Ars Produktion Schumacher, ARS 38 509; EAN: 4 260052 385098
Auf der nunmehr neunten CD von Boris Bloch, die bei Ars Produktion Schumacher erscheint, widmet sich der Pianist der Musik Protr Iljitsch Tschaikowskis. Zentrum der Aufnahme ist der große Zyklus „Die Jahreszeiten“ op. 37bis, ergänzend spielt er die Romante f-Moll op. 5, Natha-Valse op. 51/4, Dumka op. 59, Momento lirico (Impromptu) op. post, Valse sentimental op. 51/6, und das Wiegenlied op. 16/1. Auf dem unterschätzten späten Zyklus der 18 Stücke op. 72 hören wir die Nummern acht, Dialogue, und fünfzehn, Un poco di Chopin.
Tschaikowski teilt den Fluch vieler großer Symphoniker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass ihre nicht-symphonischen Werke recht stiefmütterlich behandelt werden – besonders oft ist es die Klaviermusik, die man vergisst oder deren Werk man unterschätzt. Sibelius und Dvořák geben nur zwei der prominenten Beispiele. Durch ihren reinen Ausdruck, die Leichtigkeit des Verständnisses und angenehme Schlichtheit der Musik wurde sie gerne als „Salonmusik“ oder darüber hinaus gar als bedeutungslos abgestempelt – heute, wo wir dieses verheerende Fehlurteil erkennen, ist es bereits zu spät, denn die Musik hat zumindest hier in Deutschland keine Traditionslinie im großen Konzertsaal aufbauen können. Um die Vehemenz solch ablehnender Urteile zu unterstreichen, zitiere ich aus dem 1967 erstmals erschienenen Standardwerk „Handbuch der Klavierliteratur zu zwei Händen“ von Klaus Wolters (1926-2012): „Zwei Komponenten bestimmen Geist und Charakter von Tschaikowskys Kompositionen: die kraftvolle, herbe Vitalität seiner russischen Seele und die weichliche Sentimentalität spätromantischer Salonmusik. Leider ist diese zweite, höchstens in kleinen Dosen noch genießbare Komponente im ganzen Klavierschaffen Tschaikowskys bei weitem vorherrschend, sodaß man recht lange suchen muss, um in dem ziemlich umfangreichen Klavierwerk auf etwas einigermaßen Bemerkenswertes zu stoßen“ (Ausgabe von 1977). Noch herber geht Wolters gegen Dvořák vor und die Klaviermusik von Sibelius zeige gar Passagen auf, die ihn „peinlich berührt“ stimmen. Wer also (in Zeiten vor kostenloser und legaler Notendownloadseiten) auf der Suche war nach neuem Repertoire oder für Schülerliteratur und in solch einem weitverbreiteten Standardwerk wie diesem stöberte, wird von Anfang an einen großen Bogen um diese Komponisten machen. Glücklicherweise wird gerade Tschaikowski in Russland noch ausgiebig gepflegt und so schwappt seine Solomusik immer wieder auch zu uns herüber und wir werden jedes Mal von neuem erstaunt, welche Schätze dort zu finden sind.
Die Jahreszeiten bestehen aus zwölf Charakterstücken, denen nachträglich je ein Motto untergeschoben wurde. Tschaikowski gab den Monaten beinahe schicksalsträchtige Bedeutung und arbeitete penibel genau die jeweiligen Charakteristika seiner Beziehung zu ihnen heraus. So entstanden zutiefst persönliche Momentaufnahmen, die wie musikalische Tagebucheintragungen anmuten, von zeitloser Schönheit und allerinnigstem Gefühl, dessen Purität verblüfft. Pianistisch ansprechend gibt sich besonders die Dumka op. 59 (ein Volkstanz, den wir vor allem durch Dvořáks berühmtes Trio kennen) durch ihre schnellen Wechsel und ausgelassenen Stimmungen. Kompositorisch überragen die beiden Auszüge der Stücke op. 72: dieser Umfangreiche Zyklus stellt wohl die Spitze von Tschaikowskis Klavierschaffen dar, und doch wird er beinahe nie in Gänze aufgeführt. Augenzwinkernd können die beiden darin enthaltenen Stilkopien betrachtet werden, die Schumann bzw. Chopin verehrend veräppeln, tiefgründig hingegen Stücke wie der hier zu hörende Dialog in seiner sinnenden Stimmung.
Charakterisiert kann das Spiel von Boris Bloch vor allem durch den Wohlklang seines Anschlags werden; sanfte, singende Tongebung macht seine Darbietungsweise aus. Dies allein gibt Bloch bereits eine Sonderstellung an seinem Instrument, dessen weitgehend kontaktlose Tonerzeugung die meisten doch mehr oder weniger dazu verleitet, unbeteiligt oder gar mechanisch zu spielen. Gerade die sentimentalen, ruhigen Stücke erhalten so einen packenden Impetus, der den Hörer am Geschehen teilhaben lässt. Doch auch die rascheren Stücke seien nicht zu vernachlässigen, denn hier brillieren die Läufe nicht nur, sondern singen und besitzen so eine viel farbigere und tragfähigere Linienführung. Um diese Klanglichkeit aufrechtzuerhalten, opfert Bloch teils einige wichtige Anweisungen im Notentext wie anschwellende Dynamik (besonders im Januar) oder ganze Nebenstimmen (bei Un poco di Chopin ersichtlich). In der Großform der Dumka op. 59 verliert sich der Fluss teils im Moment, trefflich gelingen dafür die raschen Übergänge zwischen den kontrastierenden Abschnitten.
Die meisten der Aufnahmen dieser CD entstanden übrigens als Livemitschnitte eines Gedenkkonzerts 2018 zum 125. Todestag des Komponisten: acht Nummern der Jahreszeiten, die Romanze, der Natha-Valse und Dumka entstammen dieser Aufführung; genauere Angaben der Studioaufnahmen bleiben uns vorenthalten. Zwar können die Konzertmitschnitte auf tontechnischer Ebene bei weitem nicht mit dem tontechnisch enormen Standard mithalten, der die Ars Produktion ausmacht, doch vom spieltechnischen Aspekt aus unterstreicht dies die Einmaligkeit des Moments und Blochs emotionalen wie geistigen Fokus auf die Musik.
In Bild und Ton erleben wir die tiefgründige Darstellung Alexander von Zemlinskys Oper „Der Zwerg“ (Libretto: Georg C. Klaren) durch den Regisseur Tobias Kratzer, im März 2019 in der Deutschen Oper Berlin programmiert, gefilmt von Götz Filenius und erschienen bei Naxos. Als Prolog präsentiert Kratzer Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene“ op. 34. Dort spielen Adelle Eslinger-Runnicles und Evgeny Nikiforov die Liebesaffäre zwischen Alma Schindler und Alexander von Zemlinsky nach, teilen sich parallel den solistischen Klavierpart des Werks. Die Hauptrollen in „Der Zwerg“ übernehmen Elena Tsallagova (Donna Clara), Emily Magee (Ghita) und Philipp Jekal (Don Estoban). Der Zwerg selbst wird von David Butt Philip gesungen und parallel stumm von Mick Morris Mehnert gemimt. Weitere Rollen spielen Flurina Stucki (Erste Zofe), Amber Fasquelle (Zweite Zofe), Maiju Vaahtoluoto (Dritte Zofe), So Young Park (Das erste Mädchen) und Kristina Häger (Das zweite Mädchen). Es spielt das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles und es singt der Chor der Deutschen Oper Berlin unter Jeremy Bines.
Zemlinskys Oper Der Zwerg werden gewisse autobiographische Elemente zugeschrieben: So sehe sich der Komponist selbst in der Rolle des ungestalten Hauptcharakters, der nie wirklich ernst genommen wird und sich vor der Selbsterkenntnis flüchtet. Bekräftigt wird dies durch den Librettisten Georg C. Klaren, der angibt, Zemlinskys Persönlichkeit in die Partie hineingeschrieben zu haben. Ob sich der Komponist nun als Schicksalsgenosse des Zwergs sieht oder nicht, ändert jedoch nichts daran, dass diese Oper zu den persönlichsten und aufschürfendsten Werken des Schönberg-Lehrers gehört. Zemlinsky bleibt oft außenvor in der Wiener Traditionslinie, da seine Musik zu modern ist für eine Zuordnung zu den großen Romantikern, aber doch verwurzelt in der Tonalität, sodass auch die Fortschrittler ab einem gewissen Punkt nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Sie hat etwas Schwärmerisches, Träumendes, das über lange Zeit schweben kann, ohne festen Boden unter den Füßen zu versprechen. Die kantable Linienführung gibt den Maßstab für Zemlinsky Kompositionsweise, die auch in rein instrumentalen Werken oder Passagen die menschliche Stimme zum Vorbild nimmt.
