Archiv für den Monat: Februar 2021

[Rezensionen im Vergleich 3] Natürlich kontrapunktisch

Aldilà Records, ARCD 014; EAN: 9 003643 980143

Das Trio Montserrat, bestehend aus Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello), hat für Aldilà Records eine Anthologie kontrapunktischer Meisterwerke für Streichtrio eingespielt. Es erklingen drei Fugen aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Clavier, arrangiert und mit Einleitungen versehen von Wolfgang Amadé Mozart, Paul Büttners Triosonate in sieben kanonischen Sätzen, die Kammersonate von Heinz Schubert und das Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling.

Wer die Veröffentlichungen von Aldilà Records aufmerksam verfolgt hat, wird gemerkt haben, daß das Werk Johann Sebastian Bachs ebenso zu den Schwerpunkten der verdienten Münchner Musikproduktion gehört wie die Erkundung der Spuren, die die Beschäftigung mit Bach im Schaffen späterer Komponisten hinterlassen hat. Letztere hat erfreulicherweise zu einer Anzahl Einspielungen (z. T. Ersteinspielungen) von Werken Heinrich Kaminskis (1886–1946) und seiner beiden wichtigsten Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) und Heinz Schubert (1908–1945) geführt, und auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu geleistet, der musikalischen Öffentlichkeit den Wert dieser drei hochbedeutenden Komponisten und ihrer expressiv-kontrapunktischen Musik ins Gedächtnis zurückzurufen. So erschien 2018 Hugo Schulers Einspielung der Goldberg-Variationen gekoppelt mit Klavierwerken Kaminskis und Schwarz-Schillings. Christoph Schlürens 2019 mit den Salzburg Chamber Soloists entstandene Aufnahme der Kunst der Fuge enthielt auch Schwarz-Schillings dreistimmige Studie über B-A-C-H. 2020 wurde das Solo-Album Gateway Into the Beyond des Geigers Lucas Brunnert veröffentlicht, auf welchem Bachs a-Moll-Sonate BWV 1003 von Werken des 20. Jahrhunderts umrahmt wird, darunter Heinz Schuberts Phantasie für Geige allein. Die nun vom katalanischen Trio Montserrat vorgelegte Streichtrio-Anthologie German Counterpoint schließt nahtlos an diese Reihe an: Wieder bildet Bach den Ausgangspunkt der Programmgestaltung, und wieder ist, mit Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling, der Kaminski-Kreis vertreten (von Kaminski selbst existiert kein Streichtrio); hinzu kommt mit Paul Büttner ein Meister aus einer anderen deutschen Kontrapunktiker-Tradition, der Schule Felix Draesekes.

Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) beginnen die Vortragsfolge mit drei der Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier (I: es-Moll, II: Fis-Dur und fis-Moll), die von Wolfgang Amadé Mozart für Streichtrio gesetzt und mit langsamen Einleitungen versehen wurden. Mozart, der die Fugen aus einer Auswahl-Abschrift kannte, die die originalen Präludien nicht enthielt, ging seine Aufgabe gewissenhaft an, bemüht den Meisterstücken Bachs jeweils ein ihnen würdiges Vorspiel voranzustellen. Das Resultat ist höchst reizvoll, denn Mozart ist selbst eine so in sich gefestigte Künstlerpersönlichkeit, dazu auch zu sehr von anderen Ausgangsbedingungen geprägt, als dass ihm eine völlige stilistische Angleichung an Bach gelingen würde. So stehen hier zwei Meister verschiedener Epochen einander Auge in Auge gegenüber, ihre Zuhörer zu aufmerksamem, stilvergleichendem Hören einladend.

Dass der nächste Programmpunkt Paul Büttner gewidmet ist, dessen Geburtstag sich im Dezember 2020, wenige Tage vor dem Beethoven-Jubiläum, zum 150. Male jährte, ist zunächst schon allein deswegen erfreulich, da Büttner bislang auf CD nur durch eine einzige Veröffentlichung mit historischen Aufnahmen seiner Vierten Symphonie und der Heroischen Ouvertüre (Sterling) repräsentiert war. Mit der Einspielung seiner Triosonate wurde nun nicht nur zum ersten Mal eines seiner Kammermusikwerke auf Tonträger vorgelegt, sondern überhaupt erstmals eine Komposition Büttners direkt für die CD aufgenommen. Man kann nur wünschen, dass dies ein Anfang ist, denn die geringe Anzahl der bisherigen Veröffentlichungen steht in eklatantem Missverhältnis nicht nur zur Qualität der Büttnerschen Musik, sondern auch zu dem Ansehen, dass der Komponist zu Lebzeiten nachweislich genoss: Zwischen 1915 und 1933 waren seine vier Symphonien in ganz Deutschland regelmäßig zu hören, berühmte Dirigenten wie Arthur Nikisch, Paul Scheinpflug, Carl Schuricht, Fritz Busch und Paul van Kempen setzten sich für ihn ein. Dass diese Rezeption jäh abbrach, hat politische Gründe: Als Sozialdemokrat und Ehemann der jüdischen SPD- bzw. ASPS-Politikerin Eva Büttner wurde Paul Büttner nach jahrelanger Tätigkeit als künstlerischer Direktor des Dresdner Konservatoriums, Kompositionslehrer, Musikkritiker und Arbeiterchorleiter von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern gedrängt. In erzwungener innerer Emigration starb er 1943. Nach dem Krieg bewahrte ihm die DDR zwar ein ehrendes Andenken, seine Werke wurden noch gelegentlich in Ostdeutschland aufgeführt, doch galt er als altmodischer Spätromantiker, als nicht mehr „zeitgemäß“; auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten setzte damals nicht ein.

Wer Büttner von der Sterling-CD her als hervorragenden Gestalter groß dimensionierter symphonischer Architektur kennt, wird vielleicht angenehm überrascht sein, ihn in der Triosonate von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen, nämlich als ebenso meisterlichen Miniaturisten. Es handelt sich weder um ein barockisierendes oder bachisierendes Stück, noch um eines in traditioneller Sonatenform, sondern um „Kanons mit Umkehrungen im doppelten Kontrapunkt der Duodezime“, wie der Komponist im Untertitel vermerkt. Die Bezeichnung „Sonate“ ist dahingehend zu verstehen, dass die sieben kurzen Sätze (sie dauern zwischen 39 Sekunden und 3 ¾ Minuten) keine Sammlung darstellen, sondern einen Zyklus bilden – was durch dezente Anspielungen untereinander ebenso bestätigt wird wie durch die tonale Gruppierung um das Zentrum G. Mit diesem Werk demonstriert Büttner, welch souveränes kontrapunktisches Handwerk er sich als Meisterschüler Felix Draesekes erworben hat, und legt ein Kabinettstück vor, dem man durchaus in der Geschichte des „deutschen Kontrapunkts“ einen Ehrenplatz zugestehen darf. Allen Sätzen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Zwei Stimmen spielen im Kanon, die dritte ergänzt freie Töne. Aber es herrscht nicht akademische Prinzipienreiterei in diesem Werk, sondern die Phantasie eines großen Künstlers. Zunächst zeigt sich diese in den verschiedenen Charakteren der einzelnen Sätze und der geschickten Ausnutzung der klanglichen Möglichkeiten der Streichinstrumente. Für Abwechslung sorgen weiterhin technische Kunstgriffe wie Stimmentausch oder Änderung des Einsatzintervalls. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass Büttner die Sätze unterschiedlich streng anlegt. Stellt etwa in Nr. 2 und Nr. 4, worin die Imitation im Abstand eines Taktes erfolgt, die kanonische Konstruktion den entscheidenden musikalischen Gedanken dar, so erscheint sie in den beiden langsamen Sätzen Nr. 3 und Nr. 5 beinahe zu einem bloßen Wandern der sich über mehrere Takte erstreckenden Melodien von Stimme zu Stimme gemildert und tritt an Bedeutung gegenüber dem „vollen Gesangston“ (Vortragsanweisung im dritten Satz) zurück. Auch tragen die nicht-kanonischen Takte und die freie dritte Stimme Wesentliches zum Gesamteindruck bei.

Wenige Jahre trennen Büttners wahrscheinlich um 1930 entstandene Triosonate von der zwischen 1934 und 1937 komponierten Kammersonate des eine Generation jüngeren Heinz Schubert. Formal und stilistisch unterscheiden sich beide Werke stark. Lässt sich Büttners Stück insgesamt als heiter und extravertiert charakterisieren (der Freund des werktätigen Volkes lässt es sich auch im strengen Stil nicht nehmen, gelegentlich volkstümliche Töne anzuschlagen), so wirkt in Schuberts Sonate jeder Ton von der Welt abgewandt. „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ bildet in chromatischer Verschärfung die Grundlage für den chaconneartigen Mittelsatz. Ob es sich um einen Kommentar zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der Entstehungszeit des Werkes handelt? Es fällt jedenfalls auf, dass Schubert später in seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs komponierten Hymnischen Konzert ausgerechnet die „Heerscharen“ (Sabaoth) des Te-Deum-Textes nicht vertont und seinem Ambrosianischen Konzert für Klavier und Orchester, dem letzten Werk, das er vor seinem Kriegstod vollendete, der Choral „Verleih‘ uns Frieden gnädiglich“ zugrunde liegt.

Am Anfang der Kammersonate steht ein Stück, das wie eine Improvisation anhebt, präludierende Figurationen wechseln mit Tonrepetitionen ab, wie sie auch Schuberts Vorbild Heinrich Kaminski häufig verwendet. Während sie allerdings bei Kaminski in der Regel an das ehrfürchtige Stammeln eines verzückten Beters erinnern, stellt sich dieser Eindruck hier nicht ein; eher möchte man an das Atemholen eines zutiefst Erschütterten denken. Wie Schubert in diesem Satz, ohne irgendwelchen vorgefertigten Schemata zu folgen, mittels polyphoner Interaktion der Stimmen das Geschehen immer weiter verdichtet und der Musik zunehmende Stringenz verleiht, ist schlicht faszinierend. Eine strenge, unablässig vorangetriebene Introspektion scheint hier Musik geworden zu sein. Am Schluss des Werkes steht eine Fuge, deren Thema während des Verlaufs variiert wird, wobei das Tempo allmählich zunimmt. Der Schluss berstet schier vor Ausdruckskraft. Schuberts Harmonik basiert auf einfachen tonalen Grundverhältnissen, er erkundet in seinem Schaffen jedoch ausgiebig die Möglichkeiten dissonanter Linienführung. Eine diesbezüglich besonders aufschlussreiche Passage aus der finalen Steigerung wurde zur genaueren Veranschaulichung noch einmal separat und und in Zeitlupentempo aufgenommen und dem eigentlichen CD-Programm als Anhang beigegeben. Auch wurden die entsprechenden Noten im Beiheft abgedruckt.

Im Gegensatz zu Heinz Schubert war es Reinhard Schwarz-Schilling vergönnt, ein Spätwerk schaffen zu können, zu welchem sein 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, komponiertes Streichtrio gehört. Es besteht nur aus zwei Sätzen, einer mäßig bewegten Rhapsodie und einem langsamen Notturno, die zusammen etwa 10 Minuten dauern. Sie gehören zum Edelsten und Abgeklärtesten, das sich in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts finden lässt. Kein Ton ist zuviel, keiner zu wenig. Alles klingt hier entrückt, als ob das Stück sich gar nicht darum zu kümmern schiene, ob jemand zuhört oder nicht. Gelassen und vollkommen in sich ruhend entfaltet es seine klingenden Phänomene. Die stilistischen Grundlagen sind ganz ähnliche wie in Schuberts Kammersonate, doch wie anders klingt diese späte Musik Schwarz-Schillings!

