Im folgenden Beitrag stellt Karin Coper drei im Laufe dieses Jahres erschienene CDs vor, die einen Eindruck davon vermitteln, auf welch verschiedene Weise englischsprachige Dichtung Komponisten des 20. Jahrhunderts zu Liedkompositionen angeregt hat. Das Duo Dalùna widmet sich Zyklen von Roger Quilter, Benjamin Britten und Michael Head. Jodie Devos und Nicolas Krüger haben ein Programm mit Liedern englischer und nichtenglischer Komponisten auf Texte englischer Dichter zusammengestellt. Die erste Gesamteinspielung der Lieder des irischen Komponisten John F. Larchet wurde von Musikerinnen und Musikern um den Pianisten Niall Kinsella vorgelegt. (d. Red.)
A Song in the Woods
Prospero, PROSP 0015; EAN: 0 630835 523841
„Sieh, die Berge küssen den Himmel. …Und die Strahlen des Mondes küssen das Meer: Doch was sind all diese Küsse wert, wenn Du mich nicht küsst?“ Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht Love’s Philosophy, das der Romantiker Percy Bysshe Shelley 1819 publizierte. Den englischen Komponisten Roger Quilter inspirierte das Poem 1905 zu einer ekstatischen Hymne und sie stimmt perfekt ein auf eine musikalische Reise, die das Schweizer Duo Dalùna in seinem Album A Song in the wood unternimmt. Sie führt durch die Natur Großbritanniens und ist ein im übertragenen Sinn metaphorischer Gang durch Seelenlandschaften, Liebesglück und -leid. Für diese Exkursion konzentrieren sich der Tenor Remy Burnens und die Pianistin Clémence Hirt auf Stücke von vier Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich formal, thematisch und durch die Rückbesinnung auf musikalische Traditionen ähneln. Quilters Zyklus To Julia, der auf autobiographisch getönten, im 17. Jahrhundert verankerten Liebesverse des dichtenden Theologen Robert Herrick basiert, besteht aus melodiösen Miniaturen, unterbrochen von zwei rein instrumentalen Einschüben. In Benjamin Brittens erstem Vokalzyklus On This Island aus dem Jahr 1937 verbinden sich Einflüsse von Henry Purcell, dem er sich besonders verbunden fühlte, mit volksliedhafter Einfachheit. Von Melancholie durchzogen ist hingegen Michael Heads im ersten Weltkrieg entstandener Zyklus Over the Rim of the Moon. In den betont einfach strukturierten Gesängen spiegelt sich die Trauer über den Tod der Geliebten wider. Remy Burnens trägt die Lieder mit klarem, resonanzreichem Tenor vor, forciert nur manchmal in den Höhen. Seine Artikulation indes ist vortrefflich und auch die gestalterische Einheit von Musik und Text gelungen: ob schwärmerisch bei To Julia, dynamisch nuanciert in A Blackbird Singing, schlicht im A-cappella-Solo The Singer oder jubelnd in Let the Florid Music Praise! Durch ihr feinfühliges Klavierspiel unterstreicht Clémence Hirt die Stimmungen, dazu ist sie eine eigenständige Partnerin im musikalischen Zwiegespräch zwischen Gesang und Instrument, selbst wenn der Pianopart sich nur aufs Wesentliche beschränkt. Die schöne Aufnahme wird durch ein optisch ausgesprochen ansprechend gestaltetes Booklet komplettiert. Es ist mit Naturimpressionen illustriert, bietet eine kluge Einführung und alle Textabdrucke.
And Love said…
Alpha Classics, ALPHA668; EAN: 3 760014 196683
Als einen persönlich gefärbten Streifzug durch englischsprachige Vokalwelten, der auch Lieder von nicht-britischen Komponisten einbezieht, bezeichnet Jodie Devos ihr neues Album And Love said… Ganz anders als in ihrem Debüt-Recital, in dem sie in Offenbach-Arien ihre Virtuosität herausstellte, zeigt sich die belgische Sopranistin im zweiten intimer, introspektiver – aber nicht weniger überzeugend. Das abwechslungsreiche Programm, das thematisch um die Liebe kreist und mit zwei Überschneidungen zu einem Vergleich mit A Song in the Wood einlädt, nimmt Bezug auf Stationen ihres Werdegangs. Beispielsweise Brittens On This Island, mit dem sie den zweiten Preis des renommierten Gesangswettbewerbs Concours International Reine Elisabeth gewann. Oder Ivor Gurneys Spring aus den Five Elizabethan Songs, mit dem sie in London die Aufnahmeprüfung bestand. Auch die zwei Oscar-Wilde-Vertonungen, die Patrick Leterme speziell für die stimmlichen Möglichkeiten ihres bis in stratosphärische Höhen reichenden Soprans komponierte, haben einen biographischen Hintergrund. Der Belgier war Pianist bei ihrem ersten Wettbewerb und verschaffte ihr das professionelle Bühnendebüt. Mit zwei impressionistisch anmutenden Liedern von Regine Wieniawski geht die Sängerin zurück zu ihren Wurzeln und erinnert an eine vergessene Landsfrau, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Poldowski ihre Werke veröffentlichte, weil sie unabhängig von ihrem Vater, dem polnischen Stargeiger Henryk Wieniawski, anerkannt werden wollte.
Die Stücke sind stilistisch vielfältig, doch Jodie Devos kennt keine technischen und interpretatorischen Grenzen und ihr Sopran, dem manchmal ein reizvolles Vibrato eigen ist, kann organisch zwischen purer Reinheit und schillernden Farben wechseln. Sie beherrscht die Kunst der feinsten Schattierungen, Übergänge und dynamischen Finessen. Zart fließend und beseelt ist ihr Vortrag von Darius Milhauds beiden Liebesliedern, voller Emphase Frank Bridges Love went a-riding und Roger Quilters Love’s Philosophy. Sie hat ein Gefühl für das spanische Kolorit und den lässigen Jazz in William Waltons Dreiteiler Faҫade und am Ende demonstriert sie, wie ein Popstück mit einer Opernstimme Wirkung erzielen kann: Freddie Mercurys You take my breath away singt sie ganz zurückgenommen bis zum fast verlöschenden Schluss, einfach wunderschön. Dabei wird die Sängerin vom Pianisten Nicolas Krüger kongenial unterstützt. Wie sich die beiden die Bälle zuspielen und zusammen subtilste Klänge zaubern, zeugt von gleichberechtigter Partnerschaft und gehört zu den vielen Vorzügen dieses Recitals.
John Francis Larchet: Sämtliche Lieder
Champs Hill Records, CHRCD151; EAN: 5 060212 591586
Ein Ausflug nach Irland rundet die Erkundung englischsprachigen Liedguts ab. Dabei geht es nicht um traditionellen Irish Folk, mit der die Musik des Inselstaats meist gleichgesetzt wird, sondern um klassische Vokalschöpfungen. Im Zentrum steht der 1884 geborene Komponist John F. Larchet, ein hierzulande Unbekannter, im Musikleben der irischen Republik aber eine Schlüsselfigur. Zum einen belebte er als künstlerischer Direktor des Dubliner Abbey Theatre zwischen 1908 und 1935 mit seinen Bühnenmusiken viele historische Dramen des Landes. Zum anderen prägte er als Musikprofessor zwei Generationen Studierender an der Royal Irish Academy of Music und am University College Dublin, eine Position, die er fast 40 Jahre innehatte. Und nicht zuletzt stammt von ihm die Bearbeitung der Nationalhymne, die bis heute offiziell gespielt wird.
