Vom französischen Barockmeister François Couperin hat Richard Strauss aus der umfangreichen, vielschichtigen Sammlung „Pièces de Clavecin“ für Ballettaufführungen zweimal eine Reihe von Stücken für Orchester gesetzt: 1923 als Tanzsuite (TrV 245), und dann nochmals 1940-41 als „Divertimento“ op. 86. Selten zusammen auf einer CD zu hören, hat sich nun Jun Märkl mit dem New Zealand Symphony Orchestra dieser unterhaltsamen Preziosen angenommen (Naxos).
Der hohe Rang von Richard Strauss‘ Orchestrierungskunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht außer Zweifel und ist sicher ein Hauptgrund für die nach wie vor ungeheure Popularität sowohl seiner sinfonischen Dichtungen wie auch etlicher seiner Opern. Relativ selten hat Strauss Werke anderer Komponisten bearbeitet (etwa Mozarts Idomeneo). Zweimal griff er dabei auf den immens vielschichtigen Fundus der immer relativ kurzen, aber geistreichen Pièces de Clavecin von François Couperin (1668-1733) zurück: 1923 mit der Tanzsuite, TrV 245, die er für eine Ballett-Soirée des Wiener Staatsopernballetts zusammenfügte und später (1940/41) noch einmal für den Münchner Ballettabend Verklungene Feste um sechs zusätzliche, mehrteilige Stücke ergänzte. Die neuen Bearbeitungen wurden dann nebst zwei weiteren als selbständiges Divertimento op. 86 veröffentlicht.
Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die Werke aber recht deutlich: Zwar sind beide Zyklen gleichermaßen für kleines Orchester gesetzt, und auch schon in der Tanzsuite finden sich natürlich bereits Instrumente, die es im Barock noch gar nicht gab (Klarinetten, Celesta, Englischhorn, moderne Harfe, Teile des Schlagzeugs…). Trotzdem gelingt es Strauss, in der Tanzsuite eine recht realistische Stil-Imagination von Barockmusik herzustellen, was der aus München stammende Jun Märkl – momentan in Malaysia und Taiwan vielbeschäftigt – mit dem Nationalen Symphonieorchester Neuseelands klanglich noch unterstreicht, etwa durch streckenweises non vibrato. Die typischen Sätze einer Barocksuite (Allemande, Courante, Sarabande…) erscheinen zwar in veränderter Reihenfolge und werden um Unerwartetes – vor allem das phantastische Carillon mit Glockenspiel, Harfe, Celesta und Cembalo – bereichert, aber insgesamt bleibt der Orchestersatz durchsichtig und eher intim, nur an wenigen Stellen wird die Harmonik leicht aufgepeppt. Das klingt alles sehr hübsch und unterhaltsam – Strauss‘ Konzept wird von den sehr präzise aufspielenden Neuseeländern konsequent und mit großem Schwung umgesetzt. Märkl nimmt eher frische Tempi und hält sich mit der Dynamik zurück, behandelt gerade das Blech wie Generalbass- bzw. Colla-Parte-Instrumente. Das wirkt jedenfalls noch stimmiger als etwa in der Aufnahme der Bamberger Symphoniker unter Karl Anton Rickenbacher. An die virtuose Shownummer von Rudolf Kempe mit der Dresdner Staatskapelle kommt Märkl nicht ganz heran; die klingt aber auch bewusst schon nur nach Strauss.
Das ebenfalls achtsätzige Divertimento, wobei pro Satz bis zu fünf der unverkennbar programmatischen Charakterstücke Couperins verwurstet werden, versucht erst gar nicht, die barocke Suite zu imitieren. Hier schlägt Strauss als Instrumentator lustvoll zu, paraphrasiert, ironisiert und verfremdet – nur mittels Klangfarben! – nach Herzenslust. Das erinnert dann einerseits mehr an historisierende Werke der Romantik wie Griegs Holberg-Suite oder Regers Suite im alten Stil op. 93 und nähert sich gefährlich dem Cinemascope-Sound. Den Witz der 25 Jahre älteren Symphonie classique von Prokofjew hat das andererseits halt auch nicht. So gesehen ist das Divertimento ein gar nicht so leichter Balanceakt: Jun Märkl gelingt er dadurch, dass er wie in der Tanzsuite vor allem auf Durchsichtigkeit setzt. Diese fehlt dem dirigentenlosen Orpheus Chamber Orchestra komplett: ein dicker, zäher Brei! Dennoch ginge das alles noch eine Spur federnder, elastischer und – was den Schluss betrifft – verrückter, wie Gerard Schwarz mit der New York Chamber Symphony bewiesen hat; Märkl ist aber schon sehr nahe dran.
Aufnahmetechnisch schlägt die Naxos-Einspielung dafür die gesamte Konkurrenz: das Klangbild und die Räumlichkeit sind nahezu perfekt, die Balance angenehm. Und – verglichen mit der total verunglückten CD des österreichischen Tonkünstler-Orchesters (Der Bürger als Edelmann, wo Strauss Lully verarbeitet) – bewegt sich Jun Märkl wieder auf gewohnt hohem Niveau. Wer beide Werke noch nicht hat, dem darf man das Orchester aus Wellington damit durchaus empfehlen.
Vergleichsaufnahmen: [Tanzsuite] Karl Anton Rickenbacher, Bamberger Symphoniker (Koch/Schwann 3-6535-2, 1998); Rudolf Kempe, Staatskapelle Dresden (EMI 5 73614 2, 1973) – [Divertimento] Orpheus Chamber Orchestra (DG 435 871-2, 1991); Gerard Schwarz, New York Chamber Symphony (Nonesuch 7559-79424-2, 1986)
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 579; EAN: 4 260052 385791
Für Ars Produktion Schumacher haben Nicole Peña Comas (Violoncello) und Hugo Llanos Campos (Klavier) ein abwechslungsreiches Programm mit lateinamerikanischer Kammermusik aufgenommen.
Es ist traditionell der Zweck von Anthologien, die Leistungen einer Gruppe von Autoren dem Publikum in nuce zu präsentieren, ihm die Augen – bzw. im vorliegenden Fall die Ohren – für die Reichhaltigkeit eines Bestands kultureller Güter zu öffnen und es auf Weiteres aus diesem Repertoire neugierig zu machen. Das Programm, das die aus der Dominanischen Republik stammende Cellistin Nicole Peña Comas und der chilenische Pianist Hugo Llanos Campos für ihre CD El Canto del CisneNegro zusammengestellt haben, erfüllt diesen Zweck aufs Schönste. Der gemeinsame Nenner dieser gut einstündigen Anthologie ist Lateinamerika, und zwar nicht nur dahingehend, dass die dargebotenen Stücke eben von lateinamerikanischen Komponisten stammen: Peña Comas und Llanos Campos haben gezielt Musik aus allen Himmelsrichtungen des lateinamerikanischen Kulturraums zusammengebracht. Auch vereint die CD Werke unterschiedlicher Gattungen vom dreiminütigen Charakterstück bis zur viersätzigen Sonate. Zeitlich liegen die Schwerpunkte auf dem frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart.
Die Kultur Mittel- und Südamerikas wurde entscheidend durch das Zusammentreffen verschiedenster Traditionen im Laufe der Geschichte bestimmt, sodass Musiker hier seit jeher mannigfache Anregungen vorfanden, die zu neuen Synthesen inspirierten. Mit der Etablierung eines bürgerlichen Musiklebens nach europäischem Vorbild stellte sich für lateinamerikanische Komponisten seit dem späten 19. Jahrhundert auch verstärkt die Frage nach dem Verhältnis zur Alten Welt. Vier der auf der vorliegenden CD versammelten Komponisten wurden in den Jahren um 1880 geboren. In ihren Lebensläufen zeigt sich, auf welch unterschiedliche Weise diese Frage jeweils beantwortet wurde.
So haben Constantino Gaito (1878–1945), Joaquin Nin (1879–1949) und Manuel María Ponce (1882–1948) den bedeutendsten Teil ihrer Ausbildung in Europa absolviert. Der Argentinier Gaito studierte in Neapel, der Mexikaner Ponce in Bologna und Berlin. Joaquin Nin, in Havanna als Sohn eines Katalanen und einer Kubanerin geboren, wuchs in Barcelona auf und lebte lange Zeit in Paris, starb allerdings in der Stadt seiner Geburt. Hingegen hat Heitor Villa-Lobos (1887–1959) – als Brasilianer der einzige portugiesischsprachige Komponist des vorliegenden Albums – Europa erstmals als ein Mittdreißiger betreten, den man keineswegs mehr einen Studenten nennen konnte: Auf Anregung seines Freundes Darius Milhaud war er nach Paris gereist, um dort seine Werke bekannt zu machen. Auch war Villa-Lobos, anders als Gaito, Nin und Ponce, Autodidakt. So verschieden die Ausbildungswege der einzelnen Komponisten sein mochten: Einig waren sie sich in der Wertschätzung der Folklore als Inspirationsquelle. Ponce und Villa-Lobos hatten bei einer Begegnung in Paris während der 1920er Jahre Gelegenheit, dies einander persönlich zu bestätigen. Auch die beiden zeitgenössischen Komponisten, der Chilene Luis Saglie (* 1974) und der Mexikaner José Elizondo (* 1972), sehen sich offensichtlich in dieser Tradition. Zudem hat es beide, wie ihre Kollegen aus der Vergangenheit, in die weite Welt gezogen: Elizondo, der auch als Mathematiker und Ingenieur Ansehen genießt, studierte in Boston und New York; Saglie wirkte nach Studien in Wien und Los Angeles als Kompositionslehrer und Dirigent in Ecuador und Chile, und ist derzeit in Sidney tätig.