Die drei Musiker des Trio Montserrat sind einander perfekte Partner. Technisch ist ihnen nichts zu schwer, wie man etwa an der makellosen Ausführung der raschen Flageoletts im Vierten Satz des Büttner-Trios hören kann. Zugleich ist sich jeder der Bedeutung seiner Stimme völlig bewusst, was gerade für das Streichtriospiel von essentieller Wichtigkeit ist, kommt es ja hier noch stärker auf jeden einzelnen Ton an als beim Musizieren in Quartett- und größeren Besetzungen, in denen die Vielstimmigkeit von den Ausführenden zwangsläufig erfordert, zwischen „Vordergrund“- und „Hintergrund“-Geschehen zu unterscheiden. Dieses Gespür für das Zusammenwirken der Stimmen ermöglicht dem Trio Montserrat nicht nur ein tadelloses Zusammenspiel, die Musiker bedenken offenbar auch in jedem Moment den Gesamtverlauf der einzelnen Stücke. Sie entwickeln zielstrebig die Phrasen auf die tonalen Schwerpunkte hin – besonders schön zu hören in den Mozart-Präludien –, wodurch sich die jeweilige musikalische Handlung ganz ungezwungen, wie von selbst entfaltet. Keiner der hier zu hörenden Komponisten betrachtete Kontrapunkt als bloße akademische Disziplin. Er war ihnen allen Stilmittel poetischen Ausdrucks, etwas Natürliches, das selbstverständlich zur Kunst dazu gehört. Das Trio Montserrat bringt diese Natürlichkeit zum Klingen.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

[Rezensionen im Vergleich 2] Trio Montserrat: German Counterpoint

Aldilà Records, ARCD 014; EAN: 9 993643 980143

Ausgehend von der polyphonen Kunst von Altmeister Johann Sebastian Bach in einer Bearbeitung von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 404a) von 1782 spielen die drei katalanischen Musiker Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) Stücke dreier deutscher, ziemlich unbekannter Meister des 20. Jahrhunderts:

Eine Trio-Sonate des Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) von 1930,

Eine Kammersonate in drei Sätzen von Heinz Schubert (1908–1945), 1934-1937 geschrieben,

und ein Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) aus dem Jahr 1983.

Das Programmheft von Christoph Schlüren weist mit Recht darauf hin, dass gerade diese Besetzung dem Komponisten ein Höchstmaß an Können und Intuition abverlangt, steht doch außer den drei verschiedenen Tönen eines Akkords kein vierter zur Verfügung, wenn die Dreistimmigkeit als gegeben vorausgesetzt wird. Dass dabei die Polyphonie dennoch ein gegebenes Kompositions-Mittel der Wahl ist, demonstriert das Trio Monserrat auf hervorragende Weise.

Für mich am leichtesten zugänglich – abgesehen von den drei Kompositonen von Bach/Mozart, die der „normalen“ Tonalität am verbundensten sind – ist die Musik von Paul Büttner, an dem mich immer wieder sein unerschöpflicher melodischer Erfindungsreichtum begeistert. Obwohl doch die Melodie im 20. Jahrhundert ausgedient zu haben schien. Nicht nur bei diesen Stücken, in denen Büttner mit der Form des Kanons spielt, auch bei seinen Symphonien ist die melodische Komponente verblüffend und faszinierend. Auch die Tonalität hat, bei aller Polyphonie, noch lange nicht ausgedient, was natürlich im damaligen Mainstream nicht zum Ansehen der Büttner’schen Musik betrug. Namhafte Dirigenten wie Arthur Nikisch oder Fritz Busch, die sich seiner Werke annahmen, konnten daran nur wenig ändern. So ist und bleibt Paul Büttner einer, dessen Musik noch immer zu entdecken ist. Wozu diese CD ihren dankenswerten Beitrag leistet.

Heinz Schubert, leider viel zu jung gestorben, ist sicher der, dessen Musik am weitesten und kompromisslosesten in die Zukunft wies. Auch wenn sein Nachname sich bis heute als eine allzu schwere Bürde erweist, ist sein Genie unbestreitbar, was auch bei dieser Kammersonate zu hören ist. Gerade bei der „Begrenzung“ auf das Streichtrio ist es verblüffend, welche neuartige Musik und neue Energien Violine, Viola und Violoncello hervorbringen. Vor allem dann, wenn diese von drei Meistern ihres Instruments „in statu nascendi“ gespielt werden. Beeindruckend die Intensität und das Zusammenspiel auch bei schwierigsten rhythmischen und harmonischen Verbindungen.

Heinrich Kaminski (1886–1946), der Lehrer von Reinhard Schwarz-Schilling, sah sich in seiner Musik sicher auch als legitimer Nachfahre des großen Bach. Diese Wertschätzung übertrug sich auf seinen Schüler, was im Streichtrio aus dessen vorletztem Lebensjahr deutlich zu hören ist. Insofern ist der Titel der CD „Deutscher Kontrapunkt“ mehr als gerechtfertigt. Alle drei Komponisten berufen sich in ihren Werken auf den großen Vorgänger Bach, der natürlich die Musik des ganzen 20. Jahrhunderts beeinflusste, direkt oder später auch via Cross-Over in den verschiedensten Formen.

Abgesehen von den merkwürdigen Strömungen der sogenannten 12-Ton Musik nach Schönberg, denen ja auch eine große Anzahl „ausgedachter“ Musik angehörte und noch immer angehört, ist die tonale oder auch die freitonale Musik z. B. eines Anders Eliasson (1947–2013) oder heute eines Robert Groslot (geb. 1951) allen „Seilschaften“ der „Neuen Musik“ zum Trotz eine nie versiegende Quelle der Musenkunst MUSIK. Quod erat demonstrandum.

[Ulrich Hermann, Februar 2021]

[Rezensionen im Vergleich 1] Kontrapunktische Delikatessen für Streichtrio

Aldilà Records, ARCD 014; EAN: 9 003643 980143

Eine CD mit drei phänomenalen Streichtrios, zwei davon als Erstaufnahme, hat das Label Aldilà zu seinem zehnjährigen Bestehen herausgebracht: Die Triosonate von Paul Büttner, die Kammersonate von Heinz Schubert sowie den späten Gattungsbeitrag von Reinhard Schwarz-Schilling. Als Ausgangspunkt solcher kontrapunktischen Meisterschaft muss natürlich Bach gelten: Drei Bearbeitungen von Fugen aus dessen Wohltemperiertem Klavier durch Mozart (KV 404a) erweisen ihm anfangs die Referenz. Es spielt das Trio Montserrat.

Höchste Konzentration von den Ausführenden verlangen die beiden hier als Ersteinspielungen vorgestellten Streichtrios: die Triosonate des notorischen Sammlern allenfalls als Symphoniker bekannten Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) sowie die Kammersonate des Kaminski-Schülers Heinz Schubert (1908–1945). Um es gleich vorwegzunehmen: Obwohl sich die drei spanischen Streicher Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Cello) für diese Entdeckungsreise mehr oder weniger spontan als Trio Montserrat zusammengefunden haben, kann man ihre Leistung nicht hoch genug loben. Bei dieser zwar tonalen, dabei kontrapunktisch enorm komplexen Musik benötigt allein die richtige Intonation ein derart perfektes Verständnis des momentanen harmonischen Geschehens, dass man nur staunen kann, wie vollkommen natürlich hier alles gelingt, wie man sich in Sekundenbruchteilen entsprechend anpasst, aber auch insgesamt die Übersicht für die großen Zusammenhänge und die innere Logik behält, und wie dezidiert die drei Musiker mit Hingabe zu einem sprechenden Ausdruck finden, der jeden Hörer berühren muss.

Büttner war der bedeutendste Schüler Felix Draesekes, kam erst relativ spät – ab ca. 1915 – als Symphoniker zu durchschlagendem Erfolg, war aber nach 1933 als bekennender Sozialist faktisch mit einem Berufsverbot belegt. Seine Musik wurde in der DDR zwar ein wenig gepflegt – die einzige derzeit greifbare CD-Aufnahme einer seiner Symphonien auf Sterling stammt von 1967; auf YouTube findet man zum Glück etwas mehr. Wie bei vielen Komponisten, deren rein tonale Musik vielleicht schon vor dem Zweiten Weltkrieg als ein wenig aus der Zeit gefallen erschien, liegt sein Werk heute zu Unrecht im Dornröschenschlaf. Die um 1930 entstandene Triosonate, bestehend aus sieben Miniaturen von insgesamt nur 16 Minuten Dauer, konnte also erst posthum gedruckt werden. Hier werden – oberflächlich betrachtet – vor allem kontrapunktische Finessen des frühen 19. Jahrhunderts wiederbelebt; sozusagen unter der Motorhaube werkelt jedoch elaboriertes Kunsthandwerk vom Feinsten. Zugleich gelingen Büttner hinreißend direkte Charakterstudien, die dann gar nicht so untypisch für die Zeit zwischen den Weltkriegen sind – jede für sich eine kleine Preziose! Faszinierend etwa, wie im gerade mal halbminütigen 4. Satz eine Glasharmonika imitiert wird.

Die eigentliche Überraschung der Veröffentlichung ist ohne jeden Zweifel die Kammersonate des viel zu jung 1945 im Oderbruch gefallenen Heinz Schubert. Der Dessauer studierte 1926–29 in München bei Siegmund von Hausegger und Joseph Haas und brachte es als Dirigent bis zum Rostocker Musikdirektor – was die Nazis nicht hinderte, ihn im „Volkssturm“ zu opfern. Seine offensichtliche Inspirationsquelle war jedoch die hochverdichtete Linearität Heinrich Kaminskis. Wer dessen Chorwerke kennt, weiß, dass diese einen absoluten Höhepunkt einer langen historischen Entwicklung tonalen Kontrapunkts markieren. Heinz Schuberts Kammersonate von 1934/37 setzt hier aber fast noch eins drauf und erweist sich als echtes Meisterwerk: „Die Dichte der essenziellen Ausdruckskraft, die energetische Aufladung von Struktur und Ausdruck drängt beständig danach, die Grenzen des Fasslichen zu überschreiten“ schreibt Christoph Schlüren, dem wir auch als Produzent diese staunenswerte Wiederentdeckung zu verdanken haben, in seinem vorzüglichen Booklettext. Was für eine starke Musik, die das Trio Montserrat auch emotional absolut überzeugend herüberbringt!

Als Alterswerk des engsten Schülers Kaminskis muss sich das Streichtrio (1983) von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) naturgemäß nichts mehr beweisen. Abgeklärtheit und eine überragende Klangvorstellung kennzeichnen ein Stück, das nochmal die Hochphase großartiger Kammermusik des Komponisten in Erinnerung ruft.

Schlüren begründet zwar, warum zu Beginn des Programms drei Bearbeitungen von Fugen aus Bachs Wohltemperierten Klavierdurch Mozart 1782 stehen: quasi als Visitenkarte. Dafür komponierte dieser statt der zugehörigen Präludien jeweils langsame Einleitungen. Der Rezensent hätte sich vielleicht eher ein Stück gewünscht, das die deutsche Kontrapunkttradition weise ironisiert: z.B. die in Theresienstadt entstandene Passacaglia und Fuge von Hans Krása – der in Schlürens Aufzählung zahlreicher Komponisten, die für Streichtrio geschrieben haben, keineswegs vergessen wurde.

Gerade, weil sich hier wohl für die meisten gänzlich Unbekanntes als musikalischer Hochgenuss herausstellen dürfte, bekommt dieses frühe Kammermusik-Highlight des Jahres 2021 sofort einen Extraplatz im Regal. Die CD wird nicht nur der Rezensent ganz sicher noch öfters hören: eindeutige Empfehlung!

[Martin Blaumeiser, Februar 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (2): Gedanken zu Artur Schnabels Beethoven-Aufnahmen

Sonaten 1-3: Naxos 8.110693; EAN 0636943169322
Sonaten 4-6 & 19-20: Naxos 8.110694; EAN 0636943169421
Sonaten 7-10: Naxos 8.110695; EAN 0636943169520
Sonaten 11-13: Naxos 8.110756; EAN 0636943175620
Sonaten 14-16: Naxos 8.110759; EAN 0636943175927
Sonaten 17, 18, 21: Naxos 8.110760; EAN 0636943176023
Sonaten 22-26: Naxos 8.110761; EAN: 0636943176122
Sonaten 27-29: Naxos 8.110762; EAN: 0636943176121
Sonaten 30-32: Naxos 8.110763; EAN 00636943176320
Eroica-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110764; EAN 0636943176429
Diabelli-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110765; EAN 0636943176528
Klavierkonzerte 1-2: Naxos 8.110638; EAN 0636943163825
Klavierkonzerte 3-4: Naxos 8.110639; EAN 0636943163924
Klavierkonzert 5 und Cello-Sonate 2: Naxos 8.110640; EAN 0636943164020

Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)

Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.

In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.

Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.

Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.

Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.

Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.

In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.

In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.

In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.

Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.

Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.

In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.

Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Musik eines fast Verschollenen

Musikverlag Müller & Schade, M&S 5103/2; EAN: [-]

Diese im Musikverlag Müller & Schade erschienene CD präsentiert mit einer Klaviersonate, zwei Liedern und einer Violinsonate den Großteil des heute noch bekannten Schaffens von Adolphe Veuve (1872–1947), einem Schweizer Komponisten, dessen Nachlass nach seinem Tode spurlos verschwand. Es musizieren und singen: die Pianisten Simon Bucher und Alexander Ruef, die Sopranistin Maya Boog und der Geiger Stefan Meier.

„Die toten Meister heben ihre Hände, / Sie rufen aus dem Grabe: ‚Rette, rette, / Ach, wer errettet unsere Musik? / […] / Mit unsern Werken schwindet unsre Seligkeit!‘ / Lässt Euch das auch in Ruh’?“ So fragt in Pfitzners Palestrina der Kardinal Borromeo den Titelhelden, ihm die drohende Entsorgung des Notenbestands der päpstlichen Kapelle vor Augen führend. Jedes Mal, wenn ein Kunstwerk unwiederbringlich verloren geht, stirbt mit ihm ein Teil seines Schöpfers den zweiten Tod. Namentlich aus älterer Zeit wissen wir von vielen Werken selbst hochbedeutender Meister nur noch, dass es sie einst gegeben hat. Es sind freilich genug Fälle bekannt, in denen ein Werk nach jahrzehntelanger, ja jahrhundertelanger Verschollenheit wieder ans Licht kam. Man denke etwa daran, wie Joseph Haydns C-Dur-Cellokonzert vor 60 Jahren aus dem Reiche der Totgeglaubten ins Leben zurückkehrte.

Es darf also auch im Falle des Schweizers Adolphe Veuve (* Cernier, 7. Dezember 1872; † Lausanne, 5. August 1947) gehofft werden. Bis vor kurzem war Veuve ein völlig vergessener Komponist, einer von jenen, die nur noch eine papierene Existenz in alten Quellen zu führen scheinen. Aus diesen kann man erfahren, dass er zu den Gründern des Conservatoire de Neuchâtel gehörte, zu Lebzeiten einer der angesehensten Pianisten der Suisse Romande war und seit 1926 auch Rundfunkkonzerte gab (von denen sich kein Mitschnitt erhalten hat). Bekannt ist, dass er wenigstens ein Klavierkonzert (sein letztes Werk), ein Streichquartett, eine Klaviersonate, mehrere Violinsonaten, Orchestersuiten, Klavierstücke, Lieder und Chorwerke komponierte. Vier dieser Opera sind durch Drucke auf die Nachwelt gekommen: die Klaviersonate d-Moll op. 2, Trois Morceaux pour piano op. 3 (Ignacy Jan Paderewski gewidmet), Deux Mélodies op. 4 und eine Gavotte für Klavier ohne Opuszahl. Von den Manuskript gebliebenen Werken tauchte jedoch bislang nur die Erste Violinsonate C-Dur op. 5 wieder auf. Was aus den restlichen Stücken wurde, ist unbekannt. „All seine Kompositionen sind von Originalität und manchmal einer sehr modernen Inspiration geprägt, obwohl mit sehr großem Respekt vor den Formen entworfen“, heißt es in einem Nachruf, der kurz nach dem Tode des Komponisten in einer französischsprachigen Neuenburger Zeitung erschien.

Der Berner Musikverlag Müller & Schade, der auch den Erstdruck der Violinsonate op. 5 herausbrachte, hat mit der vorliegenden CD nahezu eine Gesamtaufnahme des verfügbaren Schaffens von Adolphe Veuve veröffentlicht. Lediglich die vier kürzeren Klavierstücke fehlen (aus Platzgründen? Die CD dauert 60 Minuten). Die Violinsonate, das einzige datierte Werk, entstand laut Manuskript 1915/16, womit angesichts der Opuszahlen im Falle der anderen Stücke eine frühere Entstehungszeit anzunehmen ist. Wenn der Autor des Nachrufs Veuve als „sehr modernen“ Komponisten charakterisiert, so muss man sich in Erinnerung rufen, dass damals durchaus noch Musik, die man heute „spätromantisch“ nennen würde, als „modern“ gelten konnte. Veuve ist, den bekannten Werken nach zu urteilen, jedenfalls kein „Impressionist“, „Expressionist“ oder „Neoklassizist“. Dass er sich bemühen würde, im Stile bestimmter Vorbilder zu schreiben, kann man nicht sagen. Wenn der Einführungstext zur CD seiner Tonsprache eine „eigene Prägung“ attestiert, so ist das keine Floskel. Er schließt sich weder deutschen, noch französischen Traditionen ganz an, hat aber offensichtlich von beiden gelernt. So mag etwa der kompakte Klaviersatz zu Beginn der Sonate op. 2 mit seinen Dreiklangsbrechungen und Oktavierungen an Brahms gemahnen, die Deux Mélodies op. 4 erinnern dagegen eher an französische Meister der Franck-Schule. Veuves Stärke liegt vor allem im Harmonischen. Er liebt es, Harmonien schrittweise durch chromatische Stimmführung zu verwandeln, was in Verbindung mit den gern verwendeten synkopischen Rhythmen den Eindruck einer starken Verdichtung der musikalischen Ereignisfolge hervorruft. Der oben erwähnte Respekt vor den Formen sorgt dafür, dass das Geschehen stets überschaubar bleibt. Die viersätzige Klaviersonate dauert etwa so lang wie Beethovens op. 7 oder op. 22, die dreisätzige Violinsonate überschreitet die Dimensionen einer Brahms-Sonate nicht. Simon Buchers Aufführung der Klaviersonate zeichnet sich durch feine Abstufung der Dynamik, sicheres Gespür für den Rhythmus und ausgeprägten Sinn für die große Form aus. Bucher ist genau der richtige Musiker, diesem Werk neues Leben einzuhauchen. Er ist auch in den beiden Liedern zu hören, die Maya Boog sehr expressiv vorträgt. Das dunkle Timbre der Sopranistin passt zudem gut zur melancholischen Stimmung dieser Gesänge. Weniger gut gelingt die Aufführung der Violinsonate. Zwar steht die Leistung des Pianisten Alexander Ruef derjenigen Buchers nicht nach, doch scheint sich Violinist Stefan Meier weniger gut in seiner Stimme zurechtzufinden als sein Partner am Klavier. Die Phrasen der Violine wirken zu oft bloß aneinandergereiht, große Entwicklungszüge bleiben aus, Steigerungen geraten zu mühsam. Am besten gelingt insgesamt der letzte Satz, dessen Hauptthema liedhaft schlicht anhebt.

Trotz diesen Einschränkungen handelt es sich um eine empfehlenswerte CD. Es ist schön zu sehen, dass hiermit einem sympathischen Komponisten, der fast gänzlich verschollen schien, wieder eine Stimme gegeben, und damit auch ein weiteres Schlaglicht auf die Musikgeschichte der französischsprachigen Schweiz geworfen wurde. Gleichermaßen sollte sie dazu ermahnen, sich auf die Suche nach den verschwundenen Kompositionen Adolphe Veuves zu machen. Der Fund der Violinsonate nährt immerhin die Hoffnung, dass auch die weiteren ungedruckten Werke nicht endgültig verloren sind.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Neues im Sinn?

Solo Musica SM 352, EAN: 4 260123 643522

Die Violin-Geschwister Marie-Luise und Christoph Dingler treten gemeinsam als „The Twiolins“ auf und präsentieren „Eight Seasons Evolution“ mit den vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi und einer gemischten Auswahl an Tangos von Astor Piazzolla, jeweils arrangiert für zwei Violinen von Christoph Dingler.

Die Idee, Piazzolla und Vivaldi zu kombinieren, ist nicht neu; die Konstellation liegt auch nahe angesichts dessen, dass Piazzolla selbst Vier Jahreszeiten komponierte und diese mit thematischem Material aus Vivaldis Violinkonzerten versah. In dieser Konstellation wurden die „Acht Jahreszeiten“ auch mehrfach eingespielt, wobei ich besonders die tief empfundene, innig jubilierende Einspielung Liv Midgals mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin wie auch die rassige, triumphierend groovende Aufnahme Lavard Skou Larsens mit den Salzburg Chamber Soloists schätze, die beide 2016 erschienen sind.

Doch da The Twiolins sich auf das Banner schrieben, neudenkerisch zu sein, können sie die vorhandenen Werke nicht so stehenlassen, sondern ersetzen Piazzollas Jahreszeiten durch elf Tangos, die je zwischen die Vivaldi-Sätze geklemmt werden. Zudem arrangierte Christoph Dingler Vivaldi für ihre Besetzung.

Das Thema Evolution wird ansonsten nicht weiter tangiert. Die Aufnahmen sind nämlich keineswegs sonderlich eigenwillig, neumodisch oder individualistisch, sondern im Gegenteil glatt gebügelt ohne sonderliche Ausreizung der Kontraste oder der schon bei Vivaldi abenteuerlichen Klangeffekte. Einen Grund für die Modernisierung dieser Meisterwerke würde ich ohnehin nicht sehen, da schließlich kaum jemand überhaupt die Modernität des Originals näher zu betrachten scheint: Die bereits erwähnte Aufnahme Lavard Skou Larsens gehört zu den ganz wenigen, die die für damalige Zeit nahezu futuristisch anmutenden Klangeffekte stimmig zu vermitteln weiß. Diese fehlen jedoch vollkommen in der Darbietung der Twiolins. Und auch ansonsten findet sich nicht viel, was bemerkenswert oder spannend wäre, die Aufnahme tröpfelt recht ereignislos vor sich hin, fasern die Form in thematische Abschnitte auf und stützen sich beinahe ausschließlich auf die berühmten Melodien und einige ruppigere Abschnitte. Piazzolla mag ebenso wenig begeistern, es kommt kein Groove auf und jede Art des Temperamentvollen, tänzerisch Beschwingten fehlt. Piazzolla beweist in seinen Kompositionen beachtliches Gespür für ausgewogenen Klang, der in jeder Besetzung umsetzbar ist, wägt die aufkommenden Stimmungen wohl ab und weiß, diese am richtigen Moment aufzubrechen. Die Essenz des Tangos bewahrend, bezieht er Elemente der zeitgenössischen Musik mit ein, moderne Effekte und herbere Dissonanzen, neue Modalitäten und formale Gestaltungsweisen. Dies musikalisch zu erkunden ist eine Gradwanderung zwischen Bewusstsein und Intuition, Fokus und Befreiung, Andacht und Schwung – kurzum, eine besondere, vielseitige Beschäftigung erscheint als zwingend notwendig. Was The Twiolins in dieser Einspielung hören lassen, stützt sich jedoch lediglich auf die oberflächlichen Klangeffekte und die lateinamerikanische Rhythmik, die geradlinig umgesetzt wird. Die Noten werden befolgt.

So verstehe ich das Motto der CD nicht, welche das Duo ins Booklet schreibt: „Um nicht in einer einfachen Kopie zu verharren, war uns klar, dass sich die Eight Seasons weiterentwickeln mussten, durch eine eigene Inperpretation, eine Transformation und Wachstum. Kurz: Eine Evolution war notwendig.“ Ich zumindest entdeckte keine, abgesehen der Arrangements.

Über die musikalische Behandlung hinaus darf jedoch nicht das präzise aufeinander abgestimmte Zusammenspiel verschwiegen werden: Fein aufeinander abgehört und vollkommen d’accord in ihrer Klangvorstellung agieren Marie-Luise und Christoph Dingler in perfekter Harmonie, im gleichen Puls.

Die zu hörenden Arrangements Christoph Dinglers zeugen von guter Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen der Besetzung. Die Stimmverteilung wirkt stimmig. Ob der Notwendigkeit solch einer Bearbeitung für zwei Violinen von Vivaldis Violinkonzerten darf hingegen diskutiert werden, zumal die Tiefen des Basso Continuos fehlen, die doch entscheidend sind für den erdigen, stellenweise beinahe naturalistischen Klang, der den Konzerten innewohnt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Neue Chefredaktion bei The New Listener

Wer The New Listener regelmäßig verfolgt hat, wird in den letzten Monaten einige Änderungen festgestellt haben. Mag es sein, dass die Artikel von meiner Seite rarer wurden, dass plötzlich ein neuer Autor dafür in gewisser Regelmäßigkeit schreibt, vielleicht auch ein paar andere graphische Feinheiten im Beitragslayout. Mit diesem Text sei der Grund erläutert und offiziell gemacht: Ich trete von meinem Posten als Chefredakteur von The New Listener zurück und übergebe dieses Amt Norbert Florian Schuck als meinen Nachfolger.