Einen viel diskutierten Teil aus Zemlinskys Leben bringt Regisseur Tobias Kratzer im Prolog szenisch auf die Bühne, für den er musikalisch Schönbergs Begleitspielmusik zu einer Lichtspielscene op. 34 unterlegte. Laut Kratzer höre man Zemlinskys Musik anders nach der effektvolleren, dissonanteren Musik seines prominentesten Schülers – zumal nach diesem Werk, dessen abstrakte Programmbeschreibung „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ auch auf Den Zwergen passt. Die Lichtspielszene wurde nie gedreht, doch die dahinterstehenden Ideen lassen sich ebenso auf ein Bühnenschauspiel übertragen, wie hier geschehen: Alexander von Zemlinsky tritt in Kratzers Regie selbst auf die Bühne und umwirbt seine Klavierschülerin Alma Schindler, während sie abwechselnd am Instrument den anspruchsvollen Solopart von Schönbergs Orchesterstück spielen. Die Bühne wird ganz im Stil des frühen 20. Jahrhunderts gehalten, abgesehen von Almas strahlend rosafarbenem Gewand ist alles in Graustufen gehalten und gibt dem Geschehen den Charakter eines frühen Films.
Einen Kontrast dazu bietet die Bühne in der Oper selbst. Sie erscheint schlicht, aufgeräumt und geradlinig, stellt einen in weiß getünchten Saal mit Büsten großer Komponisten an der Wand einer Galerie dar. An der Rückwand prunkt eine Orgel und der Saal selbst ist für ein kleines Orchester bestuhlt. Die Kostüme der Darsteller geben sich ebenfalls einfach, aber aussagekräftig: Die Infantin trägt ein Glitzerkleid, dass ihre Kindlichkeit unterstreicht, der Zwerg kommt im Abendgewand und die Partygäste erscheinen als illustre bunte Gesellschaft, wobei die Spiegelsymbolik sich in Handykameras transformiert.
In der ersten Chorszene wirkt das Zusammenspiel zwischen Orchestergraben und Bühne noch etwas dick aufgetragen, das allzu schwärmerisch Aufbegehrende mag zwar den Instrumenten, weniger aber den Stimmen schmeicheln. Doch spielen sich die Mitstreiter schnell aufeinander ein, so dass es gelingt, die Stimmen glitzernd über dem dicht orchestrierten Instrumententeppich zu platzieren. Es ist der 18. Geburtstag von Donna Clara (Elena Tsallagova), der Infantin von Spanien, und die Gratulantinnen überschütten sie mit Anerkennung und Lobpreisung ihrer Schönheit, respektieren dabei wenig die Ordnung im hergerichteten Festsaal oder den traditionellen Ablauf der Festivität. Schon zu Beginn festigt sich so das Bild einer unreifen, verwöhnten und oberflächlichen Prinzessin, die allerdings so auch teils unerfüllbaren Erwartungen ausgesetzt ist und diesen nur durch Passivität begegnen kann. Der Haushofmeister Don Estoban (Philipp Jekal) zählt den Zofen die Geschenke auf, welche die Infantin erhalten soll: neben all möglichen Prachtstücken auch einen Zwerg, ein guter Sänger, doch hässlich missraten in der Gestalt. Doch er wisse nichts von seiner Deformation und sehe sich als stolzen Helden. Der Bariton Philipp Jekal zieht den Hörer mit sonorer und volltönender Stimme in seinen Bann, verleiht dem Don Estoban Gelassenheit und Verständnis. Damit der Zwerg seine Gestalt nicht zu sehen bekommt, sollen alle Spiegel geblendet werden – beziehungsweise werden den Gästen die Handys abgenommen. Der Zwerg tritt ein, zeigt sich als selbstbewusster Recke, der aber in seinem angestimmten „Lied von der blutenden Orange“ gewissermaßen sein eigenes Schicksal besingt, was den Hörer (auf wie vor der Bühne) stutzig macht. Die Infantin macht sich einen Spaß daraus, dem Zwerg nach dem Lied die Hand einer Hofdame seiner Wahl zu versprechen – dieser jedoch wählt sie selbst.
Regisseur Tobias Kratzer gelingt ein meisterlicher Wurf mit der Darstellung des Zwergs: Er stellt ihn parallel als kleinwüchsigen Schauspieler (Mick Morris Mehnert) und großgewachsenen Sänger (David Butt Philip) dar. Anfänglich bleibt die Stimme am Rande des Geschehens und synchronisiert den Schauspieler nur, doch immer mehr tritt er ebenso in das Geschehen ein und etabliert sich schließlich als gleichberechtigter Darsteller. Kratzer spielt mit dieser doppelten Instanz, die Selbst- und Fremdwahrnehmung illustriert: denn umso mehr sich die Infantin doch auf den Zwerg einlässt, umso mehr wendet sie sich dem „stattlichen“ Zwerg der Fremdwahrnehmung zu, geht sie wieder auf Distanz, so sieht sie den „Kleingewachsenen“.
Im großdimensionierten Duett zwischen Infantin und Zwerg wird aus dem drohenden Unheil sichere Gewissheit, das tragische Ende ist nicht mehr abzuwenden. Der Zwerg gesteht der Infantin seine Liebe und im Spiel erwidert sie zumindest ansatzweise seine Zuneigung. Immer weiter steigert sich diese Szene, in welcher die Infantin mal auf den Kleingewachsenen zugeht, dann aber doch stets zurückweicht. Als sie zu weit geht und dem Zwerg offenkundige Hoffnung macht, erkennt sie den Fehler, schreckt zurück und bittet ihre Lieblingszofe Ghita, dem Zwerg sein Spiegelbild zu präsentieren. Auch musikalisch avanciert das Duett zu einem Höhepunkt. Elena Tsallagova begeistert durch ihren klaren, verspielten Sopran; ihr gelingt eine facettenreiche Ausgestaltung der Partie zwischen unschuldiger Begeisterung, kalter Zurückweisung und mehr oder minder unbewusster Bösartigkeit im Spiel mit ihrem Geschenk. David Butt Philip entledigt sich allen gespielten Affekts und stellt einen vielschichtigen, zutiefst menschlichen Zwerg dar, dem man von der ersten Sekunde an glaubt und mit ihm mitfiebert.
Als Ghita nun dem Zwerg – es spielt Philip – sein Spiegelbild vorhält, sieht dieser darin nur seinen bösen Widersacher, dessen Antlitz er bereits aus einer geschliffenen Klinge oder poliertem Besteck kennt. Doch nun tritt dieser aus seiner Welt heraus, steht in Gänze vor ihm; und er stellt nach und nach fest, dass er die gleichen Klamotten trägt und sich gleich bewegt, nur vollkommen anders aussieht. Auf der Bühne wird hierzu eine verspiegelte Wand heruntergelassen. Ghita will ihm das Leid der Selbsterkenntnis ersparen oder zumindest so leicht wie möglich machen, in ihrer Überforderung platzt sie allerdings zuletzt mit der ungeschönten Wahrheit heraus. Als der Zwerg schließlich alleingelassen wird, wechselt die Beleuchtung und durch den Spiegel wird sein wahres Ich – dargestellt von Mehnert – sichtbar. In einer präzise choreografierten Szene muss der Zwerg sein wahres Ich erkennen, woran er zugrunde geht: im Kratzers Inszenierung erwürgt das Selbstbild das Fremdbild. Entrückt fleht er in seinem letzten Atemzug die Infantin an, ihn doch zu lieben: „Sag mir, dass es nicht wahr ist. Sage, dass ich schön bin.“ Die Infantin bewahrt ihre Kälte und spricht nur: „Geschenkt und schon verdorben, das Spielzeug zum achtzehnten Geburtstag.“ Nach der Spiegelszene weiß der Zuschauer noch nicht recht, was man von Ghita halten solle, nun in der letzten Szene beweist sie ihre gute Seele, ruft beim Anblick des sterbenden Protagonisten zunächst „Mein Zwerg!“ und resümiert zuletzt: „Gott hat ein armes Herz gebrochen, es war schön.“ So sehen wir sie plötzlich als Gegenpart der Infantin, was sich schon zuvor auch stimmlich zeigt: Mit ihrem warmen und vollen Sopran kontrastiert Emily Magee die Infantin und vervollständigt gewissermaßen ihre Partie, um zusammen menschlichen Facettenreichtum des Charakters zu erhalten. Wie ein Nachruf fleht der Zwerg „Gib mir die weiße Rose“ und der Vorhang schließt unter einem erschütternd dissonanten Orchestertutti, der alles kulminieren lässt und bewusst aus dem eigenen Stil heraustritt.