Zu Beginn des Programms erklingt das Stück, das der CD den Namen gab, Villa-Lobos‘ O Canto do cisne negro. Dieser „Gesang des schwarzen Schwans“ war ursprünglich der Schlussteil der Symphonischen Dichtung Naufrágio de Kleónikos (Der Schiffbruch des Kleonikos), ist jedoch in sich selbst so sehr geschlossen, dass er problemlos als eigenständiges Stück aufgeführt werden kann. Raffinierte Einfachheit zeichnet diese langgestreckte Moll-Melodie aus, die ihre Frische und Farbigkeit, ihre sanft schwebende Bewegung, durch gezieltes Umgehen konventioneller Funktionsharmonien gewinnt. Fortwährend betont der Komponist die kleine Septime, doch führt nie ein gewöhnlicher Dominantklang zur Tonika zurück. Wenige chromatische Einfügungen und Alterationen an entscheidenden Stellen der Melodielinie intensivieren den Ausdruck. So, wie Nicole Peña Comas diese Melodie spielt, kann man tatsächlich von einem instrumentalen Gesang sprechen. Mit dezentem Vibrato lässt sie sie leicht an- und abschwellen, gestaltet die einzelnen Phrasen wie Atembögen eines Sängers. Hugo Llanos Campos hat hier zwar nur auf- und absteigende Akkordbrechungen zu spielen, weiß aber, gleich seiner Partnerin, den langen melodischen Atem, der dieses Figurenwerk trägt, herauszuarbeiten. Bezaubernd gelingt ihm das Ritardando über dem langen Schlusston des Cellos. Man merkt, dass auch das Klavier ausatmet.
Hört man Constantino Gaitos Cellosonate op. 26 und schaut danach auf die Spieldauer, glaubt man kaum, es mit einem Werk von bloß 16 ½ Minuten zu tun gehabt zu haben. Der Komponist hat in dieser kurzen Zeit so viele prächtige Einfälle untergebracht, dass die Sonate (ähnlich wie manche Werke von Haydn oder Brahms) deutlich umfangreicher wirkt als sie ist. Gaito ist ein Meister harmonischer Verknüpfungen und liebt modale und chromatische Einfärbungen, vgl. etwa das dorisch anhebende Hauptthema des langsamen Satzes. Rhythmik und Metrik weiß er stets lebendig zu halten. So intensivieren zahlreiche Synkopen die in den Ecksätzen unterschwellig durchweg präsente tänzerische Bewegung. Eine einheitliche Haupttonart gibt es nicht: Die drei Sätze stehen in f-Moll, d-Moll und c-Moll und enden alle in der entsprechenden Dur-Tonart. Den Zusammenhalt stiftet der Komponist durch zyklische Wiederkehr des Kopfsatz-Hauptthemas als Schlussgruppenmotiv des zweiten und, zu quasi-orchestraler Pracht gesteigert, in der Coda des dritten Satzes. Dieses Meisterwerk, das sich vor keiner der großen Sonaten des europäischen Repertoires zu verstecken braucht, ist bei Peña Comas und Llanos Campos optimal aufgehoben. Der dialogisierende Tonsatz Gaitos, der Violoncello und Klavier gleichermaßen anspruchsvolle Aufgaben stellt, kommt in ihrer Darbietung trefflich zur Geltung, wie auch beider Sinn für kantablen Vortrag jede Melodie des Stückes belebt.
Luis Saglies Se juntan dos palomitas (Zwei Täubchen kommen zusammen) gehört zu den 2 Canciones para Violeta, einer Hommage an die große chilenische Volkssängerin Violeta Parra (1917–1967). Das gleichnamige Lied Parras arbeitet Saglie zu einer kleinen Fantasie für Cello und Klavier aus. Er fügt der Melodie reizvolle Begleitharmonien und Gegenstimmen hinzu, verteilt sie auf beide Instrumente und schafft ein ebenso anmutiges wie durch seine schlichte Schönheit berührendes Duo-Stück.
In José Elizondos Otoño en Buenos Aires (Herbst in Buenos Aires), einem Stück aus seiner Sammlung Danzas latinoamericanas, ist Nicole Peña Comas allein zu hören. Sie musiziert gewissermaßen im Duett mit sich selbst, denn der Komponist erzeugt durch Andeutung polyphonen Satzes und geschickte Lagenwechsel den Eindruck, als spielten mehrere Instrumente. Für die Cello-Solo-Literatur ist dieser kleine Tanz mit seinen straffen Tango-Rhythmen, der dennoch den Eindruck innerer Ruhe und Vergeistigung erweckt, jedenfalls ein Gewinn.
Dass die Musik seines Freundes Maurice Ravel, der selbst freilich von spanischer Volksmusik deutlich beeinflusst war, einen großen Eindruck bei Joaquín Nin hinterlassen haben muss, lässt sich aus seiner Seguida Española (Spanische Suite) heraushören. Die vier kurzen Sätze, die sämtlich auf Volksmelodien basieren, sind der Ästhetik des französischen Impressionismus verpflichtet und bieten differenzierte Klangkunst bei betont ausgespartem Tonsatz. Häufige Quint-Oktav-Parallelen und diatonische Dissonanzen dienen als Farbtupfer in einem musikalischen Plein-air-Gemälde. In diesem Stück ist vor allem das Talent der Musiker gefragt, Atmosphäre zu erzeugen, Klangräume sich auftun zu lassen. Auch dies gelingt Peña Comas und Llanos Campos vorzüglich. Die beiden langsamen Sätze strahlen große Ruhe aus, die beiden raschen geraten zu Bildern ausgelassenen Volkslebens.
Manuel María Ponces viersätzige Cellosonate in g-Moll beschließt das Programm. An Wert kommt sie der Sonate Gaitos nahe, stilistisch unterscheiden sich beide Stücke beträchtlich. Auch Ponce verfügt über eine blühende Erfindungsgabe im Harmonischen. Während jedoch Gaito die Sonatenform als verdichtete musikalische Handlung auffasst, gestaltet Ponce die einzelnen Perioden seiner Sätze als ausgedehnte, deutlich voneinander abgesetzte Flächen. Zudem findet sich in seiner Sonate, dem ziemlich ausgedehnten Fugato im Finale zum Trotz, insgesamt weniger polyphones Ineinandergreifen der Stimmen. Viel lieber schichtet Ponce rhythmisch kontrastierende Ebenen übereinander und entwickelt seine Formen durch Umschichtung derselben, wie man gleich zu Beginn des ersten Satzes hören kann: Das Klavier wiederholt beständig ein Synkopenmotiv (man geht wohl nicht falsch, darin die Imitation von Kastagnetten zu hören), während im Cello das langgestreckte Hauptthema erklingt; nach Abschluss dieser Periode tauschen die Instrumente die Rollen. Höchst bemerkenswert erscheint in dieser Hinsicht der „in der Art einer Etüde“ geschriebene zweite Satz. Hier haben die Musiker in der Regel drei verschiedene rhythmische Schichten zu beachten, wobei die konsequent durchgehaltenen Sechzehntelquintolen zu den übrigen Ebenen scharf kontrastieren. Der langsame Satz bezaubert durch seine schweifende, sich lange einer eindeutigen tonalen Festlegung entziehende Harmonik. Ein Finale, das seiner Überschrift „Allegro burlesco“ alle Ehre macht, bringt die von Peña Comas und Llanos Campos von Anfang bis Ende hingebungsvoll musizierte Sonate zum krönenden Abschluss und beendet damit ein Album, das ohne Einschränkung empfohlen werden kann.
Das Beiheft beschränkt sich auf die Künstlerbiographien und ein kurzes Vorwort von Nicole Peña Comas. Der einzige Schönheitsfehler der Produktion hat nichts mit den Werken selbst und ihrer Aufführung zu tun: Einige Pausen zwischen den einzelnen Programmnummern sind zu kurz geraten, sodass die Stücke von Saglie, Elizondo und Nin beinahe attacca aufeinander folgen.
