Archiv für den Monat: Dezember 2020

Hommage und Selbstverwirklichung

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610069

Auf dem zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke Gordon Sherwoods von Masha Dimitrieva hören wir Stücke, die eine gewisse Hommagefunktion erfüllen: Die „Air“ der „Sieben beschreibenden Klavierstücke“ op. 6 steht im Zeichen Bartóks, die zwei „Rondos im klassischen Stil“ op. 4 greifen die Musik Haydns und Schuberts auf, die „Drei Stücke op. 22“ bekennen sich zu Hindemith. Komplexer werden solche Zuordnungen bei den längeren Werken dieser CD: Die Sonate op. 111+11 bezieht sich auf Beethoven, ist aber in Motto und Klang in buddhistischen Sphären errichtet. Die abschließenden Blues-Variationen op. 33 konzipierte Sherwood auf ein Thema von Peter Heaton, widmete das Werk Fats Waller – in seinem Innersten ist es jedoch eine Hommage auf die gesamte Ragtime-, Blues und Barpiano-Szene.

Das Unglaubliche in der Musik Gordon Sherwoods ist seine Fähigkeit, in jedem Stil er selbst zu bleiben. Mühelos, gar schwerelos, mäandert er zwischen Bach, Wiener Klassik, Romanik und Moderne bis hin zum Jazz, nimmt sich dabei das Beste aus jedem Stil heraus und fusioniert es zu einer eigenen, vielseitigen wie facettenreichen Tonsprache. Nie gleichen sich zwei Werke Sherwoods bezüglich ihrer Tonsprache und doch erkennt man eines seiner Stücke sofort anhand mancher Harmonieabfolgen, Muster oder Figurationen, die er favorisiert. In meiner Rezension über den ersten Teil der Einspielung seiner Klavierwerke vermerkte ich noch: „Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass sein Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist.“ [Zitat: siehe den Beitrag „Weltbüger und Bettler“] Heute würde ich ergänzen, dass er trotz aller Divergenzen doch einen Funken aufweist, die ihn unverkennbar macht in seiner Kompositionsweise. Wie genau sich dieser niederschlägt, das wäre ein spannender Ausgangspunkt für die Musikforschung.

Was seine Biographie angeht, so könnte man alleine viele Seiten füllen, denn Sherwood führte ein filmreich anarchisches, von allen hiesigen Konventionen befreites Leben. Er opferte eine geordnete Lebensführung als Komponist (den Erfolgen seiner frühen Jahre nach zu urteilen sicherlich als gefeierter Star der zeitgenössischen Musik) seinem Drang nach Freiheit; so das Geld es zuließ, reiste er und ließ sich in Afrika oder Asien zu neuer Musik inspirieren. Wo es finanziell fehlte, ging er nach Paris, um dort „Self-Sponsoring“ zu betreiben, also Passanten auf der Straße um eine Bezahlung für seine Musik zu bitten. Wer von den Passanten hätte wissen können, dass einer der Meisterschüler Coplands, Jarnachs und Petrassis, dessen Symphonie op. 3 durch Mitropoulos durchschlagenden Erfolg feierte, gerade um Gaben bettelte. Nur wenige Freunde und Verehrer seiner Kunst wussten um das wahre Genie Sherwoods; erst der Film „Der Bettler von Paris“ verlieh ihm in Deutschland kurzzeitig Aufmerksamkeit – auch Masha Dimitrieva sah diesen Film und versuchte sogleich, diesen wundersamen Mann zu kontaktieren. Über mehrere Ecken klappte dies schließlich und führte zu beidseitig inspirierenden Begegnungen: Gordon Sherwood erhielt den Funken, sein lang geplantes Klavierkonzert gemeinsam mit Masha Dimitrieva in die Tat umzusetzen; auch widmete er ihr andere seiner Kompositionen. Unter anderem steht sie in der Widmung der hier zu hörenden Sonate op. 111+11. Masha Dimitrieva ist es auch, die nach dem Tod Sherwoods sein geistiges Erbe verwaltet und sich als Leitfigur für seine Musik einsetzt. Nicht nur sämtliche seiner Klavierwerke spielt sie aktuell ein, sondern auch alle Lieder.

Die große Herausforderung liegt in diesem Unterfangen auf der Hand: Die Musik Sherwoods verlangt eine souveräne Beherrschung sämtlicher Stile verschiedener Epochen oder gar von Personalstilen einzelner Komponisten, darüber hinaus das Verständnis, hinter diese oberflächlichen Eigentümlichkeiten zu sehen und den Sherwood eigenen Kern zu entdecken.

Direkt nach seiner neutönerischen Symphonie op. 3, durch welche er zu einem der spannendsten jungen Tonsetzer gekürt wurde, schrieb er die Zwei Wiener Rondos op. 4. Auf den ersten Blick mögen sie wie Studienwerke klingen, geschrieben um sich den Stilen der großen Meister anzunähern, doch es steckt mehr dahinter: Sherwood präsentiert nicht nur meisterliche Beherrschung der Handschriften von Haydn und Schubert, sondern kann sie auf unvergleichliche Weise eigenständig weiterführen. Bereits hier bricht er mit den Konventionen und schreibt wissentlich wider die Art der Musik, die ihn neulich noch bekannt machte. Leichter kann man auch als Sherwood-unerfahrener Hörer seine kompositorischen Eigentümlichkeiten in den Sieben beschreibenden Klavierstücken op. 6 und den später entstandenen Drei Stücken op. 22 durchhören. Beide nähern sich zwar ebenso anderen Komponisten an, mit Hindemith und Bartók zwei Meistern der Moderne, doch können in den hier freieren, dissonanteren Tonräumen mehr von Sherwoods favorisierten Wendungen auftreten. Besondere Beachtung verdienen die Zwölf Variationen auf ein Blues-Thema op. 33. Sherwood arbeitete lange Zeit als Barpianist und machte sich so mit den tanzbaren Rhythmen vertraut, mit den Eigenheiten des Blues, aber auch damit, wie man ihn durchbrechen kann. In den Variationen nimmt er den Blues in seine Mikroteilchen auseinander und durchdringt die Form bis ins kleinste Detail, um sie auf teils gar widerborstige Weise neu zusammenzusetzen. Manche der Variationen könnten ohne Weiteres in einer Bar erklingen, andere strotzen vor Dissonanzen und gespannten Momenten, wieder andere glühen vor rhythmischer (Tanz-)Energie. Halsbrecherisch virtuos spielt Sherwood genau mit der Bruchstelle zwischen sogenannter ernster und leichter Musik, zeigt verstohlen heimlich beiden die lange Nase. Hier hört man am deutlichsten, welche Harmoniewendungen Sherwood präferiert, welche Motivschnipsel ihn beschäftigen und was seine Handschrift ausmacht. Den Höhepunkt der CD macht die halbstündige Sonate op. 111+11 aus, die in zweisätziger Faktur einen gewaltig großen Aufbau zeichnet, wie man ihn in dieser Stringenz selten in der Musikgeschichte erlebt. Die Sätze beschreiben zwei buddhistische Entwicklungsstadien: Sotapanna (Vorbereitendes Stadium des buddhistischen Heilsweges. Brodelnd vor Wut, Bitterkeit und gerechtem Zorn. Gier und Selbstsucht sind überwunden, aber noch nicht Ärger und Angst) und Arahat (Endgültiges Stadium des buddhistischen Heilsweges. Besänftigt durch tiefen inneren Frieden, Gelassenheit und Behagen. Ärger, Bitterkeit und Angst sind überwunden). Diesen Weg der Reinigung zeichnet Sherwood – selbst praktizierender Buddhist – in der Musik nach und führt uns hin zu einem verheißenden Höhepunkt. Der Weg wirkt mühsam, voller Verlockungen und Hindernissen, doch die Erleuchtung lockt und zieht uns das Stück entlang. Erzählend, beschreibend, verheißend bannt uns die Musik und lässt uns nicht los, ehe wir einen kurzen Blick auf die Freuden werfen konnten, welche der Heilsweg verspricht.

Masha Dimitrieva führt uns durch diese Musik, angetrieben von der tiefen Zuneigung zu jedem der Stücke und von ihrer Mission, die Musik des „Bettlers von Paris“ erstmalig und vollständig zugänglich zu machen. Nicht nur technisch meistert sie jede Hürde mit Bravour, sondern auch musikalisch durch tiefes Verständnis zu jedem Stil und zum Kern, Sherwoods omnipräsente Handschrift. Perlend klar und heiter klingen die Wiener Rondos, swingend leichtfüßig die Blues-Variationen, verhaltener die Air und perkussiv fokussiert die Stücke op. 22. Aus der Sonate holt Dimitrieva alles heraus, was man sich als Hörer wünschen kann. Durch den allmählichen Aufbau und die Beibehaltung eines kontinuierlichen Stroms nach vorne, der über sämtliche Abbiegungen und Ausschweifungen der Musik hinweg spürbar bleibt, bannt sie uns in die Musik und zelebriert die buddhistische Philosophie durch ihr Spiel.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2020]

Ein Meister der Aussparung

Capriccio, C5413; EAN: 8 45221 05413 1

Capriccio veröffentlicht ein Porträt des Komponisten Rudolf Wagner-Régeny. Vier seiner Werke werden vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Johannes Kalitzke, Steffen Schleiermacher am Klavier, dem Rundfunkchor Berlin sowie der Altistin Michaela Selinger vorgestellt.

Zahlreiche Komponisten der Jahrgänge 1880 und aufwärts aus dem deutschen Sprachraum sind diskographisch leider nach wie vor eher spärlich erschlossen. Das hat vielfältige Gründe, ist aber zu bedauern, weil es hier sehr viel sehr gute Musik zu entdecken gäbe. In den letzten Jahren hat das Label Capriccio auf diesem Gebiet mit einer Reihe gelungener Veröffentlichungen (etwa mit Musik von Boris Blacher, Victor Bruns, Gottfried von Einem, Hanns Eisler oder Gerhard Frommel) aufgewartet.