Der Übergang ist bereits seit Sommer am Laufen und erfolgte allmählich und fließend, doch schon seit einiger Zeit war es Florian Schuck, der die Artikel einstellte und die Organisation übernahm. Nun gebe ich auch die Chefredaktion endgültig weiter.

So darf ich an dieser Stelle zurückblicken auf fünfeinhalb Jahre, die ich The New Listener leiten durfte. Nie hätte ich geahnt, wo mich die Reise hinführt, die ich im Sommer 2015 begann, als ich die Seite gründete. Über 400 Artikel habe ich seit dem alleine für The New Listener geschrieben, reiste dafür mehrfach nach Norwegen, nach Luxemburg, Österreich und in die Schweiz, traf inspirierende Künstler*Innen und vor allem: erlebte prägende Musik.

Das Verlangen, Musik zu vermitteln, befeuert meine Arbeit und wird es immer tun. Kunst ist für alle da und alle sollen auf möglichst viele Kanäle an ihr teilhaben sollen. Als Musiker wie als Musikwissenschaftler wie als Journalist sehe ich meine Aufgabe darin, die Musik so durchdringend zu ergründen, wie es mir gelingen mag, sie in ihrer Gesamtheit aufzugreifen und, sofern dies ein erreichbares Ziel darstellt, sie zu verstehen. Die Resultate daraus, gleich welcher Form, sollen den Hörer*Innen und Leser*Innen helfen, dies ebenso zu tun; denn nicht jeder kann sein Leben eben dieser hinreißenden Kunst widmen, und hat dennoch ein natürliches Anrecht darauf, sie so umfassend wie möglich zu genießen.

Die Aufgabe eines Rezensenten besteht entsprechend auch nicht daraus, zu urteilen, sondern zu beschreiben. Natürlich macht auch das Präselektieren einen gewissen Teil der Tätigkeit aus, doch nicht um der Künstler*Innen Willen oder Unwillen, sondern um den der Hörer*Innen. So bestand bei The New Listener von der ersten Sekunde an die Selbstverständlichkeit der freien und unbeeinflussten Äußerung: dies bedeutet vor allem, dass die Rezension nicht durch geldwerte Vorteile, Anzeigenschaltung oder Bezahlung getrübt wird, sondern stets auf gleicher fairer, neutraler Basis beruht. Und ich weiß, dass dies auch bei Florian Schuck so der Standard bleibt, was mir die Übergabe leichtfallen lässt.

(Norbert) Florian Schuck schätze ich als einen der fundiertesten Musikwissenschaftler, die ich überhaupt kenne. Seine bedingungslose Liebe zum Detail und zur Ergründung noch der kleinsten Ungenauigkeit machen ihn aus, nie gibt es sich mit Unvollständigem zufrieden. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch darf er als Perfektionist betrachtet werden, selbst informelle Nachrichten avancieren bei ihm zu Kleinoden der Schreibkunst. Und mehr als alles andere: Er ist ein grenzenloser Förderer der Musik, der sich selbstlos in den Dienst der Kunst stellt, ohne eigenen Vorteil für sie ins Feuer gehen würde.

In fünfeinhalb Jahren hat sich viel getan und The New Listener reifte zu einer viel beachteten Plattform heran, deren Freiheit und Hingabe, deren Ideologie von sich reden machte. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie sich weiter entwickeln kann, angereichert mit neuen Ideen und Möglichkeiten. Ich selbst schreibe gerne weiterhin für The New Listener, wenngleich mich auch neue Ideen und Projekte in ihren Bann ziehen und meine Aufmerksamkeit fordern. So nenne ich die Übergabe eine Modulation, die das gleiche Stück auf eine neue Ebene katapultiert.

Ich danke für jeden gelesenen Text, jede wohlgemeinte Reaktion und jede beflügelnde Erkenntnis, die uns gegenseitig der Musik näher bringt.

Ihr Oliver Fraenzke

Farbenspektrum der Minimalistik

conditura records, conrec012; EAN: 4 260401 710199

Unterstützt von Luna Martina Pracht (Klangschalen), Annette Winker (Fagott) und Katharina Uzal (Violoncello) führt Ute Schleich (Blockflöten) auf diesem bei conditura records erschienenen Album die Vielfalt der Minimal Music wie des Blockflötenklangs vor Ohren.

„Colors of Minimal Music“ präsentiert die Blockflötistin Ute Schleich auf ihrer gleichnamigen CD. Der Titel ist trefflich gewählt, lässt er sich doch gleich auf mehrere Aspekte beziehen, die dem Programm und den Darbietungen ihr Gepräge geben. Zunächst einmal zeugt die Auswahl der Kompositionen von Ute Schleichs profunder Kennerschaft des Spezialgebiets Minimal Music. Es finden hier Stücke von insgesamt sieben zeitgenössischen Komponisten verschiedenen Alters zusammen. Zwar sind alle Werke mehr oder weniger von der Idee des reduzierten Tonsatzes und der repetitiven Melodik bestimmt, unterscheiden sich in ihrer jeweiligen individuellen Gestalt jedoch voneinander ziemlich stark. Dieses Programm lädt dazu ein, die Kompositionen vergleichend zu hören, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Ein breites Farbspektrum zeigt sich auch in den Besetzungen, die auf der CD zu hören sind. Die zahlreichen kürzeren Stücke sind Soli für Blockflöte, die drei längeren hingegen Duos, die die Blockflöte jeweils mit einem anderen Instrument zusammenbringen: Violoncello, Fagott und Klangschalen. Nicht zuletzt sorgt Ute Schleich mit den von ihr verwendeten Instrumenten für klangfarbliche Abwechslung: So erklingen in den 65 Minuten des vorliegenden Albums nicht weniger als neun verschiedene Blockflöten (1 Sopran, 5 Alt, 2 Tenor, 1 Bass).

Unter den Solowerken erscheinen die beiden Stücke Hin- und Her und Signale aus Frans Geysens Sammlung City of Smile (2001) am strengsten minimalistisch gestaltet. Sie basieren beide auf einfachsten diatonischen, regelmäßig getakteten Motiven, die ständig wiederholt und dabei nach und nach von Verzierungen umrankt werden – was einige reizvolle dialogische Effekte einschließt, die sich zwischen hohen und tiefen Lagen ergeben. Bei Hin- und Her verschiebt sich im Laufe dieses Prozesses auch der metrische Schwerpunkt. Philip Glass, einer der Gründerväter der Minimal Music, ist mit der Arabesque in Memoriam (1988) vertreten, einem kapriziösen Stück, das mit Ausweichungen in Nebenharmonien arbeitet, die die Grundtonalität unterschiedlich beleuchten. Während man hier aus den raschen Figurationen einen akkordischen Satz heraushört, beginnt das Yamamoto Perpetuo Nr. 1 von Michael Nyman mit einer langen Monodie. Es geht über in einen Tanz, der im Yamamoto Perpetuo Nr. 3 wieder aufgegriffen wird. Beide 1993 entstandene Stücke hat Ute Schleich aus der ersten Violinstimme des Vierten Streichquartetts von Nyman für die Blockflöte gewonnen. Nyman und Glass sind Widmungsträger der beiden hier zu hörenden Minimal-Preludes von Karel van Steenhoven (2010). Wer dem schlicht Glass betitelten Stück Vorbild gewesen ist, lässt sich anhand einer Gegenüberstellung mit Glass‘ Arabesque leicht feststellen. Den Bezug unterstreicht Ute Schleich übrigens dadurch, dass sie zum Vortrag dieser beiden Werke Altblockflöten mit einer Stimmung von a=415 hz verwendet, für die übrigen jedoch Instrumente, die auf a=440 hz gestimmt sind. Das Nyman gewidmete Just a Song zeigt sich in der Verarbeitung seines Hauptgedankens durch geschickte Andeutung mehrerer Stimmen barocker Sololiteratur verwandt.

Ute Schleich stellt in all diesen Stücken im wahrsten Sinne des Worten unter Beweis, über welch langen Atem sie verfügt. Man hört hier nicht bloße Abfolgen kurzer Motive in variierten und nicht variierten Wiederholungen, sondern Melodien, die sich auf minimalistische Weise entfalten. Schleichs Gespür für melodischen Zusammenhang, melodische Entwicklung erfüllt jede dieser Miniaturen mit Leben.

Dies kommt auch den drei Duos zugute, die sämtlich Ute Schleich die Anregung zu ihrer Entstehung verdanken. Klanglich von besonderem Reiz sind dabei Ulli Göttes images (2012) für die höchst seltene, wenn nicht einmalige, Besetzung Blockflöte und Klangschalen. In den beiden äußeren Abschnitten spielt die Flötistin eine Tenorblockflöte, wohingegen die beiden Mittelsätze eine Bass- bzw. Altblockflöte verlangen. Auch kommen im Verlauf des Stückes verschiedene Klangschalen zum Einsatz. Wie Luna Martina Pracht es versteht, die Tonerzeugung auf diesen Instrumenten stets spannungsvoll zu gestalten, verdient besondere Erwähnung. Die vier Sätze wirken sämtlich ritualhaft, doch hat Götte jedem durch melodische und rhythmische Eigenheiten ein charakteristisches Profil gegeben und den Dialog zwischen dem Blasinstrument und den Klangschalen abwechslungsreich zu gestalten gewusst. Im dritten Satz, einem zuerst verhalten, dann ausgelassen tänzerischen Stück, gibt es zudem eine Passage, in der die Blockflöte vom Klatschen der Hände begleitet wird.

Auch in seinen dialogen für Blockflöte und Violoncello (2016) komponiert Götte mit sehr schlichtem melodischem Material, nutzt aber die Möglichkeiten zur polyphonen Gestaltung, die ihm zwei Melodieinstrumente bieten, sehr wohl aus. Zwei rhythmisch pulsierende Tanzsätze, in denen die beiden Instrumente durchaus auch „aufstampfen“ dürfen, rahmen zwei langsamere, aber nicht unbedingt ruhigere Sätze ein. Gerade der dritte Satz, in dem Blockflöte und Violoncello in freien Imitationen ein in sich kreisendes Motiv durchführen, steckt voller Nervosität. Katharina Uzal am Violoncello ist Ute Schleich bei der Aufführung eine zuverlässige Partnerin, die dem Klang der Blockflöte gerade in den leiseren Passagen genügend Raum zur Entfaltung lässt. Als Duo sind beide trefflich aufeinander eingespielt.

Jens Josefs Duettino für Blockflöte und Fagott (2017/18) kann man als das konstruktivistischste Stück dieser Anthologie bezeichnen. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass der Kontrapunkt hier eine deutlich größere Rolle spielt als in Göttes dialogen. Die Instrumente scheinen zunächst völlig unabhängig voneinander zu spielen. Im weiteren Verlauf ist es, als würden sie nach und nach einander bemerken und auf unterschiedliche Weise aufeinander reagieren. Teils gibt das Fagott, teils die Flöte die Impulse. Unter klanglichen Gesichtspunkten wirken diejenigen Passagen problematisch, in denen die Blockflöte in ihren tiefen Registern spielt, da sie hier kaum aus dem Schatten des tonstärkeren Fagotts zu treten vermag. Der Effekt mag allerdings beabsichtigt sein, um den Kontrast zum Schlussteil zu verstärken, in dem durchweg die oberen Register der Blockflöte zu hören sind. Den technischen Herausforderungen des Duettinos sind Schleich und ihre Partnerin am Fagott, Annette Winker, jedenfalls völlig gewachsen.

Ute Schleich beschließt dieses Programm aus Soli und Duos mit Louis Andriessens Ende (1981), das sie gleichzeitig auf zwei Altblockflöten spielt. Gleichermaßen Solo wie Duo ist dies der effektvolle Abschluss einer geglückten CD.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Beethoven zu entdecken

Antes Edition, BM319316; EAN: 4 014513 038241

Für die Antes Edition spielt Anna Adamik Werke Ludwig van Beethovens ein. Auf dem Programm stehen die Sonaten Nr. 17 „Der Sturm“ op. 31/2 in d-Moll und Nr. 31 in As-Dur op. 110, die berühmte Bagatelle „Für Elise“ a-Moll WoO 59 sowie ein selten zu hörender Schatz: Zwölf Variationen A-Dur über den russischen Tanz aus dem Ballett „Das Waldmädchen“ von Paul Wranitzky WoO 71.

