummern bezeichnen Liederzyklen, wobei sich die Gesamtzahl an Liedern auf etwas über 80 summiert. Die Texte schrieb er dabei bis auf wenige Ausnahmen – namentlich die beiden frühesten Sammlungen opp. 23 und 29 sowie Zitate aus op. 62 – selbst; hierbei maß er den Gedichten eigenständigen Stellenwert bei, skizzierte sie also nicht als bloßes Mittel zum Kompositionszweck. Die Themen reichen weit, decken viele Aspekte des Lebens ab, konzentrieren sich oftmals auf Natur- und Liebesthematiken, können aber bisweilen auch kecken bis derben Humor aufweisen. Seine auf dem ersten Teil der Gesamteinspielung aufgenommenen Six Songs for Women’s Fashion of the 1960’s beispielsweise geben recht drastische, teils auf den sexuellen Aspekt reduzierte Urteile über gewisse Kleidungsstücke ab.

Die Lieder des vorliegenden zweiten Teils segeln vornehmlich unter romantischer Flagge, wobei auch der Blues gelegentlich durchblitzt. Die Four Romantic Songs op. 32 bilden als durchkomponierter Zyklus ein Panorama vom Frühlingserwachen bis hin zu einem Liebesabend am See, gemahnen stilistisch teils gar noch an Schubert, wobei Sherwood einige harmonische Wendungen doch der Bluesidiomatik entlehnte. Hier zeigt sich, wie sehr Sherwood sich in der Wahl seiner stilistischen Mittel auf das Sujet bezog, dann die einzelnen Elemente zu einer Einheit verschmolz, die in sich stimmig erscheint, ohne eine eindeutige Stillinie zu verfolgen. Die Seven Songs of Mother Nature op. 46 geben textlich tiefe Eindrücke von Sherwoods Bewunderung den Naturphänomenen gegenüber, wobei ihn eine Biene nicht minder beeindrucken kann als eine Nacht unter dem Sternenhimmel. Die Musik wirkt bekenntnishaft, zieht sich erneut Ausdrucksmittel unterschiedlichster Kulturen und Epochen heran, die jeweils zum Moment passen, ohne den Bezug zur Gesamtform zu verlieren. Am Ende sein Statement: You Cannot Beat Nature. Autobiographisch erscheinen die acht wieder zyklisch anmutenden Lieder, die er Songs From My Childhood op. 43 betitelte. Unter dem harmlos anmutenden Titel verbergen sich teils aufrüttelnde Momente, aber auch gewisse Sehnsüchte, bei denen wieder Derbheit mitschwingt. So erinnert er sich beispielsweise, dass er seine Sandkastenliebe ohne Scham bewundern konnte. Das Haunted House erwächst mit einer Länge von knappen sieben Minuten zur Ballade, ist tiefschürfend ausgestaltet mit einem symphonischen Spannungsaufbau und einer atemberaubenden Klimax.

Diese eigenständige, persönliche und in jedem Lied doch andersgeartete Musik stellt an die Ausführenden höchste Ansprüche. Denn nicht nur verlangt Sherwood gewisse Kenntnisse in grundverschiedenen Stilen vom Volks- und Kunstlied zur Jazzidiomatik, sondern er will auch seine persönliche Note darin verstanden und hörbar gemacht wissen. Das Duo Felicitas Breest und Masha Dimitrieva kann mittlerweile auf eine beachtliche Anzahl an reinen Sherwood-Auftritten blicken, ebenso auf die erfolgreiche erste Platte ihrer Gesamteinspielung. So verwundert wenig, dass dieser zweite Teil nun noch eindringlicher wirkt als der erste. Vor allem bei Felicitas Breest bemerkt man eine geänderte Einstellung zum Oeuvre Sherwoods, was sich in der Form der Textausdeutung, auch im balladesken Tonfall bemerkbar macht, mehr sogar noch in der Findung eines genreübergreifenden Klanges, der eine Einheit in der Vielfalt findet. Gerade für die menschliche Stimme, die üblicherweise für jedes Genre und jeden Stil, teils gar für bestimmte Komponisten eigene Techniken kennt, ist dieser Schritt bemerkenswert, zeugt von langer Auseinandersetzung mit der Materie. Breest setzt auf expressive Melodiegestaltung, parallel unbekümmerte Leichtigkeit, wobei ihr die musikalische Empfindung wichtiger ist als Textbekleidung. Masha Dimitrieva geht vollständig auf ihre Partnerin ein, stellt das Klavier in den Dienst der Stimme, ohne dabei an Eigenständigkeit zu verlieren. Sie, die übrigens musikalische Erbin Sherwoods ist und das Label Sonus Eterna zu seinem Andenken gegründet hat, kennt die Werke Sherwoods wie niemand sonst, spielt entsprechend souverän mit profundem Verständnis des Notentextes und Wissen, wie man diesen im Sinne Sherwoods umsetzen kann. In jeder Note hört man die Freude am Musizieren dieser beiden Künstlerinnen heraus, den Wunsch, alles aus den Partituren herauszuholen und den Hörer durch die Musik allein und nicht durch Gebärden zu begeistern. Es ist wahres aufrichtiges Musizieren.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2021]

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