Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0
Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.
Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.
Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.
Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.
Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.
Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.
Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.
[Holger Sambale, September 2021]