Kurz nach dem Jahreswechsel des Beethoven-Jahrs gibt es doch noch eine neue beglückende Beethoven-Aufnahme, gespielt von Anna Adamik. Sie glänzt in den berühmten Sonaten, doch der Höhepunkt bleibt die Einspielung der Waldmädchen-Variationen, ein gänzlich unbekanntes, charmantes Werk von 1796, also kurz nach den ersten publizierten Opera geschrieben. Das schlichte Thema Paul Wranitzkys verarbeitet Beethoven auf ganz heitere, kecke Art, changiert erstaunlich oft zwischen Dur und Moll und zieht aus den subtilsten Details größten Reiz. Besonders liebevoll behandelt er den unauffälligen Oktavsprung in der zweiten Themenhälfte, der ihn zur Verwendung größerer Intervalle in mehreren Abwandlungen verleitet. Obgleich virtuos, protzen die Variationen nicht durch technische Zurschaustellung, bestechen dafür durch Leichtigkeit, Beschwingtheit und Wechselhaftigkeit. Die einzelnen Variationen dauern je unter einer Minute, dafür beschließt Beethoven das Werk mit einer überdimensionalen Coda, die wie eine Phantasie das Thema auf die Probe stellt, bis es zuletzt einen friedlich-versöhnlichen Schluss findet.

Den für Beethoven geradezu untypisch lockeren, genießerischen Schwung kostet Anna Adamik in ihrer Aufnahme aus, streichelt die Tasten förmlich in den Pianissimo-Passagen und verleiht den Läufen bronzenen Glanz. Die Sprünge in den Variationen I und X schloss die Pianistin besonders ins Herz und füllt die großen Distanzen zwischen den Tönen musikalisch aus. Wie Kleinode behütet Adamik jede Variation für sich und holt ein Maximum an Leichtigkeit und Aussagekraft aus ihnen heraus in Mozart’sch verfeinerter Anschlagskultur.

Die späte As-Dur-Sonate nimmt Anna Adamik sanglich und gefühlsmäßig involviert, behält dabei die Feinheit der früheren Werke. Im Adagio findet sie enormen Tiefgang und lässt die Zeit stillstehen, die Fuge weiß sie gerade hinsichtlich der kontrapunktischen Stimmführung zu bewältigen, ohne aus ihrem geistig-emotionellen Fokus geworfen zu werden. Was ihrer Darbietung noch gut tun würde, wäre in diesem Spätwerk etwas Abgeklärtheit, möglicherweise sogar mit leichtem Hang zum Vergeistigten – denn noch wirkt die Sonate zu real und bodenständig für ihren übersinnlichen Gehalt.

Ein stetiges Hin und Her, Für und Wieder, Drängen und Innehalten durchflutet Anna Adamiks Aufnahme der Sturm-Sonate in d-Moll. Wellenförmig gestaltet die Pianistin den Strom im Kopfsatz aus, wägt die kontrahierenden Kräfte nuanciert ab und liefert so einen von vorne bis hinten stimmigen Gesamteindruck. Im Mittelsatz hält sie vollkommen inne und lässt jeden Klang für sich wirken, ohne dabei die Horizontale zu vernachlässigen: also steht die Sonate niemals still, während wir parallel jeden Akkord genießen können. Im Finale fasziniert die wiederkehrende Leichtigkeit und besonders das Staccato, das wie ein Streicher-Pizzicato die notwendige Kürze und die nachhallende Schwingung der Saiten verbindet und so orchestralen Effekt auf das Klavier zaubert.

So handelt es sich hier um eine vollkommen empfehlenswerte CD, die lediglich ein wenig hallig aufgenommen scheint, was allerdings nicht allzu sehr stören mag. Die Einspielungen überzeugen durch ihre Unbeschwertheit und ihren menschlichen Zugang, zeigen die unprätentiöse und entgegenkommende Seite Beethovens auf und zeugen so von intensiver und unbefangener Beschäftigung mit seiner Musik.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Formvollendete Eleganz

Toccata Classics, TOCC 0561; EAN: 5 060113 445612

Das Duo Praxedis – Praxedis Hug-Rütti (Harfe) und Praxedis Geneviève Hug (Klavier) – legt bei Toccata Classics die erste Folge der sämtlichen Duos für Harfe und Klavier von John Thomas vor.

Der Waliser John Thomas (1826–1913) war einer der Großen in der Geschichte des Harfenspiels. Die in ihrer Ausführlichkeit vorbildliche Kurzbiographie, die Martin Anderson, der Gründer von Toccata Classics, nach Vorarbeiten der Harfen-Historikerin Ann Griffiths für die vorliegende Veröffentlichung geschrieben hat, lässt deutlich werden, welch vielseitige Künstlerpersönlichkeit Thomas gewesen sein, und welchen Eindruck er bei seinen Zeitgenossen hinterlassen haben muss. Der Sohn eines Schneiders und Amateurmusikers erlernte frühzeitig die Walisische Tripelharfe. Mit einem seiner ersten öffentlichen Konzerte zog er die Aufmerksamkeit der Mathematikerin Ada Lovelace, auf sich, deren finanzielle Unterstützung ihm mit 14 Jahren ein Studium an der Royal Academy of Music in London ermöglichte. Dadurch nun auch mit der Pedalharfe vertraut geworden, wurde er nach Abschluss seiner Ausbildung Harfenist an der Royal Italian Opera sowie am Theater Ihrer Majestät und unterrichtete selbst an der Akademie. Konzertreisen durch Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Russland machten Thomas international bekannt. Kenner rühmten ihn wegen seiner in beiden Händen gleichermaßen gut entwickelten Technik – letztlich eine Folge seiner Herkunft von der Tripelharfe, die seitenverkehrt zur Pedalharfe gespielt wird. Ihren äußeren Höhepunkt erreichte seine Laufbahn, als ihn Königin Viktoria 1872 zum Hofharfenisten ernannte. Für Hector Berlioz stellte John Thomas schlichtweg das Ideal eines Harfenspielers dar. 1854 bekannte der Großmeister der Klangfarben in einem Zeitungsartikel, dass er, wäre er reich, sich den Luxus leisten würde, einen Virtuosen wie Thomas zu beschäftigen, dessen ebenso nobles wie leidenschaftliches Spiel ihn magnetisiert hatte. Nicht nur als Virtuose, Komponist, Bearbeiter und Pädagoge stellte Thomas sein Leben in den Dienst seines Instrumentes, sondern auch als Historiker: 1901 trat er mit einer History of the Harp: From the Earliest Period Down to the Present Day hervor.

Thomas‘ internationaler Ruhm, sein Wirken als Hofmusiker und Akademie-Professor – mithin als offizieller Repräsentant des institutionalisierten britischen Musiklebens –, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zeit seines Lebens ein Grenzgänger zwischen zwei Welten blieb. Weder bei Hofe, noch in den mondänen Salons und Konzertsälen der Großstädte vergaß er je seine Wurzeln in der Volksmusik. Seine ersten Erfolge hatte er auf eisteddfodau, jährlichen Wettbewerben der walisischen Barden und Spielleute, errungen, und er ließ es sich auch nicht nehmen, sich auf den Musikfesten seiner alten Heimat hören zu lassen, als er schon längst in der „großen Welt“ lebte und wirkte. Auf dem eisteddfod von Aberdare 1861 wurde ihm schließlich den Titel eines Pencerdd Gwalia verliehen. Damit hatten ihn seine Kollegen ganz offiziell als Obersten Musiker von Wales anerkannt. Seine herausgehobene Stellung im englischen wie im walisischen Musikleben wusste er völkerverständigend einzusetzen. So kam es, dass in einer Zeit, als die Waliser von Seiten der dominierenden Engländer einem enormen Assimilationsdruck ausgesetzt wurden, welcher sich beispielsweise in einem gezielten Zurückdrängen der walisischen Sprache in den Schulen äußerte, der Londoner Hofharfenist und Professor John Thomas in England für die Verbreitung walisischer Volkslieder sorgte, die er in vier Bänden mit walisischem und englischem Text herausbrachte.

Ein großer Teil der Kompositionen von John Thomas ist für Harfe und Klavier geschrieben und stellt damit ideale Originalliteratur für das Duo Praxedis dar, das es sich seit gut zehn Jahren zur Aufgabe macht, Werke dieser Besetzung ins allgemeine Bewusstsein der musikalischen Welt zurückzurufen. Die Harfenistin Praxedis Hug-Rütti und ihre Tochter, die Pianistin Praxedis Geneviève Hug, haben nun die erste Folge einer Gesamtaufnahme der Thomasschen Duos bei Toccata Classics herausgebracht. Die aufgenommenen Stücke teilen sich in drei Gruppen: das Grand Duet, eine dreisätzige Sonate in es-Moll, mit knapp 20 Minuten Spieldauer das umfangreichste Werk, ist die einzige Komposition, in der Thomas nur eigene Melodien verarbeitet; dazu kommen Bearbeitungen von Beethovens Adelaide, einer Gigue aus Händels Wassermusik und Gounods Marche solenelle, sowie fünf Werke, in denen Thomas gleichermaßen Bearbeiter wie Komponist genannt werden kann. Souvenir du Nord, geschrieben nach einer Russland-Reise, besteht aus brillanten Variationen über Alexander Aljabjews beliebte Romanze Die Nachtigall, das Duett über Themen aus Bizets Carmen ist dem damals sehr beliebten Genre der Opernfantasien und -potpourris zuzuordnen. Bei den drei Welsh Duets handelt es sich um jeweils dreisätzige Suiten über walisische Volkslieder.

All diese Stücke sind Salonmusik, d. h. sie verdanken ihre Entstehung der Salonkultur des 19. Jahrhunderts. Und Salonkultur, auf die Musik bezogen, ist Vortragskultur. Schon die Strophenlieder Reichardts und Zelters, die ganz wesentlich von der Vortragskunst des Sängers leben, zeugen davon. Auch John Thomas denkt in seinen Duos eine bestimmte Anschlags- und Klangkultur immer mit. Zwar war Thomas ein technisch enorm beschlagener Virtuose, aber an allen hier eingespielten Werken zeigt sich, dass ihm Fingerfertigkeit nie Selbstzweck gewesen ist. Dass sein Ideal „Kantabilität“ hieß, kam nicht von ungefähr: Er entstammte einer Volksmusiktradition, die selbstverständlich auf dem Gesang gründete, und war später eng mit dem Opernbetrieb der Weltstadt London verbunden, wo er Gelegenheit hatte, große Sänger aus aller Welt zu hören. Seine Liebe zur Oper äußerte sich nicht zuletzt in mehreren eigenen Opernkompositionen.

An seiner intensiven Hinwendung zur Besetzung Harfe und Klavier mag der Umstand seinen Anteil haben, dass damals ein Klavier in jedem Salon stand, Thomas also mit derartig besetzten Duos nahezu überall auftreten konnte. Aber er sah offensichtlich auch eine Herausforderung darin. Bekanntlich gehören Harfe und Klavier nicht zu denjenigen Instrumenten, die hinsichtlich ihrer Klangerzeugung der menschlichen Stimme besonders ähnlich sind. Die große Kunst des Harfenisten John Thomas, die Urteile wie dasjenige von Berlioz erst möglich machte, dürfte vor allem darin bestanden haben, dass er die Harfe zum Singen zu bringen vermochte. Es reizte ihn somit wohl auch, Musik zu schreiben, die den Interpreten Gelegenheit gibt, ihre Kunst der Fingerfertigkeit zu zeigen, wie Belcanto-Sänger ihre Kehlfertigkeit unter Beweis stellen, und ihnen gleichzeitig die Aufgabe stellt, deutlich zu machen, dass Singen (mit Telemann gesprochen) „das Fundament der Musik in allen Dingen“ ist.

