Tatjana Uhde und Lisa Wellisch im Interview mit the-new-listener.de zu ihrem Album „Märchenbilder“
Die Cellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben ihr Duo-Debütalbum für das audiophile Label ARS Produktion aufgenommen (siehe Rezension). René Brinkmann sprach mit den beiden Musikerinnen im Juli 2021. Für Tatjana Uhde ist das die Zeit, in der sie sich als Cellistin im Bayreuther Festspielorchester engagiert, während Lisa Wellisch die ersten Solokonzerte nach dem Corona-Lockdown gab – eine geschäftige Zeit also, in der beide Musikerinnen trotzdem Zeit fanden, um the-new-listener.de einige Fragen zum Album „Märchenbilder“ zu beantworten.
Frau Uhde, Frau Wellisch, Ihr Debütalbum trägt den Titel „Märchenbilder“ und befasst sich überwiegend mit Stücken, die eigentlich literarische Vorbilder haben. Kann man das so sagen?
LW: Das kann man so sagen, im Fall der „Märchenbilder“ sogar ganz konkret das Gedicht „Märchenbilder“ von Louis de Rieux. Aber ungewöhnlich ist das für die Romantik nicht – die sogenannte „Poetische Musik“ war im 19. Jahrhundert sehr gefragt, oft gab es Anspielungen und Bezüge auf literarische Vorlagen. Diese Inspirationen aus der Literatur helfen natürlich, die Musik zu verstehen, und darauf nehmen wir auch bei der Moderation unserer Konzerte und in unserem beigelegten CD-Booklet Bezug.
TU: Auch Edvard Grieg komponierte seine Schauspielmusik Peer Gynt (Solveig’s Lied ist darin enthalten) nach dem dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen mit gleichem Titel.
Inmitten der musikalischen Märchen steht die „Arpeggione“-Sonate von Franz Schubert. Schubert schrieb sie für das Arpeggione, eine Art Gitarre zum Streichen mit sechs Saiten und ganz anders gestimmt als ein Cello. Welche besonderen Anforderungen stellt dieses Stück an Cellistinnen und Cellisten, die es ja heute zumeist interpretieren?
TU: Die Sonate verdankt ihre Entstehung Schuberts Bekanntschaft mit dem Instrumentenbauer Johann Georg Stauffer (1778–1853), von dem Schubert eine Gitarre besaß. Im Jahr 1823 baute Stauffer ein neues Instrument, die Arpeggione, welche über sechs Saiten (Stimmung: E-A-d-g-h-e’) und Metallbünde verfügte. Im Jahre 1824 schrieb Schubert für dieses Instrument die Sonate in a-moll, welche hinsichtlich Virtuosität und Tonumfang auf die besonderen Möglichkeiten dieses Instruments abzielte. Da sich das neue Instrument nicht durchsetzen konnte, stellte sich die Frage einer Realisierung auf anderen Streichinstrumenten, um die besonderen Schönheiten der Sonate zum Ausdruck zu bringen; hierfür kamen eigentlich nur solche Instrumente in Frage, welche hinsichtlich des Tonumfangs den besonderen Anforderungen genügen konnten, also Violoncello oder Viola, weshalb das Werk vorzugsweise von diesen Instrumenten gespielt wird. Die „Arpeggione“-Sonate stellt hohe technische Anforderungen an Cellistinnen und Cellisten. Sehr virtuos und doch immer gesanglich kommt die ganze Bandbreite des Cellos von der Tiefe bis in die höchsten Töne des Griffbretts zum Erklingen. Die Herausforderung ist, trotz der instrumentalen Schwierigkeiten stets mit Leichtigkeit und Phrasierung zu spielen. Konrad Hünteler zählt die „Arpeggione-Sonate“ zu den „[…] unsterblichen Perlen im Kammermusikrepertoire“, und da stimme ich ihm voll zu. Beim Publikum sehr beliebt, gehört die „Arpeggione“-Sonate zu den Werken, die einen festen Platz im Repertoire eines jeden Cellisten haben.
Warum hat sich dieses Stück eigentlich überhaupt im Cello-Repertoire durchgesetzt? Von der Stimmlage her wäre ja eine Bratsche vielleicht sogar „näher“ am Klang des Arpeggione als ein Cello, oder?
TU: Sowohl das Cello als auch die Bratsche nähern sich vom Tonumfang der Arpeggione. Aus diesem Grunde wird diese Sonate auch vor allem von diesen beiden Instrumenten gespielt.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Themenwechsel: Die „Märchenbilder“ repräsentieren Ihr erstes gemeinsames Album als Duo. Da darf man vielleicht noch fragen, wann und wie Sie als Duo zusammengefunden haben?
LW: Ich habe zusammen mit Tatjanas Mann [Anm. Prof. Tristan Cornut, ebenfalls Cellist] in Stuttgart studiert, und wir sind uns vor einigen Jahren zufällig in Bayreuth, wo Tatjana im Festspielorchester spielt, wieder begegnet. Tatjana und ich haben dann eine spontane Einladung für ein Konzert vor Ort bekommen. Die Zusammenarbeit hat uns so viel Spaß gemacht und wir verstehen uns so gut, dass wir beschlossen haben, ein festes Duo zu bilden. Ein lustiger Zufall ist auch, dass mein Mann wiederum Schüler von Tatjanas Großvater Jürgen Uhde war.
TU: Wir haben uns vor zwei Jahren in Bayreuth kennengelernt und hatten dort auch beim Festival „Bayreuth Summertime“ unseren ersten großen Auftritt mit dem „Märchenbilder“-Programm. Da eine Reihe von Konzerten damit geplant ist, haben wir uns letztes Jahr dazu entschlossen, dieses Programm aufzunehmen, welches uns sehr am Herzen liegt und beim Publikum sehr gut ankommt.
Sie, Frau Uhde, sind unter anderem zweite Solo-Cellistin des Orchesters der Nationaloper Paris und sind deshalb wahrscheinlich häufig in Frankreich. Und Sie, Frau Wellisch, sind als Solistin auch sehr aktiv und konzertieren viel. Wie gestaltet sich da die Zusammenarbeit als Duo? Wie finden Sie die Zeit, um gemeinsam zu arbeiten und treffen Sie sich dann stets am selben Ort oder immer da, wo es geografisch gerade am besten passt?