Obwohl er gegenüber den Novitäten seiner Schülerschaft ein stets aufgeschlossener Lehrer war, blieb er stilistisch selbst konservativ. Überhaupt machte er sich vorwiegend durch Arrangements von überlieferten und folkloristischen Weisen einen Namen. Sein ureigenes Schaffen ist hingegen nicht sehr umfangreich und besteht hauptsächlich aus Vokalmusik. Darunter sind siebzehn Originallieder, in der Mehrzahl schlichte, nostalgisch getönte Melodien, manche folkloristisch inspiriert, andere kunstvoller gesetzt. Dank der Initiative des Pianisten Niall Kinsella, der sich mit Larchets Oeuvre seit Studienzeiten beschäftigt, sind diese Complete Songs & Airs, so der Titel des Albums, nun erstmals in ihrer Gesamtheit aufgenommen worden, kombiniert mit zwei jeweils sechsteiligen Irish Airs für Geige und Klavier. Kinsella ist mit seiner kundigen wie empfindsamen Begleitung fraglos die Seele des Projekts und er hat sich mit der Mezzosopranistin Raphaela Mangan und dem Bariton Gavan Ring ein irischstämmiges Gesangsduo ins Boot geholt, das Authentizität und stilsicheres Einfühlungsvermögen für die heimatlichen Songs mitbringt.
Den Auftakt der Einspielung bildet übrigens Larchets Vertonung des eingangs zitierten Shelley-Gedichts. The Philosophy of Love heißt die Arie, und ähnlich wie Quilters Version handelt es sich um eine leidenschaftliche Liebeserklärung mit feuriger Klavierbegleitung. Womit sich der Kreis schließt.
Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.
Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.
Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!
Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige
Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:
„So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)
„Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)
„Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)
„In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)
Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):
„10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“
Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.
Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.
Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent
Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.
Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.
Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?
Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.
Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.
Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.
Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.
Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke
Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.
Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.
Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:
„Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“
(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)
Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.
Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.
Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:
„Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“
Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.
Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?
Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?
Auf seinem bei Aldilà Records erschienen Russischen Album präsentiert der Pianist Andrea Vivanet Stücke russischer Meister aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es beginnt mit Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 von Sergej Tanejew und schließt mit den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Schostakowitsch. Verbunden werden sie durch drei Zyklen von Nikolai Tscherepnin, die hier erstmals eingespielt worden sind: Six Préludes op. 17, Cinq Morceaux op. 18 und die auf Volksliedern basierenden Primitifs.
Zu den Markenzeichen von Aldilà Records gehört die wohlüberlegte Zusammenstellung der einzuspielenden Kompositionen. Die Programme gleichen Vortragsfolgen von Konzerten. Sie bringen Werke verschiedener Komponisten zusammen, die nicht selten unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen entstammen, wobei stets darauf geachtet wird, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden, sich zwischen den einzelnen Stücken ein Netz von Beziehungen entspinnt. Wiederholt fanden sich dabei vielgespielte Werke mit solchen kombiniert, die bislang noch gar nicht auf CD vertreten waren und nun zeigen konnten, dass sie neben den bekannteren sehr wohl zu bestehen vermögen. Ebendieses Konzept prägt auch das Russische Album des Pianisten Andrea Vivanet.
Das Album lässt drei russische Komponisten aus drei aufeinander folgenden Generationen zusammentreffen, wobei der Reiz darin besteht, dass die Werke zeitlich näher beieinander liegen, als es die Lebensdaten ihrer Autoren vermuten lassen: Sergej Iwanowitsch Tanejew (1856–1915) ist zwar der an Jahren älteste Komponist, doch sein Präludium und Fuge gis-Moll op. 29 entstand erst 1910, mehrere Jahre nach den Six Préludes op. 17 (1900) und den Cinq Morceaux op. 18 (1901) seines jüngeren Zeitgenossen Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin (1873–1945). Dessen 1926 komponierter Zyklus Primitifs. 12 Adaptions d’anciennes mélodies russes geht den 24 Préludes op. 34 von Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906–1975), der mehr als drei Jahrzehnte nach Tscherepnin geboren wurde, um lediglich sieben Jahre voraus. Wir haben also ein Bündel von 49 Stücken vor uns (48, zählt man Tanejews Präludium und Fuge als ein einzelnes), die innerhalb von nur 33 Jahren entstanden und bei denen es sich teils um Frühwerke, teils um verhältnismäßig späte Werke der jeweiligen Komponisten handelt.
Dass das Programm des imaginären Konzerts sehr abwechslungsreich geraten ist, erscheint bei dieser Konstellation kaum verwunderlich. Zugleich wird deutlich, welch unterschiedliche Arten musikalischer Ausdrucksweisen innerhalb eines recht kurzen Zeitraums nebeneinander existierten. Vivanet bietet sozusagen eine kurzgefasste Überblicksdarstellung zur russischen Klavierminiaturistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Sergej Tanejew war der große Poeta doctus der russischen Musik, ein tief empfindender Künstler, dessen leidenschaftliche Liebe zum kontrapunktischen Gestalten nahezu seinem gesamten Schaffen das Gepräge gibt. Die Fuge war ihm, im Gegensatz zu manchem Zeitgenossen (innerhalb wie außerhalb Russlands) kein Demonstrationsobjekt akademischer Gelehrsamkeit, sondern ein tondichterisches Ausdrucksmittel, das er regelmäßig dazu nutzte, im Schlusssatz eines Werkes die Musik zu maximaler Spannung zu steigern. Obwohl in jungen Jahren als einer der besten Pianisten Russlands gerühmt (Pjotr Tschaikowskij betraute ihn mit Ur- und Erstaufführungen seiner Klavierkonzerte), hat Tanejew relativ wenig für Soloklavier geschrieben. Das einzige dieser Werke, dem er eine Opuszahl zugestand, ist zugleich das späteste: Präludium und Fuge gis-Moll op. 29.
Während Tanejew bis zuletzt der traditionellen Dur-Moll-Funktionsharmonik treu blieb, auf deren Grundlage er seine kontrapunktischen Monumentalbauten errichtete, wandten sich viele jüngere Kollegen den noch wenig erkundeten Feldern der Harmonik zu, auf die sie von Wagner und Debussy, aber auch von Mussorgskij und Rimskij-Korsakow, hingewiesen wurden – und von Chopin, der, obwohl großer Bach-Verehrer, als Begründer jener sich vom Wohltemperierten Clavier deutlich abhebenden Tradition der, wenn wir sie so nennen wollen, „Préludes sans fugues“ zum mehr oder weniger direkten Vorbild zahlreicher russischer Klavierkomponisten um 1900 wurde. Wie Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninoff, seine direkten Altersgenossen, hat sich auch der 1873 geborene Rimskij-Korsakow-Schüler Nikolai Tscherepnin ausgiebig diesem romantischen Typus der Klavierminiatur zugewandt. Die beiden Sammlungen op. 17 und op. 18 enthalten Charakterstücke verschiedenster Art in sehr gewählter Tonsprache, deren erlesene Harmonien und ungewöhnliche Fortschreitungen in entsprechend abwechslungsreicher pianistischer Faktur präsentiert werden. Zwar verbindet die Stücke eine einheitliche Grundstimmung – es dominieren mäßige Tempi und ein elegischer Tonfall – doch wiederholt sich Tscherepnin nicht und gibt jedem von ihnen ein persönliches Profil. Da steht beispielsweise die leidenschaftlich hin- und hergerissene Improvisation (op. 18/3) neben der konsequent durchgeführten Synkopenstudie (op. 18/4) und dem feierlich entrückten, sehr geschickt Glockenschall imitierenden Religioso (op. 18/4). Von diesen Beispielen russischer Fin-de-Siècle-Kultur heben sich die zweieinhalb Jahrzehnte später komponierten zwölf Stücke mit dem etwas provokanten Titel Primitifs deutlich ab. Der Komponist hat ihnen keine Opuszahl gegeben, vielleicht weil ihnen keine Melodien eigener Erfindung zugrunde liegen, sondern Volkslieder, die er einer 1810 erschienenen Sammlung entnahm. Was Tscherepnin mit diesem vorgefundenen Material macht, geht jedoch deutlich über das hinaus, was man in der Regel unter Volksliedbearbeitungen versteht. Dem Titel alle Ehre machend, arbeitet der Komponist mit „primitiven“ Gestaltungsmitteln: Es begegnen Ostinati, einfache Sätze mit Hauptstimme und Begleitung, Stimmen in schlichter Parallelführung, Heterophonie. Dabei nimmt Tscherepnin aber kaum Rücksicht auf die tonsetzerische Schulweisheit des 19. Jahrhunderts: Er steuert gezielt harte Zusammenklänge an, führt die Stimmen konsequent in dissonanten Parallelen, hebt Melodie und Begleitung rhythmisch deutlich voneinander ab und baut gelegentlich Effekte ein, die an Schlaginstrumente erinnern. Das ganze Opus ist ein Tribut an die russische Volksmusik mit ihren charakteristischen unregelmäßigen Metren, ihren stampfenden Tanzrhythmen und Glockentönen. Der Komponist, der vor der bolschewistischen Revolution nach Georgien ausgewichen war und seit 1921 im Pariser Exil lebte, ruft sich hier die Klänge seiner Heimat in ungeglätteter, rauer Naturschönheit ins Gedächtnis.