In diese Reihe passt die vorliegende CD mit Werken von Rudolf Wagner-Régeny (1903–1969). Wagner-Régeny wurde im siebenbürgischen Szászrégen (oder Sächsisch Regen) geboren, worauf sich der selbstgewählte Namenszusatz bezieht. Einstmals insbesondere als Opernkomponist sowohl im Dritten Reich als auch später in der DDR erfolgreich, wird seine Musik heute nur noch selten gespielt. Auf CD ist seine Oper „Die Bürger von Calais“ zu haben, und außerdem sind zwei Porträt-CDs des (nach dem Tod seines Gründers mittlerweile leider inaktiven) Labels Hastedt zu erwähnen, das sich um Musik aus der ehemaligen DDR sehr verdient gemacht hat.

Neben den Opern, die als Zentrum seines Schaffens gelten, hat Wagner-Régeny zahlreiche andere Genres bedient, zunächst tendenziell als Nebenprodukt seines Bühnenschaffens, später immer stärker auch unabhängig davon. Wagner-Régeny kann grundsätzlich als Neoklassizist bezeichnet werden. In etwa ab den späten 1940er Jahren greift er immer wieder auch auf Dodekaphonie zurück, ohne tonale Bezüge aufzugeben. Es ist nicht schwer, in seiner Musik eine ganze Reihe verschiedener Einflüsse (z.B. Hindemith, Blacher, Weill oder Strawinski) auszumachen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eine charakteristische eigene Tonsprache besitzt, die diese Vorbilder nicht kopiert, sondern eher integriert. Bekannt für seine „Kunst der Aussparung“, wählt Wagner-Régeny seine Mittel in aller Regel ausgesprochen ökonomisch und konzentriert und vermeidet die große Geste zugunsten einer eher herben, kühlen Expressivität mit besonderem Schwerpunkt auf der melodischen Linie. Seine Musik wirkt transparent und luzide, auch die Orchesterwerke muten meist eher kammermusikalisch an. In seinem Spätwerk vereinigt sich dies zuweilen mit einer Atmosphäre von Abschied und Retrospektive zu einer bei aller Zurückgenommenheit eigentlich bemerkenswert ausdrucksstarken Musik, so etwa in seinem orchestralen Meisterwerk, der herrlichen Einleitung und Ode für sinfonisches Orchester aus seinen letzten Lebensjahren.

Am Beginn der vorliegenden CD steht Genesis, eine Kantate (oder Oratorium) für Alt, Chor und kleines Orchester aus den Jahren 1955/56, die in lateinischer Sprache die biblische Schöpfungsgeschichte schildert. Die sechs Sätze sind mit Ausnahme des letzten eher kurz, es dominieren ruhige, meditative Töne, was mit Tempoangaben einhergeht, die nicht über Allegretto oder Moderato hinausgehen, und einer generellen Tendenz zu Mollklängen. So mündet das Werk auch am Ende nicht in eine große Apotheose, sondern klingt mit Reminiszenzen an den Beginn in gravitätischer Ruhe aus. Kalitzkes Einspielung betont die Einheitlichkeit des Stücks und seine zurückgenommene, fast mystische Grundstimmung. Sicher ist dies eine gute Interpretation. Dass es allerdings möglich ist, dieses Werk noch suggestiver und eindrucksvoller zu gestalten, zeigt der Mitschnitt der Uraufführung mit Herbert Kegel am Pult, der auf einer Hastedt-CD veröffentlicht wurde (bedauerlicherweise längst vergriffen und selbst gebraucht kaum noch erhältlich). Kegel bringt die Linien und Spannungskurven dieser Musik deutlicher zur Geltung und erzeugt so stärkere Kontraste und eine insgesamt intensivere Deutung. Seine Lesart bleibt somit trotz der klanglichen Defizite, die bei einer Einspielung aus dem Jahre 1956 unvermeidbar sind, die Referenzeinspielung dieser Kantate.

Es folgt eines von Wagner-Régenys erfolgreichsten Werken, die Orchestermusik mit Klavier aus dem Jahre 1935, eine Art kleines Klavierkonzert, das nach Angaben von Tilo Medek offenbar Bezüge zu Wagner-Régenys Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum aufweist. Es handelt sich um ein ausgesprochen attraktives, dankbares Werk, das durch einprägsame, diatonisch geprägte und auf motorischen Impulsen aufbauende Thematik besticht, die teilweise volksliedhaft wirkt, manchmal auch Unterhaltungsmusik anklingen lässt. Vieles ist bewusst einfach und spielmusikhaft gehalten. Wie der Titel suggeriert, steht nicht Virtuosität im Vordergrund, sondern das Klavier interagiert mit dem Orchester oder ist sogar in dieses integriert. Einen Kontrast zu den lebhaften Ecksätzen (wobei der dritte zweigeteilt ist: dem eigentlichen Finale geht als Einleitung ein kesses Scherzo voran) bildet ein beseelter, liedhafter langsamer Satz, der später variiert und in einen langsamen Marsch verwandelt wird.

Mir sind insgesamt nicht weniger als vier Einspielungen der Orchestermusik bekannt: neben der vorliegenden Neueinspielung sind dies Eleonore Wikarski (Hastedt-CD, Aufnahme von 1967), Amadeus Webersinke (eine Schallplatte des DDR-Labels für neue Musik Nova, Aufnahme von 1981/82) und schließlich Rudolf Wagner-Régeny selbst am Klavier in einer nicht kommerziell veröffentlichten Aufnahme aus dem Jahr 1949. Bemerkenswerterweise nimmt die Lesart des Komponisten selbst eine Extremposition ein: insgesamt ist dies die deutlich langsamste Einspielung, dabei mit allerhand Freiheiten in der Tempogestaltung wie auch Rubati, insgesamt eine überraschend expressive Deutung. Dagegen wirkt insbesondere Amadeus Webersinkes Interpretation wesentlich klassizistischer und letztlich ein wenig arg gezügelt. Schleiermacher wählt eine Art Mittelweg mit eher zügigen Tempi (vor allem in den schnellen Sätzen), aber mehr Temperament als Webersinke.

Speziell im ersten Satz wählen Wagner-Régeny und auch Wikarski einen merklich breiteren Ansatz, der die Vortragsanweisung „heftig“ untermauert, andererseits das parodistische Element des zweiten Themas besonders gut zur Geltung bringt. Im zweiten Satz lässt niemand die Melodik so breit aussingen wie Wagner-Régeny selbst – so gespielt, mag man etwa in den choralartigen Holzbläserpassagen sogar ein wenig an den langsamen Satz des Reger-Konzerts denken. Allerdings vertragen beide Sätze auch eine zügigere Tempowahl sehr gut: im ersten Satz wird so der zupackend-athletische Charakter betont, der zweite wirkt etwas flüssiger – ebenfalls also eine schlüssige Lesart der Orchestermusik. Lediglich im Fugato zu Beginn von Satz 3b erscheint mir Schleiermachers Tempo als einen Hauch zu schnell, um noch „anmutig“ zu wirken, aber dabei handelt es sich um Nuancen. Insgesamt ist dies eine sehr gute Neueinspielung, die diesem Werk hoffentlich viele neue Freunde bescheren wird.

Bei den Mythologischen Figurinen aus dem Jahre 1951 handelt es sich um ein orchestrales Triptychon, in welchem (unter Verwendung von Zwölftontechnik sowie Blachers „variablen Metren“) drei griechische Göttinnen porträtiert werden. Interessant ist ein Vergleich mit Wagner-Régenys Drei Orchestersätzen (Nova-LP), die ihrerseits als Vorstudie zum Oratorium Prometheus gelten, also in gewisser Hinsicht ebenfalls einen Bezug zur griechischen Mythologie besitzen und vielleicht eine Art Schwesterwerk darstellen. Auch in den Orchestersätzen verwendet Wagner-Régeny Dodekaphonie, aber der tonale Bezug erscheint etwas stärker. Beispielsweise enden beide Zyklen mit einer Art Apotheose, aber wo die Mythologischen Figurinen in ein abschwellendes Unisono-D münden, lässt Wagner-Régeny seine Orchestersätze mit einem kräftigen Dur-Akkord enden. Durch derlei Details wirken die Orchestersätze insgesamt ein wenig leichter zugänglich als die manchmal etwas sperrigen Figurinen. Kalitzkes Einspielung bewegt sich auf hohem Niveau, insbesondere auch bezüglich der Orchesterleistung, wenngleich ähnlich wie im Falle von Genesis noch mehr an Spannung und Expressivität aus der Partitur herauszuholen wäre (exemplarisch seien die langsameren Passagen in der Mitte des ersten Stücks genannt, die recht statisch wirken). Trotzdem zweifelsohne eine erfreuliche Ergänzung der Wagner-Régeny-Diskographie.

Am Ende der CD steht ein reines Klavierwerk, nämlich die Fünf französischen Klavierstücke, erneut aus dem Jahre 1951 und ebenfalls unter Verwendung von Zwölftontechnik. Diese Miniaturen von jeweils kaum mehr als ein bis zwei Minuten Länge sind in Trois Parfums und Deux hommages à la cuisine geteilt. Sie unterstreichen Wagner-Régenys Tendenz zu Verknappung, Reduktion und Verzicht auf schmückendes Beiwerk. Dies wird durch Schleiermachers sehr trockenen, nüchternen Ansatz noch verstärkt. Dadurch allerdings wirkt die Musik insgesamt reichlich blass und spröde. Im Vergleich arbeitet Peter Szaunig auf einer vergriffenen, von der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung herausgegebenen CD die Linien und Farben dieser Musik wesentlich deutlicher heraus. So beginnen auch diese vermeintlich trockenen Stücke zu „sprechen“, und die Delikatesse, die sie ja qua Titel besitzen sollten, kommt erst wirklich zum Vorschein.