TU: Die Zusammenarbeit ist trotz der geografischen Distanz kein Problem. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen rund um unsere Konzerte, meist an dem Ort, der geografisch gerade am besten passt. Es ist eine Frage der Organisation. Natürlich muss das Programm anfangs sorgfältig einstudiert und gemeinsam geprobt werden, da muss man sich die Zeit nehmen, die nötig ist. Das können dann schon auch mal zwei Wochen intensives Proben sein. Auch wenn wir nicht am selben Ort sind, vergeht doch kaum ein Tag, an dem wir nicht über Nachrichten oder Telefon in Kontakt sind.
LW: Wir haben zum Glück jeden Sommer während der Festspielzeit ausführlich Zeit, zu proben und neues Repertoire zu studieren. An Konzerttagen sehen wir uns oft erst am gleichen Tag und spielen dann eher Stellen an, als lange zu proben. So ist es im Konzert frisch und man achtet inspiriert aufeinander.
Auf Ihrem Album haben wir vier sehr unterschiedliche Komponisten: Schumann, Schubert, Grieg und Juon. Wie würden Sie die Stile der vier Komponisten jeweils charakterisieren?
LW: Schubert bietet wahrscheinlich den größten Kontrast zu den anderen Werken auf der CD: Als einziger Komponist gehört er noch der klassischen Epoche an und der Stil der „Arpeggione“ ist trotz der volksliedhaften Klänge noch strenger in der Form und Agogik, genauer notiert in der Artikulation. Der schweizerische Komponist Paul Juon mit russischen Wurzeln war für uns eine neue Entdeckung, in seiner Tonsprache hört man deutlich die russische Romantik heraus und sein „Märchen“-Zyklus op. 8 klingt über weite Strecken sehr melancholisch. Grieg ist natürlich ein Meister darin, den „nordischen Ton“ in die Musik zu übertragen. Und Schumanns Kosmos, der stark von den Werken E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls beeinflusst ist, lässt sich gar nicht in einem Satz beschreiben: Es ist eine so komplexe, tief anrührende poetische Musik, die einen immer wieder Neues entdecken lässt und mich schon immer sehr bewegt hat. Schumann sah sich selbst ja als „Tondichter“ und wie kein anderer verkörpert er für mich die deutsche Romantik.
TU: Robert Schumann ist auch für mich einer der bedeutendsten romantischen Komponisten. Ich finde bei Schumann immer unglaublich faszinierend die Bandbreite an Gefühlen, vom gesanglichen Poetischen, Schwelgerischen bis hin zum Stürmischen, Besessenen. Schuberts Ausdrucksweise empfinde ich als emotional sehr feinfühlig und sanft. Das Liedhafte und Lyrische ist auch in der „Arpeggione-Sonate“ sehr klar zu vernehmen. Bei Griegs Solveig’s Lied ist für mich das Lyrische im Vordergrund. Mit einem Hauch von Schwermütigkeit und Melancholie und einem unbeschwerten, heiteren Mittelteil. Paul Juons spätromantischen Stil würde ich charakterisieren als ernst und anspruchsvoll, er verwendet gerne russische und nordische Themen, auch im Märchen Op.8 finden wir Passagen mit Anklängen an russische Folklore.
Eine Überraschung war für mich Griegs „Solveigs Lied“ aus „Peer Gynt“ in der Duofassung für Klavier und Cello, von der ich nicht wusste, dass sie existierte. Sie scheint durch die reduzierte Besetzung eine ganz eigenartige „Qualität“ der Verlassenheit und der Einsamkeit auszustrahlen, und das finde ich gerade im Vergleich zur Orchesterfassung sehr interessant. Gibt es nur dieses eine Stück aus „Peer Gynt“ in der Duobesetzung für Cello und Klavier oder gibt es da noch weitere Stücke aus dem „Peer Gynt“ für diese Besetzung?
TU: Mir ist nur dieses eine Lied bekannt, aber sicherlich ließen sich auch andere Passagen problemlos arrangieren für Cello und Klavier. Da das Cello der menschlichen Stimme besonders nahe kommt, lassen sich die meisten Lieder sehr gut für Cello arrangieren.
LW: Doch, es gibt noch weitere Stücke aus der Suite für unsere Besetzung, aber am besten eignet sich tatsächlich „Solveigs Lied“, weil es so wirklich auf eine andere (durchaus gleichwertig interessante) Art funktioniert. Bei der „Halle des Bergkönigs“ beispielsweise vermisst man dann doch das große Orchester.
Ist geplant, dass es noch ein weiteres Duo-Album von Ihnen geben wird? Oder werden die „Märchenbilder“ nun erst einmal ausführlich live vorgestellt?
TU: wir werden erst einmal unsere geplanten Konzerte mit dem « Märchenbilder » Programm spielen und freuen uns sehr, nach den extrem schwierigen Coronamonaten das Programm unseres Debütalbums dem Publikum endlich „live“ zu präsentieren.
LW: Uns ist Musikvermittlung sehr wichtig und mit dem Programm erreichen wir ein großes Publikum. Aber natürlich spukt die Idee zu einer neuen CD auch schon in unserem Kopf herum…
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 325; EAN: 4 260052 383254
Tatjana Uhde (Violoncello) und Lisa Wellisch (Klavier) präsentieren bei Ars Produktion Schumacher ein Programm aus kammermusikalischen „Märchenbildern“ von Franz Schubert, Robert Schumann, Edvard Grieg und Paul Juon.
Die Musik sei die romantischste aller Künste, sagte E. T. A. Hoffmann zu jener Zeit, als die romantischen Dichter auszogen, dem einfachen Volk Märchen und Sagen abzulauschen, oder gleich selbst dem Märchen- und Sagenschatz Beiträge aus eigener Feder hinzufügten. Was lag für die Komponisten der nachbeethovenschen Generationen näher, als aus diesem romantischen Geist mannigfaltige Anregungen für ihr Schaffen zu entnehmen? Aus freier Phantasie im Volkston Märchenerzählungen, Balladen und Romanzen zu komponieren, war eine Spezialität Robert Schumanns, der damit wiederum zahlreichen jüngeren Tonsetzern zum Leitbild wurde.