Die Stilistik der Tscherepninschen Primitifs wirkt gar nicht mehr spätromantisch und weist deutliche Parallelen zur neutonalen Ausdrucksweise der jüngeren Generation auf, womit auf ganz natürliche Weise der Bogen zu Dmitrij Schostakowitschs Préludes op. 34 geschlagen wird, diesem zurecht viel gespielten Miniatur-Wunderkabinett eines jungen Genies, das hier, noch nicht von den politischen Repressionen späterer Jahre überschattet und auf dem Höhepunkt seiner Pianistenlaufbahn stehend, seiner Phantasie unbekümmert die Zügel schießen lässt und mit wenigen Tönen treffsicher charakterisiert, auch karikiert, dramatisch zuspitzt und immer wieder den Hörerwartungen Haken schlägt.
Ein höchst anspruchsvolles Programm hat Andrea Vivanet sich bei diesem Projekt also vorgenommen – anspruchsvoll nicht nur deswegen, weil nicht wenige der hier eingespielten Stücke virtuose Fingerfertigkeit verlangen, sondern vor allem, weil so unterschiedlichen Stilen beizukommen, so viele verschiedene musikalische Charaktere adäquat darzustellen sind. Ebendies ist Vivanets Stärke. Bereits mit seinen früheren Veröffentlichungen war der Italiener, der lange in Paris lebte und zur Zeit in Georgien weilt, als ein Musiker aufgefallen, der sich mit den Werken, die er vorträgt, innig vertraut gemacht, sich in sie eingelebt hat. Hört man ihm zu, so spürt man sein Spiel jene Ruhe ausstrahlen, in welcher die Kraft liegt: eine Gelassenheit, wie sie nur einer zu vermitteln im Stande ist, der in der Musik tatsächlich jeden Winkel kennt. So wirkten unter seinen Händen die vielschichtigen Mischklänge Karol Szymanowskis überraschend luzide (Naxos), und Pjotr Tschaikowskijs Klaviersonate op. 37 klang in seiner Einspielung nicht wie das Nebenwerk eines Meisters, sondern wie das Meisterstück, das sie ist (Sheva).
Vivanet erfasst hörbar die unterschiedlichen Abschnitte eines musikalischen Verlaufs als aufeinander bezogen. Er besitzt ein untrügliches Gespür für den Auf- und Abbau harmonischer Spannung. In keinem Moment hat man bei ihm das Gefühl, der Pianist wisse nicht genau, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung er sich gerade befindet. So gerät ihm auch nichts beiläufig. Keine der auf dem Russischen Album aufgenommenen Miniaturen huscht einfach so vorüber. Jede erfasst Vivanet in ihrer Eigenart und arbeitet ihre Handlung mit sicherer Hand heraus.
Seine Meisterschaft des Anschlags besteht darin, für jede Situation den richtigen zu finden. Man höre etwa, wie er der Nr. 1 der Primitifs weder das marcato, noch das cantabile schuldig bleibt, rasch zwischen beiden zu wechseln versteht, dabei aber durch feinfühlige Dosierung der Kraft einen Moment des Übergangs markiert, sodass man nicht meint, ein Nacheinander bloßer Effekte, sondern die Änderung eines Zustands wahrzunehmen! Gerade bei Schostakowitsch feiert diese Kunst Triumphe. Wie reizvoll hält Vivanet im Prélude Nr. 6 in der Schwebe, ob das Stück Tanz oder Marsch, oder vielleicht doch beides zugleich ist! Wie geschickt versteht er es darzustellen, wie Nr. 9 sich unruhig hierhin und dorthin wendet, ohne sich recht entscheiden zu können; oder wie der gehetzte Walzer von Nr. 15 in gelöste, tänzerische Bewegung umschlägt und schließlich zu einem zarten Ausklang findet; oder wie Nr. 24, das groteske Spazierstückchen, es plötzlich seltsam eilig hat und sich ebenso plötzlich beruhigt, bevor es seinen alten Trott wieder aufnimmt! Ja, wie wunderbar erzählt Vivanet all diese spannenden Kurzgeschichten!
Die Begleitung einer Melodie ist für Vivanet nie etwas Unwesentliches, sondern stets eine zweite Ebene der Musik, die mit ebensolcher Sorgfalt bedacht wird wie die Hauptstimme. Welches Eigenleben die Begleitung erhalten kann, merkt man besonders, wenn sie rhythmisch der Melodie entgegengesetzt ist, wie im ersten der Tscherepninschen Morceaux op. 18. Aber auch bei einfacheren Strukturen differenziert der Pianist deutlich. In Schostakowitschs Prélude Nr. 13 meint man die Bässe von Tuben vorgetragen zu hören, während die rechte Hand Flöte spielt. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass dialogisch angelegte Stücke wie das Sopran-Bass-Duett in Schostakowitschs Nr. 7 bei Vivanet ebenfalls in besten Händen sind. Desgleichen die Glockenstücke (Schostakowitsch Nr. 23, Tscherepnin op. 18/5), in denen das Klavier vielschichtig und vielfarbig schallen darf.
Mit einem solchen Glockengeläut markiert auch Tanejew den Höhepunkt seiner Fuge, wenn er das Thema des Präludiums aufgreift, um es ein letztes Mal prunkvoll in Szene zu setzen. Bis zu diesem Punkt ist viel passiert. Die Fuge ist eine Doppelfuge, in der das erste Thema sogleich in der Exposition vom zweiten beantwortet wird. Der kontrapunktische Wirbelwind, den Tanejew aus ihnen entfacht, kennt bis zum Schluss kein Rasten (Schalk, der er ist, lässt der Komponist das Stück nach der Klimax abrupt und leise verwehen, wie einen Windhauch) – und auch in diesem Sturm behält Vivanet souverän die Übersicht.