Nach seinem gemischten Album “Nostalgia” von 2017 mit Orchester- wie auch mit Kammermusikwerken legt Páll Ragnar Pálsson nun nach: „Atonement“ heißt die neue CD und beinhaltet fünf Werke in kleiner Besetzung. Drei der Werke beinhalten eine Sopranstimme, gesungen von Tui Hirv: Das titelgebende „Atonement“ von 2014 sowie „Stalker’s Monologue“ (2013) und „Wheel Crosses Under Moss“ (2011). „Midsummer’s Night“ (2018) ist ein Melodram, das von der Textautorin Ásdís Sif Gunnarsdóttir vorgetragen wird; rein instrumentale Besetzung findet man nur bei „Lucidity“ (2017). Es spielt das Caput Ensemble.
Seine Wurzeln hat Páll Ragnar Pálsson in der Rockmusik: Von 1993-2004 spielte er in der isländischen Band Maus und machte sich so einen Namen, bevor er sich 2003 in der Isländischen Akademie der Künste einschrieb, um Komposition zu studieren. Nach seinem Bachelor zog er nach Estland, wo er seinen Masterabschluss und einen Doktortitel erwarb. Seit 2013 lebt Pálsson wieder in seinem Heimatland und etablierte sich dort als einer der gefragtesten Komponisten, dessen Orchesterwerke unter anderem von Daníel Bjarnason und Esa-Pekka Salonen aufgeführt wurden.
Stilistisch bewegt sich die Musik nahe am heutigen kontinentalen Avantgardestil einschließlich fragmentierter Melodien, herber Kontraste und einer geräuschhaft schlagwerklastigen Aura, die teils gewisse Statik hervorruft. Und doch zeichnet sich immer wieder ein eigener Stil in den hier zu hörenden Kammermusikwerken ab; besonders fällt auf, dass Pálsson auch relativ stimmungsfrohe Töne anschlagen kann, Hoffnungen erwecken und gar kurze Freudenmomente erschaffen – ohne dabei seinen Stil zu verlassen. Ein enormes Gespür beweist Pálsson in der Instrumentation, die immer wie aus einem Guss erscheint. Gerade die Gesangspartie mischt sich herrlich mit ihren Mitstreitern und verschmilzt für manch einen extravaganten Effekt sogar vollkommen mit ihnen. Über weite Strecken bleibt die Stimmung zurückgehalten, subtil in ihren Wandlungen und durchgehend dicht wie intensiv – die Höhepunkte spart sich der Komponist auf, was die energetische Ballung umso spürbarer macht.
Außergewöhnlich ist vor allem das rein instrumentale „Lucidity“ mit fein gewobenem Klang und transparenter Vielstimmigkeit. In „Midsummer’s Night“ erstaunt die mystisch-geheimnisvolle Stimme der Dichterin Ásdís Sif Gunnarsdóttir, die nicht nur im Timing präzise ist, sondern auch in der Stimmfärbung hinreißend symbiotisch auf ihre Kollegen eingeht. Das Gedicht alleine zeugt von bildhafter und nachvollziehbarer Inspiration. Die anpassungsfähige Stimme von der Sopranistin Tui Hirv kommt vor allem in „Stalker’s Monologue“ nach Andrei Tarkovskys gleichnamigem Film zum Tragen; das Stück verweilt in unruhiger, wankelmütiger und zwiespältiger Stimmung, die jedoch in keinem Moment kippt beziehungsweise eskaliert.
Nachdem Fabrice Bollon mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg bereits die vier Symphonien Albéric Magnards bei Naxos herausbrachte (8.574083 & 8.574082 – die insgesamt vierte Gesamtaufnahme nach Plasson, Ossonce und Sanderling), erscheinen nun die fünf Einzelwerke für Orchester: Suite d’orchestre dans le style ancien op. 2, Chant funèbre op. 9, Ouverture op. 10, Hymne è la justive op. 14 und Hymne à Vénus op. 17.
Von den insgesamt nur 21 Opusnummern im Werkkatalog von Albéric Magnard werden ganze neun von Orchesterwerken eingenommen: vier davon die groß angelegten, gar visionären Symphonien, fünf von je zehn- bis fünfzehnminütigen Einzelwerken. Diese sind auf vorliegender CD mit Fabrice Bollon und dem Philharmonischen Orchester Freiburg zu hören.
Magnard wurde Zeit Lebens wenig beachtet, anfangs als Wagnerianer abgetan und später aufgrund gewisser Nähen zur deutschen Symphonik kritisiert. Was uns heute nicht mehr stören mag, war in Frankreich um die Jahrhundertwende ein schwerwiegender Vorwurf – wandte man sich schließlich zu dieser Zeit aktiv einer eigenen, französischen Musik zu und von deutscher Tradition (insbesondere namentlich Wagner) ab. Seinen vorhandenen Patriotismus zu beweisen, kostete Magnard sein Leben, als er sein Grundstück im Alleingang gegen die Besetzung deutscher Truppen verteidigte: Erst durch diesen Tod fiel ihm überhaupt Aufmerksamkeit zu. Ein Jahr zuvor vollendete er seine Vierte Symphonie, die maßgeblich in die Zukunft blickt und einen völlig neuen Abschnitt seines Schaffens eröffnet hätte.
Von Anfang an sah sich Magnard als Symphoniker und so macht bereits seine zweite Opusnummer ein Orchesterwerk aus: die Suite im alten Stil. Erst kurz zuvor hatte er sein Studium bei Vincent d’Indy aufgenommen und bislang nur Lieder und drei Klavierstücke geschrieben, letztere als Opus 1 veröffentlicht. Zwar hätte Albéric Magnard auch bei César Franck studieren können, doch entschied er sich aktiv für den Gründer der Schola Cantorum d’Indy, da dieser besondere Fähigkeiten der Orchestration und der Instrumentenlehre bewies. Die so fast ohne jegliche Erfahrung komponierte fünfsätzige Suite dans le style ancien präsentierte er seinem Lehrer, der ihn prompt wieder an den Schreibtisch schickte, um die Orchestration zu überarbeiten: zwar gefielen die Themen und allgemein auch die formale Konzeption, doch trug Magnard in den Orchesterfarben noch viel zu dick auf und überfrachtete das Werk. Aus der vollständigen Revision resultiert ein relativ klein besetztes Werk mit doppeltem Holz, Hörnern, Trompete und Schlagwerk, das durchaus beachtlich geformt ist – wenngleich die eröffnende Française natürlich keineswegs eine vorklassische Tanzform darstellt und auch nicht in eine traditionelle Suite gehört. Magnard nutzte die Suite mit ihren knappen, lebendigen Sätzen als Experimentierfeld, um mit dem orchestralen Schreiben vertraut zu werden und Instrumentationen zu erkunden; besonders interessant artet das Menuet an, welches in seinem weittragenden, beinahe symphonischen Gestus seinen späteren wie größeren Formen den Weg weist.
Als Magnard sein Chant funèbre op. 9 schrieb, hatte er seine ersten beiden Symphonien (opp. 4 & 6) bereits veröffentlicht. Mit dem Chant funèbre gelang gewissermaßen ein Durchbruch hin zu einem reiferen Stil mit expansiveren Themen und einer sich aus nur einem Kern entwickelnden Stimmung, die die Spannung den gesamten Satz über hält. Gewidmet ist das Werk dem Andenken an seinen Vater, wenngleich er zu ihm ein schwieriges Verhältnis hatte; der Komponist gab ihm gewissermaßen die Schuld für den frühen Suizid seiner Mutter. Diese Würdigung erklärend schrieb Magnard in einem Brief, er habe seinen Vater erst verlieren müssen, um zu verstehen, wie viel er ihm bedeutete.