Wenn dies tatsächlich die Intention des John Thomas war, so hätte er wohl an den Darbietungen des Duos Praxedis seine Freude gehabt. Dass beiden der vokale Hintergrund der Thomasschen Kompositionen bewusst ist, hört man daran, dass sie, auch wenn brillante Figurationen zu spielen sind, die großen Linien nicht vergessen. Besonders rühmen muss man die Achtsamkeit, mit der Mutter und Tochter aufeinander reagieren. Thomas hat seine musikalischen Einfälle durchaus so auf die Instrumente verteilt, dass sie, im „Singen“ wie im Brillieren, als gleichberechtigte Partner zusammenwirken. Das Klavier fungiert als Begleiter der Harfe, wird aber auch oft von ihr begleitet. Da das Klavier der deutlich tonstärkere Partner ist, muss stets darauf geachtet werden, dass die Harfe nicht übertönt wird, wo sie dominieren, und noch zu hören sein muss, wo sie untermalen soll. Die hervorragende Durchhörbarkeit der Kompositionen ist in der vorliegenden Einspielung nicht nur auf eine tadellose Aufnahmetechnik zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass Pianistin und Harfenistin durch kluge Rücksichtnahme aufeinander alle Balanceprobleme meistern. Dabei entsteht der Eindruck formvollendeter Eleganz, den der Komponist nur gewünscht haben kann, nahezu von selbst.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Boris Tschaikowskij zum 25. Todestag

Ich halte ihn für ein Genie. […] Und ich glaube, eines Tages werden die Leute bemerken, daß es zwei große Komponisten gibt, die den gleichen Namen tragen.“ Der Name, von dem Mstislaw Rostropowitsch hier spricht, lautet „Tschaikowskij“. Der eine der beiden Komponisten ist der berühmte Tonsetzer aus dem 19. Jahrhundert. Der andere ist Boris Alexandrowitsch Tschaikowskij, dessen Todestag sich heute zum 25. Male jährt.

In dem Vierteljahrhundert seit seinem Tode ist Boris Tschaikowskij, dessen erste größere Werke Mitte der 1940er Jahre entstanden, zu einem der international bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden, und gehört mittlerweile zu den diskographisch am besten erschlossenen. Bis auf wenige Nebenwerke liegt nahezu sein ganzes Instrumental- und Vokalschaffen auf CD vor. Zu Produktionen aus sowjetischer Zeit treten dabei zahlreiche Einspielungen jüngeren Datums. Die seit der Jahrtausendwende rasch ansteigende Veröffentlichung von Aufnahmen seiner Musik trug wesentlich dazu bei, dass auch für Musikfreunde außerhalb Russlands das Bild der Künstlerpersönlichkeit Boris Tschaikowskij immer stärker an Kontur gewann. Man konnte nun erkennen, dass dieser Komponist, der zunächst vor allem als Schostakowitsch-Schüler oder -Nachfolger wahrgenommen wurde und in seinen letzten Lebensjahren, was öffentliche Aufmerksamkeit betraf, im Schatten der etwas jüngeren Avantgardisten um Alfred Schnittke stand, einer der begabtesten und auch eigenständigsten Meister seiner Zeit gewesen ist.

Boris Tschaikowskij wurde am 10. September 1925 als Sohn eines Wirtschaftsgeographen und einer Medizinerin in Moskau geboren. Im Alter von neun Jahren begann er seine musikalische Ausbildung an der Gnessin-Musikschule und wurde 18-jährig Schüler des hervorragenden Symphonikers Wissarion Schebalin am Moskauer Konservatorium. Als Dmitrij Schostakowitsch 1946 begann, am Konservatorium zu unterrichten, empfahl ihm Schebalin, Tschaikowskij in seine Kompositionsklasse aufzunehmen. 1947 vollendete Tschaikowskij seine Erste Symphonie, die Schostakowitsch so begeisterte, dass er sie Jewgenij Mrawinskij zur Aufführung empfahl. Die bereits angesetzte Premiere kam 1948 jedoch nicht zustande. Als im Zuge der „antiformalistischen“ Kampagne von Stalins rechter Hand Andrej Shdanow auch Schebalin und Schostakowitsch öffentlich scharf kritisiert und ihrer Lehrämter am Moskauer Konservatorium enthoben worden waren, weigerte sich Tschaikowskij, der Aufforderung nachzukommen, sich von seinen Lehrern zu distanzieren. Sein bisheriges Schaffen wurde deshalb ebenfalls als „kontaminiert“ betrachtet, die Uraufführung der Symphonie Nr. 1 erst 1962 nachgeholt. Weitgehend unbeachtet schloss Tschaikowskij 1949 sein Studium bei Nikolai Mjaskowskij ab und wurde dadurch zu einem der letzten Schüler des Begründers der sowjetischen Symphonik. Folgendes Zeugnis Mjaskowskijs belegt, dass Tschaikowskij auch der Stolz dieses Lehrers war: „Boris Tschaikowskij ist ein sehr begabter junger Komponist mit guter Kompositionstechnik und einer unzweifelhaft bedeutenden schöpferischen Individualität.“

Nach dem dramatisch abgebrochenen Beginn seiner Laufbahn führte Tschaikowskij zunächst ein unauffälliges Leben als Mitarbeiter in der Musikabteilung des All-Unions-Rundfunks. 1952 gab er diese Stelle auf, um nur noch als freischaffender Komponist zu arbeiten. Seine besondere Fertigkeit auf dem Gebiet der angewandten Musik sprach sich herum und wurde offensichtlich hoch geschätzt, sodass er seinen Lebensunterhalt zum großen Teil aus den mehr als ein halbes Hundert Theater-, Hörspiel- und Filmmusiken bestreiten konnte, die er bis 1987 komponierte. Als nach Stalins Tod 1953 die staatliche Gängelung der Künstler nach und nach gelockert wurde, begann auch Boris Tschaikowskij, im sowjetischen Musikleben allmählich bekannt zu werden, wobei er sich der Unterstützung namhafter Dirigenten und Solisten wie Alexander Gauk, Kirill Kondraschin, Rudolf Barschai, Wladimir Fedossejew, Mstislaw Rostropowitsch und Viktor Pikaisen erfreuen konnte. 1968 wurde er, auf Empfehlung Schostakowitschs, von Georgij Swiridow ins Komitee des Russischen Komponistenverbandes berufen, eine Position, die er bis 1973 – auf eigenen Wunsch ehrenamtlich – einnahm. In ähnlicher Funktion war er während der 1980er Jahre auch im Sowjetischen Komponistenverband tätig. Durchaus von Seiten des Staates geehrt (Staatspreis der UdSSR 1969 für die Symphonie Nr. 2, Volkskünstler der UdSSR 1985), gehörte er jedoch nie zu den bevorzugt von der Partei geförderten Komponisten. Auch liegen keine politisch konnotierten Kompositionen von ihm vor. 1989 erhielt Tschaikowskij eine Kompositionsprofessur an der Russischen Gnessin-Musikakademie in Moskau, die er bis zu seinem Tode am 7. Februar 1996 inne hatte. Der Pflege seines Andenkens und der Verbreitung seiner Werke widmet sich die 2002 auf Initiative seiner Witwe, der Musikwissenschaftlerin Janina Tschaikowskaja-Moschinskaja, gegründete Boris-Tschaikowskij-Gesellschaft (Russisch: Общество Бориса Чайковского; Englisch: The Boris-Tchaikovsky-Society).

Tschaikowskij gehört – wie Qara Qarayev, Alexander Lokschin, Arno Babadschanjan, Eduard Mirsojan, German Galynin, Revol Bunin, Michail Nossyrew, Weniamin Basner, Andrej Eschpai, Boris Parsadanjan, Sulchan Zinzadse (auch der gebürtige Pole Mieczysław Weinberg ist hier zu nennen) – zu einer Generation von Komponisten, die im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution zur Welt kamen. Die entscheidenden Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung fallen somit in eine Zeit, die wesentlich vom Schaffen Dmitrij Schostakowitschs bestimmt wurde. Schostakowitsch hatte selbst Mitte der 30er Jahre eine stilistische Metamorphose vollzogen und sich von den avantgardistischen Experimenten seines Frühwerks abgewendet. Seine öffentliche Demütigung als „Formalist“ und „Volksfeind“ durch die stalinistische Kulturpolitik im Jahr 1936 mag diese Entwicklung besiegelt haben; Werke wie die bereits zuvor entstandene Cellosonate, aber auch die Lady Macbeth von Mzensk, zeigen indessen, dass die Ursachen der Wandlung künstlerischer Art gewesen sein müssen. In der Fünften und Sechsten Symphonie trat dann zum ersten Mal jener Stil zu Tage, der sich mit dem Namen Schostakowitsch fortan verbinden sollte: ein melodiebetonter Stil aus dem Geiste eines typisch russischen Modusempfindens (lad), linear gedacht, von den mannigfaltigen Anreicherungsmöglichkeiten der hergebrachten Tonleitern intensiv Gebrauch machend; dabei im Tonsatz sparsam, eher zur Kargheit als zur Üppigkeit neigend; alles gekleidet in eine Instrumentation, die die Orchestergruppen oft getrennt, in „reinen Farben“, sprechen lässt. All diese Eigenschaften lassen sich auch an Tschaikowskijs Musik feststellen, dennoch findet sich bei ihm kaum ein Stück, das man für ein Werk Schostakowitschs halten könnte. Für Tschaikowskij (wie auch für manchen anderen Schüler Schostakowitschs) gilt das Wort Charles Koechlins: „Manchmal reicht ein einziger Takt eines genialen Kollegen aus, um uns das Tor zu den verzauberten Gärten zu öffnen, in denen wir dann vielleicht ganz andere Blumen pflücken dürfen als er selbst.“

Von Anfang an hat Tschaikowskijs Musik einen ganz anderen „Grundcharakter“ als diejenige Schostakowitschs. Es ist eine Musik, die ihre Kraft aus einer unerschütterlichen inneren Ruhe schöpft. Tschaikowskij war (neben seinem Altersgenossen Revol Bunin) der vielleicht feierlichste russische Komponist seiner Zeit; nicht feierlich im Sinne lärmender offiziöser Festmusik, auch nicht im Sinne orthodoxer Kirchenmusik, sondern auf eine frappierend an Franz Schubert oder Anton Bruckner gemahnende Art. Wie bei diesen ließe sich von einer Musik transzendenter Naturfrömmigkeit sprechen. Entsprechend geht ihr auch die Weltschmerz- und Anklagerhetorik Schostakowitschs ab. An deren Stelle tritt bei Tschaikowskij das freie Spiel musikalischer Elementarereignisse.

Das motivische Material Tschaikowskijs ist in der Regel entwaffnend einfach. Wenige Töne – ein Tonleiterausschnitt, eine rhythmische Formel, ein Intervall – werden ihm Anlaß zu mannigfachen Veränderungen, die ganz allmählich geschehen, wobei er ausgiebige Wiederholungen nicht scheut, wenn sie ihm angebracht erscheinen. Die Lakonik und Prägnanz der Motive mag gelegentlich an Mussorgskij oder Janáček erinnern, doch strebt Tschaikowskij im Gegensatz zu diesen Komponisten offenbar keine Annäherung der Musik an gesprochene Sprache (und die damit verbundene Kürze der musikalischen Sinneinheiten) an. Er ist ein geborener Symphoniker, den es nach Gestaltung langer Strecken und weiter Räume verlangt.

Tschaikowskijs melodische Begabung sei hier kurz anhand eines extremen Beispiels erläutert, das selbst im Schaffen dieses Komponisten einzigartig dasteht: der Kopfsatz seines Klavierkonzerts aus dem Jahr 1971. Er beginnt im Klavier mit einem 32mal von der rechten Hand angeschlagenen g‘, durchweg Achtelnoten. Die linke Hand spielt daraufhin die 32 Achtel eine Oktave tiefer, sodass in den ersten acht Takten des Stückes keine Harmoniefortschreitung, ja nicht einmal ein Akkord zu hören ist. In Takt 9 gehen die Achtelrepetitionen wieder auf g‘ weiter, wobei zu Beginn des Taktes die Streicher mitspielen. Am Anfang von Takt 11 erscheint erstmals mit b‘ ein neuer Ton, mit dem zweiten Achtel folgt a‘, das bis zum Ende von Takt 12 wiederholt wird. Spätestens hier wird klar, dass man es nicht mit schwungloser Repetitionsmusik, sondern mit der Eröffnung einer gewaltigen melodischen Entwicklung zu tun hat, die erst am Ende des Satzes zum Stillstand kommt. Hauptsächlicher Handlungsträger der Musik sind (wie übrigens auch in Beethovens Fünfter Symphonie) nicht die unablässig repetierten Achtel, sondern die von ihnen ausgefüllten, mehrere Takte langen Perioden, die mit ihren Harmoniewechseln die Atembewegungen einer ganz großen Melodie markieren. Wie es den Komponisten reizte, diesen Satz mit einer Folge unablässiger Achtelnoten zu füllen, so hat er überhaupt eine Vorliebe für von obstinaten Rhythmen durchzogene Klangflächen. Gern lässt er diese durch Gegeneinandersetzen rhythmischer Schwerpunkte fluktuieren.