Als erste Folge einer CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios präsentiert Naxos zwei Klaviertrios von Alexander Aljabjew, das Trio Pathétique von Michail Glinka (in einer Bearbeitung für Klaviertrio) sowie Anton Rubinsteins Klaviertrio Nr. 2. Es spielt das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein, Klavier, Nikolai Satschenko, Violine und Kirill Rodin am Violoncello.
Mit der vorliegenden CD beginnt das Brahms-Trio bei Naxos einen Zyklus, der die Geschichte des russischen Klaviertrios vorstellen soll. Geplant sind zunächst fünf Folgen, die die Zeit des Russischen Reiches umfassen; ob danach auch die Sowjetzeit folgt, ist mir bislang nicht bekannt. Es handelt sich um keine Gesamteinspielung (dies wäre spätestens im Falle der zur Sowjetzeit entstandenen Werke wohl auch kaum mehr zu realisieren), aber das Projekt ist dennoch ambitioniert und wird gemäß Vorankündigung auch einige Ersteinspielungen umfassen.
Der erste russische Komponist, der Klaviertrios schrieb, war offenbar Alexander Aljabjew (bzw. Alyabiev; 1787–1851). Sein Lebensweg war turbulent: Sohn eines Gouverneurs, machte er im Rahmen des Kriegs gegen Napoleon Karriere beim Militär und blieb bis 1823 Mitglied der Armee. Zwei Jahre später war er in eine Schlägerei beim Kartenspiel verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde, wurde inhaftiert, zeitweise nach Sibirien verbannt und stand bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht. Nach seinem Tod blieb er zunächst vorwiegend als Komponist von Romanzen (insbesondere der „Nachtigall“) in Erinnerung, bevor Anfang der 1950er Jahre eine Reihe seiner Werke im Druck erschien, sicherlich motiviert dadurch, dass er einer der ersten Komponisten war, die in ihren Werken russische Volkslieder verwendeten.
Heute ist Aljabjew zwar sicherlich kein besonders prominenter Komponist, aber eine gewisse Beachtung findet seine Musik doch immer wieder. Er ist (wegen seines Liedschaffens) als „russischer Schubert“ bezeichnet worden, auch auf den Einfluss Beethovens wird gerne hingewiesen. Das ist zwar nicht falsch, aber treffender ist wohl, Aljabjew im Kontext seiner Zeitgenossen zu betrachten, die sich zwischen Wiener Klassik (gerade Mozart) und Frühromantik bewegten, manchmal an der Grenze zu gehobener Salonmusik. Der virtuose, passagenreiche Klaviersatz seiner Trios legt einen Vergleich mit seinem Lehrer John Field oder auch Johann Nepomuk Hummel nahe. Einen besonders ausgeprägten eigenen Tonfall wird man bei Aljabjew eher nicht entdecken, aber doch Musik, die mit den Strömungen ihrer Zeit vertraut ist und sich gekonnt in diesem Fahrwasser bewegt. So gab es in Russland also bereits vor Glinka einen fähigen Komponisten. Aljabjew freilich eine Vorreiterrolle in der Geschichte der russischen Musik zuzusprechen oder ihn gar als „heimlichen“ Vater der russischen Musik zu betrachten, halte ich für zu viel des Guten, denn selbst wenn er gelegentlich russisches Liedgut verwendet, ist doch der Weg zu Glinkas Opern noch weit.
Von Aljabjews beiden Klaviertrios ist das erste unvollendet, ein elegantes, beschwingtes, stellenweise vielleicht etwas weitschweifiges Sonatenallegro in Es-Dur, das um 1815 entstand und von seinem Herausgeber Boris Dobrochotow zur Aufführung eingerichtet wurde. Vollendet ist dagegen das zweite Trio in a-moll, das die CD auf 1834 datiert, womöglich aber schon früher entstand, vermutlich in den frühen 1820er Jahren. Ein Werk in den klassischen drei Sätzen mit einem kurzen, schwärmerischen Adagio-Mittelsatz und einem Finalrondo mit einem Hauptthema, bei dem es sich gut um ein Volkslied handeln könnte.
Auch der bereits angesprochene Michail Glinka (1804–1857) ist auf dieser CD vertreten, und zwar mit seinem Trio Pathétique in d-moll, eigentlich ein Werk für Klavier, Klarinette und Fagott, das der tschechische Geiger Jan Hřímalý für Klaviertrio eingerichtet hat. Es handelt sich dabei um ein noch recht frühes Werk aus dem Jahre 1832 in vier kurzen, ineinander übergehenden Sätzen, wobei das Finale den Kopfsatz wieder aufgreift. Die Titulierung „Pathétique“ spiegelt sich in der zwar gelegentlich aufgelockerten, aber tendenziell doch dunklen, leidenschaftlichen Grundstimmung wieder. Einen nationalrussischen Tonfall wird man in dieser Musik (noch) vergebens suchen, stattdessen verströmt das Trio mitunter deutlich stärkeren Beethoven’schen Impetus als Aljabjews Trios, zum Beispiel in den wuchtigen Unisono-Eingangstakten. Vielleicht noch prägender ist der Einfluss italienischer Oper (nicht umsonst entstand das Trio während eines längeren Italienaufenthalts), was der Musik einen effektvollen, im besten Sinne theatralischen Anstrich verleiht, etwa in arienhaften Solopassagen, dem zuweilen orchestral anmutenden Klavierpart und einer gekonnten dramatischen Kulmination am Schluss. Dabei ist das Finale insgesamt wohl der schwächste Satz, wirkt die Wiederaufnahme des Kopfsatzes doch arg gedrängt und verknappt. Insgesamt ist dieses Trio jedoch ein beachtliches Werk, und auch das Arrangement für die herkömmliche Klaviertrio-Besetzung funktioniert tadellos.
Das letzte Werk auf dieser CD stammt von Anton Rubinstein (1829–1894), der sich insbesondere als Klaviervirtuose und Organisator (er war u.a. erster Direktor des St. Petersburger Konservatoriums) einen Namen machte. Als Komponist steht Rubinstein im Schatten Tschaikowskis und der Gruppe der Fünf, und tatsächlich stehen in seinem Schaffen Quantität und Qualität nicht immer im besten Verhältnis. Das betrifft nicht nur den recht großen Umfang seines Œuvres, sondern auch manche Werke selbst, die zum Teil deutliche Längen aufweisen und nicht immer gleich inspiriert sind. Deshalb sollte man aber nicht den Komponisten Rubinstein in toto abschreiben, denn selbstverständlich kann auch ein wechselhaftes Schaffen Lohnenswertes bieten.
Von seinen fünf Klaviertrios hat das Brahms-Trio das zweite ausgewählt, ein Werk aus dem Jahre 1851 (Rubinstein komponierte bereits in jungen Jahren sehr ausgiebig). Diese Wahl erscheint gelungen, denn zum einen passt dieses Trio in seiner passionierten Art gut zu Glinkas Trio Pathétique (und im weiteren Sinne auch zu Aljabjews a-moll-Trio), und zum anderen zeigt es den Komponisten von seiner besten Seite. Zu jener Zeit orientierte sich Rubinstein vor allem an der deutschen Romantik, insbesondere Mendelssohn, und diese Einflüsse sind auch hier unverkennbar. Dabei gelingt ihm ein atmosphärisch dichtes, leidenschaftliches Werk, das auch melodisch einiges zu bieten hat – man beachte den wiegenden Beginn in Violine und Cello oder das zweite Thema des Kopfsatzes. Wie man es von einem Pianisten erwarten würde, ist das Klavierpart des Trios prachtvoll und virtuos, ohne dass deshalb aber die Streichinstrumente an den Rand gedrängt würden. Im Vergleich zu der ungefähr zeitgleich entstandenen Ersten Sinfonie ist das Trio das erheblich interessantere Werk – vielleicht ein Indiz dafür, dass im Falle Rubinstein besonders die Kammermusik Beachtung verdient.
Die Interpretationen des Brahms-Trios sind insgesamt ordentlich, aber mit Einschränkungen, die je nach Werk unterschiedlich ins Gewicht fallen. Generell fällt auf, dass sich das Trio bei der Interpretation gewisse Freiheiten erlaubt, etwa was Dynamik, Tempogestaltung und manchmal auch Kleinigkeiten im Notentext selbst erlaubt. Aljabjews a-moll-Trio interpretiert das Brahms-Trio dezidiert verhalten-melancholisch, auch leise (im Wortsinn). Besonders augenfällig ist dies natürlich, wenn in den Ecksätzen die Schlussakkorde dynamisch zurückgenommen werden, aber auch sonst wird so manches Forte eher zum Piano umgedeutet. Im A-Dur-Couplet des Finalrondos beginnt das Klavier eine Oktave höher als notiert, was der Musik einen zart-delikaten Anstrich verleiht. Freilich wirkt eine solche Darbietung tendenziell kontrastarm, was durch die Wahl der Grundtempi (in den Ecksätzen eher langsam, im Adagio eher schnell) verstärkt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Geschmackssache; einen deutlich anderen Ansatz bietet z.B. die Aufnahme mit Emil Gilels am Klavier von 1952, die temperamentvoller, manchmal vielleicht etwas zu forciert erscheint. Insgesamt ist die Auslegung des Brahms-Trios aber stimmig und verleiht der Musik Charakter, mehr als in der „korrekteren“, aber etwas blassen Einspielung des Borodin-Trios auf Chandos. Erste Wahl für beide Trios bleibt für mich indes die Aufnahme des Beethoven-Trios Bonn bei CAvi: im Vergleich zum Brahms-Trio musizieren die Bonner noch etwas flexibler, beredsamer und beseelter, was auch dem Es-Dur-Fragment sehr gut bekommt.