Im gleichen Jahr komponierte er die Ouvertüre op. 10, die uns stilistisch tatsächlich nahe an die deutsche Symphonik um die Jahrhundertwende bringt, konzipiert als klassische Sonatenhauptsatzform mit beschwingten Themen und auftrumpfenden Charakter.
Die beiden Hymnen an die Gerechtigkeit und an die Venus haben zutiefst persönlichen Charakter, sprechen ihm aus dem Herzen – und doch gelingt es Magnard, gewissen Abstand zu den Themen zu erhalten und allgemeingültige statt auf ein spezielles Sujet bezogene Aussagen in Töne zu fassen. Gerechtigkeit bedeutete für Magnard einen zentralen Aspekt seines Handelns und gewissermaßen später auch seines Sterbens, und die Liebe stellte für ihn eines der höchsten Güter dar: Widmungsträger der Venushymne ist seine Frau, die er bis zum Tode abgöttisch liebte und verehrte.
Die Einspielungen dieser CD entstanden wie auch die der Symphonien zu verschiedenen Zeitpunkten von 2017 bis 2019. Allgemein geraten sie durch die einsätzigen Formen noch stringenter und kompakter als die umfangreichen, mehrsätzigen Symphonien. Gerade aus dem Chant funèbre kitzelt Fabrice Bollon auch noch den letzten Rest an Innigkeit heraus. In der Suite d’orchestre dans le style ancien sticht der lebendige und frische Charakter hervor, den die Freiburger mit subtil historisierender Spielweise unterstreichen, bei der parallel Platz bleibt für das musikgeschichtlich Aktuelle. Die knappen Sätze erscheinen prägnant und gebündelt, in sich einheitlich abgeschlossen. Den überschwänglichen Charakter nimmt Bollon auch in die Ouverture mit, hält die Form streng geschlossen und wandelt grazil auf dem schmalen Grad zwischen Übermut und Haltung. Freier gestaltet er da die beiden Hymnen in ihrem erzählerischen Charakter, deren „Geschichten“ man als Hörer gut nachvollziehen kann. Den Chant funèbre nimmt Bollon mit den Freiburgern tatsächlich als ausgewachsenen Gesang voll hinreißender Melodik, wobei er besonders ein absteigendes Motiv hervorhebt, welches das gesamte Werk durchzieht und den ausweglosen Zug in die Tiefe symbolisiert. Mit warmen Orchesterfarben, sonorem Klang und echtem Gefühl gelingt hier eine der stimmigsten Magnard-Aufnahmen.
Das litauische Nationalsymphonieorchester spielt unter Modestas Pitrénas Musik von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis ein. Auf dem Programm steht die Symphonische Ouvertüre Kęstutis, instrumentiert von Jurgis Juozapaitis, sowie die symphonischen Dichtungen „Im Walde“ und „Das Meer“.
Während Mikalojus Konstantinas Čiurlionis zu Lebzeiten kaum Aufmerksamkeit erhielt, avancierte er nach seinem frühen Tod zu einem der Nationalhelden Litauens. Sowohl seine Kompositionen als auch seine Gemälde gelten nun als nationales Kulturgut. Aufgrund seiner doppelten Leidenschaft als Maler wie als Tonsetzer blieben viele seiner Musikwerke lange unvollendet, seine Orchestrationen zogen sich teils über mehrere Monate hin. Zehn Orchesterwerke umfasst seine Werkliste, von dessen insgesamt 346 Eintragungen über zwei Drittel für das Klavier sind. Die drei wohl bedeutendsten Orchesterwerke wurden auf dieser CD geeint. Stilistisch zieht Čiurlionis seine Wurzeln aus der Spätromantik, wenngleich die reichen Harmonien und die flächig konzipierte Form mit ihrer schillernden Farbigkeit auch dem Impressionismus zugeordnet werden könnte. Die Formen seiner umfangreichen symphonischen Dichtungen sind wenig stringent oder gar geradlinig, vielmehr wellenförmig fließend – so entsteht ein tranceartiger Strudel, der den Hörer bannt und ein Entreißen schwer macht. Mancherorts schwächt der große Umfang die Aussagen etwas ab, die in den Klavierminiaturen beispielsweise pointierter erstrahlen und so mehr Wirkung entfalten. Bemerkenswert ist die üppige Orchestration mit einer dichten Textur der einzelnen Stimmen, die besonders in „Das Meer“ deutlich an die Technik von Strauss angelehnt ist (die Besetzung mit Orgel leitet sich unweigerlich von „Also Sprach Zarathustra“ ab).
Die Verbindung, die das litauische Nationalsymphonieorchester zu ihrem zu spät erkannten Nationalkomponisten entwickelt, schlägt sich auch in ihrer Darbietung nieder. Voluminös erstrahlen die Werke in ihrer vollen Vielstimmigkeit, wobei jede einzelne durchhörbar bleibt – was in „Das Meer“ den Hörer teils schon erdrückt. Besonders gelingen die luziden Passagen aus „Im Walde“ in schillernder, gar mystischer Flächigkeit. Die Ouvertüre ist das vergleichsweise traditionellste Werk, hier zeigt sich auch das formale Verständnis der Orchesters unter Stabführung Modestas Pitrénas‘, worüber man in den weitschweifenden Dichtungen nicht urteilen kann. Pitrénas besitzt ein Gespür für Kontraste und Kontrapunkt, hetzt die orchestralen Gewalten gegeneinander auf und leitet so zu kolossalen Höhepunkten, umgekehrt auch hinab in düstere Sphären mit zum Bersten geladener Spannung.
Auf der vorliegenden Doppel-CD widmen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Auf der ersten CD erklingen die Contrapuncti eins bis elf in der durch den Erstdruck definierten Abfolge sowie der unvollendet gebliebene Contrapunctus Nr. 14, der an der Stelle abbricht, wo Carl Philipp Emanuel Bach schrieb: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. An Stelle einer Vollendung tritt das letzte Werk aus der Feder Bachs: der Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“. Die zweite CD birgt zunächst die beiden vierstimmigen Spiegelfugen, die als Contrapunctus zwölf zusammengefasst wurden, und dann drei Vollendungen der unvollendeten Quadrupelfuge (Contrapunctus 14), nämlich je eine von Karl Hermann Pillney, Donald Francis Tovey und Kalevi Aho. Dazwischen erklingen als kontrastierende Überleitungen die Orgelfuge g-Moll op. 60/3 von Schumann (arr. Dan Turcanu) und die „Studie über B-A-C-H“, das letzte Werk Reinhard Schwarz-Schillings.