Muß ich noch sagen, dass ich allen Freunden kultivierten Klavierspiels Andrea Vivanets Russisches Album wärmstens empfehlen kann? Seine Darbietung der bekannten Werke Tanejews und Schostakowitschs ist schlicht mustergültig. Die Stücke Nikolai Tscherepnins werden hier erstmals überhaupt auf CD präsentiert. Das Album markiert damit auch, so steht zu hoffen, einen Wendepunkt in der Rezeption eines lange unterschätzten großen Klavierminiaturisten.
(NB: Den Umschlag zieren Abbildungen georgischer Artefakte aus dem 16. und 19. Jahrhundert, die im Beiheft durch einen kleinen „Ausstellungskatalog“ erläutert werden. Sie sind eine Hommage an den Aufnahmeort, das Georgische Staatskonservatorium in Tiflis, an welchem Nikolai Tscherepnin von 1918 bis 1921 als Direktor wirkte.)
Wer sich am 17. November 2021 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan, dem größten Ort Liechtensteins, einfand, oder die Aufführung als Direktübertragung im Netz verfolgen konnte, hatte die Gelegenheit, das Sinfonieorchester Liechtenstein unter der Leitung Wayne Marshalls, des ehemaligen Chefdirigenten des WDR Funkhausorchesters Köln, mit Kompositionen Edvard Griegs und Pjotr Tschaikowskijs zu hören. Zur Aufführung kamen Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46 und sein Klavierkonzert a-Moll op. 16 sowie Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74, die Pathétique. Solistin des Abends war die 17-jährige Eva Gevorgyan.
Die Werke erfuhren eine Wiedergabe, der man eine sorgfältige Vorbereitung anhörte. Offenbar sind die Musiker nicht der Auffassung gewesen, dass solch allseits bekannte und seit je populäre Stücke sich gleichsam „von selbst“ spielen und routiniert bewältigt werden können. Wayne Marshall hat hier nichts dem Zufall überlassen. Der Dirigent erwies sich als fähiger Klangmodellierer, der die einzelnen Orchestergruppen gut aufeinander abzustimmen versteht. So blieb die Interaktion der Stimmen ebenso durchweg nachvollziehbar wie die Vielschichtigkeit der orchestralen Farbgebung deutlich wurde. Gerade die pittoreske Instrumentation der Peer-Gynt-Suite kam trefflich zur Geltung. Bei der Wahl der Tempi legte Marshall Wert auf beständigen Vorwärtsdrang. Ein Schwelgen in „schönen Stellen“, ein Aufbauschen von Ritardandi oder ein extremes Rubatospiel sind seine Sache nicht. So ließ er etwa im Finale des Griegschen Klavierkonzerts den lyrischen Kontrastabschnitt verhältnismäßig zügig spielen (was dem Zusammenhalt des Satzes gut tat), und auch die langsameren Peer-Gynt-Stücke klangen auffallend stringent. In der Halle des Bergkönigs ließ er die Trolle dagegen zunächst betont schwerfällig einher trotten und steigerte damit die Wirkung des abschließenden Accelerandos. Die Wiedergabe der Pathétique überzeugte ebenfalls durch klug gewählte Tempi. Nirgends klang es übereilt, nirgends ging der Spannungsbogen verloren. Die scharfen Kontraste im Kopfsatz wurden deutlich herausgestellt, ohne dass das Stück in Episoden zerfiel. Den Finalsatz hörte man als strengen, schicksalhaften Abschluss.
Eva Gevorgyans Klavierspiel harmonierte trefflich mit Marshalls Dirigat. Die junge Pianistin besitzt ein Gespür für Melodie und verfügt über einen abwechslungsreichen Anschlag. Dass sie im Orchester einen Partner sieht, mit dem das Soloinstrument zusammenwirkt, zeigte sich daran, dass sie, auch wenn das Orchester nur dezent begleitete und sie brillieren durfte, die Orchesterinstrumente deutlich durchdringen ließ. Der Walzer von Chopin, den sie als Zugabe spielte, gefiel durch geschmackvolles Rubatospiel.
Auch wenn sich das Konzert nicht durch ein besonders originelles Programm ausgezeichnet hat, so bot es doch Aufführungen, die geeignet waren, die Freude an den wohlbekannten Werken wach zu halten. Das Publikum dankte mit warmherzigem Beifall.
Der bei München lebende Komponist Graham Waterhouse (geb. 1962 in London), Sohn des legendären Fagottisten und Musikologen William Waterhouse und einstiger Student von Hugh Wood und Robin Holloway, wird allmählich auch international bekannter, was durch die Tatsache, dass seine neuen Werke von Schott Music verlegt werden, gefördert werden dürfte. Waterhouse ist zudem ein versierter Cellist, und als solcher trat er am 13. November im Kleinen Konzertsaal der Münchner Großbauruine Gasteig in weitgehend eigener Sache mit der Pianistin Miku Nishimoto-Neubert auf.
Im ersten Teil gab es zwei Uraufführungen von Waterhouse: zunächst das zweisätzige Ex tenebris für Cello und Klavier, das mit metamorphischer Verarbeitung kurzer Motivik den rein musikalischen Versuch unternimmt, den uns umgebenden gesellschaftlichen Dystopien zu entkommen. Abgesehen davon, dass der Flügel das Cello öfters im Forte bis zur Unhörbarkeit übertönte, gelang die Aufführung gut.
Danach bot Waterhouse erstmals seine gleichfalls 2021 entstandenen elf Miniaturen Smithereens für Cello solo dar, in welchen in unerhört vielseitiger Weise unterschiedliche spieltechnische, kompositionstechnische, klangfarbliche und stimmungsmäßige Welten erkundet und verarbeitet werden. Dies ist ein besonders gelungenes Werk, im Einzelnen wie als sich in der Verschiedenheit kurzweilig ergänzendes Ganzes, und es zeigt, wie abstrakte Programmmusik in den Grenzbereichen der herkömmlichen Tonalität höchst reizvolle Klangräume erschließen kann. Waterhouse ist als Komponist ein Freund der strukturellen Konsequenz, seine Musik ist nicht einfach gemütlich idiomatisch seinem Instrument auf den Leib geschrieben, sondern fordert beim Spieler die hartnäckig-beharrliche Seite seines Wesens heraus. Waterhouse erwies sich als fesselnder Erzähler der musikalischen Kurz- und Äußerst-Kurzgeschichten, als leidenschaftlich eremitischer Barde auf seinem Instrument, der trotz aller kammermusikalischen Erfahrung und Passion eigentlich dann am meisten sagen oder zumindest dies am persönlichsten darstellen kann, wenn er ganz auf sich alleine gestellt ist. Die recht zahlreich erschienenen Hörer waren zu Recht ergriffen.
Der zweite Teil wurde mit Waterhouses knapp drei Jahrzehnte altem Praeludium für Soloklavier eröffnet. Es ist ein etwas umfangreicheres Vorspiel, als Bravourstück ein passendes Pendant etwa zu den Toccaten Schumanns oder Chatschaturians, dramaturgisch durchaus überzeugend angelegt, bei aller Forderung nach Brillanz mit harmonischem Feinsinn und subtilen Abschattierungen angereichert, kurzum: ein sehr gelungenes Stück, dem wir gerne öfter begegnen. Miku Nishimoto-Neubert, einstige Studentin von Conrad Hansen und Klaus Schilde, konnte mit ihrer bombensicheren Technik hier das Publikum in Atem halten und feierte einen durchschlagenden Erfolg.
