Paladino Music pmr 0106; EAN: 9120040732042
Beim kleinen, hochengagierten Wiener Label Paladino Music hat der belgische Pianist Daan Vandewalle das ausufernde 3. Klavierkonzert des griechischen Schönberg-Schülers Nikos Skalkottas eingespielt. Seine Partner in Gent waren das dortige Bläserensemble „Blattwerk“ unter der Leitung von Johannes Kalitzke. Diese nunmehr dritte Einspielung des gewaltigen Zwölftonwerks kann vor allem durch seine fast hemmungslose Emotionalität überzeugen.
Nikos Skalkottas (1904-1949) kam nach frühem Geigenexamen über ein Stipendium 1920 zu Willy Hess nach Berlin, wo er sich jedoch bald ganz der Komposition widmete. Nach Studien bei Robert Kahn, Jarnach und Weill landete er schließlich 1927 in Arnold Schönbergs berühmter Meisterklasse und war dort einer seiner Lieblingsschüler. Psychisch immer ein wenig labil, verließ Skalkottas 1931 aus finanziellen Gründen Deutschland, konnte – zurück in Athen – dort als Komponist allerdings nicht Fuß fassen. Dennoch schrieb er in Griechenland den Großteil seines recht umfangreichen Schaffens. Bemerkenswert ist, dass Nikos Skalkottas neben dodekaphonischen Meisterwerken immer auch weitgehend tonale Musik verfasste, oft zeitgleich; dies nicht etwa nur, um leichter Einkünfte zu generieren wie Schönberg ab und zu im amerikanischen Exil, sondern mit Überzeugung und auf gleichem technisch-musikalischen Niveau. Bekanntestes Zeugnis sind hier die 36 griechischen Tänze.
Blieben die meisten Kompositionen Skalkottas‘ zu Lebzeiten ungedruckt, nicht zuletzt durch seinen frühen Tod, geriet seine Musik erst ab den 1960er-Jahren nach und nach in den Fokus der Öffentlichkeit. Das schwedische BIS-Label bemüht sich seit über zwanzig Jahren um eine Renaissance dieses hochbedeutenden Neutöners. War sein Klavierkonzert Nr. 1 (1931) vielleicht der erste komplett 12-tönige Gattungsbeitrag überhaupt, folgt auf das ebenso meisterhafte 2. Klavierkonzert 1939 das hier vorgestellte Konzert für Klavier, 10 Bläser und Schlagzeug (welches nur äußerst sparsam eingesetzt wird). Lässt einen der Titel sofort an Alban Bergs Kammerkonzert denken, ist Skalkottas‘ fast einstündiges Stück jedoch eine wahre tour de force – nicht nur für den Pianisten. Der Solopart ist so herausfordernd, manuell und von der reinen Notenmasse her, dass man ihn bei der Erstaufführung des kompletten Werkes (London 1969) unter drei Pianisten aufteilte. Unter der Oberfläche der drei ausladenden Sätze, die sich äußerlich alle – gut nachvollziehbar – an die Sonatenform anlehnen, werkelt eine äußerst komplexe Zwölftonstruktur, wo aus drei Hauptreihen das Material für das gesamte Stück generiert wird. Erstaunlich, wie sich der Grieche selbständig neue Techniken erarbeitet hat, die man so etwa in Bergs Lulu antrifft, welche Skalkottas aber damals kaum gekannt haben durfte.
Wie schon Geoffrey Douglas Madge in der Erstaufnahme (BIS, 2004), braucht der flämische Pianist Daan Vandewalle – seit Jahren auch Duo-Partner von Madge – die rein körperliche Anstrengung nicht zu fürchten: Beide spielten bereits das fast fünfstündige Opus Clavicembalisticum des britischen Exzentrikers Kaikhosru Sorabji – nochmal eine ganz andere Nummer. Ebenfalls von 2004 existiert noch eine dritte Einspielung – mittlerweile vergriffen – mit der griechischen Pianistin Danae Kara unter Friedemann Layer (Decca).
Die Neuaufnahme kommt leider in puncto Aufnahmetechnik nicht an die älteren Produktionen heran: Erreicht BIS eine geradezu phänomenale Transparenz und Räumlichkeit, erscheint die neue CD aus Gent matschig, zu bassbetont und dynamisch durchgehend zu fett. Decca kann ebenfalls mit besserer Durchsichtigkeit punkten. Dazu kommt noch, dass Madge und Kara auch beim Solopart – gerade unterhalb des Forte-Bereichs – nuancenreicher agieren als Vandewalle. Nach lauten Ausbrüchen bzw. Verdichtungen, die in der Partitur in der Tat ff notiert sind, wirken Piano-Passagen bei Vandewalle oft zu laut – insgesamt nimmt er sich bei der dynamischen Gestaltung viele Freiheiten, so etwa im Solo (T. 145 ff.) im 2. Satz cresc. statt dim. usw. Trotz dieses Mankos gelingt dem Solisten und den vorzüglichen Bläsern von Blattwerk aber etwas viel Wichtigeres: Sie machen spannende Musik – und das 55 Minuten lang! Mögen Zwölftonfetischisten – mit der Partitur in der Hand – bei Christodoulou (BIS) und Layer schneller irgendwelche Reihenoperationen erkennen können, läuft dabei die Musik oft ins Leere oder Beliebige. Über Strecken fehlt jegliche Zielgerichtetheit, es geht immer nur schön kompliziert weiter; und so bekommt dieses Mammutkonzert – keinesfalls himmlische – Längen. Ganz anders bei Kalitzke und Vandewalle: Hier verfolgt der Hörer ein echtes Drama in drei Akten – immer hochemotional und bewegend, die Höhepunkte meist schmerzhaft, aber mit beispielhafter innerer Konsequenz. Die gewählten Tempi sind goldrichtig. Der zweite Satz dauert bei Madge ganze sieben Minuten länger, ist zwar detailverliebt, aber verliert seine innere Geschlossenheit. Und die seltsam skurrile „Kirmesmusik“, mit der die Bläser das Finale einleiten, klingt bei aller Durchhörbarkeit lediglich schräg. Die Neuaufnahme wirkt hier sofort gefährlich: Dieser Truppe möchte man nicht nachts in einer dunklen Straße begegnen! Insgesamt verharren Madge und Kara bei ihren Darbietungen in der Kategorie großbesetzter Kammermusik – die Neuproduktion dagegen ist großes Theater für ein großes Publikum. Ja, das Stück ist auch für den Hörer anstrengend, aber hier wird es zum erfüllenden Erlebnis mit überbordender Intensität, einem dauernden Wechselbad zwischen unwirschen, harschen Momenten und solchen von magischer Schönheit: echte griechische Tragödie eben.
Vergleichsaufnahmen: Geoffrey Douglas Madge – Caput Ensemble, Nikos Christodoulou (2004, BIS-CD-1364); Danae Kara – Orchestre National de Montpellier, Friedemann Layer (2004, Decca 00289 4762561)
[Martin Blaumeiser, Mai 2020]