Ähnlich verhält es sich mit der Einspielung von Rubinsteins Trio Nr. 2, wobei in diesem Fall offenbar nur eine Vergleichseinspielung im Rahmen der Gesamteinspielung von Rubinsteins Trios durch das Edlian Trio existiert (Metronome). Mir liegt diese Aufnahme nicht vor, aber so weit ich informiert bin, wurden dort zahlreiche Kürzungen vorgenommen, die sich anscheinend auf rund fünf Minuten Musik summieren. Nun gibt es sicherlich Werke von Rubinstein, denen gewisse Straffungen nicht unbedingt schlecht bekämen. Das gilt aber nicht für dieses Klaviertrio, das mit 30 Minuten ohnehin nicht außergewöhnlich umfangreich ist. Insofern bietet das Brahms-Trio sogar die einzige Möglichkeit, das Werk in Gänze kennenzulernen (wobei die Expositionswiederholungen wie in allen Werken auf dieser CD ausgelassen werden), und dies in einer insgesamt überzeugenden Interpretation. Erneut fällt allerdings insbesondere auf, dass das Trio dazu neigt, Forte-Passagen deutlich abzuschwächen. Dies erscheint teilweise durchaus sinnig, aber spätestens im Finale, das in mancher Hinsicht einen Kulminationspunkt darstellt (mit kurzer Reminiszenz an den langsamen Satz kurz vor Schluss, Letzterer anders als in den übrigen drei Sätzen in Moll) geht auf diese Weise doch einiges an Dramatik und Verve verloren. Ein besonders extremes Beispiel ist die Passage von 3:13 bis 3:33, in der eigentlich durchgängig Forte vorgeschrieben ist und die Akkorde in den Streichern gestrichen (und nicht etwa gezupft) werden sollten.
Solche Abweichungen vom Notentext kommen in der Einspielung von Glinkas Trio Pathétique nicht vor (sieht man einmal von einer leichten Rhythmusänderung bzw. Synkopierung im zweiten Thema das Kopfsatzes ab), aber ein Blick in die Partitur zeigt, dass (zu) viele Details in Dynamik und Artikulation übergangen werden. So sollte sich beispielsweise die Dynamikspanne in der Violine im ersten Satz zwischen 3:30 und 4:20 vom Pianissimo bis zum Forte erstrecken, was in der vorliegenden Einspielung höchstens ansatzweise realisiert wird. Hier liefert das Borodin-Trio auf Chandos eine sorgfältiger ausgearbeitete und in der Konsequenz spannungsreichere Darbietung.
Die Aufnahmetechnik ist gut, aber das Cello steht teilweise etwas zu sehr im Vordergrund (z.T. Streichgeräusche an den lauteren Stellen). Das Beiheft ist eher knapp, aber informativ. Insgesamt ein interessantes Projekt mit alles zusammen ordentlichen bis guten, aber nicht herausragenden Interpretationen einschließlich der besagten Eigenarten.
In einer auf 500 Exemplare limitierten Auflage erschien nun John Luther Adams‘ (*1953) „Become Trilogy“ als 3CD-Box. Die beiden bereits vor Jahren als Einzel-CDs erschienenen Stücke „Become Ocean“ und „Become Desert“ werden hier also noch um das erste Stück der Trilogie, „Become River“, ergänzt. Es spielt das Symphonieorchester aus Seattle unter der Leitung von Ludovic Morlot.
Wohl aufgrund der limitierten Auflage muss ich mich heute mit der Rezension einer digitalen Kopie begnügen, die hoffentlich identisch mit dem CD-Material ist. Nur die Tatsache, dass die jeweils ~40-minütigen Stücke Become Ocean (2013) und Become Desert (2018) bereits jeweils einzeln als CD veröffentlicht worden waren, rechtfertigt, dass für das erste Stück dieser – als solche gar nicht von vornherein geplanten – Trilogie, Become River (2013), trotz der Dauer von nur knapp 15 Minuten eine eigene CD gepresst wurde. Immerhin gibt es nun im Booklet der Box zumindest knappe Texte des Komponisten über die drei Werke – ihr Fehlen bei besagten Einzelausgaben war etwa von David Hurwitz zu Recht bemängelt worden. Nach wie vor aber kein Wort über den Komponisten; insgesamt also nur wenig Information, was anscheinend Adams‘ Selbstverständnis entspricht – seine Musik will erfahren, nicht zerredet werden.
John Luther Adams – nicht zu verwechseln mit seinem sechs Jahre älteren und ungleich berühmteren Fast-Namensvetter John Adams – wurde 1953 in Meridian, Mississippi, geboren, studierte später bei James Tenney und Leonard Stein. Zwischen 1978 und 2014 lebte Adams überwiegend in Alaska und setzte sich stark für den Umweltschutz ein. In den letzten Jahren pendelt der Komponist zwischen New York und der mexikanischen Desierto de Sonora. Das scheint auch klar die Entstehung der drei hier vorgestellten Stücke beeinflusst zu haben: So verwundert es nicht, dass Adams den Tanana River in Alaska als eine Inspirationsquelle für Become River erwähnt, während das dritte Stück, Become Desert eben bereits in Mexiko geschrieben wurde.
Adams zeigt sich – nicht nur in diesen drei Werken – als absoluter Vertreter eines puren Minimalismus: Menschliche Gefühle haben hier keinen Raum und die Musik besteht jeweils nur aus einer einzigen, wabernden Klangfläche. Stellen die berühmten Vertreter der ersten Generation der amerikanischen minimal music (Reich, Riley, Glass) bewusst zur Schau, wie man mit wenigen, einfachen Pattern recht komplexe Strukturen zustande bringt, benutzt der höchst erfolgreiche John Adams (*1947) bekanntlich verwandte Techniken, haucht ihnen aber – manchmal recht marktschreierisch – Leben ein, erfüllt so jedenfalls gewisse Erwartungshaltungen auch eines konservativeren Publikums. Ganz anders John Luther Adams: Hier gibt es weder schlichte, nachvollziehbare Harmonik noch eben eine emotionale Entwicklung. Zudem haben die Pattern, die natürlich unterschwellig unentwegt werkeln – am ehesten noch direkt herauszuhören in Become Ocean (Klavier, Harfe…) – keinerlei Eigenleben oder signifikante Kontur; lediglich unbewusst prägen sie sich dem Hörer ein. Dabei verwendet der Komponist einen – in Folge der drei Stücke vom großbesetzten Kammerorchester mit zweifachen Bläsern über das klassische bis zum großen Orchester plus Chor wachsenden – im Detail äußerst ausgeklügelten Klangapparat; hierin also vielleicht noch eher vergleichbar mit Morton Feldmans Spätwerk Coptic Light. Wenn Adams betont, dass die Stücke der Become Trilogy keinesfalls lautmalerisch die Naturphänomene Fluss, Ozean bzw. Wüste einfangen möchten, sondern nur deren Raum in seiner vielfältigen Bedeutung bis hin zur Poesie und Metaphorik, ist dies jedoch immer noch äußerlicher als Feldmans reine Meditation. Für die Aufführung steigert sich die bereits im ersten Stück geforderte räumliche Distanz bis hin zur Aufteilung des Orchesters in drei bzw. fünf weit getrennt aufgestellte Gruppen, deren Klangflächen jeweils ihr eigenes Tempo haben.