Klangtechnisch ist die CD vorzüglich gelungen, die Aufnahmen sind transparent, und in der Orchestermusik ist das Klavier gut in das Klangbild integriert. Christian Heindl informiert im Begleittext ausführlich und auf gewohnt hohem Niveau.

Summa summarum ein willkommenes Plädoyer für Wagner-Régenys Musik.

[Holger Sambale, Dezember 2020]

20 Blicke in guten Händen

Aldilà Records, ARCD 015; EAN: 9 003643 980150

Was liegt näher, als sich über die Weihnachtstage mit Musik zu beschäftigen, die Demjenigen Ehre erweist, dessen Geburt den Anlass bot, das Weihnachtsfest ins Leben treten zu lassen? Pünktlich zum Fest hat Aldilà Records Olivier Messiaens Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus herausgebracht. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts, das die Pianistin Pi-Hsien Chen 2005 in der Kölner Kirche St. Cäcilien gegeben hat.

Das Jesuskind in der Krippe: ein kleiner Mensch, gerade erst auf die Welt gekommen, noch ganz hilflos und schutzbedürftig – und zugleich Gottes Sohn, der filius Dei unigenitus, von einer Substanz mit dem Vater, also Gott, der ewige und allmächtige, selbst. Nirgendwo sonst ist die Spannweite der ungetrennten zwei Naturen Jesu Christi so deutlich spürbar wie in diesem Bild. Mannigfaltige Assoziationen können dem entspringen und zu künstlerischer Gestaltung anregen. Olivier Messiaen, als dezidiert katholischer Komponist, ließ sich zu einem Zyklus von 20 Klavierstücken inspirieren, deren jedes einen Blick auf das Jesuskind unter einem bestimmten Gesichtspunkt musikalisch verdeutlicht. Begonnen wird mit dem Blick Gottvaters. Gleich zu Beginn dieses ersten Stückes erscheint das wichtigste Thema des Werkes, von Messiaen selbst als „Thema Gottes“ bezeichnet, das im Verlauf des Zyklus immer wieder auftaucht und wie ein Wegweiser hilft, sich im musikalischen Geschehen zu orientieren. Es beschließt, in einer außerordentlich langen Coda, auch den letzten Satz, in welchem Jesus aus Sicht der „Kirche der Liebe“ betrachtet wird. Außer dem „Thema Gottes“ hat Messiaen im Vorwort der Partitur noch auf das „Thema des Sterns und des Kreuzes“ (zuerst in Satz 2 zu hören) und das „Akkord-Thema“ (ein Strukturelement ohne spezielle symbolische Bedeutung) hingewiesen. Weitere Themen, das „Thema der Liebe“ etwa, kennzeichnet der Komponist ebenso in der Partitur wie die eingestreuten Vogelrufe. Für Messiaen spricht Gott aus den Stimmen der Vögel. Durchaus naheliegend erschien es somit, dass er sie u. a. als Symbole für Mariae Verkündigung im vierten und elften Satz verwendete.

Messiaens musikalische Umsetzung seiner religiösen Empfindungen ist unverwechselbar. Die Vingt Regards sind meditative Musik; auf Stilmittel zur Dramatisierung des musikalischen Geschehens verzichtet der Komponist gezielt. An Stelle eines Spannungsaufbaus anhand klarer tonaler Verhältnisse tritt ein elaboriertes Modussystem, das tonale Zentren zwar als Nebenprodukte ausbildet, aber ihr Wechselspiel gerade nicht in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Entsprechend entstehen auch keine rhythmischen Pulse. Die Rhythmik selbst ist außerordentlich vielgestaltig, zumal Messiaen in vielen Stücken keine festen Metren vorschreibt, sondern durch Verkürzung und Verlängerung einzelner Töne Takte unterschiedlicher Ausdehnung einander folgen lässt. Der Tonsatz kommt nahezu ohne kontrapunktische Techniken aus. Statt des Aufeinandereinwirkens mehrerer Stimmen, das ja selbst bei Palestrina etwas von dramatischer Aktion, von gegenseitigem Antreiben, an sich hat, bevorzugt Messiaen eine homophone Satzgestaltung, geprägt von Akkordfolgen. Sein Einfallsreichtum in der Gestaltung aparter, raffinierter, milder Dissonanzen – oft mit Zusatztönen angereicherte Dur- oder Mollklänge – verdient besondere Erwähnung. Gezielt eingesetzte Funktionsharmonik begegnet selten: Ein Beispiel sind die kindlich anmutenden Dominante-Tonika-Kadenzen in Satz 15, Le baiser de l’Enfant-Jésus, wobei die Tonika regelmäßig mit einer hinzugefügten Sexte verziert wird. Im Großen und Ganzen kultiviert Messiaen eine enorm farbenreiche, aber statische Harmonik. Seine musikalische Dramaturgie wird von prägnant formulierten, bildhaften Momenten bestimmt, die einander abwechseln. Diese Musik zu hören, verschafft das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, denn eine Gestaltung des Drängens der Zeit interessiert Messiaen schlicht nicht. Er wollte nach eigenen Worten Musik schaffen, die das Ende der Zeit zum Ausdruck bringt. So schweben die Vingt Regards gleichsam zeitlos vorüber.

Das vom WDR aufgezeichnete Konzert, in dem Pi-Hsien Chen sich am 4. Juli 2005 den enormen technischen und musikalischen Herausforderungen stellte, die eine Darbietung des kompletten Zyklus mit sich bringt (er dauert unter ihren Händen über 130 Minuten), muss gleichermaßen für die Pianistin wie für das Publikum eine Sternstunde gewesen sein. Der Mitschnitt lässt jene Atmosphäre erahnen, die entsteht, wenn vortreffliche Musiker ihre Zuhörer zu fesseln verstehen und, von ihrer Aufmerksamkeit angespornt, sich zu Höchstleitungen steigern. Der Darbietung selbst merkt man an, wie sehr sich die Pianistin in diese Musik vertieft haben muss. Nirgends wirkt Messiaens demonstrative Zeit(maß)losigkeit angestrengt oder ermüdend. Pi-Hsien Chens sorgfältiges Herausarbeiten der dynamischen Abstufungen und der klangfarblichen Gestaltung der verschiedenen Abschnitte bewirkt ebenso wie ihre Gabe, tonale Schwerpunkte in der nicht-tonal konzipierten Musik aufzuspüren, dass die Übersichtlichkeit über die musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und die Musik sich mit einer Natürlichkeit entfaltet, als könnte es nicht anders sein. Wer mit Messiaen 20 Blicke auf das Jesuskind werfen möchte, kann sich bedenkenlos Pi-Hsien Chen anvertrauen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Rumänisch, französisch, rhapsodisch, streng

Toccata Classics, TOCC 0376; EAN: 5 060113 443762

Für Toccata Classics hat Matthew Rubenstein eine repräsentative Auswahl der Klavierwerke Marcel Mihalovicis aufgenommen.

Der gebürtige Rumäne Marcel Mihalovici war rund sechs Jahrzehnte lang eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben seiner Wahlheimat Frankreich. 1898 in Bukarest geboren, hatte er 21-jährig den Ratschlag seines 17 Jahre älteren Landsmannes George Enescu befolgt und sich in Paris niedergelassen, wo er bis 1925 an der Schola Cantorum Komposition bei Vincent d’Indy, Harmonielehre bei Léon-Edgar Saint-Réquier und Paul Le Flem, Gregorianik bei Amédée Gastoué und Violine bei Nestor Lejeune studierte. In Künstlerkreisen gut vernetzt, fand er nach dem Ende seines Studiums Anschluss an den Verleger Michel Dillard, der sich auf die Verbreitung von Werken in Paris lebender ausländischer Komponisten spezialisiert hatte. Die um Dillard versammelten Komponisten, neben Mihalovici u. a. der Tscheche Bohuslav Martinů, der Schweizer Conrad Beck, der Ungar Tibor Harsányi und der Pole Alexander Tansman, sind unter dem Namen „École de Paris“ in die französische Musikgeschichte eingegangen; die Erforschung dieser „Schule“ dürfte ein ergiebiges Thema für Musikhistoriker sein. In den Zenit seiner Bekanntheit gelangte Mihalovici nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum einen wurde er im Rundfunk viel gespielt, zum andern fand er, außerhalb Frankreichs bis dahin wenig bekannt, durch seine Bekanntschaft mit Dirigenten wie Hans Rosbaud, Paul Sacher, Erich Schmid, Ferdinand Leitner und Heinz Zeebe, sowie dem Intendanten des SWR Heinrich Strobel Anschluss an das Musikleben Deutschlands und der Schweiz. Regelmäßig standen nun, in Frankreich wie in den deutschsprachigen Ländern, seine Kompositionen auf Programmen von Festen zeitgenössischer Musik. Die Bestrebungen der deutschen und französischen Nachkriegsavantgardisten blieben ihm allerdings fremd. Hochgeehrt starb Mihalovici 1985 in Paris.