Zum Abschluss spielten die beiden die Münchner Erstaufführung der 1905 komponierten und 1927 für den Erstdruck bei Senart revidierten, dreisätzigen Sonate für Cello und Klavier von John Foulds (1880–1939), dem zweifellos inspiriertesten, stilistisch unabhängigsten britischen Komponisten der Generation vor Benjamin Britten. Seine Cellosonate ist ein einsamer Höhepunkt in der Literatur, mehr als nur auf Augenhöhe mit den anerkannten zeitgenössischen Meisterwerken für Cello und Klavier von Enescu, Rachmaninoff, Reger, Tovey, Janácek, Magnard, Prokofieff, Debussy, Fauré oder Villa-Lobos. Alle drei Sätze bewegen sich auf höchstem Niveau, unverkennbar eigentümlich in der transzendent freisinnig fließenden, nie angestrengt arbeitenden Tonsprache, klar in der Formung, überraschend in den harmonischen Progressionen, elegant und zauberisch in den Übergängen, herrlich konzis in der Balance des Duoklangs. In die Bereiche reiner Magie dringen die beiden Vierteltonpassagen im langsamen Satz vor, wo die Grenzen der Zwölftönigkeit auf dem Cello für grenzüberschreitende Momente ins Abgründige rutschen, auf dem Gleis gehalten durch ein Zentralton-Ostinato des Klaviers. Das Finale ist ein funkensprühender Ritt auf der Lanze eines Fortschritts, der sich keinen Moment an den Messlatten der etablierten Fortschrittsideale orientierte. Zum Ende hin erscheint jenes geradezu zur Improvisation herausfordernde Bass-Ostinato, das später seine wunderbare Tondichtung April-England, sein heute vielleicht bekanntestes Werk, prägen sollte. Foulds starb tragisch früh an der Cholera in Kalkutta, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und ein halbes Jahrhundert lang vergaß man ihn komplett in seiner englischen Heimat. Doch seine Zeit wird kommen, man wird ihn als luziden, stets lichtspendenden Giganten seiner Epoche gleichberechtigt neben Bartók, Strawinsky und Berg spielen. Während der Sonate wurden sein einnehmendes Portrait und historische Bilder aus seiner Geburtsstadt Manchester an die Bühnenwand projiziert. Es ist das große Verdienst von Graham Waterhouse und Miku Nishimoto-Neubert, diese Musik endlich auch in die so gerne ausschließlich sich selbst feiernde bayerische Provinzkapitale gebracht zu haben.
Am Freitag, 12. 11. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Musica-viva-Konzert unter Pablo Heras-Casado zwei Uraufführungen: Vom Sterben der Sterne von Jüri Reinvere sowie Tour de Trance von Arnulf Herrmann – mit Anja Petersen als Sopranistin. Beide Stücke sowie ihre hervorragende Wiedergabe konnten überzeugen.
Ein Abend, der nur aus Uraufführungen von Auftragswerken besteht, ist selbst bei der Münchner Konzertreihe musica viva des BR eher selten. Das erste Stück stammt vom in Estland geborenen und aufgewachsenen Komponisten Jüri Reinvere (Jahrgang 1971). Den ersten Kompositionsunterricht erhielt er in Tallin beim leider viel zu früh verstorbenen Lepo Sumera (1950–2000), der zudem von 1988 bis 1992 estnischer Kultusminister war. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetherrschaft studierte Reinvere in Warschau und Helsinki. Neben seiner Musik ist er aber auch als Lyriker und Essayist hervorgetreten, dabei mehrfach ausgezeichnet worden. Seit 2005 lebt das siebensprachige Multitalent in Deutschland.
Vom Sterben der Sterne bezeichnet der früh von der Astronomie begeisterte Komponist als Symphonische Skizzen. Das 32-minütige Werk mit normaler Orchesterbesetzung (3-faches Holz etc.) arbeitet weniger thematisch als mit Klangflächen, die über weite Strecken dunkel timbriert sind: Teils unheimlich – wie der sich aus tiefen Trommeln, Bässen und Celli langsam hocharbeitende Beginn –, jedoch immer erhaben und ehrfurchtsvoll. Hierbei spürt man noch Einflüsse Sumeras, der eine ganz eigentümliche Art naturbezogenen Minimalismus‘ entwickelt hatte – kaum mit der amerikanischen minimal music vergleichbar. Reinvere ist dennoch sowohl davon als auch von der dichten, clusterhaften Klanglichkeit eines György Ligeti (Atmosphères, Lontano) gleichermaßen entfernt. Der Hörer verfolgt einen großen Entwicklungsbogen mit ab und zu aufblitzenden, fasslichen Motiven – im Sinne eines gewaltigen Crescendos auf einen Höhepunkt hin, nach dem dann die Intensität wieder bis ins beinahe Unhörbare abnimmt – durchaus symphonisch. Die Instrumentation bleibt dabei stets klar: Bis auf das Atmen der Bläser verzichtet Reinvere fast komplett auf mittlerweile überstrapazierte Geräuscheffekte, setzt punktuell mal ein Becken als akustische Hüllkurve im Diskant ein. Klavier, Celesta und Glockenspiel versteht man als eindeutige Zeichen. Dafür hören wir etwa feine Unisoni von Streichern und Flöten oder die gekonnte Imitation von Orgel- oder Akkordeonklängen – alles zutiefst beeindruckend und auf sympathische Weise irgendwie altmodisch. Der Applaus des leider wieder dünn besetzten Herkulessaals ist herzlich.
Arnulf Herrmann (*1968) ist hier längst kein Unbekannter mehr. Als die Sopranistin Anja Petersen 2014 nur zwei Tage vor der Uraufführung für die Drei Gesänge am offenen Fenster eingesprungen war und sich als echter Glücksfall erwiesen hatte, versetzte dies Presse und Publikum in Erstaunen. Seitdem ergab sich eine stetige Zusammenarbeit der beiden Künstler, und für Tour de Trance – nach einem Text von Monika Rinck – hatte Herrmann diese Stimme sogleich im Kopf. Im in vier Abschnitte unterteilten, etwas über halbstündigen Stück kommt Petersen aber erst spät zum Einsatz, wo von Rincks Lyrik lediglich der Anfang ausladender, der ganze Rest dann überraschend schnell und lapidar vertont wird. Das täuscht natürlich; denn zuvor erscheint das Orchester bereits offensichtlich durch Elemente des Textes inspiriert. Liest man Dinge wie „wilde schläge in der ferne“, „halluzinogene leere“ oder „schlingern“, wird klar, dass Hermann in seiner Arbeit mit „Interaktionsfiguren“ den Hörer genau darauf einstimmt. Da gibt es ein meist sehr aggressiv ausgeführtes, rhythmisch klar am Kopfthema von Beethovens Fünfter angelehntes Motiv – im 2. Abschnitt reißt dem Solocellisten hierbei eine Saite, worauf dieser geistesgegenwärtig auf dem Instrument seiner Pultnachbarin weiterspielt. Scheintonale Momente, die jedoch sofort mikrointervallisch destabilisiert werden, oder eine vierteltönige Pendelfigur markieren einen Bewusstseinszustand, dem gewissermaßen der Boden unter den Füßen fehlt. Dies ist alles spannend und in seiner direkten Emotionalität jede Sekunde mitreißend – bis zum abschließenden Zerfall. Frau Petersen kann diesmal mit nicht viel mehr als ein paar länger ausgehaltenen, schönen Tönen glänzen; ihre Präsenz ist trotzdem wieder eindrucksvoll.
