Archiv für den Monat: April 2020

Eine Nacht in Estland

Ondine, ODE 1335-2; EAN: 0 761195 133521

Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).

Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.

Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.

Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Vorübergehend

Naxos, 8.579069; EAN: 7 47313 90697 0

Flötensonaten des 20. Jahrhunderts stehen auf dem Programm der aktuellen CD des Flötisten Danis Lupachev und des Pianisten Peter Laul. Zu Beginn hören die die 1936 komponierte Sonate von Paul Hindemith, darauf folgen die Gattungsbeiträge von Vyacheslav Nagovitsyn (1962) und Edison Denisov (1960). Den Abschluss bildet die D-Dur-Sonate op. 94 aus der Feder Prokofieffs, geschrieben 1943.

So sehr ich ein Verfechter der weniger bekannten Musik bin, so muss ich doch in diesem Fall gestehen, dass die beiden bekannten Sonaten dieser Aufnahme die bezwingenderen und stilistisch wie musikalisch prägnanteren dieser CD sind. Die Sonate von Vyacheslav Nagovitsyn hat durchaus ihre starken Momente und betört mit manch einem ansprechenden Klangeffekt, wirkt aber als Gesamtes wenig stimmig, die einzelnen Teile wollen nicht so recht miteinander verschmelzen – zu groß klafft die Schlucht zwischen den modernistischen Stilelementen mit schrillen, engen Akkorden sowie dissoziierter Melodie und doch rückwärtsgewandten, beinahe tonalen Passagen. Recht bedeutungslos plätscherte die Sonate von Edison Denisov an mir vorbei, die in ihrer gemäßigten Modernität zwar nett zu hören ist, aber auch nichts Aufsehenerregendes birgt. In ihrer kecken Sperrigkeit und der wohldosierten Distanz sticht die Flötesonate op. 94 in D-Dur von Prokofieff hervor, die vor allem in ihrer späteren Umarbeitung zur Violinsonate Nr. 2 Bekanntheit erlangte. Klassizistisch ausgewogen und anders als in der Ersten Symphonie ohne den beißenden Sarkasmus bildet sie einen ernsten und substanzgeladenen Beitrag zur Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Die Flötensonate Hindemiths zählt zu dessen bekannteren Werken, wenn man doch nicht umher kommt anzumerken, dass dieser Großmeister – zweifelsohne einer der größten Komponisten Deutschlands – noch immer stiefmütterlich behandelt und fast nie wirklich aufgeführt wird. Mit seiner Reihe an idiomatischen Sonaten für alle möglichen Instrumente schuf er je auf das Instrument zugeschnittene, die Möglichkeiten ausschöpfende und perfekt ausbalancierte Gattungsbeiträge gerade für die Instrumente, denen sonst wenig Literatur gewidmet ist; in ihrer Gänze bilden diese Sonaten quasi ein Kompendium des Komponierens für die jeweiligen Instrumente.

Technisch präzise und stimmig meistern Denis Lupachev und Peter Laul diese anspruchsvollen Werke der Moderne. Die beiden Musiker stimmen sich dynamisch und artikulatorisch fein aufeinander ab, was besonders das Klavier zu flautierend-singenden Melodieführungen anspornt. Obgleich an dieser Aufnahme nur wenig auszusetzen ist, so springt doch der Funke nicht so recht über und man geht im Großen und Ganzen eher unberührt an dieser Aufnahme vorbei. Mag es daran liegen, dass Denis Lupachev doch nicht ganz die klangliche Flexibilität und Biegsamkeit besitzt, wie sie mir beispielsweise letztens bei Clara Andrada [Zur Rezension] begegnet sind? Oder ist doch die Tontechnik nicht sensibel genug auf die feinsten Schattierungen eingegangen, so dass nun die plastische Ebene fehlt? Woran es liegen mag, es unterminiert die Spannung, die gerade bei solchen wie den hier zu hörenden Werken hoch sein müsste, um all die Kontraste zu genießen und die stilistische Vielfalt dieser Musik zu bewundern.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Brasilianische Violinsonaten – fein erarbeitet

Naxos 8.574118; EAN: 7 4731341187 0

Naxos hat letzten Sommer mit einer sensationellen Nepomuceno-CD in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Außenministerium eine vorerst auf 30 Veröffentlichungen angesetzte Reihe „The Music of Brazil“ eröffnet, die sich für die Entwicklung der dortigen Musik historisch relevanten Kompositionen widmet – auch jenseits der bekannten Größen wie Villa-Lobos oder Camargo Guarnieri. Die zweite CD bringt nun drei Violinsonaten von Leopoldo Miguez und Glauco Velásquez, gespielt von Emmanuele Baldini (Violine) und Karin Fernandes (Klavier). Auch sie kann qualitativ absolut überzeugen.