Von den genannten Komponisten der „École de Paris“ hat bislang nur Martinů eine seiner Begabung angemessene diskographische Repräsentation erfahren. Auch das Schaffen Mihalovicis ist, trotz zahlreichen Rundfunkaufnahmen zu Lebzeiten, auf Tonträgern bislang nur spärlich vertreten. An vorderster Stelle muss hier der großen Pianistin Monique Haas gedacht werden, der Ehefrau des Komponisten, die mehrere seiner Werke auf LP festgehalten hat (so für Deutsche Grammophon die Ricercari op. 46 und, prachtvoll im Duo mit Max Rostal, die Violinsonate Nr. 2 op. 45, beides mittlerweile auf CD überspielt). Auch fand immer wieder einmal eines seiner Kammermusik- oder Klavierstücke in einer Anthologie Platz. Auf eine erste CD-Einspielung wartet allerdings noch sehr viel, denn Mihalovici hinterließ ein Werkverzeichnis, dessen über 100 Opuszahlen nahezu sämtliche Gattungen umfassen: Fünf Symphonien, eine große Zahl weiterer Kompositionen für große oder kleine Orchesterbesetzungen, Kantaten, Opern, Ballette, Kammermusik (darunter vier Streichquartette), sowie Werke für Klavier solo.

Für die letztgenannten hat sich nun der in Berlin lebende amerikanische Pianist Matthew Rubenstein eingesetzt und das erste Klavieralbum aufgenommen, das gänzlich Marcel Mihalovici gewidmet ist. Die CD enthält mit den Ricercari op. 46, der Sonate op. 62 und der Passacaglia für die linke Hand op. 105 die drei gewichtigsten Beiträge des Komponisten zur Klavierliteratur. Sie werden ergänzt durch eine Auswahl seiner kürzeren Stücke: Die Sonatine op. 11, Quatre Caprices op. 29 und Quatre Pastorales op. 62. Ein Blick auf die Opuszahlen verrät, dass sich die Werke dieses Programms ziemlich gleichmäßig über Mihalovicis gesamte Schaffenszeit verteilen: Zwischen der Sonatine und der Passacaglia liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Wir haben mit der CD also auch die geraffte Darstellung eines Künstlerlebens vor uns.

Insgesamt 66 seiner 87 Lebensjahre verbrachte Mihalovici in Frankreich. Seine rumänische Identität hat er dabei nie verleugnet, auch kehrte er bis zum Zweiten Weltkrieg regelmäßig in den Sommermonaten nach Rumänien zurück. Seinem künstlerischen Schaffen lässt sich anhören, dass es als Frucht eines beständigen Wanderns zwischen beiden Kulturen entstand. Die Stilmittel der französischen Impressionisten – ihre aparten, unaufgelösten Dissonanzen, ihre entfunktionalisierte, in klangfarbliche Phänomene hinüberspielende Harmonik, ihre Vorliebe für modale und pentatonische Melodien – berühren sich in vielerlei Hinsicht mit denjenigen südosteuropäischer Volksmusik. Mihalovici setzt gewissermaßen an diesen Schnittstellen an und kultiviert einen Personalstil, in dem östliche und französische Einflüsse zu einer unauflöslichen Synthese verschmelzen. In nuce verdeutlicht dies die erste Caprice aus op. 29: Die Verzierungen der Melodie scheinen rurale Balkanlandschaften zu evozieren, der Walzerrhythmus dagegen die Atmosphäre eines Pariser Salons zu beschwören – und die Harmonien, sind sie näher an Ravel und Milhaud oder näher an Bartók und Enescu? Man höre selbst! Eine knappe Minute gibt der Komponist uns Zeit.

Die übrigen Miniaturen sind etwas, aber nicht viel länger: Die Pastorales op. 19 bewegen sich alle im Rahmen zwischen anderthalb und zwei Minuten, die Caprice op. 29/3 ist mit zweieinhalb Minuten die längste. Auch die drei Sätze der Sonatine op. 11 bleiben unterhalb der Zwei-Minuten-Marke. In allen diesen Stücken herrscht auf kleinem Raum frisches, lebendiges Treiben, in raschen wie in langsamen Tempi. Mihalovici ist gleichermaßen Rhapsode wie strenger, detailversessener Motivarbeiter. Nicht selten entpuppt sich bei ihm ein Kontrastabschnitt bei näherem Hinhören als aus vorangegangenem Material abgeleitet. Das Finale der Sonatine gestaltet er als Fuge, einschließlich Engführung, Umkehrung und, zum Schluss, Augmentation.

Die kontrapunktischen Künste finden sich in den beiden Variationswerken intensiviert. Obwohl mit 22 bzw. 17½ Minuten nicht besonders lang, kann man die Ricercari wie die Passacaglia getrost zu den monumentalen Klaviervariationen des 20. Jahrhunderts zählen. Beide Werke sind äußerst dicht gearbeitet und sehr ernsten Charakters. Im Falle der Ricercari lässt sich dies durchaus auf biographische Hintergründe zurückführen, denn sie entstanden 1941, während der schwierigsten Zeit in Mihalovicis Leben, als sich der jüdischstämmige Komponist vor den deutschen Besatzern nach Cannes geflüchtet hatte. Formal ist das Werk höchst originell, im wahrsten Sinne des Wortes sucht der Komponist stets seinem Hauptgedanken neue Seiten abzugewinnen. Es beginnt mit einer Passacaglia; dieser folgen neun Variationen, faktisch frei gestaltete kontrapunktische Miniaturen über die Motive des Passacaglia-Themas; den Schluss bildet eine sich mächtig steigernde Fuge, die zum Schluss in sich zusammenfällt. Bei der 1975 komponierten Passacaglia, dem letzten Klavierwerk des damals bereits 77-jährigen Mihalovici, handelt es sich um eine Meditation über Albrecht Dürers berühmten Kupferstich Melencolia I, dessen verschiedene Bildelemente den Komponisten zu einzelnen Variationen inspirierten. Die linke Hand hat eine Vielzahl unterschiedlicher Satztechniken wiederzugeben und wird so virtuos behandelt, dass das Fehlen der rechten kaum zu merken ist. Die Dramaturgie wirkt weniger stringent als die der Ricercari, eher scheint den Variationen die Idee eines unruhigen, konzentrischen Kreisens zugrunde zu liegen. Der Schluss beruhigt das Geschehen durch Neutralisierung aller Affekte.

Anscheinend verstärkten sich in Mihalovicis späterem Schaffen die rumänischen Charakteristika. Jedenfalls bezeichnete der Komponist selbst seine 17-minütige, dreisätzige Klaviersonate von 1964 als eines seiner „rumänischsten“ Werke. Tatsächlich begegnet hier gleich zu Beginn jener eigentümlich „heterophone“ Tonsatz, wie man ihn auch aus den späten Werken Enescus kennt. Zigeunermodi kommen ausgiebig zum Einsatz, auch Glockenimitationen (zweiter Satz) und derbe Tanzrhythmen (Finale) fehlen nicht – alles freilich präsentiert in den Formen französischer clarté. Dass auch dieses Stück voller subtiler Zusammenhänge steckt, versteht sich bei einem so formbewussten Komponisten wie Mihalovici nahezu von selbst.

Matthew Rubenstein ist den Stücken Mihalovicis ein sorgfältig ans Werk gehender Sachwalter. Er meistert alle technischen Herausforderungen und gibt den Werken durch fein abgestufte Dynamik und variantenreichen Anschlag ein scharfes klangliches Profil, das die Vielschichtigkeit der Musik deutlich werden lässt. Die Produktion wird abgerundet durch ein außerordentlich umfangreiches Beiheft, bestehend aus einer kurzen persönlichen Erinnerung des Pianisten Charles Timbrell an Marcel Mihalovici und Monique Haas, und eine ebenso ausführliche wie hilfreiche Beschreibung sämtlicher eingespielter Werke durch Lukas Näf. Für die Rezeption Mihalovicis ist diese Veröffentlichung ein großer Gewinn. Möge sie weiteren den Weg weisen!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Kleines Beethoven-Vademecum (1): Über magische Anziehung – Rainer Aschemeiers Gedanken zum Streichtrio op. 3

2020 jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. Bekanntlich ist nur das Datum seiner Taufe, der 17. Dezember 1770, gesichert; geboren wurde er wahrscheinlich am Tag zuvor. Zur zeitlichen Festlegung eines Gedenkjahres bieten sich mehrere Möglichkeiten. Orientiert man sich an der bloßen Jahreszahl ohne Rücksicht auf Monat und Tag, so stellen wir fest, dass mit dem Jahrestag von Beethovens Geburt das Gedenkjahr bereits beinahe vorbei wäre, fast als hätte man es mit dem 249. Geburtstag des Meisters beginnen und mit dem 250. enden lassen. Gehen wir also – auch angesichts der beklagenswerten Zustände des Jahres 2020 und in Hoffnung auf ein besseres 2021 – den anderen Weg, und nehmen wir die runde Wiederkehr des Tages, an welchem die Existenz Ludwig van Beethovens erstmalig beurkundet wurde, zum Anlass, das Gedenkjahr beginnen zu lassen. Das heute beginnende Beethoven-Jahr 2020/21 begeht The New Listener mit der Veröffentlichung eines „Kleinen Beethoven-Vademecums“. In loser Folge werden unter dieser Rubrik Essays und Rezensionen erscheinen, die sich als persönliche Wegweiser der jeweiligen Autoren durch Beethovens Schaffen, die Aufnahmen seiner Werke oder die Literatur zu Leben und Werk verstehen.

Im ersten Beitrag hat unser Gastautor Rainer Aschemeier das Wort, um von dem Zauber zu berichten, mit dem ein bestimmtes Werk Beethovens ihn seit der ersten Begegnung in seinen Bann schlägt: das Streichtrio Es-Dur op. 3. Rainer Aschemeier begann seine berufliche Laufbahn beim Verlag Bibliographisches Institut und F.A. Brockhaus, wo er als promovierter Geograph das Weltatlasprogramm mitgestaltete. Er wechselte zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), wo er bis 2011 die Lektorate Geo-, Natur- und Musikwissenschaft leitete. Nach einer Phase der Selbstständigkeit, in der er für viele namhafte Buchverlage (u.a. Springer Science/Spektrum, Brockhaus, DUDEN, Tessloff, Dorling Kindersley usw.) arbeitete und musikjournalistisch als Autor und Rezensent u.a. für die Magazine Crescendo, Applaus und concerti sowie für das Feuilleton des „Mannheimer Morgen“ tätig war, wechselte er zum Musikvertrieb NAXOS Deutschland GmbH, wo er von Januar 2015 an für mehr als fünf Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortete. Seit März 2020 ist Rainer Aschemeier Inhaber seiner eigenen PR-Agentur klassik21. (d. Red.)