Mit Pablo Heras-Casado debütiert heute ein angehender Weltstar bei der musica viva, der von historischer Aufführungspraxis bis eben zur zeitgenössischen Musik alles drauf zu haben scheint. Die Schlagtechnik – fürs bloße Taktieren wechselt er zwischen den Händen – wirkt zunächst ungewöhnlich; seine rhythmische Präzision bis in die Fingerspitzen und das klare, engagierte Einfordern von Ausdruck und Klang sind derweil absolut überragend. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geht mit ihm von Anfang an eine herrliche Symbiose ein, mit einem bei beiden Uraufführungen großartigen Ergebnis, das keine Wünsche offenlässt. Genau der richtige Mann, den man, nicht nur für solche Musik, nun bitte regelmäßig einladen sollte! Trotz der erneut durch Corona leicht gedrückten Stimmung langanhaltende Ovationen für alle Beteiligten.
BR-KLASSIK sendet die Aufzeichnung des Konzerts am 23.11. um 20:05 Uhr.
Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.
Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.
Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.
Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.
Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“
Am Donnerstag, 4. 11. 2021, sowie am Freitag, 5. 11. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth drei Klassiker der Moderne: Claude Debussys Jeux, Arnold Schönbergs Klavierkonzert mit dem Solisten Kirill Gerstein sowie Igor Strawinskys Le sacre du printemps. Die Rezension bezieht sich auf den zweiten Konzerttermin.
Dass der BR bei der Planung der laufenden Saison die Abo-Reihen erst ab Januar 2022 starten lässt, und alles davor als „Sonderkonzerte“ unters Publikum zu bringen versucht, hat durchaus auch seine Vorteile. Erklangen bereits bei den Antrittskonzerten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie letzte Woche ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts (Kabeláč, Britten und Schostakowitsch, siehe Rezension), so wählte man nun für den Herkulessaal drei echte, alle auf ihre Art wegweisende Klassiker der Moderne aus, die man sicher so konzentriert selten in einem Konzert zu hören bekommen dürfte. Ob es doch wieder an den auch das Publikum fordernden Klängen lag, oder an den bereits angekündigten, erneuten Corona-Verschärfungen: Immerhin war am Freitag der Herkulessaal zu gut zwei Dritteln gefüllt, wenn man es einmal positiv betrachtet. Angesichts der hohen Inzidenzen behielt der größere Teil der Besucher im Saal freiwillig seine Masken auf.
François-Xavier Roth, seit sechs Jahren GMD der Stadt Köln, beginnt den Abend mit Debussys Ballettmusik Jeux, die der Komponist als „poème dansé“ bezeichnet und die ihre eigentlichen Erfolge seit jeher im Konzertsaal gefeiert hat. Debussy treibt mit diesem letzten Orchesterwerk seine Instrumentationskunst auf die Spitze: Klang bzw. Klangfarbe wird hier auf revolutionäre Weise zum zentralen Parameter, hinter dem bei bereits erstaunlich fortgeschrittener Harmonik und sich ständig modifizierender Rhythmik mit enorm flexiblen Tempi die eigentliche motivische Arbeit – zumindest für den Hörer – in den Hintergrund tritt. Damit wurde Jeux zu einem der Katalysatoren der Avantgarde nach 1945. Hier ist der französische Dirigent, der auf einen Taktstock verzichtet, mit klarer Gestik ohne Mätzchen und präziser Agogik in den Übergängen in seinem Element. Im Gegensatz zu Ravel funktioniert Debussys sensible Klangchemie ja keineswegs von selbst, benötigt sehr direkte Kontrolle und genaueste Probenarbeit. Dem BRSO gelingt dies hier in jedem Detail. Die Momente, wo die Musik zwischen unvorhersehbar indifferenten Subtilitäten sehr konkret zu tanzen beginnt, wirken so geradezu betörend – eine ganz ausgezeichnete Darbietung, die die hohen Erwartungen an Roth seit seinem vorzüglichen Feuervogel vor gut 2½ Jahren voll erfüllt. Das Publikum ist entsprechend angetan.
Kirill Gerstein ist, spätestens seit seiner beachtlichen Bostoner Live-Aufnahme des intrikat schwierigen Busoni-Klavierkonzertes, sicher zu den technisch befähigtsten Virtuosen zu zählen. Den Herkulessaal kennt er ebenfalls, hat Anfang 2020 dort Thomas Adès‘ neues Konzert aufgeführt, das freilich seine Wirkung über Strecken aus oberflächlichen Effekten erzielt. Dennoch war dies, noch mehr 2018 Bernsteins Age of Anxiety, auch vom Anschlag her durchaus differenziert und überzeugend gestaltet. Am heutigen Abend ist der Künstler jedoch eine einzige Enttäuschung! Schönbergs zwölftöniges Klavierkonzert von 1942 widerlegt eigentlich die weitverbreitete Meinung, solche Musik sei unverständlich, kalt oder gefühllos. Ganz im Gegenteil: Die vier Abschnitte des Stückes bauen auf fest umrissenen, emotionalen Situationen auf, mit einer an die Romantik anknüpfenden Teleologie – vom heiter durchsichtigen Beginn mit typisch wienerischer Jovialität über die sich bald erschreckend steigernde Dramatik bis zur desolaten Verzweiflung des Adagios, wonach sich der Solist in einer kurzen Kadenz quasi am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, um nach einigem Zögern affirmativ optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Man fragt sich, woran es wohl liegen mag, wenn ein Pianist derartig verspannt und mit klobigem Anschlag agiert wie Gerstein. Ist’s der Flügel? Stört die Bedienung des Notepads (selbst Brendel spielte das Schönberg-Konzert nie auswendig)? Schon das lange Hauptthema klingt nur hart, keine Spur von Leichtigkeit oder Wiener Schmäh. Das wird in der Folge noch schlimmer: Bei aufsteigenden Kaskaden übertönt Gerstein immer brutal das Orchester, das zumindest in der ersten Hälfte versucht, seinen thematischen Figuren adäquat Gestalt zu verleihen. Dies ist aber weder das Busoni-Konzert noch der alte Gasteig, wo sich der Solist derart berserkerhaft Gehör verschaffen muss. Schönberg schreibt bei seinem Opus 42 nicht allzu viel in die Noten. Von dem, was hier alles „zwischen den Zeilen“ zu entdecken wäre, ist Gerstein jedenfalls meilenweit entfernt. Nein, man muss das Stück nicht derart romantisieren wie Kubelik. Wer allerdings das Schönberg-Konzert mit Brendel oder Aimard erlebt hat, weiß, welche Schönheiten hier besonders im Klavierpart realisierbar sind. Beim Giocoso-Thema des letzten Abschnitts scheint es, als ob Gerstein nun umdenkt; aber statt dieses zarte Pflänzchen langsam wachsen zu lassen, bis das Konzert ganz am Schluss ekstatische Freude versprüht, poltert er doch schnell wieder gewalttätiges Hardcore-Gehämmer herunter. Und – auch wenn das Werk fast in C-Dur endet: Es ist eine Unsitte, dem eher kurzen Schlussakkord noch eine Fermate aufzusetzen. Mit seinen Zugaben – einer Debussy-Etüde und einem Jazz-Standard von Oscar Levant, dem ursprünglich geplanten Widmungsträger des Schönberg-Konzerts – kann Kirill Gerstein den zweifelhaften Eindruck nicht wettmachen.