Die Violoncellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben für ihre CD Märchenbilder aus dem Fundus entsprechender Stücke ein Programm zusammengestellt, das durch seine ausgewogene Komposition besticht: Es beginnt und endet mit einem Miniaturenzyklus von Robert Schumann (den titelgebenden Märchenbildern op. 113, ursprünglich für Bratsche geschrieben, und den Fantasiestücken op. 73, die ursprünglich der Klarinette zugedacht waren). Das umfangreichste Werk steht im Mittelpunkt: Franz Schuberts Sonate für Arpeggione und Klavier D 821. Sie mag keinen romantisch-poetischen Untertitel besitzen, harmoniert aber mit ihren eingängigen, nicht selten sehnsuchtsvoll anmutenden Melodien und ihren schweifenden Harmoniefortschreitungen stilistisch ausgezeichnet mit den sie umgebenden Charakterstücken. (Auch mag das Instrument, für das sie eigentlich geschrieben ist, – der gambenartig klingende, im Bau Eigenschaften von Gitarre und Violoncello vereinende Arpeggione – dem heutigen Hörer so entrückt vorkommen wie ein sagenumwobener Gegenstand aus der Märchenwelt…). Zwischen diesen mehrsätzigen Werken sind zwei Einzelstücke eingeschoben, die aus dem deutschen Sprachraum hinausführen: Auf die nordische Sagenwelt wird mit Solvejgs Lied aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 2 (in der Transkription von Orfeo Mandozzi) verwiesen, stammt es doch ursprünglich aus der Musik zu einem Drama, das Henrik Ibsen nach Vorlagen norwegischer Märchen geschrieben hat. Paul Juons Märchen op. 8 stellt die einzige Originalkomposition für Violoncello und Klavier im Rahmen dieser CD dar. Es handelt sich um ein Frühwerk des bedeutenden Russlandschweizers, das noch ganz unter dem Eindruck des russischen Folklorismus steht. Entstanden sein dürfte es der Opuszahl nach Mitte der 1890er Jahre, also ein paar Jahre bevor Nikolai Medtner begann, mit seinen zahlreichen Märchenstücken (Сказки) eine eigene Untergattung der russischen Klavierminiaturistik zu kultivieren. Zusammengehalten wird das Programm nicht nur durch Tonfall und Thematik der Stücke, sondern auch durch ihre Tonarten, denn sämtliche Werke stehen entweder in D (Schumann op. 113, Grieg) oder dem nahe quintverwandten A (Juon, Schubert, Schumann op. 73), wobei das Mollgeschlecht – bei romantischer Literatur wenig verwunderlich – dominiert.
Tatjana Uhde und Lisa Wellisch spielen vorzüglich aufeinander abgestimmt. Uhde besitzt ein sicheres Gefühl für melodische Entwicklungen. Sie hält sich streng an die Phrasierungsvorschriften der Komponisten, verliert sich aber nicht in einem bloßen Aneinanderreihen der einzelnen Phrasen, sondern erfasst stets auch die längeren Verläufe der Melodiebögen, in denen sie den Wechsel der Schwer- und Leichtpunkte sorgfältig herausarbeitet. Exemplarisch hören lässt sich das etwa bei Grieg, oder im letzten Satz der Schubert-Sonate, in welchem Uhde die Achtel nach Vorschrift eng an die punktierten Viertel gebunden spielt, es aber nicht versäumt, aus diesen Motiven eine lange Melodie zu entfalten. Wellisch macht dem Hörer durchweg deutlich, dass das Klavier ebenbürtiger Partner des Cellos und nicht nur Begleitung ist. Sie versteht es, die jeweilige Aufgabe zu erfüllen, die sich in einer bestimmten Situation stellt, hält sich zurück, wenn das Cello die führende Rolle innehat, tritt bestimmt hervor, wenn das Klavier an der Reihe ist, ohne dass sie das Spiel ihrer Partnerin ungebührlich überdeckte. Die Ausgewogenheit, die zwischen den beiden Instrumenten herrscht, wird namentlich anhand der Schumann-Stücke deutlich, in denen sich zahlreiche kontrapunktische Duette einkomponiert finden. Einschränkend wäre nur Eines zu erwähnen: Eigentlich spricht es für Wellisch, dass sie zu Beginn des langsamen Satzes der Schubert-Sonate danach strebt, in den ihr zugeteilten Achtel-Figurationen die darin verborgene breite Melodie hervorzuheben; allerdings gerät ihr das Ergebnis zu wenig legato (hier ausdrücklich verlangt).
Wie halten es die beiden Musikerinnen mit dem romantischen Ton dieser Märchenmusiken? Sie vertrauen offenbar darauf, dass er sich von selbst einstellt, wenn man die Musik durch sorgfältige Ausführung zum Leben erweckt – und sie tun gut daran! Aufgesetzte Romantizismen hört man von ihnen nicht. Uhde geht nicht verschwenderisch mit dem Vibrato um, sondern setzt es maßvoll ein, um bestimmte Stellen hervorzuheben. Auch vermeiden Uhde und Wellisch willkürliche Schwankungen des Zeitmaßes; falsches espressivo durch übertriebenes Verlangsamen und Beschleunigen kommt unter ihren Händen nicht vor. Stattdessen freut man sich an der stringenten Gestaltung der Tempi und am gelegentlichen, von beiden Künstlerinnen sicher ausgeführten Rubato, das den Hörer nie das Grundtempo vergessen lässt.
Wer also eine kleine Reise durch die Märchenwelt der romantischen Kammermusik unternehmen möchte, der kann sich getrost Tatjana Uhde und Lisa Wellisch anvertrauen.
In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.
Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.
Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter: Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.
Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.
Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.
Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.
Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.
Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.
Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.
Forbidden Music in World War II (10 CD)
Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309
Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.
Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.
Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.
Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.
Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.
Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.
Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.
Zum Neustart der Klassikreihe im Bürgerhaus Eching spielen der Violinist Denis Goldfeld und die Pianistin Sofja Gülbadamova am 3. Juli 2021 ein hoffnungsvolles Programm fast ausschließlich in Dur. Sie eröffneten den Abend mit Schuberts Violinsonate D-Dur D 384, worauf Beethovens 8. Violinsonate in G-Dur op. 30/3 folgte. Nach der Pause fügten die Musiker ein modernes Werk, welches nicht auf dem Programm stand: Ein Andante Tragico der Komponistin Lera Auerbach, das für die Künstler ein Sinnbild der durchlittenen Coronapandemie darstellt. Als Hauptwerk des Abends spielten Goldfeld und Gülbadamova die Erste Violinsonate op. 78 von Johannes Brahms, rundeten mit dessen Scherzo aus der F.A.E.-Sonate ab.