Dem unerfahrenen Hörer mag sich gerade Become River so darstellen wie Wagners Rheingold-Vorspiel oder der Sonnenaufgang in Richard Strauss‘ Alpensinfonie, nur als fast unerträglich auf 15 Minuten Länge gezogenes Crescendo. Ein Fluss, der anschwillt, während es bergab zur Mündung geht. Wenn man sich darauf einlässt, durchaus ein Erlebnis; Hörer, die eine wie auch immer geartete Entwicklung erwarten oder dass etwas passiert, werden mit Sicherheit enttäuscht sein: Nein, das ist nicht die Moldau! Ganz ähnlich verhält es sich mit den beiden 40-Minütern: Become Ocean, wofür Adams den Pulitzer-Preis erhielt, besteht aus drei an- und abschwellenden musikalischen „Wellen“, mit fast auf die Sekunde genau gleicher Länge von ~14 Minuten – immerhin. Dominieren hier eher dunkle Klangfarben, beginnt Become Desert bereits im sehr hellen Register – insgesamt findet ein vielfältigeres Spiel sozusagen mit Licht und Schatten statt. Dennoch wird die als extreme Langsamkeit wahrgenommene Zeitschichtung ohne irgendein rhythmisches Gerüst – wie selbst noch bei Philip Glass‘ bekannter Filmmusik zu Koyaanisqatsi – entweder schnell nervig oder aber dieses nicht im Geringsten aufgeraute Kontinuum in Bogenform zieht den Hörer völlig in seinen Bann. Der Chor agiert selbstverständlich ebenso rein instrumental und bringt bewusst keinerlei menschliche Wärme ins Geschehen. Ob das ein adäquates Bild unerbittlich stattfindender Naturabläufe darstellt, mag der Hörer selbst entscheiden.
Seattle Symphony unter Ludovic Morlot exekutiert die drei Werke jedenfalls überzeugend, was eine keineswegs einfache Aufgabe ist. Die sich zeitlupenartig entwickelnde Dynamik erfordert höchste Konzentration aller Spieler und gerade bei den Bläsern darüber hinaus großes Durchhaltevermögen. Die Aufnahmetechnik und die Abmischung ist ebenfalls ausgezeichnet, obwohl man sich hier vielleicht wirklich mal Surround-Sound wünschte: Die ungewöhnliche, räumliche Aufstellung kann einfacher Stereoton natürlich nicht abbilden. Fazit: Musik für ein sehr spezielles Publikum – man kann sie nur lieben oder hassen.
Beth Levin spiele am 29. Juni 2019 ein denkwürdiges Konzert, welches aufgenommen wurde und nun bei Aldilà Records als CD erschien. Auf dem Programm dieser live-CD steht die Dritte Suite für Clavier in d-Moll HWV 428 von Georg Friedrich Händel, Carosello (Disegno Nr. 3) von Anders Eliasson und die Klaviersonate op. 106 in B-Dur von Ludwig van Beethoven, welche als Hammerklaviersonate Geschichte schrieb.
Zugegeben, das Beethovenjahr 2020 war recht enttäuschend. Wo Konzerte fehlen, mangelte es nicht an Aufnahmen vor allem im Bereich der Klaviermusik. Einige wagten sich an Gesamtzyklen, die wie so meist nur selten vollständig befriedigen; andere spielten kleinere Auswahlen, die aber doch meist aus den altbekannten Werken bestehen. Es gab zwar unter den Aufnahmen viel Gutes, nicht aber wirklich Neues, was unseren Blick auf den Jubilar nachhaltig prägen würde. Man blieb bei den Konventionen, beim Bewährten, und nahm es nicht auf sich, über den Tellerrand hinauszublicken. Die große Ausnahme stellt die CD mit Beth Levin dar, welche die Hammerklaviersonate B-Dur op. 106 in einer Liveaufnahme präsentiert.
Ein Werk wie die Hammerklaviersonate in unserer heutigen Zeit als Liveaufnahme herausgeben zu wollen, wirkt beinahe wie Irrsinn. Denn wie soll man dieses Mammutwerk mit einer Länge von etwa 45 Minuten und gespickt mit technischen wie musikalischen Hürden durchgehend auf reproduktionswürdigem Niveau bewältigen? – Oder sollten wir es umgekehrt sehen: Muss man es sogar auf eben diese Weise aus einem Guss entstehen lassen, um Geschlossenheit zu erreichen und gesamtmusikalischen Sinn zu entfalten?
Beth Levin zeigt sich vom ersten Ton an als eine der eigenständigsten, temperamentvollsten und souveränsten Pianistinnen unserer Zeit. Sie hat eine eigene Stimme am Klavier und bleibt stets sie selbst, so kann man sie beim Hören unmittelbar identifizieren – und dies ist heute mehr als außergewöhnlich. Levin durchdringt die Musik intellektuell wie menschlich, fokussiert sich dabei auf die Einmaligkeit der Darbietung und des Erlebens der Musik. Sie gibt die Musik nicht wieder als Nacherzählung oder als Berichterstattung, sondern – selbst vollständig involviert – als im Moment passierendes, unwiederbringbares, und auf diese Weise atemberaubendes Geschehen. Sofern es dabei nötig ist, greift sie in den Notentext ein; doch ist keine der Abänderungen willkürlich, sondern dient nur der Stimmigkeit und Gesamtheit der Darbietung. Jede Note sprüht vor Innbrunst und Lebendigkeit, von persönlicher Aussage. Technik, Fingerfertigkeit und Virtuosität stehen dabei im Hintergrund, sind lediglich nötige (wenngleich perfekt gelenkte) Transportmittel für den Ausdruck.
Auf ein impulsives Werk wie die Hammerklaviersonate projiziert, offenbaren sich ganz neue Facetten und Aspekte dieses Meisterwerks, die sich einer Beschreibung entziehen und nur hörbar verstanden werden können. Unvorstellbare Magie verströmt vor allem der Adagiosatz, in dem wir teilweise vollständig das Gefühl von Zeit und Raum wie den Boden unter unseren Füßen verlieren und nur getragen werden durch den fragilen Duktus der Musik. „Verweile doch, du bist so schön“, Mephisto hätte Faust nur diesen Satz vorzuspielen brauchen – doch schon ist die Musik fortprozessiert und der Moment vergangen, was hier wie kaum woanders für eine gewisse mitschwingende Melancholie verantwortlich ist.
Nicht weniger nehmen die raschen Sätze gefangen. Die Randsätze packen durch impulsive Akzente, wild aufbäumende und doch im Zaum gehaltene Klangkaskaden und herbe Kontraste, die Beth Levin fein austariert und bis an die Grenzen spannt, nie jedoch darüber hinaus. Fast zu kurz erscheint dagegen das kleine Scherzo, doch eben in der Flüchtigkeit liegt der Witz und Beth Levin triumphiert über diese Wirkung des allzu Vergänglichen.
Komplettiert wird das Programm durch zwei konträre Werke anderer Epochen: Händels d-Moll-Suite und Eliassons Disegno Nr. 3 mit dem Titel „Carosello“. Die d-Moll-Suite wirkt ganz schlicht, klar und offen, Levin spielt die Musik des unterrepräsentierten Bach-Zeitgenossen in tiefster Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Weit weniger stürmisch als bei Beethoven zaubert sie so einen gänzlich anderen Glanz auf die für das Cembalo konzipierte Musik, sonor und doch zerbrechlich in ihrer Zartheit. Bei Eliasson zeigt Beth Levin unerhörtes Gespür für Harmonik: der 2013 verstorbene schwedische Komponist schuf ein ganz eigenes Tonalitätsmodell, undurchdringbar komplex und nicht intellektuell zu verstehen – wohl aber musikalisch zu durchdringen, wie hier bewiesen wird. Und tatsächlich wird die Partitur beim Hören plötzlich verständlich und wie ganz selbstverständlich folgen wir dem Lauf der harmonischen Strukturen. Mit vollendet verfeinertem Anschlag holt Beth Levin auch die dezentesten Zwischentöne aus den Tasten hervor, farbenreich und vielseitig. Die Gesamtheit des Stücks hat sie stets im Sinn und so geleitet sie uns sicher durch die vielen Verstrickungen jedes dieser Stücke, so dass wir sie hinreißend in Gänze erleben.
Vom in der Stalinzeit schwer gebeutelten ehemaligen Avantgardisten Alexander Mossolow (1900-1973) hat Naxos nun mithilfe des Dirigenten Arthur Arnold und des Moscow Symphony Orchestra zwei Werke der Reifezeit wiederentdeckt. Neben seiner letzten Symphonie (Nr. 5) von 1965 erklingen auf der neuen Naxos-CD auch erstmals alle vier Sätze des Harfenkonzerts aus dem Jahre 1939. Die Solistin ist Taylor Ann Fleshman – eine vorzügliche Produktion.
Vielleicht hatte Dmitri Schostakowitsch ja einfach nur Glück im Unglück: Abgesehen vom Verbot – bzw. dem vorsorglichen Zurückhalten – von kaum einer Handvoll Werken spürte der Komponist zwar lange die Repressionen Stalins als konkrete Bedrohung, konnte aber trotzdem mehr oder weniger frei komponieren; seine Werke wurden geschätzt und vor allem auch in der Sowjetunion regelmäßig gespielt. Andere traf es da schlimmer: Sie wurden aus dem Komponistenverband ausgeschlossen – was einem Berufsverbot gleichkam –, ihre Musik wurde nicht mehr gedruckt und aufgeführt, oder sie landeten gleich im Gulag. Zu diesen Musikern gehörten u.a. Nikolai Roslawez, Wsewolod Saderazki, aber ebenso Alexander Mossolow, der nur durch massive Fürsprache seiner Lehrer Glière und Mjaskowski 1938 bereits nach acht Monaten – statt fünf Jahren – wieder aus dem Arbeitslager kam und dann fünf Jahre in der inneren Verbannung zubringen musste. Danach war er definitiv ein anderer Komponist.