Zwei bisher eher unbekannten Namen begegnet man auf der vorliegenden, ersten Kammermusikveröffentlichung der neuen Naxos-Reihe The Music of Brazil: Leopoldo Miguez (1850-1902), aus Rio de Janeiro gebürtig, erfuhr seine musikalische Ausbildung in Spanien, Portugal und Frankreich, bevor er in die Heimat zurückkehrte und ab 1890 das Instituto Nacional de Música leitete. Aus Europa brachte er vor allem die Ästhetik Richard Wagners mit. Bisher hatte – insbesondere in der Kammermusik – ein mehr italienischer Stil mit Melodie plus Begleitung die brasilianische Romantik dominiert. Die halbstündige Violinsonate von 1885 entstand bereits in Brasilien, hat einen Kopfsatz mit symphonischen Dimensionen, formal entsprechend elaboriert, mit erstaunlicher kontrapunktischer Arbeit und emotionaler Tiefe. Das Trio im Scherzo – schon die Viersätzigkeit ist hier erwähnenswert – wird gar durch eine respektable, recht strenge Fuge ersetzt. Das ist dann weitaus mehr als Salon- oder Hausmusik, sondern für den großen Konzertsaal konzipiert.

Glauco Velásquez (1884-1914) war der Sohn eines portugiesischen Baritons; die Mutter stammte aus Rio. Er wuchs zunächst in Neapel auf und studierte ab 1897 dann in Brasilien, wo er, erst dreißigjährig, an Tuberkulose verstarb. Velásquez‘ Stil ist einerseits eklektizistisch – zeigt sowohl italienische wie neudeutsche Einflüsse –, gleichzeitig kühner und nuancenreicher als bei Miguez. Die klangliche Interaktion zwischen Violine und Klavier ist bis ins Detail durchgehört und effektvoll. Auffällig ist, neben den teilweise „tropischen“ Klangfarben, die demonstrative Vermeidung affirmativer Schlusswirkungen. Dabei gibt es zwischen den beiden, nur zwei Jahre auseinanderliegenden, dreisätzigen Sonaten (1909 bzw. 1911) eine bemerkenswerte Entwicklung, sodass sich beim Hören der CD – mit der Miguez-Sonate in der Mitte – eine sukzessive Steigerung ergibt.

Der italienische Geiger und Dirigent Emmanuele Baldini – in seiner Karriere Konzertmeister u.a. an der Mailänder Scala und beim Symphonieorchester von São Paulo – spielt die drei Sonaten mit absoluter technischer Präzision und Hingabe; völlige Souveränität paart sich mit historischem Verständnis und adäquatem Ausdruck, der immer feinsinnig bleibt. Karin Fernandes ist eine gleichwertige Partnerin, mit erfrischender Virtuosität, die nie zum Selbstzweck gerät, und perfekter klanglicher Balance. Auch die Aufnahmetechnik, mit schön eingefangener Räumlichkeit, lässt keine Wünsche offen. Eine echte Entdeckung für Kammermusikfreunde!   

[Martin Blaumeiser, April 2020]

Meisterliche Quartette

Das aus Emeline Pierre, Esther Gutiérrez Redondo, Sandra Garcia Hwung und Marion Platero bestehende Constanze Quartet spielt erstmalig alle drei Streichquartette des deutschen Komponisten Felix Draeseke ein, der zu den spannendsten Komponisten-Entdeckungen seiner Generation zählt. Auf der vorliegenden ersten CD sind zu hören das Quartett Nr. 1 op. 27 in c-Moll und das Quartett Nr. 2 op. 35 in e-Moll.

In Fachkreisen weiß man mittlerweile um Felix Draeseke als einen der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im Konzert hört man seine Musik dennoch nur in glücklichen Ausnahmefällen. Zeitlebens sah sich Draeseke im Zeichen des Fortschritts und doch wurde er in seinen späten Jahren als Reaktionär betrachtet, insbesondere nach seinem Mahnruf „Die Konfusion in der Musik“ gegen die Salome von Strauss. Dort schrieb er unter anderem: „Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes Harmoniegewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form, schön vermittelte  und überraschende Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt erscheint.“ Dabei trifft er durchaus einen Kern der Problematik, mit der Musik des 20. Jahrhunderts bis heute zu kämpfen hat, und fand in seinen Thesen auch namhafte Unterstützer; nicht zuletzt Strauss selbst kehrte mit dem Rosenkavalier in die Sphäre der drei von Draeseke angeführten Grundpfeiler zurück: Melodie, Harmonie, Rhythmik. Und innerhalb dieser Pfeiler darf das Schaffen Draesekes fortwährend als modern bezeichnet werden. Er gilt vor allem als begnadeter Melodiker, der durch geschickte Verschmelzung verschiedener Motive große Tragweite in seinen Themen erreichte. In kontrapunktischer Meisterschaft führte er die Themen durch die einzelnen Stimmen durch und formal weiter. Dabei sticht eine erfrischende Rhythmik hervor, besonders für einen deutschen Komponisten (wie er es ja selbst im angeführten Zitat erwähnte). Sein harmonisches Geschick lässt sich auf seine frühe Begeisterung von Liszt und Wagner begründen, deren Ausdruckswelten Draeseke aber für sich weiterführte. Eine erschöpfende Darstellung von Leben, Stil und Werk kann auf zehn Seiten (!) im Begleittext der vorliegenden CD von Norbert Florian Schuck bewundert werden.