Um kaum ein Werk der Musikgeschichte kreisen so viele Mythen wie um die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Nicht nur, dass es das früheste Werk war, das unvollendet und ohne den Versuch einer Schlussfindung abgedruckt wurde, auch die mystifizierenden, nicht zutreffenden Zeilen seines Sohns Carl Philipp Emanuel trugen dazu bei, der Musik transzendentale Bedeutung zu verleihen: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. Die fehlende Instrumentierungsbezeichnung gibt ebenso Rätsel auf: Handelt es sich um ein Werk für ein Tasteninstrument (wie die ebenfalls nicht bezeichneten „Fiori Musicali“ von Frescobaldi, die Bach intensiv studiert hat) oder doch für Streicher oder ein anderes homogen zusammenklingendes Ensemble? Fakt ist, dass diese Musik den Menschen zeitlos bewegt, berührt oder gar aufrüttelt. So schrieb beispielsweise Glenn Gould, „dass sich darin Momente finden, die für mich alles andere übertreffen, was Bach geschrieben hat. Mir fällt wirklich keine andere Musik ein, die mich tiefer bewegt hätte als diese letzte Fuge.“ So verwundert all das Überhöhen, Vergeistigen nicht, ebenso nicht die bis heute ungebrochene Tradition der wüstesten Theorien und Gedankengänge – dafür auch nicht die mittlerweile dutzendfachen Versuche einer Vollendung der letzten Fuge. Begonnen hat dies bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Kunst der Fuge durch Wolfgang Graeser, dem es vor seinem frühen Suizid mit nur 22 Jahren gelang, eine umfassende Renaissance des Werks in die Wege zu leiten. Die ersten Ergänzungen als Quadrupelfuge (zuvor wurde sie, schon seit Johann Mattheson, mehrfach als Tripelfuge behandelt und zu einem Ende geführt) schrieben Hugo Riemann, der durch die Ungelenkheit seiner Arbeit stark in die Kritik rückte, Ferruccio Busoni, der sie in eine chromatische Fantasie wandelte, und schließlich 1931 Donald Francis Tovey, der die erste brauchbare und zugleich nahe am Stil Bachs orientierte Vollendung schuf, die bis heute gelten darf – sie wurde auf dieser CD eingespielt, durch Dan Turcanu eingerichtet mit subtiler Hinzunahme des Kontrabasses. 1937 folgte Karl Hermann Pillney, ein Schüler Regers und wahres Stil-Chamäleon, der mit tiefer Sympathie – bei Bedarf aber auch mit subtilem Witz – nicht nur in die Welt Bachs eintauchte, sondern gar ganze Variationswerke mit unterschiedlichen Stilimitaten füllte. Manche seiner Bearbeitungen können von einem Original nicht unterschieden werden, in der Vollendung dieser Quadrupelfuge allerdings greift er mehr als Tovey auf zeitgenössische Techniken der Reger-Schule und der Liszt-Tradition zurück. Doch stellt er sie anders als Busoni vollkommen in den Dienst der Fuge und unterstreicht damit bloß die enorme Dichte des Werks, die er noch weiter zu steigern vermag hin zu einem expansiven Höhepunkt. Nun macht Christoph Schlüren einen Sprung in die Gegenwart und fügt noch die Vollendung des finnischen Meisters Kalevi Aho hinzu, die Schlürens Aussage nach alle vorherigen seit Pillney überbiete. Zunächst mag die Streicherfassung verwundern, da die Stimmen stellenweise zunächst in den ersten Geigen, beim Finale im ganzen Orchester oktavweise gedoppelt werden (durch divisi der einzelnen Stimmen). Beim genaueren Hinhören erkennt man schnell die Intention: Aho schrieb seine Vollendung für eine Wiedergabe auf der Orgel, wo Oktavierungen durch Registermixturen üblich sind. Und indem es Christoph Schlüren gelingt, sein Streichorchester klanglich in eine gewaltige mehrstimmige Orgel zu verwandeln, geht der Kern und die Sinnhaftigkeit der Komplettierung auch in diese Fassung über.
Zwischen den Vollendungen erklingen Schumanns Orgelfuge über B-A-C-H, für Streichorchester gesetzt vom bereits erwähnten Rumänen Dan Turcanu, selbst übrigens ein vielseitig talentierter, tief erspürender Komponist. (Bislang schenkte er vor allem der Violine und dem Klavier substanzgeladene Werke, schrieb nun aber erste Orchesterwerke, die noch auf eine Aufführung warten. Einen Namen machte sich Turcanu besonders als Arrangeur, so bearbeitet er beispielsweise das gesamte Wohltemperierte Klavier für Geige solo.) Das zweite Interludium bildet Reinhard Schwarz-Schillings „Studie über B-A-C-H“, die bei Aldilà Records bereits in der Klavierversion erschien, eingespielt von Hugo Schuler: Die Studie ist Schwarz-Schillings letztes Werk, das in knapper Form diese berühmte Namensformel in die Gegenwart katapultiert und in einem modernen Stil kontrapunktisch durchführt: ein wahres Kleinod eines zu entdeckenden Großmeisters.
Auf dieser CD treffen zwei Künstler aufeinander, die ich zutiefst schätze und verehre: Der Dirigent Christoph Schlüren, einer der wenigen Schüler Celibidaches, der seine Lehren verstanden hat und sie klanglich umzusetzen weiß – als Lehrer und Mentor trieb er seine Schüler zu unerreichten Höchstleitungen, die Referenz bilden: so bei unter anderem Ottavia Maria Maceratini, Rebekka Hartmann, Hugo Schuler und Lucas Brunnert; nun hören wir ihn selbst am Pult. Und Lavard Skou Larsen, der brasilianische Nonchalance mit europäischer Präzision eint und als Violinvirtuose wie als Dirigent (ausgebildet u.a. bei Sándor Végh) tiefgreifende, erlebte wie auch reflektierte Darbietungen schafft – oftmals gemeinsam mit den hier zu hörenden Salzburg Chamber Soloists, eine kleine Formation erstklassiger Musiker, die jeder für sich als Orchestersolisten in Erscheinung treten können.
Beim klanglichen Resultat dieses Zusammentreffens bleiben keine Wünsche offen. Wer natürlich eine opulent überwältigende und romantisierend aufwühlende Darbietung erwartet, wird freilich enttäuscht, doch geht es bei Bach nicht um das. Asketisch stellen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists in den Dienst von Bach und setzen diese Musik auf die innigst nur vorstellbare Weise um. Mit klarem, offenem Klang begegnen die Musiker der Kunst der Fuge, formen aus dem stets gleichen Kern jeweils vollkommen andere Existenzen. Dies geschieht vollständig ohne Effekt oder aufbegehrende Geste. Christoph Schlüren ist ein Meister der innermusikalischen Spannungsverhältnisse: wie kein anderer kann er die spannungsträchtige Dichte in Bachs Musik aufrechterhalten, sofern die Musik es verlangt, und modelliert so eine klare Kontur des Verlaufs dieser Musik, die harmonisch wie melodisch nachvollziehbar wird. Die Stimmen entstehen in ihrer Eigenständigkeit plastisch vor uns und setzen sich so stimmig wie lückenlos zusammen. Stellenweise wirken lediglich die hohen Streicher etwas dissoziiert vom restlichen Geschehen, wobei dies auch einfach an der Aufnahme liegen könnte. Die Musik selbst wird der Impetus für das gesamte Spiel, sie läuft scheinbar von selbst, ohne äußeren Anstoß zu benötigen oder irgendwo zu stocken. Hier wird der Ausspruch des schwedischen Komponisten Anders Eliasson fühlbar, Bachs Musik sei im ständigen und unaufhaltsamen Fluss, wie H2O: Harmonie, Melodie und Rhythmus.
Ein Interview mit Andrea Chudak zu ihrem außergewöhnlichen „Ave Maria“-Projekt
Die Sopranistin Andrea Chudak ist eine Vollblutsängerin! Ihre gesangliche Ausbildung begann noch im Kindesalter, und bereits vor dem eigentlichen Studium wirkte sie schon in professionellen Opernproduktionen mit. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin sang an vielen renommierten Häusern, u.a. Deutsche Staatsoper „Unter den Linden“, Theater an der Wien, Badisches Staatstheater Karlsruhe, Landestheater Detmold, u.v.w. Daneben verfolgt sie ihre Karriere als Konzertsolistin und Liedsängerin. Besondere Schwerpunkte ihres äußerst vielseitigen Repertoires liegen unter anderem im Œuvre Giacomo Meyerbeers. Ihre besondere Leidenschaft sind Vertonungen des „Ave Maria“-Gebets: Inzwischen sind hat Andrea Chudak mehr als 300 verschiedene „Ave Maria“-Vertonungen gesammelt und viele davon erstmals aufgeführt. Namhafte Komponisten haben eigens für sie „Ave Maria“-Vertonungen komponiert. Beim Label ANTES Edition ist im Mai 2020 eine Kollektion von 68 „Ave Maria“-Vertonungen auf 5 CDs erschienen. Andrea Chudak erläutert im folgenden Interview einige Hintergründe zu dem ungewöhnlichen Projekt.
The-new-listener.de:Frau Chudak, am Beginn eines Gesprächs über „68 Ave Maria aus sieben Epochen“ – man könnte noch ergänzen: von mehr als 50 verschiedenen Urhebern und auf fünf CDs – stellt sich natürlich unweigerlich erst einmal die Frage: Wie kommt man auf so eine Idee?