Es gibt Kunstwerke, die werden umso rätselhafter, je mehr man versucht, sie zu ergründen. Beispiele hierfür gibt es in allen Kunstgattungen, und natürlich auch in der Musik. Es handelt sich dabei um Werke, die neben einer perfekten kompositorischen Umsetzung eine ganz bestimmte, magische Ausstrahlung entwickeln, wenn sie auf gewissenhafte und empathische Interpreten treffen. Eine Ausstrahlung, die ins Innerste vorzudringen vermag und die verständlich macht, warum so viele Menschen Musik als „Schlüssel zur Seele“ wahrnehmen.

Zugegeben, solche Ausführungen sind heute unmodern. In unserer Zeit, in der wir es gewohnt sind, nur an das zu glauben, was sich greifen (und somit begreifen), belegen und vermessen lässt, erliegen wir der Illusion, dass es uns weiterbringt, wenn wir komplexe Phänomene auf ihre Datenbasis reduzieren. Wir erliegen der Illusion, dass wir dadurch dem Verständnis dieser Phänomene irgendwie näherkommen, und es scheint eine Vorgabe geworden zu sein, dass allzu menschliche Regungen wie Gefühle, Begeisterung, aber auch Zweifel und Verunsicherung nicht in diesen Kosmos der Durchdringung des Unbegreiflichen gehören.

Für mich gibt einige, es sind vielleicht eigentlich nur zwei, drei Handvoll Werke der sogenannten klassischen Musik, die mich wie magisch immer wieder anziehen, die mich förmlich zu rufen scheinen. Bei jenen Werken, wo ich glücklich genug war, sie schon in der Kindheit zum ersten Mal hören zu dürfen, geschah dies nicht selten vom ersten Augenblick an. Doch dieser „Effekt“ ist nicht vergänglich. Auch heute noch passiert es mir – trotz der Repertoireflut, in der ich mich professionell bewege –, dass ich auf musikalische Werke stoße, die gleich beim ersten Hören etwas in mir zum resonieren bringen, gegen das ich mich nicht wehren kann. Das Werk „ruft“ mich, und dies, so bin ich mir sicher, wird bis zu meinem eigenen physischen Ende nicht nachlassen.

Wenn dies eintritt, bin ich nach anfänglicher, fast naiver Begeisterung erst einmal ganz verwirrt: Was genau „ruft“ mich da? Was spricht da aus diesem Werk zu mir? Was gibt es da zu entdecken?

Natürlich führt dann der erste Schritt meist zur musikwissenschaftlichen Fachliteratur. Man möchte Umstände, Zeit und Struktur der Komposition besser kennenlernen. Doch ebenso wenig, wie es eine Gedichtinterpretation vermag, den Zauber eines Hölderlin-Gedichts zu erklären, gelingt es mir, anhand musikwissenschaftlicher Texte dem Zauber von Musik näherzukommen.

Es ist dann, als bekäme ich den Bauplan des Taj Mahal in die Hand und würde nun anhand dieses Bauplans das Gebäude genau studieren dürfen. Natürlich wäre das ein Gewinn, und so ist es auch, wenn man den architektonischen Aufbau eines Musikstücks kennenlernt eigentlich immer. Doch letztendlich wäre ich trotzdem dem „Zauber“ nicht nähergekommen.

Solch ein Stück ist für mich das – in erschütternder Bescheidenheit – „Divertimento“ getaufte Streichtrio in Es-Dur KV563 von Wolfgang Amadeus Mozart. Es gehört zu seinen reifen Kompositionen im Umfeld der letzten drei Sinfonien und darf getrost als einer der höchsten Gipfel der Kammermusik betrachtet werden. Mozart erkannte vielleicht, dass seine Zeitgenossen das Werk kaum wertschätzen, geschweige denn verstehen würden, und er verschenkte es an seinen Freund und Hauptgläubiger Puchberg. So kam das bedeutende Werk einige Jahre nicht ans Licht und wurde erst ein Jahr nach Mozarts Tod 1792 gedruckt.

Noch in jenem Jahr muss nach aktueller Forschungslage der damals 22-jährige Ludwig van Beethoven auf das Werk gestoßen sein, und es muss wohl auch ihn „gerufen“ haben. Es ließ ihm offenbar keine Ruhe. In relativ kurzer zeitlicher Abfolge komponierte Beethoven, beginnend wohl noch in Bonn, nicht weniger als fünf Streichtrios, von denen er eines (Op. 8) vielleicht in direkter Anlehnung an Mozart „Serenade“ benannte.

Von den nachfolgenden Generationen wurden diese Streichtrios höchstens noch am Rande wahrgenommen. In der Rückschau sehen wir eben zuerst die höchsten Gipfel der „musikalischen Achttausender“, die berühmten Sinfonien, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert, die späten Streichquartette die berühmten Klaviersonaten, den „Fidelio“ und all die anderen großen Werke, die Beethoven zum bedeutendsten Komponisten seiner Generation gemacht haben.

Doch im Abendlicht, wenn die Sonne schräg steht, dann glänzt da am Horizont von Beethovens Jugend ein Gipfel besonders hell zwischen all den Zinnen der späten Meisterwerke: Es ist das allererste Streichtrio, das der junge Beethoven schrieb. Es steht – ebenso wie Mozarts Meisterwerk – in Es-Dur und trägt die Opuszahl 3.

Es ist eines jener Werke, die mich sofort gepackt haben, als ich es das erste Mal hörte. Ich erinnere mich, dass ich das Stück auf CD kennenlernte. Als Student mit notorisch klammem Geldbeutel griff ich zu einer Aufnahme, die ich damals als „Gelegenheit“ wahrnahm: Sämtliche Beethoven-Streichtrios zum Minipreis beim Label „Brilliant Classics“ in der Einspielung des „The Zurich String Trio“, bestehend aus Boris Livschitz, Zvi Livschitz und Mikael Hakhnazarian. Es sollte sich als einer der besten Käufe in meiner Laufbahn als Sammler erweisen. Ich habe danach noch viele Aufnahmen dieses Stücks gehört, auch mit den vermeintlich „ganz großen“ Namen der Szene, doch bis heute vermag es nur die Aufnahme des „Zurich String Trio“ mich so in den Bann zu ziehen wie damals, als ich das Stück zum ersten Mal hörte.

Ich würde mir nie herausnehmen wollen, den größten Komponisten seiner Epoche psychologisieren zu können, doch mein Eindruck war stets: Wir erleben hier angesichts des übergroß erscheinenden Vorbilds Mozarts einen sozusagen verunsicherten, vortastenden Beethoven, der doch – vielleicht sogar nicht einmal besonders bewusst – gleich mit seinem ersten „Wurf“ in der Gattung alles richtig gemacht hat. Insbesondere die ersten beiden Sätze des Stücks sind unbedingt auf Augenhöhe mit Mozart und vermögen es, Mozarts unvergleichlichem Meisterwerk nicht nur etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen, sondern in mancher Hinsicht noch einen „draufzusetzen“. Für die beiden Menuette in Beethovens Op. 3 haben die Musikwissenschaftler meist nur Floskeln übrig wie „konventionell“, „klassisch“, usw. Und natürlich: von der Architektur her sind beide – abgesehen vielleicht von dem seltsam „stotternden“ Duktus des dritten Satzes – nicht sonderlich außergewöhnlich. Sie sind aber wichtig für das gesamte Werk, stehen genau da, wo sie sollen und machen das Meisterwerk zum „Gesamtkunstwerk“. Zudem verbindet Beethoven hier Welten, die zu seiner Zeit unvereinbar schienen: Das erste Menuett folgt eindeutig einem höfischen Vorbild, während das zweite Menuett eher ein derber Ländler ist, und mit einem Mittelteil daherkommt, der durch seine Bordunbässe so klingt, als würde ein Dorf-Fiedler in Begleitung einer Drehleier aufspielen. Dies ist übrigens nicht die einzige Stelle in Beethovens Op. 3, an der das gewisse „Dudelsack-Feeling“ aufkommt. Schon im ersten Satz gibt es atemberaubend schöne Stellen mit Bordunbegleitung.

Zwischen diesen beiden Tanzsätzen wirkt das sehnsuchtsvolle Adagio wie eine romantische Szene am Rande festlichen Trubels. Es ist dies der Satz, der fast zu schön wirkt. Die Kantabilität seines beinahe aristokratisch anmutenden Hauptthemas verleitet viele Interpreten, auch das Zurich String Trio, zum Einsatz von reichlich emotionalisierendem Vibrato. Doch die romantische Innigkeit, die bei unbedachter Darbietung leicht ins biedermeierliche abrutschen könnte, beinhaltet auch eine schmerzvolle Seite. Und mehr als einmal fällt die vorbildlich „wienerklassische“ Musik aus dem Rahmen und dann ist es – in bester Mozart-Manier – wie ein völlig unvermittelter Stich ins Herz, der in nur einem kurzen Augenblick das ganze Leid der Welt zu transportieren scheint.

Im Finale greift Beethoven die tänzerische Stimmung des zweiten Menuetts auf und führt jeden Interpreten dieser Musik anhand eines zunächst vermeintlich harmlosen Hauptthemas durch etliche Virtuositäten und spieltechnische Hürden – ein „Kehraus“-Finale, wie es im Buche steht! Man kann sich selbst auf CD den Publikumsapplaus vorstellen, der dieser Tour de Force folgen müsste.