Zu Strawinskys Le sacre du printemps – einst Skandalstück, heute Publikumsrenner – braucht man nicht viel zu sagen. Das Werk ist mittlerweile eine Visitenkarte jedes Orchesters mit entsprechender Besetzung. In der Aufführung heute geht nicht alles glatt: Richtig gut sind die beiden Einleitungen und vom Tempo her eher ruhige Teile (Rondes printanières usw.). Aber ein paar schwierige Passagen klappern dann hörbar: Danse de la terre spätestens ab dem Trompeteneinsatz, manches im Danse sacrale. Völlig unverständlich, wie ein ausgebuffter Profi wie Roth es über etliche Takte [Zif. 131] nicht schafft, ein wenig nervös gewordene Holzbläser – die ansonsten einen exzellenten Job machen! – wieder zusammen zu bringen. Die Dynamik gerade an Tutti-Stellen könnte besser gestaffelt sein: So verpufft die 1913 das Zwerchfell so ungewohnt massierende Polyrhythmik teils in lautem Klangbrei (Cortège du sage). Das hohe Violinsolo [Zif. 83] könnte man besser durchlassen. Dies sind ziemliche Beckmessereien; das Orchester hat den Sacre natürlich drauf – wurde gerade deshalb etwa zu wenig geprobt? Jedenfalls hat man das Stück vom BRSO schon besser gehört, zuletzt unter Cristian Măcelaru und natürlich Mariss Jansons. Der Beifall des Publikums ist trotzdem beinahe frenetisch.
Sonate f-Moll op. 120/1 / Bearbeitung für Klarinette und Kammerorchester von Mathias Weber (Uraufführung)
Klavierquintett f-Moll op. 34 / Bearbeitung für Klavier und Streichorchester von Mathias Weber
Mathias Weber, Klavier und Dirigent
Sabine Grofmeier, Klarinette
Hamburger Camerata
Die Matineekonzerte in der Elbphilharmonie haben sich als Publikums-Selbstläufer etabliert. Ein Glücksfall ist dies für die Hamburger Érard-Gesellschaft, die hier am 30. Oktober den Höhepunkt ihres diesjährigen Érard-Festivals begehen konnte. Das Konzert bot auch eine Uraufführung: Nämlich eine Neubearbeitung der f-Moll Klarinettensonate von Johannes Brahms op 120/1 von Mathias Weber. Sabine Grofmeier, eine hochmotivierte, in Hamburg lebende Klarinettistin war in ihrem Element.
Mathias Weber, Pianist und auch Komponist ist ein nachdenklicher Musikforscher, der in seinen beachtlichen Neubearbeitungen einschlägiger Meisterwerke der tiefen Wahrheit zwischen den Zeilen des Notentextes weiter auf den Grund geht. Aus einem solchen Erfindergeist ging diese „neue“ Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms‘ Klarinettensonate f-Moll opus 120/1 hervor. Sie wirkt lichtdurchfluteter und anmutiger und irgendwie kammermusikalischer als Luciano Berios von deutlich mehr romantischem Orchesterpathos durchdrungene Adaption aus dem Jahr 1986.
Sabine Grofmeier hat zu dieser empfindsamen Sonate schon lange ein tiefes Verhältnis. In der „Elphi“ funktioniert eine perfekte Kombination aus Werk, Interpretin, Zeit und Ort. Zu einer überraschenden Streichereinleitung der Hamburger Camerata erhebt sich ihr höchst kantabler Klarinettenton, um dann den festlichen, zugleich tief empfindsamen Gestus mit großer Strahlkraft in allen Sätzen aufrecht zu erhalten. Wo bislang der Dialog mit dem Klavier stand, da bauen sich jetzt verblüffende Querverbindungen und Berührungen zu vielen Orchesterinstrumenten auf. Mathias Weber beschreibt später seinen eigenen schöpferischen Prozess: „Ich höre beim Klavierpart eines solchen Originals manchmal andere imaginäre Instrumente“. Das Miteinander zwischen spielerischer Bravour und starken Emotionen verdichtet sich noch weiter im Andante. Die Interpretin ist selber sichtlich überwältigt – von der Musik in diesem Moment an diesem Ort, von der Reaktion des Publikums, welches spürt, dass da jemand ehrlich auf der Bühne agiert. Das Menuett des dritten Satzes kommt fast wie ein Walzer daher. Molto vivace und in sonnig aufblühender Klangpracht gelangt die vertraute, zugleich völlig neue Komposition in ihre Zielgerade.
Befreite Emotionen ließen tosenden Beifall folgen. Das befeuerte Sabine Grofmeiers Zugaben – und wie! Viele wollen Piazolla spielen. Aber kaum jemand beherrscht wie diese Solistin ein dermaßen organisches Crescendo in jedem einzelnen Ton und eine geschmeidige Phrasierung, die jedes Korsett von „richtiger Intention“ souverän überwindet. Musik im Konzertsaal „funktioniert“ vor allem dann, wenn eben nicht nur die Experten befriedigt sind, sondern vor allem das unvoreingenommene „Laufpublikum“ erreicht ist. Sabine Grofmeier erreichte dies an diesem Morgen durch das Zulassen und Zeigen von Empfindung. Zu Teilnehmenden wurde schließlich das Publikum in einer Mitmach-Aktion, in der sie im Brahmschen Wiegenlied „Guten Abend, Gute Nacht“ zum Mitsummen der Melodie einlud.
„Ich konnte hier alles machen, was geht“, freute sich Sabine Grofmeier. Eines hatte sie am meisten überrascht: Die spezielle Akustik in Hamburgs Elbphilharmonie, die oft als „trocken“ beschrieben wird, erwies sich als ausgesprochen freundlich gegenüber ihrem Spiel, da sie verblüffend viel Rückmeldung gibt.
In vielen exklusiven Recitals macht die Érard-Gesellschaft den einmaligen Klangcharakter der historischen Érard-Flügel aus dem 19. Jahrhundert entdeckbar. In Johannes Brahms‘ Vier Klavierstücken op. 119 aus dem Spätwerk, bündelte sich zum Auftakt der Matinee diese Philosophie in jedem einzelnen Ton: Unter Mathias Webers Händen wirken diese scheinbar skizzenhaften Werke wie stark komprimierte Seelengemälde – eine Stimme, die sich haushoch über jeder Kategorie von spieltechnischer Bravour erhebt! Der Klaviersolist als Orchesterleiter im Zentrum eines sinfonischen Gefüges – diese Konstellation kam zum Finale dieses ausverkauften Konzertes in einer weiteren Bearbeitung von Mathias Weber zum Tragen:
So hat er das Brahmsche Klavierquintett f-Moll opus 34 zu einer ausdrucksmächtigen Kammersinfonie ausgeweitet. Große orchestrale Spektren, weite atmende Räume tun sich in den ausgedehnten Sätzen aus. Die hellwache Interaktion zwischen den Instrumenten – exemplarisch gewürdigt sei hier nur ein hinreißender Solocello-Part als Antwort auf das Klavierspiel, blieb dabei dem Geist des kammermusikalischen Originals in wunderbarer Weise treu.
So wie hier geht es im Idealfall zu, wenn in einer lebensfrohen Weltstadt idealistische Künstlerpersönlichkeiten an einem Strang ziehen – und dabei auf einen Komponisten zurückgreifen, der ebenfalls ein Kind dieser Stadt war und auch in der Gegenwart noch ganz viel zu sagen hat.
[Stefan Pieper, November 2021]
NB: Am 6. Dezember gibt es in der Laeiszhalle der Elbphilharmonie eine Soiree Érard, die ebenfalls von der Érard-Gesellschaft ausgerichtet wird.
Jakub Hrůša dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Meisterwerken der klassischen Moderne: Kabeláč , Britten, Schostakowitsch.