Andrea Chudak: Es gab einfach den Punkt, an dem ich bemerkte, dass das Gebet an die Jungfrau Maria weitaus mehr Vertonungen hat, als im üblichen Musikbetrieb zum Einsatz kommen. Es ist eine zutiefst religiöse und gleichzeitig sehr persönliche Ansprache, die auch oft meditativ genutzt wird. Ich fing an, eben diese Vertonungen zu suchen, recherchierte in Bibliotheken, Notenhandlungen, suchte in Antiquariaten, durchforstete diverse Internetdatenbanken und beschäftigte mich mit den Werkverzeichnissen von Komponisten. Ohnehin würde ich mich als eine sehr neugierige Künstlerin beschreiben, die, wenn sie einmal Feuer in einem Thema gefangen hat, versucht, in immer tieferen Schichten nach verborgenen und vergessenen Schätzen zu graben. Es gibt einfach so unglaublich viel gute Musik von fantastischen Komponisten auf dieser Welt durch alle Epochen hindurch, die es zu entdecken lohnt und die unbedingt gehört werden sollte. Deshalb war die Idee sehr schnell geboren, eine Auswahl dieser musikalischen Sammlung mit CD-Aufnahmen hörbar zu machen. Es war ein großes Glück für mich, dass das Label ANTES mir für meine Aufnahmeidee zur Seite stand, sich von meinem Feuer für das Projekt anstecken ließ und diese anderthalb Jahrzehnte tatsächlich mit mir am Ball blieb.
Sie haben in einem Interview für den WDR erzählt, dass Sie inzwischen über 300 „Ave Maria“-Vertonungen gesammelt haben, viele Komponistinnen und Komponisten haben sogar eigens für Sie neue Vertonungen geschrieben. Für mich klingt das rekordverdächtig oder gibt es irgendwo eine größere Sammlung von „Ave Maria“-Vertonungen?
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Meine „Ave Maria“-Sammlung entstand ja nicht, weil ich eine begeisterte Sammlerin wäre, sondern weil ich Musik machen möchte. Deshalb befinden sich in meinem wunderbar großen Notenregal auch ausschließlich Ave Maria-Vertonungen, die für Solostimmen gedacht sind, also alles Stücke, denen ich meine Stimme geben kann und könnte. Ich kann mir schon vorstellen, dass Klosterbibliotheken da über größere Sammlungen – auch mit Chorsätzen – verfügen.
Wer sich mit Ihrem Aufnahmeprojekt weiter beschäftigt, stellt als nächstes fest: Das ist ein ganz kunterbuntes Programm, also nicht chronologisch oder stilistisch angelegt, sondern ganz bunt durcheinander. Wie kam es zu dieser besonderen Titelkonstellation?
Ja, in der Tat: ich habe mich ganz bewusst gegen eine chronologische Ordnung der Stücke entschieden. Ich wollte eine Reihenfolge, die die Ohren auch für Musikstile öffnet, in denen sich mancher Hörer vielleicht nicht heimisch fühlt. Ich finde, dass auf diese Weise sehr gut erlebbar ist, wie viel „Altes“ in „Neuem“ und auch umgekehrt steckt. Ein Stück bedingt das nächste und wer sich darauf einlässt, kann sich sehr emotional durch die komplette Musikgeschichte tragen lassen. Man ist bei so vielen Musikstücken, die sich nur diesem einen Thema widmen auch ganz schnell versucht, sich anhand einer chronologischen Reihenfolge eine Art Lexikon zuzulegen – damit würde man den Schöpfern der Werke aber unbedingt Unrecht tun.
Unter den vielen Vertonungen gibt es natürlich die „üblichen Verdächtigen“, also z.B. Schubert, Bach/Gounod, Saint-Saëns, aber auch einige, zum Teil große Überraschungen. Der womöglich größte „Hingucker“ (zumindest auf den ersten Blick) ist der Winnetou-Schriftsteller Karl May mit seiner „Ave Maria“-Vertonung. War Karl May musikalisch ausgebildet oder war er Autodidakt?
Karl May war (in Glauchau) Klavierlehrer und Chorleiter, was für die damalige Zeit unbedingt heißt, dass er eine sehr gute musikalische Bildung hatte. Sein Ave Maria (im Original ja für 4-stimmigen Männerchor geschrieben) ist auch nicht seine einzige Vertonung. Ich weiß von vielen Vertonungen für Chor aus seiner Hand, wobei es auch einige 8-stimmige Sätze gibt, die für Laienchöre nicht ohne weiteres umsetzbar wären. Karl May verfügte definitiv über musikalisches Handwerk, mit dem er meisterhaft umgehen konnte.
Bei anderen Stücken stellte sich heraus, dass sie, bevor Sie sich damit beschäftigt haben, nicht nur dem falschen Komponisten zugeschrieben worden waren, sondern es handelt sich richtiggehend um Fälschungen. So stellte sich ein angebliches Barockstück von Caccini als Fälschung aus der Hand eines Gitarristen aus der Sowjetrussland-Zeit heraus – ein Kuriosum! Wie sind Sie diesen Repertoire-Fälschungen auf die Schliche gekommen? Das genannte Beispiel ist ja nicht das einzige auf dem Album.
Das mit den Fälschungen ist in der Tat ein Kuriosum. Und das Merkwürdigste für mich daran ist fast nicht die Tatsache, dass ein Stück dem falschen Namen zugeordnet wurde oder dass man aufdecken konnte, dass jemand versucht hat, mit einer Fälschung zu Ansehen und vielleicht auch zu Reichtum zu kommen, sondern, wie lange sich diese falschen Behauptungen halten. Zum Beispiel schrillten schon bei der Ankündigung des großen Fundes durch den Franzosen Pierre-Louis Dietsch zur Erstaufführung des vierstimmigen Ave Maria von Jakob Arcadelt sämtliche Glocken der Musikwelt. Und selbst als man nachweisen konnte, dass dieser Ave-Maria-Satz nicht der Feder Arcadelts entstammte, wurde es unter diesem Namen weitergespielt – so hörte es ja eben auch zwei Jahrzehnte später Franz Liszt während eines langen Rom-Aufenthaltes und transkribierte das Stück.
Diese Dinge sind schon lange musikwissenschaftlich erforscht und bekannt, sie stehen nur nicht im gedruckten Notenmaterial, sondern in begleitender Literatur.
Was man ja wenig bedenkt, wenn man sich das Album anhört, ist, dass da Musik aus Hunderten von Jahren zusammenkommt, und somit auch jeweils ganz unterschiedliche Anforderungen an Sie und die anderen beteiligten Musiker gestellt werden. Das alles in einer achttägigen Aufnahmesession in der Potsdamer Friedenskirche nicht nur organisatorisch, sondern auch aufführungspraktisch zu bewältigen, stelle ich mir als eine Mammutaufgabe vor. Wie haben wir uns einen typischen Aufnahmetag im Zuge dieses Projekts vorzustellen?
Dadurch, dass wir an jedem Tag ganz unterschiedliche Besetzungen hatten, gab es sowas, wie den typischen Aufnahmetag nicht. Die Vorbereitungen der einzelnen Tage liefen ja schon einige Zeit vorher ab. Da wir uns auch nach den Abläufen in dem Gotteshaus richten mussten, begann auch nicht jeder Aufnahmetag zur gleichen Zeit mit dem Aufbau der Tontechnik; parallel wurden die Instrumente gestimmt, die Mikros eingerichtet und die Verpflegung inklusive des wirklich wichtigen heißen Tees für die vielen Stunden im hohen, großen Kirchenraum vorbereitet. Ich habe die Musiker gestaffelt mit ihren Stücken zu den Aufnahmen bestellt und mir pro Tag eine bestimmte Anzahl an Stücken zur Einspielung vorgenommen. Und dann ging es sehr konzentriert an die Aufnahmen der in den Wochen vorher intensiv geprobten Stücke. Natürlich hatten wir auch mit Unvorhersehbarem zu kämpfen: Laubbläser im Park Sanssouci, Bauarbeiten vor der Kirchentür, nachmittägliche Flugzeuge über der Kirche und vor allem die vielen Touristen, die trotz der sehr auffälligen Schilder mit dem Hinweis auf die Aufnahme an den großen hölzernen Kirchentüren rüttelten, um vielleicht doch noch hineinzukommen. Die wunderbare geschichtsträchtige Kirche am Park Sanssouci hatte dann doch ein paar Überraschungen für uns. Bei den meisten für uns/ für mich komponierten Stücken hatten wir auch die Komponisten bei uns auf der Orgelempore sitzen. Sie konnten ihr Stück bis zur Einspielung begleiten.
Was bedeutete dieses Aufnahmeprojekt für Sie abseits von Ihrem künstlerischen Engagement organisatorisch für Sie als Projektkoordinatorin?