Und so bin ich zuletzt doch selbst der Versuchung unterlegen, Musik zu beschreiben, die ich selbst nicht im Ansatz verstehe, die ich wohl auch nie letztendlich verstehen werde. Es ist ein weiterer, zum Scheitern verurteilter Versuch der Annäherung an Musik, die mich einfach nicht loslässt und die mir immer wieder neu und interessant vorkommt, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich in ihr selbst gespiegelt fühlt, auch wenn das natürlich anmaßend ist – doch wehren kann ich mich dagegen trotzdem nicht.

Im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag hätte ich mir gewünscht, dass gerade die weniger bekannten Facetten dieses unzweifelhaft genialen Komponisten einmal etwas stärker in den Fokus gerückt würden. Nach meinem Eindruck hatte das in zurückliegenden „Jubiläumsjahren“ für manche Komponisten sehr gut funktioniert, am besten vielleicht zuletzt bei Mozart, Schumann und Mahler. Die Mehrzahl der bisherigen Beiträge zum „Beethoven-Jahr“ waren bis auf wenige Ausnahmen aber geprägt von recht offensichtlichen Ansätzen und vielen Redundanzen.

Es gab nur wenige Interpreten (wie z.B. Boris Giltburg, Hanna Shibayeva oder Sophie-Mayuko Vetter), die sich wirklich getraut haben, sich mit ihrer ganzen, eigenen Persönlichkeit in den Dienst des Beethoven-Jahrs zu stellen und vor allem auch mitzuteilen, welcher kreative, vor allem aber auch emotionale Prozess mit einer solchen konzentrierten Beschäftigung mit einem Komponisten im Jahr seines 250. Geburtstags einhergeht.

Es liegt deshalb an jedem selbst, Beethoven immer wieder neu zu entdecken und sich nicht darauf zu verlassen, was zu einem Jubiläumsjahr präsentiert wird. Musik ist frei. Es muss nicht gegessen werden, was auf den Tisch kommt! Die Diskografie ist im Falle Beethovens so reich wie bei kaum einem anderen Komponisten. Man kann sich sehr gut sein eigenes Süppchen daraus kochen.

[Rainer Aschemeier, Dezember 2020]

Farbenprächtige Sinfonik aus Bulgarien

Capriccio, C8050 ; EAN: 8 45221 08050 5

Capriccio setzt seine Pantscho-Wladigerow-Edition mit den beiden Sinfonien und Konzertouvertüren fort. Erneut dirigiert Alexandar Wladigerow das Bulgarische Nationale Rundfunk-Sinfonieorchester.

Während die Musik Bulgariens auf eine uralte Tradition bis ins erste Jahrtausend zurückblickt, beginnt die Geschichte der bulgarischen Kunstmusik westeuropäischer Prägung erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Entscheidende Bedeutung (sowohl durch ihre eigene Musik als auch durch ihre Lehrtätigkeit) kam einer Generation formidabler Komponisten zu, die rund um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren und im Ausland ausgebildet wurden. Zu nennen sind hier Petko Stajnow, Wesselin Stojanow, Dimitar Nenow, Ljubomir Pipkow und zuvorderst Pantscho Wladigerow (in englischer Umschrift Pancho Vladigerov; 1899–1978), der als bulgarischer Nationalkomponist gilt.

Wladigerows Musik fußt auf der Spätromantik und bulgarischer Folklore und verbindet diese mit impressionistischen und in Maßen auch neoklassizistischen Einflüssen. Sie ist tonal bzw. oft eher modal gehalten, die Harmonik ist üppig und immer wieder mit Dissonanzen gewürzt, die meist sehr einprägsame Melodik bulgarischen Volksthemen nachempfunden oder diese abwandelnd, auch die für die bulgarische Folklore typischen ungeraden Taktmaße treten häufig auf. Hervorzuheben ist Wladigerows Sinn für Klangfarben, er ist ein glänzender Orchestrator, aufbauend auf Richard Strauss und vergleichbar mit Joseph Marx, der die große Geste ebenso wie feine Nuancierungen beherrscht.

Bislang war lediglich eine kleinere Auswahl aus dem Schaffen Wladigerows auf CD erhältlich (u.a. CPO, Naxos sowie einige bulgarische CDs). Einige seiner zentralen Werke, insbesondere seine fünf Klavierkonzerte (mit Ausnahme des dritten) und die beiden Sinfonien, blieben dabei bedauerlicherweise außen vor. In diese Lücke stößt nun das Label Capriccio, das Aufnahmen, die das bulgarische Staatslabel Balkanton in den 1970er Jahren auf Schallplatte herausbrachte, auf CD wiederveröffentlicht. Nach der ersten 3 CD-Box mit den Klavierkonzerten (auf dieser Seite bereits von Oliver Fraenzke rezensiert) ist soeben als nächstes eine Doppel-CD mit den beiden Sinfonien und Konzertouvertüren auf den Markt gekommen.

Mit der Komposition von Sinfonien hat sich Wladigerow vergleichsweise viel Zeit gelassen; seine Sinfonie Nr. 1 d-moll op. 33 entstand 1939 – ein reifes Werk von 45 Minuten Dauer, das Wladigerow bereits auf dem Zenit seiner kompositorischen Meisterschaft zeigt. Gleich der Beginn, eine Allegro vivace-Einleitung in D-Dur, ist elektrisierend: was für eine Welle der Euphorie, die den Hörer hier überrollt! Nach und nach ebbt die Hochstimmung allerdings ab, und der folgende ausladende Sonatensatz wie auch der zweite, langsame Satz sind eher konflikthaft und kämpferisch geprägt. Wenn am Ende des Kopfsatzes doch wieder ein (leicht verfremdetes) D-Dur erreicht wird, dann klingt das eher hart errungen denn als Konfliktlösung. Einen Wendepunkt beschreibt das volkstanzhafte, leicht rustikale Scherzo, denn wenn im Finale hinsichtlich Dramaturgie und musikalischen Materials der Bogen zurück zum Kopfsatz geschlagen wird, dann nun deutlich zuversichtlicher. So endet die Sinfonie ähnlich triumphal, wie sie begonnen hat. Ein großartiges, faszinierendes Werk.

Ist die Erste Sinfonie heroisch-dramatisch akzentuiert, so deuten bereits die reduzierte Besetzung der zehn Jahre später entstandenen Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 44 (für Streichorchester) sowie der Beiname „Maisinfonie“ darauf hin, dass der Charakter dieses Werks ein anderer ist. Hier dominieren lyrische, entspanntere, auch versponnen-nostalgische Töne, Letzteres speziell in den beiden Mittelsätzen, die im Grunde genommen beide langsam sind: auf ein kantables, elegisch angehauchtes Adagio folgt ein langsamer Walzer mit einem dorisch gefärbten Hauptthema. Die Ecksätze und ganz speziell das Finale sind dagegen insgesamt hell, aktiv und kraftvoll gehalten und unterstreichen, dass Wladigerow diese Sinfonie auch als Jugendsinfonie verstanden wissen wollte. Trotzdem handelt es sich keinesfalls um eine Art Sinfonietta, was allein schon die erneut umfangreiche Konzeption (mit wiederum einer Dreiviertelstunde Spieldauer) unterstreicht. Faszinierend ist, wie sich Wladigerow auch im Umgang mit dem Streichorchester als brillanter Orchestrator mit einem großartigen Gespür für Klangfarben erweist. Exemplarisch sei der „strahlende“, flächig-panoramahafte Beginn der Sinfonie genannt, aber auch deutlich intimere Passagen etwa in den Mittelsätzen, zum Teil unter Einbeziehung von Soli.

Begleitet werden die beiden Sinfonien durch Wladigerows Konzertouvertüren, eine Kombination, die in vielerlei Hinsicht stimmig erscheint, nicht zuletzt, da beide in relativer zeitlicher Nähe zu den Sinfonien entstanden (1933 bzw. 1949) und es sich um groß angelegte Werke von sinfonischem Anspruch handelt. In der „Erde“ op. 27 – zu verstehen als Heimaterde oder Heimatland – entwirft Wladigerow ein buntes Panorama: die in der langsamen, rhapsodisch wirkenden Einleitung vorherrschenden dunkleren Farben werden im Allegro von einem prägnanten, burschikos anmutenden Hauptthema zur Seite gewischt, kontrastiert durch lyrisch-kantabel aufblühende Melodik. Die Heroische Ouvertüre op. 45 ist auch unter dem Titel „Der neunte September“ bekannt; sie entstand zur Fünfjahrfeier der kommunistischen Machtübernahme in Bulgarien. Das Resultat ist ein ungemein farben- und klangprächtiges Orchesterwerk, das unter anderem vom Kontrast zwischen einem ernst dahinfließenden, schwermütigen Thema und appellhafter, marschartiger Motivik lebt und schließlich in einen ausgesprochen wirkungsvollen, monumentalen Schluss mündet, der einer hellen Zukunft entgegenzustreben scheint.

Als eine Art Zugabe befindet sich schließlich noch Wladigerows Herbstelegie op. 15 Nr. 2 in dieser Zusammenstellung, die 1937 erfolgte Orchestrierung eines 15 Jahre zuvor entstandenen Klavierstücks. Diese rund siebenminütige, bogenförmig aufgebaute Stimmungsmalerei mit Höhepunkt in der Mitte baut auf einem um einen Orgelpunkt pendelnden Motiv auf, das das gesamte Stück über präsent bleibt, ebenso wie die Grundtonalität C niemals weit entfernt ist, was der Musik eine schwere, lastende Atmosphäre verleiht. Wechsel zwischen Moll und Dur sorgen dabei für ein reizvolles Spiel von Schattierungen. Eine bezaubernde Miniatur voller aparter Farben, sehr delikat orchestriert.