Hatte Mossolow in den Zwanzigerjahren durch recht konstruktivistische, avantgardistische und teilweise provokante Werke auf sich aufmerksam gemacht, darunter zwei Klaviersonaten und ein Klavierkonzert – im Westen war lange nur das kurze, lautmalerische Orchesterstück Sawod („Eisengießerei“) bekannt, das man dem musikalischen Futurismus zuordnete –, wirkte der Künstler ab Ende der 1930er total angepasst. Den Forderungen des Sozialistischen Realismus gerecht zu werden, half dabei sein schon früher bestehendes Interesse etwa an der Volksmusik des Kubans, Kirgisiens oder Turkmenistans; bei seiner 1. Symphonie E-Dur von 1944 spürt man jedoch die Angst im Nacken: Sie steht ganz im Zeichen des Großen Vaterländischen Krieges, verherrlicht den kommenden Sieg des Militärs und ist konformistisch bis ins Mark; Mossolows Eigenständigkeit scheint völlig verflogen.
Das ist zum Glück bei der 5. Symphonie (1965) nicht mehr so. Sie wurde zu Lebzeiten nie aufgeführt und erst 1991 gedruckt. Die vielen Fehler dieser Partitur konnte der aus den Niederlanden stammende Dirigent Arthur Arnold, der seit 2012 das ab seiner Gründung 1989 eng mit Naxos verbundene Moskauer Symphonieorchester leitet, in mühevoller Arbeit korrigieren und legt nun ein abwechslungsreiches, ausdrucksstarkes und fein instrumentiertes Werk vor. Natürlich vermisst man auch hier die wilden, fast aufrührerischen Elemente des jungen Mossolow – aber nur, wenn man diese kennt und zum Maßstab macht. Mossolows dreisätzige Fünfte ist dennoch absolut seriös und von ansprechender Reife, dabei keineswegs allzu retrospektiv. Lediglich der unmittelbare Schluss: Maestoso, trionfale streift die Nähe zum sozialistischen Kitsch. Arnold nimmt hier jedes Detail ernst; vor allem gelingt ihm eine stringente musikalische Entwicklung des Materials, sowohl innerhalb der einzelnen Sätze wie der gesamten Symphonie. Die Tontechnik leistet zudem ihr Bestes – enorme Dynamik und hervorragende Durchsichtigkeit ergeben ein tolles, angenehmes Klangbild.
Zu Unrecht in Vergessenheit geriet auch Mossolows gewaltiges Harfenkonzert, das er 1939 für Vera Dulova schrieb – eine unmittelbare Antwort auf den nur ein Jahr zuvor aus der Taufe gehobenen Gattungsbeitrag Glières für wiederum Dulovas Lehrerin Ksenia Erdely. Obwohl Harfenkonzerte in Russland bis heute eine gewisse Tradition haben, wurde dieses Konzert danach nicht mehr gespielt. Die Uraufführung der kompletten Fassung fand tatsächlich erst 2019 mit der hier fabelhaft aufspielenden Taylor Ann Fleshman statt. Ihre Klangschönheit ist fantastisch, die Tongebung differenziert und bei den lyrischen Stellen geradezu feenhaft geheimnisvoll. Desgleichen beherrscht sie den heiteren Zugriff, vor allem in der abschließenden Toccata, die bewusst nur gehobene Unterhaltungsmusik sein will, vollendet. Das Konzert krankt jedoch an seiner Länge (37 Minuten!), die das zum Teil spärliche Material bis an die Grenzen des Leerlaufs ausreizt, gerade auch in besagtem Finale. Der erste Satz zerfällt durch überlange, unbegleitete Soli bzw. Kadenzen, im Tutti fällt dem Komponisten für die Harfe oft nicht wirklich Überzeugendes ein: Arpeggien rauf, Arpeggien runter; Ermüdung ist so streckenweise vorprogrammiert. Dies ist natürlich zu keinem Zeitpunkt den Interpreten vorzuwerfen, die eine unter jedem Aspekt optimale, berührende Darbietung abliefern: Arnold begleitet mit seinem Orchester aufmerksam und mit Hingabe. Das schöne Konzert darf man trotz kleinerer Schwächen aber für eine repertoirefähige Entdeckung erachten. Die intelligente Orchestrierung Mossolows hätte alleine schon dafür gesorgt, dass das Orchester hier die Harfe akustisch nicht erdrückt – das Soloinstrument ist leider deutlich zu hoch ausgesteuert. Man hört so natürlich jedes Detail, aber die Balance wird dadurch unrealistisch. Fazit: Eine längst fällige Rehabilitierung zweier gewichtiger Mossolow-Werke mit hervorragend agierenden Musikern.
Naxos präsentiert Ersteinspielungen von Alexander Mossolows Sinfonie Nr. 5 und seinem Harfenkonzert. Es spielen das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung des niederländischen Dirigenten Arthur Arnold, Harfenistin ist die junge Amerikanerin Taylor Ann Fleshman.
Eine der markantesten Figuren der musikalischen Avantgarde der jungen Sowjetunion war Alexander Mossolow (Mosolov in der englischen Umschrift; 1900–1973). Anfangs noch durch Prokofjew und (in der Klaviermusik) Skrjabin geprägt, machte sich er sich in den 1920er Jahren durch oft bemerkenswert radikale Werke wie seinen Klaviersonaten, dem ersten Klavierkonzert oder dem ersten Streichquartett auch international einen Namen. Besondere Verbreitung fand sein kurzes, eigentlich als Teil eines Balletts konzipiertes Orchesterstück Die Eisengießerei, ausgesprochen suggestive Maschinenmusik aufbauend auf Honeggers Pacific 231.
Gegen Ende der 1920er Jahre geriet Mossolow immer stärker in kulturpolitische Konflikte, die sich in den 1930er Jahren verschärften, war seine Tonsprache doch mit der Ästhetik des sozialistischen Realismus nur schwer in Einklang zu bringen. Schließlich wurde er Ende des Jahres 1937 verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ (ein Standardvorwurf jener Tage, der in der Regel aus der Luft gegriffen war) zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Auf Intervention seiner früheren Lehrer Mjaskowski und Glière wurde er zwar nach acht Monaten wieder entlassen, aber selbstverständlich bedeutete die Haft einen Einschnitt gewaltigen Ausmaßes, der sich auch in seiner Musik überdeutlich niederschlug: der Komponist Mossolow nach der Inhaftierung hat mit dem Avantgardisten der 1920er Jahre nichts mehr gemein.
Ein Problem bei der Rezeption von Mossolows Schaffen ist, dass die Quellenlage ziemlich dünn ist. Konsultiert man verschiedene Werkverzeichnisse, so wird man immer wieder auf Inkonsistenzen stoßen, manche Werke sind verschollen, und erst vor wenigen Jahren wurde in den Archiven des Moskauer Rundfunks eine ganze Reihe bislang unbekannter Frühwerke Mossolows wiederentdeckt, darunter eine auch als Antireligiöse Sinfonie bezeichnete Sinfonische Dichtung mit Chor aus dem Jahre 1931. Dennoch ist das Frühwerk Mossolows insgesamt recht gut auf CD dokumentiert, oft sogar in mehrfachen Einspielungen. Anders sieht es mit den nach Mossolows Inhaftierung entstandenen Werken aus: hier ist bislang lediglich eine kleine Auswahl erschlossen, unter anderem auf einer CD des Petersburger Labels Northern Flowers das (zweite) Cellokonzert und eine Sinfonie in E-Dur aus dem Jahre 1944 (die eventuell als Sinfonie Nr. 1 zu betrachten ist), daneben Suiten, Chöre und Gelegenheitswerke. Daher ist die vorliegende Veröffentlichung sehr willkommen, stellt sie doch zwei weitere großformatige Werke aus Mossolows späterem Schaffen erstmals vor.