Diese 5-CD-Box ist in der Tat ein riesiger Kraftakt gewesen, den ich ohne die vielen Mitstreiter nicht hätte bewältigen können.
Als Ideengeberin, Sängerin und Produzentin der CD war da nicht nur unglaublich viel Organisatorisches zu bewältigen sondern es liefen bei mir ja sämtliche Fäden zusammen, die die Musik, das Booklet, die Aufnahmen, Fragen zu den Komponisten und Notenmaterialien betrafen. Ich hatte sehr viel Glück, dass ich fantastische Mitwirkende finden konnte, die sich mit mir auf dieses waghalsige Unterfangen eingelassen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass Musiker sich auf diese sehr unterschiedlichen Musikstile einlassen. Das erfordert ein großes Vertrauen in die Musik und das miteinander Musizieren. Ich bin auch wirklich dankbar, dass ich mit den Damen und Herren der Friedenskirche Potsdam, dem Tonstudio P4 und den Unterstützern im Hintergrund Menschen gefunden habe, die genauso bedingungslos mit mir an dieses Projekt geglaubt haben und mit mir auf Entdeckungsreise gegangen sind.
Welche Vertonung ist eigentlich die älteste bekannte „Ave Maria“-Vertonung, die es gibt? Kann man das sagen?
Die ältesten Ave Maria-Vertonungen sind ganz sicher die gregorianischen Gesänge. Soweit ich weiß, gab es davor keine belegten Kirchengesänge dieser Art.
Ein unerwarteter „Bonus“, den man auch erwähnen sollte, ist, dass für Ihr Album eigens Grafiken von der renommierten Künstlerin Doris Kollmann gestaltet worden sind. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit ihr, die sich nicht nur in einem wunderbaren Cover-Artwork niedergeschlagen hat, sondern auch in begleitenden Grafiken, die man im Booklet wiederfindet?
Doris Kollmann bearbeitet dieses Thema tatsächlich gemeinsam mit mir seit 15 Jahren. Wir haben uns auf eine Empfehlung eines gemeinsamen Bekannten zu dem Thema das erste Mal in ihrem Atelier getroffen und bereits bei dieser ersten Begegnung verschiedene Betrachtungsweisen des Gebetes an die Maria und die Darstellung der Marienfigur durchgesprochen. Die bildende Kunst und die Musik haben in diesem Fall tatsächlich einige weitere Türen zum Thema geöffnet. In der Mitte des Booklets findet sich eine Bleistiftzeichnung der „Maria am Wasser“. Ich persönlich finde dieses Bild unglaublich eindrucksvoll: es zeigt Maria als eine einfache, arbeitende Frau; zeigt eine Art Alltag, der bestimmt nicht leicht zu bewältigen war und trotzdem strahlt das Bild eine Ruhe und diese gewisse Besonderheit aus. Auch die Federzeichnungen von Marianischen Pflanzen beeindrucken mich tief… ganz schlichte Blumen, die eine ungeheure Symbolkraft haben.
Vielleicht darf ich auch anmerken, dass mir auch gerade das Zusammenspiel der Fotografien von Alex Adler (dessen Kunst ich übrigens genauso sehr schätze) und der Bilder von Doris Kollmann wirklich imponiert. …in diesem visuellen Teil der CD-Box steckt die gleiche liebevolle Detailarbeit wie in dem akustischen Part, der ja mit dem begleitenden Text von Michael Pauser mit wirklich lesenswerten Informationen bestückt ist.
Die meisten „Ave Maria“-Vertonungen stammen von Männern, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein der Beruf des Komponisten männlich dominiert war. Einige Komponistinnen haben sich dem Gebet aber auch angenommen. Erkennen weibliche Tonsetzerinnen in dem „Ave Maria“-Gebet womöglich etwas anderes als ihre männlichen Kollegen? Haben Sie den Eindruck, dass da ein anderer Blickwinkel zum Vorschein kommt?
Einen solchen Eindruck hatte ich nicht. Aber da ich mich ohnehin jeder einzelnen Vertonung ganz für sich genommen als Sängerin gewidmet habe, ist diese Frage für mich fast nicht zu beantworten. Ich habe die Werke ja nicht wegen eines Vergleiches ins Repertoire genommen. Jede Vertonung des Gebetes ist eine sehr persönliche Ansprache und auch die drei Vertonungen von Hildegard von Bingen, Fanny Hensel und Regina Wittemeier haben da sehr verschiedene Ansätze.
Einige Komponisten entwickelten eine regelrechte „Ave Maria“-Leidenschaft: Bruckner komponierte drei Vertonungen des Gebets, Saint-Saëns offenbar sogar 10. Ist bekannt, ob diese Komponisten eine besondere Beziehung zur Marienverehrung hatten?
Zumindest für Anton Bruckner ist diese Frömmigkeit belegt. Er betete täglich u.a. mehrere ‚Vaterunser‘ oder ‚Ave Maria‘ – und das nicht selten kniend. Für die anderen Komponisten müsste ich jetzt spekulieren, aber ich gehe davon aus, dass jeder Komponist, der sich musikalisch dem Thema widmet, auch ein Vertrauen in die Anrufung der Mutter Gottes hatte oder hat.
Erschienen pünktlich zum Marienmonat Mai hat Ihnen sicherlich die Coronakrise, die sich zu dem Zeitpunkt auf einem Höhepunkt befand, einen Strich durch die Rechnung gemacht, was z.B. Präsentationen des Repertoires im Konzert angeht. Nun sind aber doch noch CD-Release-Konzerte möglich geworden. Erzählen Sie mal: Wo können wir einige der „Ave Maria“-Vertonungen demnächst live hören und mit welchen Ihrer musikalischen Mitstreiter?
Ja, das Virus hat uns in eine extrem unangenehme Lage gebracht. Einige Konzerttermine mussten in das Jahr 2021 verschoben werden, aber ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir die Möglichkeit bekommen haben, einige Termine schon für dieses Jahr 2020 – ab August – ankündigen zu können:
Am 15.08.20 um 20:00 Uhr in der Marienkirche Berlin-Friedenau, Bergheimer Platz 1, 14197 Berlin u.a. mit Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor), Prof. Dr. Robert Knappe (Orgel), Michael Schepp (Violine), Stefan R. Kelber (Viola), Ekaterina Gorynina (Violoncello), Lidiya Naumova (Gitarre), Olaf Neun (Erzlaute), Almute Zwiener (Oboe/ Englisch Horn)
Am 16.08.20 um 18:00 Uhr in der Friedenskirche Berlin-Grünau, Don-Ugoletti-Platz, 12527 Berlin mit Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor) und Dr. Jakub Sawicki (Orgel)
Am 17.08.20 um 19:30 Uhr im Rahmen des Reichenbacher Orgelsommers in der Marienkirche Reichenbach, Elisabethstraße 6, 08468 Reichenbach (Vogtland) mit Andrea Chudak (Sopran) und Dr. Jakub Sawicki (Orgel)
Am 29.08.20 um 19:00 Uhr in der Evangelischen Kirche Storkow, Altstadt 24, 15859 Storkow (Mark) mit Andrea Chudak (Sopran), Lidiya Naumova (Gitarre) und Prof. Dr. Robert Knappe (Orgel)
Die Konzertorganisationen laufen gerade erst an, aber ich hoffe sehr, dass sich für dieses vielfältige Programm in den sehr unterschiedlichen Besetzungen noch weitere tolle Konzertmöglichkeiten ergeben.
Die in Luxemburg gerade auch in der Förderung jugendlicher Musiktalente äußerst umtriebige, aus Bulgarien stammende Komponistin Albena Petrovic hat bei Solo Musica eine CD mit neuer Klaviermusik vorgelegt, die von der ebenfalls bulgarischen Pianistin Plamena Mangova dargeboten wird. Halten die blumigen Titel: Surviving Bridges of Love, Island of Temptations, Crystal Dream, Mystery Dream, Twinkling Dream, River of Dreams und Hidden Letters, was sie versprechen?