Welch ein seltsamer Augenblick für uns Zuhörer, auf einmal wieder im Konzertsaal zu sitzen – und wie viel seltsamer noch für die auftretenden Musiker, die nun teils über ein Jahr nicht mehr vor Publikum standen. Das Erlebnis war somit in jeder Hinsicht ein Besonderes. Und dies wurde bei Künstlern wie Zuhörern spürbar: Als die Musik anhob, so waren wir wie in einer Parallelwelt, gebannt von den Klängen. Es fühlte sich zugleich vertraut an und dann fast neuartig. Denis Goldfeld und Sofja Gülbadamova rangen im positivsten Sinne um die aufsteigenden Emotionen, die gerade bei Komponisten wie Schubert und Brahms doppelbödiger kaum sein könnten. Doch gewannen sie den Kampf insofern, als dass sie sich nicht überrumpeln ließen von der geballten Macht der ertönenden Großformen, sondern es schafften, diese zu kanalisieren und dem Publikum zu vermitteln, ja zu verkünden. Denis Goldfeld schwelgte sichtbar auf den Tönen, kontrollierte sie empfindsam im Entstehen und stellte jede Zelle seines Körpers in den Dienst der Musik, was seinem Spiel größtmögliche Sinnlichkeit und Purität verlieh: Echter, ungekünstelter Ausdruck in jeder Schwingung. Sofja Gülmadamova verkörperte eine andere Herangehensweise: Sie näherte sich vom Bild auf die Gesamtform den einzelnen Passagen, um nie den Zusammenhang zu verlieren. Aller äußerlichen Virtuosität schwor sie ab, erwägte gar jede ihre Bewegungen, die nur der Tongebung gelten sollten. In der Symbiose der beiden Künstler verschwammen die unterschiedlichen Grundzüge zu einer durch und durch funktionierenden Einheit. Die Musiker gaben ihr Innerstes preis, was das Erlebnis dieses Konzerts umso intensiver und intimer gestaltete, den Zuhörer vollends in das Geschehen integrierte. Der gemeinsame Atem, der sich in 20-jähriger Kammermusikpartnerschaft etablierte, der nach dieser Pause nun wieder außergewöhnlich erschien, sprang auch auf das Publikum über.
Wohl dauerte es aus Sicht des Publikums teils noch, sich auf diese Situation neu einzustellen, aber spätestens im Mittelsatz der Beethoven-Sonate war auch der Letzte vom Alltag befreit in den Wogen der Musik gefangen. Diejenigen, die sich schon früher aus der normalen Welt zu lösen vermochten, erlebten vom ersten Ton an Großes: Die jugendliche D-Dur-Sonate Schuberts, mit 19 Jahren geschrieben, enthielt schon den Kern des späteren Melodik-Großmeisters, behielt dennoch unter den Fingern Gülbadamovas und Goldfelds die jugendliche Frische und Heiterkeit – wenngleich die scheinbare Fröhlichkeit bereits hier teils gebrochen erscheint. Der Kopfsatz von Beethovens G-Dur-Sonate brodelte und begehrte auf, konnte aber in seiner übermannenden Energie von den Musikern gebändigt werden, was uns davor bewahrte, von den Tönen überrannt zu werden. Im erwähnten Mittelsatz blieb die Zeit stehen, so dass man sprechen möchte: „Verweile doch, du bist so schön.“
Die Intimität noch gesteigert setzten Goldfeld und Gülbadamova in der zweiten Hälfte mit einem zeitgenössischen Werk von Lera Auerbach an, traten in Zwiegespräch mit den Tönen, die teils grelle Dissonanzen aufflammen ließen, dann aber auch wieder beschwichtigende Dur-Harmonien verwendeten, um den Kontrast aus Niedergeschlagenheit und Hoffnung zu extremisieren. Alles, was die Musiker über die Corona-Pandemie gerne sagen wollten: Es war in diesen Tönen. Die „Regenliedsonate“ op. 78 von Brahms folgte, die zwar in Dur geschrieben steht, wohinter sich aber ein tragisches Schicksal verbirgt, nämlich der Tod von Brahms‘ Patenkind Felix Schumann. In ihrer Ansprache nannte Sofja Gülbadamova sie ein „Lächeln durch die Tränen hindurch.“ Diese Musik zu beschreiben, entzieht sich nun doch letztendlich dem verbal Ausdrückbaren; es hätte ein Foto gebraucht vom Ausdruck auf den Gesichtern der Musiker nach der letzten Note – zutiefst betroffen, aufgerüttelt, erschüttert und doch friedlich –, um den entschwundenen Moment zu rekapitulieren.
Am 27. Juni 2021 fand in Vaduz die Preisverleihung der International Classical Music Awards statt. Im Anschluss gaben die Preisträger mit dem Sinfonieorchester Liechtenstein ein äußerst gelungenes Galakonzert.
Die Preisverleihung
Nach einer langen Zeit des Abwartens, Hoffens und Aufschiebens war es so weit: Am 27. Juni 2021 fand in Vaduz, der Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein, im Vaduzer-Saal die diesjährige Preisverleihung der International Classical Music Awards (ICMA) samt anschließendem Galakonzert der Preisträger statt. Dass es zu diesem glücklichen Ende kam, war keineswegs selbstverständlich gewesen. Noch vor wenigen Wochen lag es nur allzu sehr im Bereich des Wahrscheinlichen, dass die unabhängige Musikkritikervereinigung, die seit 2011 die einzigen internationalen Schallplatten- und Musikpreise vergibt, auf die Durchführung ihrer Veranstaltungen diesmal ebenso hätte verzichten müssen wie im Jahr 2020, als die Krise im Gefolge der Covid-19-Pandemie die für Sevilla geplante Preisverleihung unmöglich gemacht hatte. Die rasch voranschreitende Entspannung der Lage ermöglichte es aber, den zunächst auf April gelegten, dann sicherheitshalber um zwei Monate verschobenen Termin letztlich wahrnehmen zu können. Sichtlich erleichtert darüber, betonte der die Preisverleihung moderierende Gründer des luxemburgischen Musikmagazins Pizzicato und Vorsitzende der aus Kritikern von 21 internationalen Medien zusammengesetzten ICMA-Jury, Remy Franck, dass es aufgrund der Professionalität eines „kleinen Teams, das große Arbeit geleistet hat“, in Vaduz gelungen sei, „die aufwendigste Musikproduktion 2021 weltweit“ ins Werk zu setzen.
Kulturminister Manuel Frick hob in einer kurzen Ansprache hervor, dass es sich hierbei nicht um irgendeinen Preis handele, sondern um „Den Preis innerhalb der klassischen Musik“, und erinnerte daran, dass sich in den letzten Jahren sowohl die in Nendeln ansässige Internationale Musikakademie in Liechtenstein, als auch das Sinfonieorchester Liechtenstein einen guten Namen in der Welt gemacht haben, was auch bewirkt habe, dass die IMCA auf das Fürstentum aufmerksam geworden seien.