In allen Werken dirigiert Alexandar Wladigerow (1933–1993), der Sohn des Komponisten, das Nationale Bulgarische Rundfunk-Sinfonieorchester. Es handelt sich durchwegs um sehr engagierte, überzeugende Interpretationen auf ausgesprochen hohem Niveau, die Charakter und Flair dieser Musik exzellent zur Geltung kommen lassen. Dass sie noch zu Lebzeiten des Komponisten (in den 1970er Jahren) entstanden, verleiht ihnen zusätzliche Authentizität. Die Einspielungen sind allesamt Stereoaufnahmen, die für diese Produktion sehr gut aufbereitet wurden. Natürlich entsprechen die klangtechnischen Standards dennoch nicht immer denjenigen unserer Zeit: hier und da brummt es im Hintergrund etwas (Herbstelegie), andere Aufnahmen sind recht hallig (Sinfonie Nr. 2). Insgesamt aber sind diese Abstriche niemals so stark, dass sie den Hörgenuss entscheidend schmälern würden. Alles zusammen werden mit diesen Einspielungen interpretatorische Standards gesetzt, die auch neuere Produktionen nicht selbstverständlich erreichen dürften.

Ein großes Lob gebührt dem Beiheft, in dem Christian Heindl ausführlich und detailliert über Wladigerow, die Musik auf dieser CD und allerlei Hintergründe informiert. In meiner Ausgabe kommt es auf einigen Seiten zu drucktechnischen Mängeln (der Text erscheint leicht versetzt doppelt). Inwiefern es sich dabei um ein generelles Problem handelt, weiß ich natürlich nicht, und es soll auch den ausgesprochen positiven Gesamteindruck nicht beeinträchtigen.

Man kann Capriccio zu dieser Wladigerow-Edition nur gratulieren und darf gespannt auf die nächsten Folgen warten.

[Holger Sambale, Dezember 2020]

Ein besonderes Geschenk

Auch in Weimar sind öffentliche Konzerte durch coronabekränzte Generalpausen ersetzt worden, und bleibt es bis auf Weiteres abzuwarten, wann die Dirigenten das nächste Zeichen zum Einsetzen geben werden. In dieser Ausnahmesituation erreichte die Redaktion eine Mitteilung darüber, wie die Bewohner eines Pflegeheims dennoch in den Genuss hervorragenden Klavierspiels gekommen sind. Der folgende Beitrag basiert auf Aufzeichnungen von Dr. Karl-Heinz Fröhlich, Universitätsdozent für Pädagogik i. R., wohnhaft im Marie-Seebach-Stift zu Weimar.

Prof. Christian Wilm Müller, der an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Kammermusik und Klavier unterrichtet, pflegt seit langer Zeit eine enge Beziehung zur Marie-Seebach-Stiftung, einem Pflegeheim, das ursprünglich für Bühnenkünstler im Ruhestand gegründet worden war und heute kulturinteressierten älteren Menschen jeglicher Herkunft als Wohnstätte dient. Das Forum Seebach, der Veranstaltungssaal des Stifts, ist in Weimar als Adresse für Kammerkonzerte, Lieder- und Klavierabende wohlbekannt – eine fest ins Musikleben der Stadt integrierte Institution. Für Studenten der Musikhochschule ist es ein idealer Ort, ihr Können unter Beweis zu stellen, bevor sie den Schritt in die großen Konzertstätten wagen. So sind auch Angehörige der Klassen Christian Wilm Müllers immer wieder dort zu hören gewesen.

Ein Bild aus besseren Tagen: Christian Wilm Müller bei einem Konzert im Forum Seebach (Photo: Bernd Lindig).

Es war kein Konzert, zu dem der Professor am 9. Dezember selbst ins Seebach-Stift kam, denn ein Publikum von außerhalb war nicht vorgesehen; so hatte es auch keine öffentlichen Ankündigungen gegeben. Nur die Bewohner des Stifts wussten seit zwei Tagen von dem außerordentlichen Musikangebot des Pianisten. Die Einhaltung der Hygienevorschriften erforderte, dass die Bewohner, entsprechend den beiden Stiftshäusern, in zwei Gruppen nacheinander den Veranstaltungssaal betraten und dort in großen Abständen voneinander Platz nahmen. Prof. Müller spielte für sie zweimal ein 30-minütiges Programm mit Kompositionen dreier Klassiker der Klavierliteratur – jeweils mit wenigen einleitenden Worten des Pianisten: die Sonate e-Moll op. 90 von Ludwig van Beethoven, Capriccio g-Moll (Nr. 3) und Intermezzo E-Dur (Nr. 4) aus den Fantasien op. 116 von Johannes Brahms, sowie Franz Liszts Petrarca-Sonett Nr. 104 aus den Années de Pèlerinage.

Prof. Müllers Klavierspiel zeichnet sich durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vorwärtsdrang und Tempofreiheit aus. So gelang es ihm ausgezeichnet, im ersten Satz der Beethoven-Sonate die widerstreitenden Affekte darzustellen, ohne dass das Stück an Schwung verlor. Ebenso sicher führte er seine Zuhörer durch die Seelenkämpfe der Lisztschen Petrarca-Vertonung. Den Höhepunkt stellten die beiden Stücke von Brahms dar, für dessen Musik Prof. Müller offenbar eine besondere Begabung besitzt. Im Capriccio betonte er die einzelnen Abschnitte durch unterschiedlichen Anschlag. Der Mittelteil klang wie ein vielstimmiger Chor, die Eckteile muteten wie zielsichere, kraftvolle Improvisationen an. Die dissonanten Akkorde des Intermezzos baute Prof. Müller mit viel Freude an den entstehenden Spannungen auf und schuf somit ein ergreifendes Stimmungsbild der Wehmut und Entsagung – ein Blick zurück auf bessere Zeiten?

Angesichts der Ausfälle, mit denen das Musikleben des Stiftes seit Frühjahr 2020 zurechtkommen musste, war dieser Abend ein besonderes Geschenk. Die Bewohner nahmen es mit großem Dank entgegen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]

Lebensvolles Portrait eines lettisch-kanadischen Meisters

Ondine, ODE 1350-2; EAN: 0 761195 135020

Unter der Leitung von Guntis Kuzma und Andris Poga stellt das Lettische Nationale Symphonieorchester drei Orchesterwerke von Tālivaldis Ķeniņš vor und verdeutlicht dessen Begabung als Symphoniker wie als Komponist konzertanter Musik. Als Solisten sind zu hören: Agnese Egliņa (Klavier), Tommaso Pratola (Flöte), Mārtiņš Circenis (Klarinette) und Edgars Saksons (Schlagzeug)

Als der 1919 in Liepāja geborene Tālivaldis Ķeniņš 2008 in Toronto starb, wo er seit 1951 gelebt hatte, verlor das Musikleben Kanadas einen seiner namhaftesten Komponisten. Er hatte mehr als drei Jahrzehnte an der University of Toronto gelehrt, war als Preisrichter bei Wettbewerben gefragt; zahlreiche seiner Kompositionen entstanden als Auftragswerke und wurden an prominenter Stelle uraufgeführt; der Rundfunk sendete regelmäßig seine Musik und produzierte mehrere Portraits über ihn. Nicht zuletzt verdeutlicht die Tatsache, dass bereits zu seinen Lebzeiten in einem Vorort von Ottawa eine Straße nach ihm benannt wurde, welches Ansehen Tālivaldis Ķeniņš in Kanada genoss. Die geistige Verbindung zu seiner Heimat Lettland, die er 1944 vor dem Einmarsch der Roten Armee fluchtartig verlassen hatte und erst 1989 wiedersah, hielt er dabei über all die Jahre aufrecht. Zahlreiche Letten waren infolge des Zweiten Weltkriegs nach Nordamerika ausgewandert. Innerhalb des eigenständigen Kulturlebens, das sie sich dort aufbauten, nahm Ķeniņš einen herausragenden Platz ein, wie sich auch anhand der Uraufführungen der drei Werke zeigte, die auf der vorliegenden CD des Lettischen Nationalen Symphonieorchesters zu hören sind: Die Symphonie Nr. 1 erklang zum ersten Mal 1960 während des Indianapolis Latvian Song Festival; das Concerto da Camera Nr. 1 wurde 1981, das Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug 1990 im Rahmen des Latvian Song Festival in Toronto aus der Taufe gehoben.

Ķeniņš war in erster Linie Instrumentalkomponist und hinterließ zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke, wobei es zu den charakteristischen Merkmalen seines Schaffens gehört, dass sich die beiden Werkgruppen zuweilen sehr stark einander annähern, und sich in manchen Fällen ein Stück nicht eindeutig einer von beiden zuordnen lässt. So gibt es von seiner Hand Kammermusik für große, gemischte Ensembles ebenso wie Kompositionen für Kammerorchester in unterschiedlichen Besetzungen. Angesichts des schier unerschöpflichen Ideenreichtums hinsichtlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Klangfarben, der dieses Schaffen prägt, verwundert es nicht, dass Ķeniņš seiner Ausbildung in Frankreich große Bedeutung beimaß. Die Einflüsse des Musiklebens von Paris, wo er nach Kriegsende bei Tony Aubin, Simone Plé-Caussade und Olivier Messiaen studiert hatte, schlagen sich allerdings auf sehr subtile Art in seinen Werken nieder und sind kaum offen zu hören. Ķeniņš selbst beschrieb diesen Umstand 1949 in einem Interview dergestalt, dass durch die Interaktion mit französischen Methoden das nationale Element in der Kunst ausländischer Komponisten auf neue Grundlagen gestellt, zu neuem Recht gelangen und eine neue Affirmation seiner Existenz gewinnen würde.