Auch wenn kontrapunktische Passagen in seinen Werken selten sind, so prägt lineares Denken Tschaikowskijs Harmonik stark. Die Polyphonie erscheint meist in aufs äußerste reduzierter Form, nämlich als Akkordfortschreitung, aber sie ist nichtsdetoweniger da. Im Allgemeinen liebt Tschaikowskij das Kunstmittel der Reduktion: So kommen in seinen Werken immer wieder Abschnitte vor, in denen die melodieführende Stimme nur von wenigen Basstönen gestützt wird, oder sich über Orgelpunkten ausbreitet; mitunter verzichtet der Komponist ganz auf Begleitungen und schafft Abwechslung, indem er die Melodie von einer Instrumentengruppe zur nächsten wanden lässt. Der sparsame Tonsatz bewirkt, daß in dieser Musik jeder Ton zu einem Ereignis wird. Unterstützt wird dies von einer die ganze Farbpalette der Orchesters ausnutzenden Instrumentation, wobei Tschaikowskijs Gespür für intensive klangliche Ausleuchtung auch seine Kammermusikwerke prägt.

Verglichen mit Schostakowitsch oder seinem direkten Zeitgenossen Mieczysław Weinberg (dessen Todestag sich am 26. 2. 2021 ebenfalls zum 25. Male jährt) mutet Tschaikowskijs Werkverzeichnis relativ schmal an. Sein Schaffen umfasst an Orchestermusik: vier Symphonien, zwei Symphonische Dichtungen, je eine Kammersymphonie und Sinfonietta, Konzerte für Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette, sowie verschiedene kleinere Orchesterwerke; an Kammermusik: sechs Streichquartette, ein Klavierquintett, ein Klaviertrio, ein Sextett, Sonaten für Violine und Violoncello, Suiten unterschiedlicher Besetzungen; dazu kommen verschiedene Kantaten und Liederzyklen; die zahlenmäßig größte Werkgruppe stellt die Film-, Radio- und Theatermusik dar. Letztere mag Tschaikowskij vor allem zum Gelderwerb geschrieben haben, es finden sich allerdings auch hier zahlreiche Preziosen.

Einen guten Eindruck von Tschaikowskijs künstlerischer Entwicklung vermitteln seine vier Symphonien, von denen keine der anderen gleicht. Die Erste, seine 1947 vollendete Abschlussarbeit am Konservatorium, aber in keinem Takt unsicher oder schülerhaft, folgt als einzige dem konventionellen viersätzigen Typus, wobei das Finale als Mischung aus Variationssatz und Rondo angelegt ist. Charakteristisch für das ganze Stück ist ein fortwährender Wechsel von Dur und Moll auf engem Raum. Vielleicht schrieb Tschaikowskij aufgrund des Schocks von 1948 nach diesem Werk lange Zeit keine große Symphonie mehr. Die Erste fand jedoch 1953 in der Sinfonietta für Streicher einen in den Dimensionen zwar kleineren, in der künstlerischen Vollendung jedoch ebenbürtigen Nachfolger.

Mit 53 Minuten Spieldauer stellt die 1967 uraufgeführte Zweite Symphonie Tschaikowskijs umfangreichstes Werk dar, eine Monumentalkomposition, in der der Tonsetzer alle Register seines Könnens zieht. Das Stück besteht aus drei umfangreichen Sätzen. Der Kopfsatz, sehr lebhaft bewegt mit vereinzelten ruhigen Episoden, beginnt mit einem originellen Instrumentationseinfall: Die Exposition wird wörtlich wiederholt, doch ist Tschaikowskij der bloße Doppelstrich mit zwei Punkten zu wenig; so gibt er die Musik im ersten Durchgang an Streicher und Harfe und läßt sie beim zweiten Mal von Bläsern und Pauken spielen. Vor der Coda erscheint ein retardierender Abschnitt, in dem sich die Themen des Satzes in Anklänge an Stücke von Mozart, Bach, Beethoven und Schumann verwandeln. Einem sehr langsamen, verinnerlichten Mittelsatz schließt sich ein Finale an, das durchweg einen mäßig bewegten Schreitduktus aufrechterhält und nach einigen Steigerungsverläufen in einen Dur-Moll-Mischklang mündet.

Nach einem über zehnjährigen Arbeitsprozess vollendete Tschaikowskij 1980 seine Dritte, die Sewastopol-Symphonie, kein explizit programmmusikalisches Werk, jedoch inspiriert von der wechselvollen Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer (die der Komponist nie besucht hatte, bevor er das Werk schrieb). Die Symphonie besteht aus einem einzigen halbstündigen Satz, der zunächst drei Themenkomplexe exponiert, dann aber anstatt die Themen durchzuführen, ihre Bestandteile umbildet, sodaß im weiteren Verlauf aus dem alten Material immer neue Themen geformt werden, bis schließlich doch eine – deutlich veränderte – Reprise einsetzt. Hier kündigt sich eine Art der musikalischen Verlaufsgestaltung an, wie sie in Tschaikowskijs späteren Werken immer dominanter wird – in der Sewastopol-Symphonie allerdings noch im Kontext eines großen Satzes, während der Komponist in der Folge eine suitenartige Reihung kurzer Sätze aus gemeinsamem Material bevorzugt (etwa der siebensätzigen Musik für Orchester von 1987).

Dies kommt auch in der letzten, 1993 vollendeten Symphonie des Komponisten zum Tragen, die er wegen der charakterisitischen Harfen-Soli Symphonie mit Harfe nannte. Dieses Werk, das seine letzte größere Arbeit bleiben sollte, ist eine musikalische Reflexion über das Alter. Einen integralen Bestandteil der Symphonie, gleichsam die Wegmarken ihres Verlaufs, bilden fünf Präludien, Tschaikowskijs erste Kompositionen, die er als Elfjähriger für Klavier geschrieben hatte und nun, 68-jährig, vollständig in der Vierten Symphonie zitiert. Die übrigen drei Sätze des Werkes tragen die Titel „Poem“, „Herbst“ und „Epilog“ und können als typische Beispiele eines konzentrierten, ausgesparten Spätstils gelten.

Man könnte in dieser Weise den Streifzug durch Tschaikowskijs Schaffen fortsetzen. Man müsste noch einiger anderer Orchesterwerke gedenken, etwa des aus einem riesigen Satz von 40 Minuten bestehenden Violinkonzerts, oder der Tondichtung Sibirischer Wind – vielleicht das großartigste musikalische Portrait ungebändigter Natur seit Sibelius‘ Tapiola. Man müsste auch die Kammermusik berücksichtigen, beispielsweise die Cellosonate, die der Komponist zusammen mit Rostropowitsch einspielte; vor allem aber die sechs Streichquartette, von denen, wie im Falle der Symphonien, jedes anders ist als die übrigen (Nr. 3 von 1967 besteht aus sechs langsamen Sätzen und gilt als Vorbild für Schostakowitschs ähnlich gestaltetes Fünfzehntes Streichquartett). Dass auch die Vokalwerke Meisterleistungen des russischen Repertoires sind, sei ebenfalls noch erwähnt. – Kurzum: Boris Tschaikowskijs Gesamtwerk gleicht einer Schatzkiste, nahezu jede seiner Kompositionen einem bezaubernd funkelnden Edelstein.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Faszinierende Chor-„Briefe“ aus Dublin

Naxos 8.574287; EAN: 7 4731342877 9

Unter der Überschrift „Letters“ hat Naxos in Dublin zwei interessante, neue Chorwerke von je halbstündiger Dauer eingespielt. „A Letter of Rights“ des britischen Komponisten Tarik O’Regan (*1978) und „Triptych“ des Iren David Fennessy (*1976). Paul Hillier leitet den Chamber Choir Ireland und das Irish Chamber Orchestra.

Von den beiden hier vorgestellten, nahezu gleichaltrigen Komponisten dürfte der 1978 in London geborene Tarik O’Regan zweifellos der mittlerweile deutlich bekanntere sein – auch auf Tonträgern bereits gut dokumentiert. Vom musikalischen Spätentwickler – er lernte erst mit dreizehn Jahren das Notenlesen – mauserte sich der Schüler u.a. von Robin Holloway in erstaunlich kurzer Zeit zu einem der meistgespielten, jüngeren Komponisten Großbritanniens. 2019 wurde in Houston seine Oper The Phoenix, die sich mehr fiktiv mit dem ja später nach Amerika ausgewanderten Librettisten Lorenzo Da Ponte beschäftigt, mit Thomas Hampson als Hauptfigur uraufgeführt: ein bemerkenswertes Pastiche, natürlich weitgehend im Mozart-Stil.

A Letter of Rights war ein Auftragswerk anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Magna Charta von 1215, der zentralen Quelle des englischen Verfassungsrechts. Den Text der Chorkantate mit kleinbesetztem Kammerorchester schrieb Alice Goodman, die schon die Libretti für John Adams‘ Opern Nixon in China und The Death of Klinghoffer verfasst hat. In dem systematisch als Palindrom angelegten Werk werden so geschickt Klauseln aus dem historischen Vertragswerk in einen Rahmen gestellt, der dessen Entstehung beschreibt – bereits blutig beginnend mit der Tötung von Schafen zur Herstellung des benötigten Pergaments. O’Regans Musik ist überwiegend tonal und/oder modal; oft verschwimmen die Chorklänge wie in einem unscharfen Panorama. Das Orchester (Streicher und sensibel eingesetztes Schlagzeug) grundiert fast nur mit recht gleichmäßigen, rhythmisch pulsierenden Patterns, wie man sie aus der amerikanischen Minimal Music kennt: klanglich beeindruckend, aber vielleicht etwas lang.

Das Triptych (2014-18) des irischen Komponisten David Fennessy – nicht zu verwechseln mit Michael Finnissy – besteht aus drei Chorstücken a cappella: Letter to Michael bezieht sich auf einen Brief – vielmehr eine Art brut – der Heidelberger Schizophreniepatientin Emma Hauck. Ne Reminiscaris versucht, den als ‚permanent present tense‘ beschriebenen Geisteszustand von Amnesie-Betroffenen zu evozieren – in Form der Übermalung einer quasi in Endlosschleife ablaufenden Psalmvertonung Orlando di Lassos. Hashima Refrain verwendet altjapanische Graffiti und Fragmente des Sarashina Nikki aus dem 10. Jahrhundert. Fennessys Anforderungen an den Chor sind weitaus höher und differenzierter als bei O’Regan, die Musik ungleich komplexer. Hier bedarf es präzisester Intonation bis in die Mikrotonalität – und die absolut faszinierenden Klangfelder, in denen sich Archaik mit kaleidoskopartig, dicht eingesprengten Einzelereignissen mischt, benötigen perfekte Abstimmung. Fennessy gelingt mit diesem Triptychon jedenfalls eine staunenswerte Reise in die Abgründe menschlicher Psyche.

Der Chamber Choir Ireland unter Paul Hillier, dem Gründungsmitglied des ehemaligen Hilliard-Ensembles, das freilich vor allem auf Vokalmusik vor 1600 spezialisiert war, präsentiert für beide Werke überzeugende Darbietungen. Sowohl der mehr flächige Klang bei O’Regan als auch der – vor allem dynamisch – nervöse Gestus für Fennessy werden kongenial umgesetzt. Die Artikulation und der schnelle Wechsel von Klangfarben sind hinreißend. Hier passt musikalisch wirklich alles; und die Aufnahmetechnik setzt den mit 17 bzw. 16 Sänger(inne)n eher kleinen Chor gekonnt in einen groß wirkenden Raum mit ordentlicher Tiefenschärfe. Allerdings hat man bei Naxos schon informativere Booklets gesehen. Aufgeschlossene Freunde neuer Chormusik sollten diese inspirierende Produktion keinesfalls verpassen.