Für das Liechtensteinische Musikleben fügt sich die Gala in eine Reihe von Erfolgen ein, die der Pandemie zum Trotz innerhalb der letzten eineinhalb Jahre errungen werden konnten. Nicht nur war es möglich, die Arbeit der Musikakademie weiterzuführen, auch ein regulärer Konzertbetrieb konnte weitgehend aufrecht erhalten werden. Zwar mussten sich Musiker und Publikum strengen Auflagen fügen, doch war es dadurch möglich, beinahe alle geplanten Konzerte des Sinfonieorchesters Liechtenstein auch stattfinden zu lassen. Nur zwei Konzerte fielen aus.
Den Umständen Rechnung tragend, wurde auch die Prozedur der ICMA-Preisverleihung abgewandelt: Die Preise wurden den Preisträgern nicht von einem Mitglied der Jury überreicht, sondern standen sämtlich von Anfang an auf einem langen Tisch vor der Bühne, von wo sie von den Ausgezeichneten nach und nach abgeholt wurden. Die Verschiebung des Termins brachte es allerdings mit sich, dass ein verhältnismäßig hoher Anteil der Preisträger nicht in Vaduz erscheinen konnte. So vermisste man Edita Gruberova, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, genauso wie Pablo Heras-Casado, der den Preis für den Künstler des Jahres, und Kian Soltani, der einen der beiden vom gastgebenden Orchester vergebenen Orchestra Awards erhielt.
Nicht persönlich in Empfang genommen werden konnten auch die Preise für folgende Audio- und Video-Produktionen:
-Alte Musik: Simone de Bonefont: Missa pro Mortuis (Huelgas Ensemble, Paul van Nevel), Cyprés
-Barock Instrumental: The Berlin Album (Ensemble Diderot, Johannes Pramsohler), Audax
-Barock Vokal: La Francesina (Sophie Junker, Le Concert de l’Hostel Dieu, Franck-Emmanuel Comte), Aparté
-Zeitgenössische Musik: Thomas Adès: In Seven Days (Kirill Gerstein, Tanglewood Music Centre Orchestra, Thomas Adès), Myrios
-Programmzusammenstellung: Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, Coriolan, Prometheus-Ouvertüre (Kristian Bezuidenhout, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado), Harmonia Mundi
Besonders traurig war es zu erfahren, dass Dmitrij Kitajenko, der im Vaduzer Preisträgerkonzert zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder ein Orchester dirigiert hätte, seine Teilnahme an der Veranstaltung absagen musste, da ihm nach seiner Impfung gegen Covid-19 Nebenwirkungen schwer zugesetzt hatten. Es sei ihm deshalb an dieser Stelle von Herzen eine baldige Genesung gewünscht, wie auch die Möglichkeit einer raschen Wiederaufnahme seiner Dirigententätigkeit!
Die Mehrheit der vergebenen Preise konnte jedoch persönlich in Empfang genommen werden. Außerdem wurden einzelne noch von der Verleihung herrührende Preise vergeben, die 2020 in Sevilla nicht hatte stattfinden können. Zu letzteren gehörten die Auszeichnungen für den Komponisten Ivan Boumans (Composer Award 2020, ein entsprechender Preis wurde 2021 nicht vergeben) und den Dirigenten John Axelrod (Special Achievement Award 2020).
Die Violinistin Chouchane Siranossian nahm die Auszeichnung für ihr gemeinsam mit dem Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon für Alpha eingespieltes Album mit Violinkonzerten Giuseppe Tartinis entgegen (Barock Instrumental), wobei sie ihrer Hoffnung Ausdruck gab, dem Schaffen des lange unterschätzen Komponisten mit ihrer CD zu größerem Ansehen zu verhelfen.
In der Rubrik Vokalmusik wurde die bei Opera Rara erschienene CD Anima Rara ausgezeichnet, ein Album mit Arien aus französischen und italienischen Opern des späten 19. Jahrhunderts. Die für ihre „große dramatische Künstlerschaft“ gelobte Sopranistin Ermonela Jaho, die es zusammen mit dem Orquestra de la Communitat Valenciana unter Leitung Andrea Battistoni aufgenommen hat, nahm den Preis mit den Worten an sich: „In diesen schwierigen Zeiten merken wir alle, wie sehr wir Kunst brauchen.“
Als beste Chormusik-CD wurde Ivan Repušićs Aufnahme des Kroatischen glagolitischen Requiems von Igor Kuljerić (1938–2006) mit dem Münchner Rundfunkorchester und dem Chor des Bayerischen Rundfunks prämiert, die bei der Hausproduktion des Bayerischen Rundfunks, BR Klassik erschienen ist. Der Dirigent nahm den Preis gemeinsam mit einem Sprecher des Chores in Empfang. In ihren Dankesworten merkten sie an, dass der der CD zugrundeliegende Konzertmitschnitt unmittelbar vor der pandemiebedingten Unterbrechung der Chor- und Orchesterarbeit entstanden ist. Die Veranstaltung der ICMA sei ihnen nun „Ermutigung daran zu glauben, wieder großformatig Musik machen zu können“. Die Musiker zeigten sich stolz darauf, dass sie Kuljerićs Werk 2020 noch realisieren und damit zum deutsch-kroatischen Kulturaustausch beitragen konnten.
Zur besten Kammermusik-Aufnahme wurde das bei Audite herausgekommene Album Fantasque mit Violinsonaten von Fauré, Debussy, Ravel und Poulenc, eingespielt von Franziska Pietsch (Violine) und Jou de Solaun (Klavier), gekürt. Franziska Pietsch, die in Begleitung des Chefs von Audite, Ludger Böckenhoff, erschien, berichtete in ihrer Dankesansprache u. a. von ihren Erfahrungen aus ihrer Jugendzeit in der DDR und erwähnte die Wichtigkeit, welche das Hören von Musik für Menschen gerade in schwierigen Zeiten haben kann.
Timo Hagemeister, der Manager von Berliner Philharmoniker Recordings, nahm für sein Label mehrere Preise entgegen: die Auszeichnung als Label des Jahres 2021, den im letzten Jahr verliehenen Preis für die beste Historische Aufnahme (für Wilhelm Furtwänglers Rundfunkaufnahmen 1939–1945) und den diesjährigen in der Rubrik Symphonische Musik (für Kirill Petrenkos 5-CD-Packung mit Symphonien von Beethoven, Pjotr Tschaikowskij und Franz Schmidt sowie Rudi Stephans Musik für Orchester). Gerühmt wurden von der Jury namentlich Petrenkos „phänomenale Aufführung“ der Siebten Symphonie Beethovens und die „raffinierte Transparenz“ des Orchesterspiels.