Das frühere der beiden Opera ist das Harfenkonzert, ein dezidiert lyrisches Werk aus dem Jahre 1939, das für Wera Dulowa komponiert wurde, die es freilich nur einmal aufführte (unter Auslassung des kurzen dritten Satzes). In vielerlei Hinsicht handelt es sich um ein typisches Werk Mossolows aus der Zeit nach seiner Inhaftierung: die Musik ist schlicht gehalten (selbst für ein Werk, das den Erwartungen der sowjetischen Kulturpolitik jener Jahre zu entsprechen hatte), uneingeschränkt tonal (e-moll in diesem Fall), weitgehend unter Verzicht auf Chromatik, und sogar Kontrapunktik wird nur äußerst sparsam eingesetzt. Stattdessen steht einfache, (volks-)liedhafte Melodik im Zentrum, oft von der Harfe mit Figurationen und Arpeggien umspielt, wobei das Orchester insgesamt sehr sparsam eingesetzt wird. Ähnlich wie das Cellokonzert oder das zweite Streichquartett besitzt das Harfenkonzert eher den Charakter einer (ausgedehnten) Suite von Genrestücken; so sind die Sätze zwei bis vier explizit als Nocturne, Gavotte (mit einem Trio, das entfernt an das „Poljuschko Pole“ aus Knippers Sinfonie Nr. 4 erinnert) und Toccata bezeichnet. Mit der Sinfonie in E-Dur teilt das Harfenkonzert die ausgedehnten Proportionen; mit rund 37 Minuten Spieldauer dürfte es einer der längsten Vertretung seiner Gattung sein.
Alles zusammen wirkt das Harfenkonzert wesentlich zu lang; über weite Strecken passiert im Grunde genommen eher wenig. So bewegen sich die beiden Eingangssätze (d.h. die ersten über 26 Minuten des Konzerts!) im Wesentlichen im Adagio-Tempo, ohne dass dies zum Beispiel mit einer besonderen Intensität oder Variabilität des Ausdrucks einhergehen würde. Am gelungensten erscheint das Finale, weil es farbiger wirkt und einen willkommenen Kontrast liefert. In Kommentar zur CD wird die Behauptung vertreten, dieses Werk gehöre ins Standardrepertoire. Davon kann aus meiner Sicht keine Rede sein. Bereits ein Vergleich mit dem Glière-Konzert, das ein Jahr früher entstand und Mossolow offenbar zu seinem eigenen Konzert anregte, bekommt dem Werk schlecht, denn Glières Konzert ist wesentlich vielgestaltiger und reichhaltiger. Sucht man darüber hinaus speziell im früheren Ostblock nach weiteren lohnenswerten Harfenkonzerten, so könnte man etwa Boris Tischtschenkos Harfenkonzert (übrigens noch länger als Mossolows Gattungsbeitrag, aber erheblich facettenreicher), das expressive, dramatisch akzentuierte Konzert von Ernst Hermann Meyer oder, sucht man ein eher lyrisch geprägtes Stück, das Konzert des slowenischen Klangmagiers Lucijan Marija Škerjanc nennen.
Das interessantere der beiden Werke ist die dunkel-elegisch getönte, dreisätzige Sinfonie Nr. 5, entstanden 1965 (als Tonart wird in vielen Quellen e-moll angegeben, was in der Tat auf weite Teile der Ecksätze zutrifft, die Sinfonie endet allerdings in festlichem A-Dur). Im Vergleich zu den um 1940 entstandenen Werken hat sich Mossolows Tonsprache gewandelt; man wird in der Fünften immer wieder Anklänge an den späten Prokofjew finden. Nicht immer geschieht dies so explizit wie in Teilen des Mittelsatzes, wenn deutlich der Beginn von Prokofjews Siebter Sinfonie anklingt, aber mindestens spürbar bleibt der Einfluss meistens doch, etwa in der Orchestrierung (man beachte etwa die Behandlung der tiefen Register). Der episodische Charakter der Sinfonie, teilweise eher an eine Abfolge von Szenen erinnernd, lässt insbesondere an Prokofjews Ballettmusik denken. Dagegen ruft die elegische, brütend-verhangene Grundstimmung, aber auch die Harmonik Mjaskowski in Erinnerung. Ähnlich wie im Harfenkonzert dominieren langsame Tempi, die hier aber freier, variabler und kontrastreicher ausgestaltet werden.
Ein bemerkenswertes Detail ist, dass Mossolow in dieser Sinfonie recht ausgiebig seine eigene Klaviersonate Nr. 2 aus den Jahren 1923/24 zitiert. Dies gilt speziell für den langsamen Satz, der mit einer Reminiszenz an den Beginn der Sonate beginnt, dann aber vor allem ihren zweiten Satz verwendet. Später wird relativ zu Beginn des Finales (1:34 in der vorliegenden Aufnahme) wiederum der Beginn der Klaviersonate zitiert, nun wortwörtlich. Also doch noch einmal ein Rückbezug auf den frühen Mossolow! Freilich kann eher nicht von einer Wiederaufnahme seiner Tonsprache aus jungen Jahren die Rede sein, denn in beiden Sätzen hört man auch den späteren, „diatonischen“ Mossolow, und immer wieder scheint zudem seine Tendenz zu einem recht ausgedünnten Satz bis hin zur Einstimmigkeit durch. Dies wirkt nicht immer einheitlich, und im Vergleich zur Sonate zeigt sich insbesondere, dass Mossolow weder die atmosphärische Dichte noch die Stringenz seines frühen Werks erreicht.
Für eine sowjetische Sinfonie des Jahres 1965 ist Mossolows Fünfte eher konservativ; zu jener Zeit war die stilistische Bandbreite in der Sowjetunion bereits erheblich größer als in Stalins letzten Jahren, und auch Atonalität war keine Ausnahme mehr. In ihrer elegisch-retrospektiven Grundhaltung ist Mossolows Sinfonie vergleichbar mit Schebalins Fünfter (1962) oder Wladimir Jurowskis Fünfter (1971), wobei Letztere ebenfalls Material aus den jungen Jahren ihres Schöpfers zitiert. Wenn man an Komponisten denkt, die in den 1930er Jahren in ähnliche Konflikte wie Mossolow gerieten (und nicht gleich Schostakowitsch nennen will), ist auch ein Vergleich mit Gawriil Popows Sechster (1969) reizvoll; diese Sinfonie, auch Festliche genannt, ist ein in Teilen beinahe irrwitzig überdrehtes Werk, fast eher die Persiflage einer Festlichkeit. Mossolows Fünfte erreicht nicht das Niveau dieser Sinfonien, nicht zuletzt, weil sie insgesamt zu uneinheitlich ist. Dennoch handelt es sich um das bislang interessanteste Werk Mossolows aus seinem Schaffen nach der Inhaftierung, auch wenn einige der besten Passagen wesentlich auf der frühen Klaviersonate beruhen.
Das Moskauer Sinfonieorchester spielt insgesamt solide, einige Intonationsprobleme hier und da sind letztlich nicht so gravierend, dass sie ein größeres Problem darstellen würden. Ärgerlicher ist, dass die Interpretation der Sinfonie recht pauschal gerät: zum Beispiel wirkt die große Kulmination kurz vor Schluss des ersten Satzes vorwiegend laut und wenig differenziert. So aber ereignet sich die Musik nur Takt für Takt; Linienführung, Dramaturgie und Steigerungen kommen zu kurz. Gerade bei einem Werk wie dieser Sinfonie, das schon an und für sich nicht immer ganz kohärent wirkt, wäre ein stringenterer, nuancierterer Ansatz wichtig. Ähnliches gilt für das Harfenkonzert, dessen lyrische Ausrichtung stark betont wird, was seine erheblichen Längen noch deutlicher erscheinen lässt und auf die Dauer eintönig wirkt. Natürlich gibt es keine Vergleichseinspielung, aber Wera Dulowa hat eine Aufnahme einer kurzen Tanzsuite für Harfe allein von Mossolow hinterlassen. Obwohl diese Suite eigentlich nicht sonderlich interessant ist (ihre Thematik besteht im Wesentlichen aus Allgemeinplätzen), zeigt die Nuanciertheit und Lebendigkeit von Dulowas Interpretation auf, dass auch aus dem Harfenkonzert noch mehr herauszuholen wäre. Der Klang der Aufnahmen ist ordentlich, aber etwas matt.
Nicht ganz zufriedenstellend ist auch das (ausschließlich in englischer Sprache gehaltene) Beiheft: auf zwei Seiten wird vorwiegend Mossolows Biographie geschildert, auf die beiden Werke auf dieser CD wird dagegen nur spärlich eingegangen (und teilweise ist die Auswahl der Informationen nicht recht nachvollziehbar – zum Beispiel wird verschwiegen, dass im Rahmen des im Beiheft erwähnten Konzerts am 26. Januar 2019 offenbar auch die Sinfonie uraufgeführt wurde). Es soll dabei natürlich nicht abgestritten werden, dass gerade im Falle Mossolows biographische Details von wesentlicher Bedeutung sind. Wenn aber das Beiheft zum Beispiel die Bezüge zwischen der Sinfonie und der Zweiten Klaviersonate nicht einmal erwähnt, dann ist das schade, von einer gründlicheren Analyse der eingespielten Werke ganz zu schweigen.
Trotzdem ist diese CD-Veröffentlichung verdienstvoll, denn sicherlich ist Mossolow als Phänomen interessant genug, um auch seinem späteren Schaffen Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus besitzt die Fünfte Sinfonie durchaus reizvolle Passagen und zeigt, dass auch in Mossolows späterem Schaffen noch gewisse Entwicklungen zu beobachten sind, teilweise im Sinne einer Rückschau auf seine Anfänge.