Um mit einem der überflüssigsten Oberbürgermeister der Republik zu sprechen – also in routiniert clever vernebelnder Ignoranz –, gibt uns die Interimsspielstätte der Münchner Orchesterkultur, die technokratisch klotzige Isarphilharmonie mit ihrem kubisch-industriellen Flair, ihren die Lauschfelder trennenden Drahtgeländern, bei denen nur der Stacheldraht vergessen wurde, ihrem perfekt unschönen, ausruh-feindlichen Foyerbereich eine „leise Vorahnung“ dessen, dass es für München wohl auch künftig, bei allem Mammonglanz, akustisch nicht wirklich besser kommen wird. In dem so gar nicht schmucken, aber auch das Auge nicht verstörenden Saal klingt das Orchester sehr durchsichtig, man hört – jedenfalls links außen im hinteren Drittel des ansteigenden „Parketts“ – alles Leise sehr deutlich, alle Register des Orchesters kommen gut an. Wenn es dann aber laut wird, mutiert der vorher nicht gerade auratisch erfüllende Klang ins Brutale, und auch die Durchsichtigkeit ist nun – trotz exzellentem Dirigenten und Orchester – nicht mehr optimal gegeben. Eben wieder so eine gesichtslose, letztlich unbefriedigende Akustik, wie sie heute anhand von Modellrechnungen – und längst nicht mehr aus intuitiv umgesetzter Empirie tatsächlichen Hörens – mit überwiegend billigen Materialien von musikfernen Saalplanern mit großem Logistikaufwand ohne Geistbeteiligung umgesetzt werden. Aber auch da kann es natürlich – wenngleich unter recht ungünstigen Bedingungen, also der vorgegebenen Schwächen eingedenk – zu ausgezeichneten Konzerten kommen.
Ein solches gab das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 28. und 29. Oktober unter der Leitung des amtierenden Bamberger Generalmusikdirektors Jakub Hrůša. Dieser jetzt 41jährige Dirigent zählt seit einiger Zeit zu den besten seines Fachs, und dies in vieler Hinsicht: gute Ohren, ausgezeichnete, natürliche und präzise Geste, echte körperliche und geistige Verbindung mit den Musikern, gutes Raumgefühl fürs Orchester, guter musikalischer Geschmack, Sinn für die Dramaturgie der Form und Klangbalance, hohe Wachsamkeit in der Aufführung – vieles lässt sich da aufzählen, und wer skeptisch ist, höre einfach die CD mit Suks Asrael-Symphonie, die wahrhaft exemplarisch dargestellt wurde.
Diesmal gab es zum Einstieg ein anderes, viel weniger bekanntes tschechisches Werk, aus der frühen sozialistisch geprägten Epoche: die 1953–57 entstandene Passacaglia für großes Orchester Mysterium der Zeit op. 31 vom Symphoniker Miloslav Kabeláč (1908–1979), einst unter Karel Ančerl uraufgeführt, und nun von Hrůša außer Landes gebracht. Er dirigiert das sehr langatmig aufgebaute, vor allem in den ersten Minuten äußerst heikle Stück souverän und mit offenkundiger Anteilnahme, und das Orchester folgt ihm – der ja vielleicht in einigen Jahren auch sein Chef werden könnte – willig und mit Biss. Diese hier gut 26minütige Komposition in einem Satz ist vom Ansatz gewaltig, eine große Architektur, die vom raunenden Beginnen zu einer mächtigen Auftürmung expandiert und im Pianissimo endet. Es ist mehr konstruiert – und darin von beeindruckender Meisterschaft der Berechnung der steigernden Kräfte, der weitschauenden Disposition der Orchestration – als spontan empfunden. Ein sich einprägendes Thema von melodisch fesselnder Gestalt wird nicht vorgestellt, und es ist insgesamt Musik, die im Detail sehr imponiert, ohne durch ihr Wachsen organisch zu fesseln. Jedenfalls ist es erfreulich, dieses gewaltig auftretende Stück nun auch live hören zu können, also nicht nur im (akustisch virtuellen) Raum von produzierten Aufnahmen, sondern in den tatsächlich sich ergebenden Klangverhältnissen, und unter Hrůša ist es mit einem so vortrefflichen Orchester in sehr guten Händen.
Danach spielte Isabelle Faust technisch extrem eindrucksvoll und makellos Benjamin Brittens frühes, einziges, hochoriginelles und im Finale wahrlich ergreifendes Violinkonzert op. 15. Dieses Werk ist für Dirigent und Orchester alles andere als einfach, vieles klingt in den ersten beiden Sätzen, als wäre es eigentlich fürs Klavier erfunden und dann aufs Orchester übertragen worden – dies in sehr kunstvoller und fantasiereicher Weise –, wodurch manche motivischen Gestalten wirken, als würde man sie riesenhaft unter einem Mikroskop betrachten. Man kann in der hier besprochenen Aufführung von außergewöhnlich gelungenem Zusammenwirken berichten, und Aufführungen, die Solist und Orchester noch geschlossener im Ausdruck erscheinen lassen, sind jedenfalls äußerst selten zu erwarten.
Zum Schluss Dmitrij Schostakowitschs Erste Symphonie, dieses rundum geniale Frühwerk mit seinen erschreckenden und verblüffenden Perspektivwechseln und unvermittelten Einsichten, dabei wunderbar zusammenhängend in den vier Sätzen wie auch – kontrastmächtig – als Ganzes. Wie Brittens staunenswert eigenständiges Konzert – nur generationsbedingt deutlich früher – ist diese noch während Schostakowitschs Studienzeit entstandene Symphonie eines der fulminantesten Orchesterwerke der Zwischenkriegsepoche, und das in beiden Fällen in einer Tonsprache, die abseits selbstgerecht antimusikalischer Dogmen die unerschöpflichen Weiten der freien Tonalität erkundet. Natürlich sind – vor allem im Zusammenwirken der Trompeten mit den mächtigen Orchestertutti-Entladungen – die Einflüsse Skriabins und seines Poème de l’extase unüberhörbar, aber welch besseres Vorbild, welch aufrüttelnderen eigentümlichen Ausgangspunkt hätte es denn für einen gewandten Individualisten wie Schostakowitsch geben können?
Auch hier ist Hrůšas Dirigat fulminant, souverän und höchst musikalisch, und selbstverständlich spielt das Orchester auf ausnehmend hohem Niveau. Wäre mehr Vorbereitungszeit gewesen, so hätte man sich den Fragen der musikalischen Räumlichkeit – also der dynamischen Kontinuität der Einsätze unterschiedlich kraftvoller Instrumente – eingehender widmen können, die Sologeige hätte noch eine klarere Empfindung dafür gewinnen können, dass sie ihren Part an die Bläser übergibt und damit vielleicht ein wenig keuscher mit dem Vibrato umgeht, der Solocellist wäre wohl bezüglich der dynamischen Entfaltung der vom Komponisten gewünschten niederen Lautstärkegrade bewusster verpflichtet geblieben, und manches hätte – ohne an Urwüchsigkeit, Kraft und Schreckenspotential einzubüßen – weniger ruppig und gewöhnlich, dabei balancierter, bewusster in der Gestaltung sein können. Doch dies scheint mir, in Anbetracht der hohen Grundqualität, schlicht eine Frage der verfügbaren Zeit zu sein.
Das Konzert war ein großer Publikumserfolg, und die Münchner dürfen sich schon freuen auf Hrůšas nächstes Gastspiel – möge er in der Isarmetropole nun auch mit den Klassikern vorkommen und dem wenig feinschmeckerischen Publikum auf jeden Fall weitere in dieser an sich so erfolgssatten, geistig innovationsmatten Stadt unbekannte Entdeckungen präsentieren.