Günter Hänssler dankte für die Auszeichnung der bei seinem Label Profil erschienenen „wirklich herausragenden Zusammenstellung“ mehrerer Einspielungen der 24 Präludien und Fugen von Schostakowitsch (mit Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, Tatjana Nikolajewa und dem Komponisten selbst) als beste Historische Aufnahme.
Matthias Lutzweiler, der Geschäftsführer von Naxos Deutschland, und sein Mitarbeiter für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Salvatore Pichireddu, nahmen die Preise entgegen, die zwei bei Naxos erschienene Video-Veröffentlichungen erhalten hatten: eine Produktion von Ambroise Thomas‘ Hamlet unter der Regie von Cyril Teste und der musikalischen Leitung von Louis Langrée (als beste Video-Aufführung), und Martin Mirabels Dokumentarfilm Lucas Debargue – To music (als beste Video-Dokumentation). In ihrer Ansprache betonten sie, dass die Menschen sich in der Pandemiezeit verstärkt über Tonträger mit Musik beschäftigten, was die Wichtigkeit dieses Mediums deutlich hervortreten ließ. Allgemein habe die Krise gezeigt, dass „Musiker, Publikum und Politiker“ (mit einem Blick auf die anwesenden Vertreter des Liechtensteinischen Staates) alle im selben Boot sitzen: „Wir haben alle erfahren, welche Bedeutung Musik hat.“
Für die beste Video-Aufführung wurde ein weiterer Preis an eine DVD des Lucerne Festival Orchestra vergeben, das unter Leitung von Riccardo Chailly mit Denis Mazujew am Klavier für Accentus Music ein reines Rachmaninoff-Programm aufgenommen hat. Zusammen mit dem Luzerner Festspielintendanten Michael Haefliger nahm Chailly die Auszeichnung an, die er zugleich als Ehrung seiner langen, durch viele DVDs dokumentierten Zusammenarbeit mit Accentus empfand.
Als Junger Künstler des Jahres wurde der 24-jährige Pianist Can Çakmur prämiert, der bereits im letzten Jahr aufgrund seines bei BIS erschienenen Debüt-Albums den Preis in der Rubrik Solo-Instrument gewonnen hatte, und deswegen nun zwei Preise in Empfang nehmen konnte.
Der Discovery Award, ein Preis der als Ergänzung zum Young Artist of the Year eingeführt wurde, um Nachwuchskünstler unter 18 Jahren zu ehren, ging an die 2006 geborene Geigerin Maya Wichert wegen ihrer „feinen Technik und ihres nuancenreichen, zutiefst musikalischen Spiels“.
Beide Träger des diesjährigen Orchestra Awards, der Geiger Marc Bouchkov und der Cellist Kian Soltani, sind beide mit der Internationalen Musikakademie in Liechtenstein eng verbunden und haben wiederholt als Solisten mit dem Sinfonieorchester Liechtenstein konzertiert. Wie oben bereits gesagt, war Kian Soltani terminlich verhindert, sodass nur Marc Bouchkov seinen Preis persönlich an sich nehmen und später im Konzert mitwirken konnte.
Einen Special Achievement Award erhielten Ingolf Turban und Dražen Domjanic. Turban wurde geehrt „als einer der meistaufgenommenen Violinisten unserer Zeit“, dessen Diskographie ein sehr breites Repertoire umfasst, das auch zahlreiche selten gespielte Werke einschließt. „Als virtuoser Spieler und geschätzter Pädagoge ist er stets bestrebt, seine Kenntnisse mit der jüngeren Generation zu teilen.“ In seiner Dankesrede hielt Turban mit gutem Humor kurz Rückschau auf eine 36-jährige Laufbahn, die sich wechselweise im Sitzen (als Konzertmeister unter Celibidache), dann im Stehen (als Solist) und wieder im Sitzen (als zuhörender Lehrer) abgespielt hat. Diese weiterzuführen sei ihm der Preis Motivation.
Dražen Domjanic hat sich in zahlreichen Funktionen, besonders aber als Gründer der Internationalen Musikakademie und des Kammerorchesters Esperanza sowie als Geschäftsführer des Sinfonieorchesters, um den Aufbau des Liechtensteinischen Musiklebens während des letzten Jahrzehnts verdient gemacht. Mit der Verleihung des Preises ehrte man seine „äußerst dynamische und inspirierte Leitung, unter welcher sich die Internationale Musikakademie in Liechtenstein zu einer Brutstätte international erfolgreicher junger Musiker entwickelt hat, welche konstant das internationale Musikleben bereichern“. Domjanic, dem attestiert wurde, das Fürstentum „auf die Weltkarte der Musik gebracht zu haben“, richtete in seiner Ansprache den Blick auf zukünftige Vorhaben: So werde 2024 für die Musikakademie ein Campus zur Verfügung stehen. Außerdem brachte er seinen Wunsch nach einer verstärkten finanziellen Unterstützung des weitgehend von Eigeneinnahmen und Sponsoren getragenen Sinfonieorchesters durch den Liechtensteinischen Staat zum Ausdruck.
Die musikalischen Darbietungen
In seinem Grußwort zur Preisverleihung hatte der Bürgermeister von Vaduz, Manfred Bischof, Igor Strawinsky zitiert: „Es reicht nicht, dass man Musik nur hören kann, man muss Musik auch sehen können.“ Ein Konzert sei ein Ereignis, das alle Sinne anspricht. „Sie alle“, sprach er zu den anwesenden Musikern, „machen Musik für unsere Sinne.“ Gewiss war dies allen Anwesenden, den zuhörenden wie den musizierenden, aus dem Herzen gesprochen! Entsprechend gespannt war man allgemein auf das der Preisverleihung folgende Galakonzert. Die Vorfreude wurde genährt durch zwei kammermusikalische Duo-Darbietungen, die im Verlauf der Verleihung zu hören waren. Zur Aufführung kamen Bohuslav Martinůs Variationen über ein Thema von Rossini für Violoncello und Klavier sowie Camille Saint-Saëns‘ Caprice in Walzerform op. 52/6 in Eugène Ysaÿes Bearbeitung für Violine und Klavier. In beiden Werken saß Tatiana Chernichka am Klavier, die, was bei einer Schülerin Eliso Virsaladzes nicht verwundert, energisch und robust in die Tasten griff. Cellistin in Martinůs Variationen war die 16-jährige Friederike Herold. In den raschen Außenteilen des Werkes stellte sie mit Kraft und Grazie unter Beweis, dass sie keinerlei technische Hürden zu fürchten braucht, und bezauberte im langsameren Mittelabschnitt mit ausdrucksstarkem Cantabile. Ihr Vortrag ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem bedeutenden Talent zu tun hatte, von dem man für die Zukunft viel erwarten kann. Dasselbe lässt sich auch von dem 20-jährigen Geiger Simon Zhu sagen, der die Saint-Saëns-Caprice mit einer Souveränität vortrug, die verriet, dass er sich das Stück ganz zu eigen gemacht hatte. Physische Kraft und sensible Artikulation verbanden sich in seinem Vortrag mit Sicherheit in allen Graden einer reich abgestuften Dynamik. Angesichts der technischen Schwierigkeiten des Virtuosenstücks büßte sein Spiel nirgends an Eleganz ein; alles klang leicht, fein und charmant. Simon Zhu und Friederike Herold sind Stipendiaten der Internationalen Musikakademie in Liechtenstein.