[Martin Blaumeiser, Februar 2021]

„Darmsaiten offenbaren einfach mehr Farbe…“

… ein Gespräch mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet

Lina Tur Bonet ist nicht nur eine gefeierte Barockgeigerin, sondern bringt allen Stilepochen dieselbe Neugier entgegen. Immer geht es darum, den Klang der Zeit zu verstehen und sich diesen mit den spezifischen Instrumenten zu eigen zu machen. Mittlerweile liegen circa ein Dutzend Soloaufnahmen von ihr vor – ebenso zeugen sieben Produktionen mit ihrer Gruppe MUSIca ALcheMIca von einer hohen Produktivität als Ensembleleiterin. Jetzt hat sie sich zusammen mit der Pianistin Aurelia Visovan ans Thema “Beethoven” heran begeben. Auf dem Programm der neuen CD steht zum einen dessen Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”, die ja eigentlich ganz anders heißen sollte, wenn es um den wahren Widmungsträger dieser virtuosen Komposition geht. Das andere große Werk dieser Aufnahme markiert das Gegenteil davon: Beethovens letzte Violinsonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow” ist ein Spätwerk in Reinkultur. Nach einer vielbeschäftigten Zeit mit zahlreichen Konzerten fand Lina Tur Bonet Zeit für ein ausgiebiges Gespräch.

Sie genießen vor allem als Barockmusikerin einen herausragenden Ruf. Wie fügt sich jetzt eine Beethoven-Aufnahme in dieses Bild?

Ich bin sehr breit aufgestellt. Ich habe schon viel Romantik und modernes Repertoire gemacht, unter anderem auch eine Bartók-CD. Ich spiele sowohl auf historischen Instrumenten wie auf einer modernen Geige.

Ihr Schwergewicht bildet aber dennoch das Spiel auf historischen Instrumenten?

Auf jeden Fall. Ich habe sogar Bartók auf Darmsaiten gespielt, denn das war üblich zu seiner Zeit. Noch wichtiger ist die Auswahl eines Bogens, wie er zur Entstehungszeit einer Komposition üblich war. Gerade bei der Bartók-Aufnahme habe ich verschiedene Varianten ausprobiert. Die Wahl fiel schließlich auf eine Kombination aus drei Darmsaiten plus der höchsten E-Saite aus Stahl. Das war in Europa zu dieser Zeit verbreitet. Ich will gar nicht bewusst „historisch“ agieren, sondern habe einfach festgestellt, dass dies perfekt für die Musik ist.

Was können Darmsaiten mehr?

Darmsaiten sind nicht so stark im Klang, aber haben dafür viel mehr Obertöne. Wie diese sich mischen, das offenbart mehr Farbe und eröffnet viele neue Möglichkeiten. Es treten mehr Konsonanten im Spiel hervor, gerade weil der Klang nicht so „rund“ ist wie mit Stahlsaiten. Letztere etablierten sich, weil die Säle größer geworden sind. Darmsaiten haben mehr Farbe. Vorausgesetzt, man ist in der Lage, mit Flageolett und Portamenti zu experimentieren.

Erschließen sich dadurch neue Aspekte der Komposition?

Auf jeden Fall. Ich kann vieles, was der Komponist sagen wollte, besser verstehen.

Wie verbessern diese Saiten das Verstehen?

Das Spiel auf Darmsaiten fördert das Verständnis für die Aufführungspraxis ungemein. Die Affekte, die der Komponist wollte, kommen besser durch. Und zwar nicht nur die Farben, sondern auch die Sprache. Gerade, weil Darmsaiten viel besser die Konsonanten einer musikalischen Sprache entfalten – fast so, wie in der Vokalmusik. Nikolaus Harnoncourt spricht hier von Klangrede.

Was bedeutet Ihnen Rhetorik in der Musik?

Ich spüre in der Musik, ob die Sprache eines Komponisten deutsch, italienisch oder französisch ist. Solche feinen Unterschiede nachzuempfinden funktioniert auf Darmsaiten ungleich besser. Auch wenn der Original-Klang oft roher anmutet als auf Stahlsaiten. Dafür wirken plötzliche Forte-Ausbrüche viel unmittelbarer. Um dies herauszustellen, gerade bei Beethoven, kam auf der neuen Aufnahme auch ein Bogen aus der Zeit Beethovens zum Einsatz. Das hat mir geholfen, die Striche, wie sie bei Beethoven üblich waren, besser zu verstehen.

Was macht einen historischen Bogen aus?

Die Geige hat sich über die Jahrhunderte nicht so sehr verändert, aber der Bogen umso mehr. Beim historischen, heute üblichen Bogen geht die Kurve nach oben, sie ist also konvex. In der Klassik seit 1750 hat sich der Bogen dann verändert, die Form wechselte zu konkav. Das ermöglicht mehr Druck auf der Spitze, dadurch wurde alles gleichmäßiger im Sinne von Egalität. Ein Bogen aus der zeitgenössischen Praxis offenbart einfach mehr Kraft und Artikulation. So etwas erzeugt ein starkes Aha-Gefühl.

Barockmusik hat viele Freiräume, die Sie ja bekanntermaßen gerne auch improvisatorisch ausschöpfen. Beethoven jedoch setzt viele Vortragsbezeichnungen und überlässt anscheinend so wenig wie möglich dem Zufall. Empfinden Sie hier einen Widerspruch?

Nicht unbedingt. Zwar hat Beethoven immer sehr genau geschrieben, was er wollte. Gleichzeitig ist Freiheit seine Sache und wir wissen, dass er gerne improvisiert hat. Er war ja auch froh, dass Bridgetower in den Kadenzen der A-Dur-Sonate drauflos improvisiert hat.

Wie setzen Sie sich mit dem Komponisten als Menschen in seiner Welt auseinander?

Ich will die Partitur möglichst gut kennen und lese sehr viel über den Kontext eines Werkes. Ebenso recherchiere ich, wie damals gespielt wurde. Ich habe auch die zeitgenössischen Fingersätze erforscht. Wie war das Leben eines Komponisten? Beethoven war ein Revolutionär, der wusste, dass er etwas großes für die Musik macht. Und es blieb diese reiche, innere Welt, als er selbst nicht mehr hören konnte. Das alles inspiriert mich sehr.

Warum haben Sie gerade diese beiden Sonaten miteinander kombiniert?

Das Cover der CD ist schwarz und weiß, das soll die zwei unterschiedlichen Seiten von Beethoven illustrieren. Diese Sonaten widerspiegeln zwei Welten. Wir waren uns zunächst nicht sicher über die Kombination. Wir wollten auf jeden Fall die Kreutzer-Sonate aufnehmen und haben dann an alle möglichen Kombinationen gedacht. Die zehnte Sonate war die einzige, die wesentlich später komponiert wurde. Sie spiegelt also einen anderen Moment aus Beethovens Leben wieder. Sie atmet eine viel tiefere innere Ruhe. Beethoven war zu dem Zeitpunkt schon taub. Die daraus resultierende Ausschließlichkeit seiner innerlichen Gefühle fasziniert. Überhaupt werden so viele Stücke Beethovens immer ein Rätsel bleiben. Man denke hier auch an die späten Quartette – diese pure, reine, innerliche Musik.

Nach welchen Ausgaben erarbeiten Sie die Musik? Sind die Phrasierungen schon festgelegt?

Wir haben immer nach originalen Partituren gearbeitet. Es handelt sich um Noten von Geigern aus dieser Zeit – es geht aber nicht darum, diese zu kopieren, sondern stattdessen, sich zu etwas neuem inspirieren zu lassen und sich hier neue Freiheiten zu nehmen.

Sie begeben sich forschend in die Entstehungszeit einer Komposition hinein, zugleich sind Sie eine Musikerin aus dem Heute, die für ihr Publikum mit Leidenschaft und Temperament spielt. Wie geht das zusammen?

Wir spielen heute die Musik im Jahr 2021 und lassen Dinge aus unserer Zeit leben. Das schließt viel Respekt und eine große Neugier vor den Komponisten nicht aus. Dieses ganze Studium, dass wir für eine Aufnahme auf uns nehmen, gibt mir sehr viel und ich habe das Gefühl, dass dass Publikum dies auch schätzt und hören kann.

Das rockt ja manchmal richtig, wie Sie spielen. Was passiert emotional in einem Konzert?

In einem Konzert ist nicht zu hören, wie viel Arbeit da wirklich drin steckt. Ich versuche immer, ganz viel zu geben, denn ich glaube, dass die Musiker damals auch ganz viel gegeben haben. Es lässt sich wohl sagen, Vivaldi war ein echter Rockmusiker. Es gab noch keine Rockmusik, aber es gab dieselben Gefühle wie heute.

Wollen Sie Vorurteile revidieren, etwa in Bezug auf Alte oder auch klassische Musik? Konzerte von Ihnen suggerieren ja das Gegenteil von bildungsbürgerlicher Erstarrung.

Für Beethoven gilt so etwas auch. Die Uraufführung der Kreutzersonate muss extrem wild gewesen sein. Es wurde spontan fast vom Blatt gespielt. Ich lasse mich für mein Tun gern auch von heutiger Musik inspirieren. Dann stelle ich mir vor, was Beethoven und Vivaldi damals schaffen wollten. Ich glaube, die wollten alles andere als ein steifes Setting. Solche Gedanken inspirieren mich und ich lege Wert auf Kollegen, die diese Lust teilen. Aber im Konzert oder auf einer Aufnahme loslassen zu können, braucht eine gründliche Vorarbeit.

Wie sind Sie auf Ihre Partnerin Aurelia Visovan gekommen?

Wir haben uns vor ca. 1,5 Jahren in Wien kennengelernt, haben uns dann getroffen und ein paar Sonaten gespielt. Wir konnten uns dann schnell auf viele Dinge einigen, zum Beispiel auch auf die bevorzugte Notentext-Grundlage. Hier fiel die Wahl auf die neue Ausgabe. Wir haben Konzerte gemacht und es wurde klar, dass wir eine Platte machen wollen. Es blieb spannend von der ersten Probe bis zur Aufnahme.

Wie kam es zu diesem Titel? War ursprünglich „Sonata Mulattica“ anstelle von „Sonata Lunatica“ geplant? Was hat es damit auf sich?

Es sollte erst „Mulattica“ heißen. Beethoven hat alles sehr schnell herunter geschrieben und eine Widmung mit folgendem Wortlaut hinterlassen: „Sonata mulattica Composta per il Mulatto Brischdauer, gran pazzo e compositore mulattico“. Dieses Wortspiel bezog sich auf den Widmungsträger, den Afroeuropäer (bzw. „Mulatten“) George Bridgetower, den Beethoven hier als „Musikverrückten“ (= Lunatico) tituliert. Dann gab es Streit mit Bridgetower und er hat es ausradiert und die Sonate dem Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet. Kreutzer – übrigens der bekannteste Geiger seiner Zeit – hat die Sonate nie gespielt, weil er sie für zu schwierig hielt. Bridgetower war den Rest seines Lebens darüber beleidigt, da die Sonate ja eigentlich „seine“ Sonate war.

Das Video zu Ihrer vorigen Aufnahme „La Belezza“ zeugt nicht minder von Ihrer unstillbaren Neugier auf den historischen Kontext.

Mich interessiert, wie sich Menschen benommen haben und wie sie gelebt haben. Es gibt sehr viele Schlüssel, um dadurch die Musik zu verstehen. Auf „La Belezza“ geht es um einen breiteren Kontext, um die ganze Vielfalt in der Musik des 17. Jahrhunderts. Die Titel habe ich alle ausgewählt. Es sind wunderbare Stücke. Diese Epoche war eine schwierige Zeit mit vielen Problemen, es gab Epidemien, Hunger, Wetterkatastrophen, Korruption. Und trotzdem hat sich so viel wunderbare Musik ausgebreitet. Es zeigt, dass gerade in schlimmsten Zeiten die Menschen das beste von sich geben. Menschen haben immer neue Wege gesucht, sich auszudrücken. Hinzu kommt der interessante Umstand, dass die CD am 20. März 2020 herausgekommen ist. Das war in dem Moment, als es mit der Covid-Epidemie gerade losging. Es war ein sehr großer Zufall, dass gerade dann diese CD heraus kam.

Sie haben diese Aufnahme mit Ihrem festen Ensemble MUSIca ALcheMIca aufgenommen. Wie haben Sie diese Aufnahme erlebt?

Es war sehr schön, das aufzunehmen und viel improvisieren zu können. Es war wie eine dreitägige Jazz-Jamsession. Wir haben gar nicht mehr gesprochen, sondern nur noch gespielt. Es war wie eine Reise durch viele Länder und es war immer aufs Neue faszinierend, zu sehen, wie die Musik ist. Ich liebe diese Musik und ich glaube, das ist auch zu hören.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

CD
Beethoven: Sonata Lunatica
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”
Sonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow”

Lina Tur Bonet: Violine
Aurelia Visovan: Klavier