Es fällt nicht leicht, die allesamt aktuellen, zwischen 2013 und 2019 entstandenen Klavierwerke von Albena Petrovic Vratchanska (*1965) stilistisch genauer einzuordnen. Die Musik ist sicher nicht tonal; aus relativ konzentriertem Material entstehen wenige – oft nur zwei bis drei – meist kontrastierende musikalische Elemente mit eindeutigem Wiedererkennungswert, die sich dann in ständigem Wechselspiel fast manisch wiederholen und nur teilweise neue farbliche Beleuchtung erfahren. Eine formale Entwicklung findet ebenso wenig statt wie eine wirkliche, emotionale Zielgerichtetheit. Man darf wohl unterstellen, dass das kompositorische Material – bei den hier präsentierten Werken häufig aus Tonfolgen gebildet, die sich aus Buchstabenfolgen ableiten, welche in Zusammenhang mit den Namen einer Widmungsträgerin – etwa P, L, A, M, E, N, A (Island of Temptation) – oder einer zyklischen Idee (ROMEO in Verborgene Briefe) stehen – konsistent Verwendung findet: Petrovic hat auch mal Musikinformatik studiert. Der Tonumfang des Klaviers wird voll genutzt. Die verschiedenen Register agieren dabei als Vermittler gegensätzlicher musikalischer Schichten; so kommt etwa dem Bass in der Regel eine eher perkussive Rolle zu. Dazu gibt es einige Gimmicks: Teilweise wird im Flügel gezupft, abgedämpft, und die Pianistin muss außerdem, rechts und links neben dem Instrument platziert, eine tibetische Klangschale bzw. ein Tamburin bedienen (u.a. in Surviving Bridges of Love).
Insgesamt sind die hier erforschten Klangwelten zwar interessant, wenn auch wenig abwechslungsreich; in Island of Temptation finden sich immerhin zwischen geheimnisvoll meditativen Abschnitten solche mit rhythmischer Zugkraft. Das ständige Wiederholen innerhalb der einzelnen Segmente auf statischen Tonhöhen wirkt allerdings sehr schnell ermüdend, besonders bei den Traum-Stücken. So erinnert die Musik Petrovics äußerlich ein wenig an die enigmatischen Klaviersonaten von Galina Ustwolskaja – von deren beinahe schamanischer Wirkung, der fast unerträglichen Penetranz und schockierender Konsequenz ist die Bulgarin freilich Welten entfernt. Die Tatsache, dass gerade die beiden längsten Werke mit jeweils ca. 9 Minuten einerseits über Strecken langweilen, die Zeit dabei jedoch im Fluge vergeht, so dass man versucht ist, sich auf dem Display des CD-Players zu vergewissern: Es waren wirklich 9, nicht etwa 3 Minuten, spricht nicht gerade für tiefer gehende Substanz! So verwundert es nicht, dass der fünfteilige Zyklus Hidden Letters aus recht kurzen Stücken vielleicht noch am überzeugendsten ist. Hier versteht man auch Petrovics Ästhetik im Titel des letzten Stücks: O like Obsession.
Den übrigen, blumigen Titeln – schade, dass das Booklet die zugehörigen Opuszahlen unterschlägt – kann ich nur wenig abgewinnen. Zu willkürlich, um nicht zu sagen: beliebig, erscheinen diese gewählt, mögen aber durchaus Anregung für die Interpretin Plamena Mangova gewesen sein. Diese war unter anderem 2. Preisträgerin beim ConcoursReine Elisabeth 2007 und erweist sich hier als einfühlsame Künstlerin, die über die gesamte CD klanglich differenziert, allen Details gegenüber aufmerksam, agiert. Alles klingt sonor, nie grob, obwohl sie bei den obsessiven Stellen auch immer die nötige Energie entfaltet. Ihr gelingt es trotzdem nicht, der Musik Petrovics nachvollziehbar Emotion zu entlocken. Crystal Dream geriet der damals erst 14-jährigen Zala Krava auf ihrem sensationellen Debütalbum [zur Rezension] deutlich spannungsreicher.
Die Aufnahmetechnik ist übrigens wirklich großartig – der Flügel ist räumlich wie dynamisch perfekt eingefangen, und man hört unverzerrt jedes Detail gerade beim Spiel im Instrument. Leider bleibt so der Gesamteindruck bei Petrovics Klavierwerken dennoch der von fast easy listening dahinplätschernden Belanglosigkeiten, die den Hörer eher kalt lassen – trotz einiger hübscher Ansätze ist hier Eintönigkeit vorherrschend.
Erst kürzlich gelang Călin Humă der Durchbruch mit seiner Ersten Symphonie, Carpatica, die auf dieser CD nun festgehalten wird. Zu dieser hören wir das Symphonie-Concerto für Klavier und Orchester, dargeboten vom Pianisten Sergiu Tuhuțiu. Es spielt das BBC National Orchestra of Wales unter Christopher Petrie.
Călin Humă ist ein spezieller Fall der neueren Musikgeschichte: Als rumänischer Generalkonsul in Großbritannien verdient er seinen Lebensunterhalt nicht als Komponist, sondern kann trotz professioneller Ausbildung ohne Existenznot, quasi hobbymäßig, an seine Kompositionen herantreten und sich entfalten, unabhängig von jeglicher Beeinflussung anderer. Diese Musik muss niemandem etwas beweisen, sie muss keinem zusagen, sie wurde rein aus der Liebe zur Schönheit der Töne geboren.
Der Werkkatalog Humăs zeigt sich entsprechend schmal und doch wagt sich der Komponist an umfangreiche Großformen, an deren Spitze seine beiden Symphonien und das Symphonie-Konzert stehen. Laut seiner Vita arbeitet er aktuell an einem Violinkonzert.
Sein Stil offenbart eine tiefe Verwurzelung in der Tradition der Tonalität, die zu keiner Zeit durchbrochen wird. Es gibt durchaus einige waghalsige Wendungen, möglicherweise nicht einmal intendiert, die sich allerdings kaum bemerkbar machen und sich sogleich in das Gesamtbild einfügen, somit sogar für gewisse Würze sorgen. Erkennbar bleibt eine Nähe zur russischen Tradition des 19. Jahrhunderts, Humă selbst nennt allerdings vor allem Sibelius als ein großes Vorbild. In den symphonischen Werken gestaltet er eine Weite und Erhabenheit, behält eine durchgehende Weichheit und schätzt besonders die zarten Ausdrucksweisen ohne Herbheiten oder vorstechende Kontraste.
Ohne es dem überschwänglich vergleichenden wie ständig illustrierenden Booklet-Autor gleichtun zu wollen, so komme ich doch nicht darum herum, einen direkten Vergleich anzuführen: Das Symphonie-Konzert könnte beinahe aus der Feder Rachmaninoffs stammen, insbesondere die Nähe zu dessen c-Moll-Konzert Nr. 2 frappiert. Lediglich von dessen Vollgriffigkeit und dem rhythmischen Vorwärtsdrang lässt Humă die Finger, diese könnten die Widerstandslosigkeit seines kristallenen Stils durchbrechen. Trotz der symphonischen Weite und Tragfähigkeit handelt es sich doch um ein ausgewachsenes Klavierkonzert mit anspruchsvollem Solopart inklusive zurschaustellerischer Kadenzen.
Der Stil der Symphonie ähnelt dem des Symphonie-Konzerts deutlich, wobei Humă hier mehr auf ausgeglichene Orchestration achtet und gewisse Anklänge von Kernigkeit nun dem Blech und den tiefen Streichern überlassen muss, wo zuvor das Klavier den Ausgleich brachte. In ihrer formalen Gestaltung drehen sich beide Werke teils doch im Kreis und führen nicht geradlinig voran, wodurch allerdings auch eine gewisse träumerische, beinahe schwärmerische Sphäre entsteht, in der man sich gerne verliert. Denn diese Musik berührt unmittelbar und lädt ein, in ihr zu versinken.
Das BBC National Orchestra of Wales unter Leitung von Christopher Petrie nimmt seinen Ausgangspunkt gerade bei der Reinheit und emotionalen Unbekümmertheit, um eine sanftmütige und freundliche Darbietung er erzielen. Das Orchester schafft wellenartig schwingende Flächen und stimmt einen gemächlichen Panoramablick an über die endlosen Weiten von Humăs Formen. Im Symphonie-Konzert passt sich Sergiu Tuhuțiu als primus inter parens ein, folgt dem Orchester, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. So wird das Werk auch seinem Titel gerecht, der dem Solisten nicht die alleinige Führung überlässt. Wohl dosiert Tuhuțiu seinen Anschlag, bringt impressionistische Leichtigkeit und Feingliedrigkeit in den Solopart, verleiht ihm so Schwerelosigkeit.