Das Preisträgerkonzert des Sinfonieorchesters Liechtenstein bot in seinen zehn Nummern nicht nur ein vielfältiges Programm, sondern machte darin auch mit einer nicht minder großen Vielfalt von Musikercharakteren bekannt. Passend zum Anlass wurde es mit der „bestgeeigneten, feierlichsten, freudigsten Musik“ eröffnet, mit der man diesen Preis zelebrieren könne. So hatte Riccardo Chailly während der Verleihung das Vorspiel zu Richard Wagners DieMeistersinger von Nürnberg genannt, welches er nun dirigierte. Strahlend und schwelgerisch entfaltete sich der Klang des Orchesters unter Chaillys Händen. Bei aller Opulenz ließ es der Dirigent aber nicht an der Liebe zum Detail fehlen, wie die zahlreichen schön herausgearbeiteten Dialoge zwischen den Orchestergruppen, namentlich den hohen und tiefen Streichern bewiesen. Die Schlusssteigerung gelang grandios.
Einen deutlichen Kontrast bot die anschließende Aufführung des Finalsatzes aus Pjotr Tschaikowskijs Violinkonzert. Das Orchester spielte nun unter Yaron Traub, dem, mit Ausnahme zweier Programmnummern, die musikalische Leitung des ganzen restlichen Abends oblag. Konnte man Chaillys Dirigat als ein Musizieren aus der Üppigkeit des Tuttis heraus bezeichnen – wozu das Meistersinger-Vorspiel freilich einladen kann –, so baute Traub den Orchesterklang auf eine kammermusikalische Weise auf. Bei Chailly kam es an wenigen Stellen dazu, dass wichtige Themeneinsätze stark zugedeckt wurden, wobei der Maestro jedoch immer sofort die Tonstärken auszubalancieren vermochte. Bei Traub hingegen erschien diese Balance als die Grundlage seines Musizierens. Die einzelnen Gruppen reagierten unter seiner mit sparsamen, prägnanten Gesten arbeitenden Leitung aufeinander wie die Mitglieder eines Streichquartetts. Dies schloss einen kräftigen Tutti-Klang nicht aus, aber man erlebte diesen immer als ein Zusammenfinden selbstständiger Stimmen. In der 15-jährigen Maya Wichert stand ihm bei Tschaikowskij eine kongeniale Partnerin zur Seite. Diese Geigerin, die über ein meisterliches, organisches Rubato verfügt, weiß im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, versteht sich aber nicht weniger gut darauf, dem Orchester sein Recht zu lassen, wenn dieses etwas zu sagen hat. Ihre Fähigkeit, den anderen Musikern zuhören zu können, berührte außerordentlich sympathisch. Sie muss wohl auch eine hervorragende Kammermusikerin sein. Gewiss wird man in Zukunft von ihr hören.
Es folgte ein Programmpunkt, der aus dem nicht zustande gekommenen Sevillaner Konzert von 2020 hinübergerettet wurde: Der damals als Komponist des Jahres ausgezeichnete Ivan Boumans – 1983 in Madrid geboren, seit 1998 in Luxemburg ansässig – hatte durch die Uraufführung seines Orchesterwerks Organic Beats unter Leitung von John Axelrod geehrt werden sollen. Diese wurde nun in Vaduz nachgeholt, sodass mit Axelrod, der den Veranstaltungen der ICMA eng verbunden ist und bislang mehr Galakonzerte dirigiert hat als jeder andere, der dritte Dirigent dieses Abends zu hören war. Organic Beats ist ein opulent instrumentiertes Werk, Boumans verschmäht es keineswegs, das Orchester gelegentlich glitzern, glänzen und bunt schimmern zu lassen. Er verliert sich aber nicht in klanglichen Spielen und Aneinanderreihungen effektvoller Einzelheiten, sondern komponiert so, dass das Stück seinem Namen alle Ehre macht. Die dissonante, aber durchweg als tonal zentriert wahrnehmbare Musik entfaltet und entwickelt sich, spannt große Bögen, atmet ein und aus, pulsiert. Mehrfach wechselt das Tempo, rasche und langsame Abschnitte, letztere mit veritablen Streicherkantilenen, alternieren miteinander. Es entsteht aber kein Bruch, alles geht ungezwungen auseinander hervor, die unterschiedlichen Tempi zeigen ein lebendiges Wesen in verschiedenen Daseinszuständen. Das Geschehen mündet in einen hochpoetischen Schluss: Unter leisen Glocken- und Trommelschlägen entschwindet die Musik mit ins Geräuschhafte hinüberspielenden hohen Pfeiftönen. Das ist ein Werk, dem man gern im Konzertsaal erneut begegnen möchte, und dem man entsprechende Verbreitung wünscht! Der Komponist hatte während der Aufführung ungewöhnlicherweise direkt neben dem Dirigenten auf der Bühne gesessen. Gegen Ende des Stücks zeigte sich warum: Während einer Fermate übergab Axelrod, mit ihm die Plätze tauschend, den Stab an Boumans, der nun seine Komposition weiter dirigierte. Ganz am Schluss kam auch Axelrod wieder zum Pult hinauf, Komponist und Dirigent hielten einander umfasst und dirigierten die letzten Töne des Werkes gemeinsam. Wahrlich, eine anrührende Demonstration inniger Verbundenheit von Schöpfer und Interpret!