Auf französische Einflüsse lässt sich gewiss die knappe Form und wohlproportionierte Strukturierung seiner Werke zurückführen – alle drei hier eingespielten Stücke sind nur rund 20 Minuten lang. Im Gegensatz zu Meistern des raffinierten Mischklangs wie Messiaen bevorzugt Ķeniņš als Instrumentator jedoch reine Farben, was vor allem damit zusammenhängt, dass sein Denken wesentlich von Polyphonie und vom konzertanten Prinzip bestimmt ist. Die Instrumentation dient ihm zur Verdeutlichung des Zusammenwirkens seiner von vielfältigen modalen Wendungen geprägten Einzelstimmen, das regelmäßig zu herben Dissonanzen führt; Kontraste im Tonsatz hebt er gern hervor, indem er das Material auf gegeneinander abgesetzte, klanglich homogene Instrumentengruppen verteilt.

Das Concerto da Camera Nr. 1 verdeutlicht beispielhaft die Neigung des Komponisten, Orchester- und Kammermusik fließend ineinander übergehen zu lassen. Den Klangkörper unterteilt er in drei Sektionen: ein Klavier, zwei Holzbläser (Flöte und Klarinette) und ein Streichorchester (an dessen Statt auch ein solistisch besetztes Streichquintett verwendet werden darf). Diesem kleinen Ensemble gewinnt Ķeniņš mannigfaltige Kombinationsmöglichkeiten ab, wozu er gelegentlich auch solistische Streicher aus dem Orchester herauslöst. Schon zu Beginn des Werkes wird klar, dass sich die musikalische Handlung oft auf mehreren Ebenen gleichzeitig abspielen wird: Über einer Pizzicato-Basslinie der tiefen Streicher beginnen die beiden Holzbläser mit in sich kreisenden melodischen Figuren, die sich bald imitatorisch verdichten, während das Klavier aus der Tiefe aufsteigende Arpeggien spielt. Alle beteiligten Musiker müssen hier gut aufeinander hören können, immer bereit sein, die Führung zu übernehmen, wie auch begleitend in den Hintergrund zu treten oder zusammen mit anderen in gleicher Stärke zu musizieren. Diese Aufgaben werden von Tommaso Pratola an der Flöte und Mārtiņš Circenis an der Klarinette trefflich gelöst. Agnese Egliņa, die als Pianistin das am deutlichsten aus dem Gesamtklangbild hervorstechende Instrument spielt, gebührt besonderes Lob für die kontrollierte Gestaltung ihrer Partie; sie weiß genau, dass das Werk kein „Klavierkonzert“ ist. Im Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug kann Agnese Egliņa dann wirklich Solistin sein. Ihr zur Seite steht Edgars Saksons, der virtuos eine große Anzahl an Schlaginstrumenten, von der Ratsche bis zur Glocke, zum Einsatz bringt, welche sich, nach den treffenden Worten der Kritikerin Tamara Bernstein, wie ein Schatten an die Spur des Klaviers heften und als dessen Alter Ego fungieren. Wie das Kammerkonzert, so ist auch dieses Werk dreisätzig, mit einem zwischen lebhaften und ruhigeren Abschnitten wechselnden Satz zu Beginn, einem langsamen Mittelsatz (im Concerto da camera ein Fugato, im Klavier-Schlagzeug-Konzert eine Passacaglia) und einem rabiaten, irrwitzig agilen Finale. Dirigent Guntis Kuzma behält in beiden Konzerten einen klaren Überblick über das abwechslungsreiche Geschehen und versteht es, sowohl die kontrapunktische Kunst des Komponisten erlebbar zu machen, als auch die Instrumente in ihren unterschiedlichen Funktionen ausgewogen aufeinander abzustimmen.

Zur der Aufnahme der Symphonie Nr. 1 (Ķeniņš schrieb insgesamt acht) tritt Andris Poga an die Spitze des Orchesters, das nun in größerer Besetzung spielt als im Falle der Konzerte. Während Ķeniņš in diesen Stücken vor allem mit kurzen Motiven arbeitet, die er kaleidoskopisch verändert, breiten sich in der Symphonie längere Melodien aus. Der Kopfsatz verläuft in mäßiger Bewegung als Sonaten- und Variationselemente verknüpfende, monothematische Bogenform; der langsame Satz wird ganz beherrscht von einer elegischen Melodie, die im Fagott anhebt und anschließend von verschiedenen anderen Instrumenten fortgesponnen wird. Im Finale kontrastieren ein robuster Haupt- und ein kantabler Nebengedanke scharf zueinander. Die Durchführung, die als Fuge gestaltet ist, zeigt einmal mehr die kontrapunktischen Fähigkeiten Ķeniņšs. Andris Poga ist dieser Musik ein fähiger Sachwalter. Sein Sinn für die Ausgestaltung melodischer Entwicklungen lässt ihn an jedem Punkt des Verlaufs die Orientierung behalten, sodass die Spannung auch über Tempowechsel hinweg ohne Einbußen erhalten bleibt. Die verschiedenen Orchestergruppen bringt er in ausgewogene Verhältnisse zueinander. Die Struktur des Tonsatzes und das Zusammenwirken der Instrumente lassen sich durchweg gut nachvollziehen.

Die Produktion wird abgerundet durch einen (nur auf Englisch abgedruckten) Einführungstext von Orests Silabriedis, der ein lebensvolles Portrait des Künstlers und Menschen Tālivaldis Ķeniņš zeichnet. Weitere Ķeniņš gewidmete CDs auf diesem Niveau sind durchaus erwünscht.

Norbert Florian Schuck [Dezember 2020]

Dinescus Anknüpfungen an Bachs Cellosuiten

Kaleidos KAL 6344-2; EAN: 4 260164634428

Die Frankfurter Cellistin Katharina Deserno kombiniert auf ihrer neuen CD „Suites & Roses“ auf faszinierende Weise Bachs erste beiden Cellosuiten mit drei Werken der rumänischen Komponistin Violeta Dinescu: „Sieben Rosen“, der „Kleinen Suite“ und „Abendandacht“.

Noch im 19. Jahrhundert verschmäht oder lediglich als Unterrichtsmaterial abgetan – ähnlich erging es lange auch dem Wohltemperierten Klavier –, sind Bachs sechs Suiten für Cello solo heute genauso Standardrepertoire und höchste Herausforderung wie die Sonaten und Partiten für Violine. Wenn die aus Frankfurt stammende – und mittlerweile dort lehrende – Cellistin Katharina Deserno die beiden ersten Suiten (BWV 1007 und 1008) nun mit zwei gleichfalls zyklischen Stücken der seit langem schon hier ansässigen, rumänischen Komponistin Violeta Dinescu (*1953) umrahmt, fragt man sich natürlich gleich, inwieweit diese fast 300 Jahre auseinander liegenden Werke tatsächlich in Beziehung treten können.

Dinescus Sieben Rosen (2014/18), zunächst für Flöten geschrieben, beziehen sich auf Bertolt Brechts gleichnamiges Gedicht aus den Vier Liebesliedern, und die sieben kurzen Sätze beleuchten verschiedene Charaktere von Werden und Vergehen. Dinescus eigentliche Stärken äußerten sich vor allem in Ensemblestücken mit mittlerer Besetzung, wie sie typischerweise von auf Neue Musik spezialisierten Formationen nachgefragt werden – darunter etwa die geniale Filmmusik zu Friedrich Murnaus letztem Stummfilm Tabu. Die Konzentration auf ein Soloinstrument gerät klanglich und ausdrucksmäßig jedoch keineswegs weniger farbig: In der Diktion äußerst frei, bewegt sich diese Musik – wie immer bei Dinescu mit einigen folkloristischen Allusionen aus ihrer Heimat – überzeugend atmend durch vielfältige Stimmungen. Direkte Bezüge zu Bachs Cellosuiten finden sich dann, meist gut versteckt, in der Kleinen Suite (2018), die – wenngleich nur fünfsätzig – schon formal an den Aufbau der Bach-Werke erinnert und bereits im Hinblick auf die programmatische Verbindung entstand. Katharina Deserno gestaltet dies mit überaus differenziertem Klangsinn, aber hält sich dabei stets in einer sehr intimen Atmosphäre – auch die stellenweisen, kurzen gesanglichen Einlagen, die die Komponistin fordert, kann sie dabei überzeugend integrieren: als tief der Seele entsprungenes Bedürfnis, das den Instrumentalklang reflektiert.

Die Bach-Suiten spielt Deserno ebenfalls eher zurückhaltend, beachtet die Spielweisen historisch informierter Aufführungspraxis und erreicht dabei immer enorme Klangschönheit wie präziseste, sprechende Artikulation. Die erstaunliche Tempokonstanz bewirkt allerdings in einigen Sätzen – besonders den Préludes – ein wenig die Gefahr des Kippens in Richtung Langeweile. Die schnellen Tanzsätze der G-Dur-Suite sind agil und lebendig; überraschend dann allerdings, wie Frau Deserno fast die gesamte d-Moll-Suite – bis auf die Gigue – aus der Sicht eines gebrechlichen, alten Mannes (?) interpretiert, für den Tanz wohl nur noch als schemenhafte, schmerzliche Erinnerung existiert. Das ist zwar durchaus spannend, zwingt zum Hinhören – aber dieses Stück in eine derartige Todesnähe zu stellen, ist dennoch eigenwillig und lässt sich allein durch die Tonart kaum rechtfertigen. Immerhin gelingt so die Sarabande in desolater Verzweiflung, die wirklich bewegt. Umso versöhnlicher danach Dinescus Abendandacht mit balkan-typischen Intervallverbindungen als quasi sehnsuchtsvolle Hoffnung. Insgesamt eine gelungene Zusammenstellung, die ihre Wirkung nicht verfehlt und eine beeindruckend bewusst agierende Künstlerin zeigt.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2020]