Der Titel „Vivaldissimo“ steht über dieser höchst bemerkenswerten polnischen Produktion wie ein in die Irre führender Wegweiser. Zwar eröffnet Antonio Vivaldi das Programm, doch begeben wir uns, geleitet von dem Gitarristen Krzysztof Meisinger und dem auf historischen Instrumenten spielenden Ensemble Poland baROCK, auf eine zeitlich, geographisch und stilistisch deutlich weiter ausgreifende Reise als die Überschrift vermuten lässt: auf eine veritable musikalische Grand Tour! Sie führt vom Venezianer Vivaldi, vorerst in dessen Zeit bleibend, zu Johann Sigismund Weiss, der als Hoflautenist des Kurfürsten von der Pfalz in Düsseldorf, Heidelberg und Mannheim wirkte, und zu Johann Sebastian Bach nach Mitteldeutschland. Es folgt ein Sprung um eine Generation nach Wien, wo wir Karl Kohaut begegnen. Mit dessen jüngerem Zeitgenossen Luigi Boccherini landen wir in Spanien, und bleiben dort auch, wenn mit Isaac Albéniz die Szene ins späte 19. Jahrhundert wechselt. Sämtliche Werke sind für die Besetzung dieser Aufnahme eingerichtet worden: die Lautenkonzerte Vivaldis und Kohauts, sowie die Stücke von Boccherini und Albéniz vom hier spielenden Gitarristen Krzysztof Meisinger, das Lautenkonzert von Weiss von Alice Artz und die Aria aus Bachs Orchestersuite BWV 1068 von Dmitry Varelas.
Betrachtet man das Manuskript von Vivaldis D-Dur-Konzert RV 93 (an wohlbekannter Stelle im Netz zu finden), so fällt auf, wie wenige Vortragsbezeichnungen der Komponist notiert hat. Meisinger und Poland baROCK haben aus den wenigen Piano- und Forte-Angaben nicht den Schluss gezogen, hier müsse strikt zwischen lauten und leisen Abschnitten ohne weitere Differenzierung geschieden werden. Auch schlussfolgerten sie aus der weitgehenden Abwesenheit von Bindebögen und Artikulationszeichen nicht, dass Legatospiel zu vermeiden sei und die Musik möglichst monoton vorgetragen werden müsse. Nein, die Musiker haben sich hörbar in das Stück vertieft, jede Phrase auf ihre Funktion im Gesamtzusammenhang hin betrachtet, und dadurch den Aufbau der Sätze verinnerlicht. In jedem Moment behalten sie die Übersicht über das Geschehen und können somit den musikalischen Verlauf als Folge einander bedingender Ereignisse darstellen. Nirgends wirken die Klänge unbedacht aneinandergereiht. Die Musik schwingt in großen Bögen und strahlt in jedem Takt Leben aus, im raschen wie im langsamen Tempo. Die feine Differenzierung in Dynamik und Artikulation sorgt dafür, dass der erste Satz, obwohl sehr lebhaft vorgetragen, nirgends gehetzt wirkt, ebenso dass der zweite trotz sehr breitem Zeitmaß (er dauert in der vorliegenden Einspielung länger als die Ecksätze zusammengenommen) fest zusammenhält. Alle drei Sätze des Konzerts sind in zweiteiliger (Sonaten-)Form mit Wiederholungsvorschriften für beide Teile geschrieben. Diese werden auch alle ausgeführt, aber keineswegs als bloße Pflichtschuldigkeit philologischer Ursache, sondern dramaturgisch sinnvoll: Der zweite Durchlauf des zweiten Satzteils schließt unmittelbar an den ersten an, nachdem dieser am Schluss nur zu lokaler, aber nicht endgültiger Beruhigung gekommen war. So gelingt die Überraschung, und die Musik stürzt sich mit neuer Energie in die zweite Runde. Die Wiederholungen im langsamen Satz gestaltet Krzysztof Meisinger mit geschmackvollen Verzierungen aus, während das Orchester noch tiefer in die Musik einzutauchen scheint. Im zweiten Durchlauf des Kopfsatzes erlaubt sich der Solist einen kleinen Scherz, indem er vor dem letzten Tutti in einer kleinen Kadenz die Verwandtschaft des Hauptgedankens mit dem entsprechenden Thema des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten offenlegt. Außerdem leitet Meisinger den langsamen Satz mit einem kurzen improvisierten Vorspiel ein. Wie die Freiheiten, die sich die Musiker beim Vortrag und in der Ausgestaltung der Dynamik nehmen, stets im Einklang mit dem musikalischen Verlauf erscheinen, so fügen sich auch diese Zutaten des Solisten passend in den Zusammenhang ein.
Johann Sigismund Weiss stand zu Lebzeiten im Schatten seines älteren Bruders Silvius Leopold Weiss. Während jedoch dessen Lautenkonzerte bis auf die Solostimmen verloren gingen, hat das Schicksal es in dieser Hinsicht mit Johann Sigismund besser gemeint. Sein Konzert in d-Moll ist viersätzig, aber kürzer als das Vivaldische. Zweimal wechselt hier ein langsamer mit einem schnellen Satz, wobei der Kopfsatz sich gegen Schluss in einen kurzen schnellen Abschnitt hineinsteigert. Feurig beschwingt in den raschen Sätzen, grüblerisch und herb in den langsamen, stellt das Werk seinem Komponisten ein treffliches Zeugnis aus.
Karl Kohaut galt Mitte des 18. Jahrhunderts als bester Lautenist Wiens und stand in der Gunst Kaiser Josephs II., der ihn in den Adelsstand erhob. Sein etwa 20-minütiges Konzert in E-Dur steht stilistisch ungefähr in der Mitte zwischen Matthias Georg Monn und dem frühen Joseph Haydn, was sich formal darin äußert, dass der Kopfsatz sich gleichermaßen als Ritornell- wie als Sonatenform beschreiben lässt. Ein freundlicher, galanter Tonfall prägt die Ecksätze, namentlich das im Menuett-Zeitmaß gehaltene Finale. Sie umschließen ein arioses Larghetto in Moll.
Krzysztof Meisinger ist ein souveräner Virtuose und zeigt dies überall, wo ihm die Komponisten entsprechende Figurationen zu spielen geben. Allerdings erschöpft sich sein Künstlertum nicht in der technischen Perfektion. Alle langsamen Sätze des vorliegenden Albums demonstrieren, wie fein er es versteht, die Gitarre singen zu lassen; ebenso, dass er ein großartiger Kammermusiker ist, der auf seine Mitspieler zu hören weiß. Auf den charakteristischen Klang seines Instruments vertrauend, hält er sich mitunter deutlich zurück, um den Streichern mehr Raum zu gönnen, wenn diese prominent hervorzutreten haben. Der Solist drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern fungiert gleichsam als Schlagader des musikalischen Geschehens. Er mag die markanteste Stimme haben, doch gönnt er auch allen anderen Stimmen ihr Recht. Ein besonders inniges Miteinander gelingt auf diese Weise in der Bachschen Air. Ein Reiz eigener Art entsteht durch die Besetzung der Continuo-Gruppe von Poland baROCK mit Theorbe und Cembalo. Gerade in den langsamen Sätzen, wenn die Musik im allgemeinen recht leise ist, kann man die drei einander ähnlichen Klangfarben von Solo-Gitarre, Cembalo und Theorbe im Zusammenspiel hören.
Um für den Schluss des Programms nach Spanien überzuleiten, erweist sich der letzte Satz von Boccherinis Gitarrenquintett G. 448 bestens geeignet, beginnt doch seine Einleitung im gleichem Rokoko-Geist, der dem vorangegangenen Konzert Kohauts das Gepräge gibt, um letztlich in einen Fandango zu münden. Meisingers Bearbeitung von Albéniz‘ Asturias lässt klanglich aufhorchen. Zwar hört man das ursprünglich für Klavier geschriebene Stück oft von einer Gitarre vorgetragen, aber wann einmal mit einem Barockorchester als Begleitung? Das Experiment gelingt prächtig! Im Gegensatz zu Boccherinis Fandango, wo Meisinger noch Erster unter Gleichen ist, übernimmt er hier sehr entschieden die Führung. Die Streicher schaffen mit langen Orgelpunkten eine weiträumige Atmosphäre, während das Cembalo mit harten Arpeggien und Stützakkorden wie eine große zweite Gitarre klingt. Dass auch die spanischen Stücke, jedes auf die ihm angemessene Art, höchst kultiviert vorgetragen werden, erübrigt sich fast zu sagen.
Der Begleittext beschränkt sich auf ein kurzes Geleitwort Krzysztof Meisingers auf Polnisch. Die Musiker lassen also weitgehend die Musik für sich sprechen. Und das tut sie in ihren Händen wahrlich ausgezeichnet.