Das nächste Stück kam ohne Dirigenten aus. Von einem reduzierten Orchester begleitet, spielte Chouchane Siranossian den zweiten Satz (Largo andante) aus Giuseppe Tartinis Violinkonzert D 96. Ihr Vortrag machte den Eindruck, die Künstlerin, die ein Kind erwartet, spiele für dieses. Alles klang nach innen gerichtet. Die Geigerin nahm Tartinis Verzierungen, die sich auch in diesem ruhigen, stillen Satz reichlich finden, nicht als Hauptsache, sondern spielte sie flüchtig, wie beiläufig – was natürlich ihre technische Virtuosität und ihre Vertrautheit mit dem Werk erst recht zum Vorschein brachte. Die Musik wirkte entrückt, unwirklich, leicht dahinschwebend, wie ein Traum. Es folgte zum Abschluss der ersten Konzerthälfte erneut ein starker Kontrast: Marc Bouchkovs Darbietung von Tschaikowskijs Valse Scherzo op. 34 holte die Zuhörer auf den Boden zurück, nämlich auf den Tanzboden, wo es in den folgenden Minuten quicklebendig zuging, immer auf der Grenze zwischen rustikalem und salonhaftem Charme bleibend, keiner Seite ganz zuneigend, beides geschmackvoll ineinander übergehen lassend.
Der zweite Teil des Konzerts begann mit dem Kopfsatz von Robert Schumanns Klavierkonzert mit Can Çakmur als Solisten. Diese Aufführung wirkte nicht ganz so sehr aus einem Guss wie die übrigen des Abends. Çakmur, dessen pianistische Meisterschaft außer Frage steht, gestattete sich an mehreren Stellen, an denen er allein zu spielen hatte, Rubati, die den Fluss der Musik ein wenig hemmten und wirkten, als drohte dem Pianisten, im jeweiligen Moment des roten Fadens verlustig zu gehen. Dirigent Yaron Traub zeigte sich jedoch auch hier als idealer Partner, der es schaffte, seinen Solisten immer wieder aufs Neue mitzunehmen und die Musik unaufdringlich wieder in Bewegung zu bringen. In der Kadenz überzeugte Çakmur restlos. Franziska Pietschs Vortrag von Maurice Ravels Rhapsodie Tzigane klang unerbittlich streng. Sich des Verlaufs der Komposition in jedem Moment bewusst, entwarf sie zielsicher ein herbes und unsentimentales Stimmungsbild, das an keiner Stelle Raum für romantische Zigeuner-Klischees bot.
Während der Preisverleihung hatte Remy Franck Ermonela Jaho dem Publikum als die seines Erachtens größte Tragödin seit Maria Callas vorgestellt. Entsprechend gespannt war man auf ihren Auftritt mit der Arie „Addio, del passato“ aus Giuseppe Verdis La Traviata. In der Tat schlug die Sängerin das Publikum vom melodramatischen Beginn an in ihren Bann und hielt es erst recht während der eigentlichen Arie gefesselt. Vollkommene Identifikation mit der leidenden Violetta verband sich mit außerordentlicher künstlerischer Gestaltungskraft. Bei allem Hineinsteigern in ihre Rolle hielt Ermonela Jaho klug Maß mit ihren Kräften, sodass es ihr immer wieder möglich war, ausdrucksstarke Momente mit noch intensiveren zu übertreffen. Besonders gut gelang ihr das Ende der Arie: Den langen Abschlusston hielt sie im Mezzoforte aus und ließ ihn dann jäh abreißen. Yaron Traub entlockte dem begleitenden Orchester einen betont kargen Klang, was die bedrückende Stimmung der Musik noch unterstrich. Nach dem Verklingen des letzten Tones herrschte einen Augenblick lang betroffene Stille im Saal, dann erhob sich das Publikum zu stehendem Applaus – durchaus zurecht!
Die hier erreichte qualitative Höhe wurde in der nächsten Programmnummer gehalten. Ingolf Turban war der Solist in Saint-Saëns‘ Introduction et Rondo capriccioso op. 28, und vom ersten Takt an war klar, dass es sich bei dieser Aufführung um ein besonderes Fest für die Ohren handelte. Turbans Vortrag zeigte jene bestechende, unaufdringliche Natürlichkeit eines Musikers, der sich mit einem Werk aufs Innigste vertraut gemacht hat. Er weiß offenbar um die Rolle jeder einzelnen Phrase im Gesamtverlauf, jeder Moment des Stückes ging zwanglos aus dem vorigen hervor und zog den folgenden wie selbstverständlich nach sich. Alles war wunderbar aufeinander abgestimmt und von bestechendem organischem Zusammenhalt. Natürlich hörte man auch, dass dieses Rondo ein Virtuosenstück ist, aber Turban bewältigte die Schwierigkeiten mit so leichter Hand, dass er sich ganz aufs Herausarbeiten der musikalischen Feinheiten konzentrieren konnte. Alles Technische war Nebensache und stand im Dienste des Ausdrucks. Turbans Rolle in dieser Aufführung war die eines Primus inter Pares, der dem Orchester zuhört und dessen bedeutenden Anteil an der Gesamtwirkung respektiert, der mit ihm musiziert und nicht neben ihm. Damit kam er ganz Traubs Auffassung entgegen. So herrschte hier eine seltene Harmonie von Dirigent und Solist, sie wirkten in diesem Stück wie ein Herz und eine Seele. Das klingende Ergebnis war musikalische Hochkultur! Auch dafür gab es stehenden Applaus.
Zum Abschluss erklang, wie zu Beginn, ein reines Orchesterstück: die Jubel-Ouvertüre op. 59 von Carl Maria von Weber. 1818 zu Ehren des sächsischen Königs entstanden, zitiert das Werk am Ende die Melodie von „God save the Queen“, die damals mit dem Text „Gott segne Sachsenland“ als sächsische Königshymne diente. Kein Liechtensteiner wird jedoch bei ihrem Erklingen zuerst an diese Worte denken, denn mit dem Text „Oben am jungen Rhein“ ist die Melodie Nationalhymne Liechtensteins. Webers Werk war also durchaus am rechten Platz. Yaron Traub und das Sinfonieorchester Liechtenstein leisteten zum Ausklang des Abends auch in diesem Stück Vortreffliches.
Die durchgehend hohe Qualität dieser Aufführungen, sowohl der kammermusikalischen, als auch der orchestralen, stellte dem Musikleben des Fürstentums Liechtenstein ein denkbar gutes Zeugnis aus. Es wurde deutlich, dass an der Internationalen Musikakademie höchst fähige Kammermusiker und Solisten herangebildet werden, und dass das Sinfonieorchester zu außerordentlichen Leistungen fähig ist. Die Veranstalter der ICMA haben jedenfalls gut daran getan, den Fokus der Musikwelt auf das kleine Land am jungen Rhein zu lenken. Möge die Liechtensteiner Kulturarbeit, die solch günstige Ergebnisse gezeitigt hat, auch in Zukunft reiche Früchte tragen!