Aldilà Records, ARCD 015; EAN: 9 003643 980150
Was liegt näher, als sich über die Weihnachtstage mit Musik zu beschäftigen, die Demjenigen Ehre erweist, dessen Geburt den Anlass bot, das Weihnachtsfest ins Leben treten zu lassen? Pünktlich zum Fest hat Aldilà Records Olivier Messiaens Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus herausgebracht. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts, das die Pianistin Pi-Hsien Chen 2005 in der Kölner Kirche St. Cäcilien gegeben hat.
Das Jesuskind in der Krippe: ein kleiner Mensch, gerade erst auf die Welt gekommen, noch ganz hilflos und schutzbedürftig – und zugleich Gottes Sohn, der filius Dei unigenitus, von einer Substanz mit dem Vater, also Gott, der ewige und allmächtige, selbst. Nirgendwo sonst ist die Spannweite der ungetrennten zwei Naturen Jesu Christi so deutlich spürbar wie in diesem Bild. Mannigfaltige Assoziationen können dem entspringen und zu künstlerischer Gestaltung anregen. Olivier Messiaen, als dezidiert katholischer Komponist, ließ sich zu einem Zyklus von 20 Klavierstücken inspirieren, deren jedes einen Blick auf das Jesuskind unter einem bestimmten Gesichtspunkt musikalisch verdeutlicht. Begonnen wird mit dem Blick Gottvaters. Gleich zu Beginn dieses ersten Stückes erscheint das wichtigste Thema des Werkes, von Messiaen selbst als „Thema Gottes“ bezeichnet, das im Verlauf des Zyklus immer wieder auftaucht und wie ein Wegweiser hilft, sich im musikalischen Geschehen zu orientieren. Es beschließt, in einer außerordentlich langen Coda, auch den letzten Satz, in welchem Jesus aus Sicht der „Kirche der Liebe“ betrachtet wird. Außer dem „Thema Gottes“ hat Messiaen im Vorwort der Partitur noch auf das „Thema des Sterns und des Kreuzes“ (zuerst in Satz 2 zu hören) und das „Akkord-Thema“ (ein Strukturelement ohne spezielle symbolische Bedeutung) hingewiesen. Weitere Themen, das „Thema der Liebe“ etwa, kennzeichnet der Komponist ebenso in der Partitur wie die eingestreuten Vogelrufe. Für Messiaen spricht Gott aus den Stimmen der Vögel. Durchaus naheliegend erschien es somit, dass er sie u. a. als Symbole für Mariae Verkündigung im vierten und elften Satz verwendete.
Messiaens musikalische Umsetzung seiner religiösen Empfindungen ist unverwechselbar. Die Vingt Regards sind meditative Musik; auf Stilmittel zur Dramatisierung des musikalischen Geschehens verzichtet der Komponist gezielt. An Stelle eines Spannungsaufbaus anhand klarer tonaler Verhältnisse tritt ein elaboriertes Modussystem, das tonale Zentren zwar als Nebenprodukte ausbildet, aber ihr Wechselspiel gerade nicht in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Entsprechend entstehen auch keine rhythmischen Pulse. Die Rhythmik selbst ist außerordentlich vielgestaltig, zumal Messiaen in vielen Stücken keine festen Metren vorschreibt, sondern durch Verkürzung und Verlängerung einzelner Töne Takte unterschiedlicher Ausdehnung einander folgen lässt. Der Tonsatz kommt nahezu ohne kontrapunktische Techniken aus. Statt des Aufeinandereinwirkens mehrerer Stimmen, das ja selbst bei Palestrina etwas von dramatischer Aktion, von gegenseitigem Antreiben, an sich hat, bevorzugt Messiaen eine homophone Satzgestaltung, geprägt von Akkordfolgen. Sein Einfallsreichtum in der Gestaltung aparter, raffinierter, milder Dissonanzen – oft mit Zusatztönen angereicherte Dur- oder Mollklänge – verdient besondere Erwähnung. Gezielt eingesetzte Funktionsharmonik begegnet selten: Ein Beispiel sind die kindlich anmutenden Dominante-Tonika-Kadenzen in Satz 15, Le baiser de l’Enfant-Jésus, wobei die Tonika regelmäßig mit einer hinzugefügten Sexte verziert wird. Im Großen und Ganzen kultiviert Messiaen eine enorm farbenreiche, aber statische Harmonik. Seine musikalische Dramaturgie wird von prägnant formulierten, bildhaften Momenten bestimmt, die einander abwechseln. Diese Musik zu hören, verschafft das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, denn eine Gestaltung des Drängens der Zeit interessiert Messiaen schlicht nicht. Er wollte nach eigenen Worten Musik schaffen, die das Ende der Zeit zum Ausdruck bringt. So schweben die Vingt Regards gleichsam zeitlos vorüber.
Das vom WDR aufgezeichnete Konzert, in dem Pi-Hsien Chen sich am 4. Juli 2005 den enormen technischen und musikalischen Herausforderungen stellte, die eine Darbietung des kompletten Zyklus mit sich bringt (er dauert unter ihren Händen über 130 Minuten), muss gleichermaßen für die Pianistin wie für das Publikum eine Sternstunde gewesen sein. Der Mitschnitt lässt jene Atmosphäre erahnen, die entsteht, wenn vortreffliche Musiker ihre Zuhörer zu fesseln verstehen und, von ihrer Aufmerksamkeit angespornt, sich zu Höchstleitungen steigern. Der Darbietung selbst merkt man an, wie sehr sich die Pianistin in diese Musik vertieft haben muss. Nirgends wirkt Messiaens demonstrative Zeit(maß)losigkeit angestrengt oder ermüdend. Pi-Hsien Chens sorgfältiges Herausarbeiten der dynamischen Abstufungen und der klangfarblichen Gestaltung der verschiedenen Abschnitte bewirkt ebenso wie ihre Gabe, tonale Schwerpunkte in der nicht-tonal konzipierten Musik aufzuspüren, dass die Übersichtlichkeit über die musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und die Musik sich mit einer Natürlichkeit entfaltet, als könnte es nicht anders sein. Wer mit Messiaen 20 Blicke auf das Jesuskind werfen möchte, kann sich bedenkenlos Pi-Hsien Chen anvertrauen.
[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]