Die Streichquartett Draesekes überraschen durch ihre Subtilität, die gänzlich auf äußeren Effekt verzichtet, ebenso wie auf Herbheiten und triumphale Gesten. Erst wer die weitgespannte Melodik erfasst, wird den vollen Charme dieser Meisterwerke entdecken. In schier endlosen Themen bündelt Deaeseke die Kontraste und gibt Ausgangspunkt für große Entfaltung. Die Formen der Sätze muten klassisch an und auch die Ausdehnung der Quartette übersteigt nicht die von Quartetten aus der Wiener Klassik; wohl aber intensiviert der Komponist die harmonische Spannkraft und die kontrastierenden Elemente, was den Quartetten eine ungemein dichte Textur verleiht. In minutiös detailliertem Kontrapunkt herrscht eine konstante Vierstimmigkeit vor, welche die Dichte noch unterstreicht.

Durch konzentriertes, fokussiertes und inniges Spiel besticht das Constanze Quartet auf dieser ihrer Debut-CD. Die Musikerinnen zeigen sich innig ergriffen, ohne dies in äußerlichen Eskapaden darzustellen: so erhalten wir das Gefühl der Echtheit jeder Emotion, allgemein eine Purität in jeder Note. Es entsteht ein Glimmern und Funkeln von innen heraus, das die gesamte Musik wie eine Aura umhüllt. Das Constanze Quartet folgt den Melodien und spüren die subtilen Überraschungen auf, um sie ebenso plastisch wie charmant dem Hörer zu übermitteln. Dabei weben sie ein feines und transparentes kontrapunktisches Geflecht, in dem stets die Richtung klar und nachvollziehbar bleibt.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Anfang und Ende

Capriccio, C5387; EAN: 8 45221 05387 5

Die beiden ausladenden Klavierkonzerte von Ernst von Dohnányi machen das Programm der vorliegenden CD mit Sofja Gülbadamova als Solistin aus, die bereits das Soloklavierwerk des Komponisten für Capriccio aufnahm. Das Erste Konzert op. 5 steht in der Tonart e-Moll und wurde 1897-98 komponiert, das Zweite Konzert, in h-Moll, entstammt dem Jahr 1947 und trägt die Opusnummer 42.

Ernst von Dohnányis Klavierkonzerte umrahmen sein Schaffen, fünfzig Jahre trennen die beiden Werke, die er sich selbst auf den Leib schneiderte. Das Erste Klavierkonzert e-Moll op. 5 begann er während seiner Lehrzeit bei Eugen d’Albert am Starnberger See, um damit als Solist zu touren. Knapp 50 Minuten misst das traditionell-romantisch gehaltene Konzert, strotzt dabei im vollgriffigen Klaviersatz vor technischen Höchstschwierigkeiten. Zu Lebzeiten Dohnányis gehörte es zu den häufig programmierten Klavierkonzerten, nicht zuletzt dank des eindrucksvollen Klavierparts; insgesamt ist die Anlage allerdings recht prätentiös bis plakativ. Lärmend hangelt sich das Konzert von Höhepunkt zu Höhepunkt, geht verschwenderisch mit großen Tonmengen um und verliert sich im Übermaß. Von ganz anderem Kaliber präsentiert sich da das spätere Konzert, zwar ebenso gesättigt von pianistischem Blendwerk, was aber hier viel mehr der musikalischen Substanz dient und den Themen auch den nötigen Platz zur Entfaltung gibt, ohne sie durch immer neue Solopassagen zu ersticken. Meisterlich vor allem der Mittelsatz, ein herrliches Variationswerk im Adagio, das grazil aus dem Kopfsatz entspringt.

Staunend steht der Hörer vor der brillanten Technik Sofja Gülbadamovas, die unbeschwert eine Hürde nach der nächsten meistert und dabei auch musikalische Substanz offenbart. Präzise und elegant schwingt sie sich in die Höhen und beleuchtet beide Hände gleichermaßen luzide, verfällt zu keiner Zeit in Starrheit oder verliert den Fokus auf die hinter der Technik stehenden Musik. Das Zweite Konzert nehmen auch die Orchestermusiker unter Ariane Matiakh farbenfroh differenziert; im e-Moll-Konzert op. 5 hingegen lässt sich das Orchester blenden von der Wucht und geht in aller Ruppigkeit mit. Doch gerade hier würde ausgeglichenes und abschattiertes Spiel Gewinn bringen, denn die Unnachgiebigkeit hebt eine Gewalt in der Partitur hervor, die differenziertes Spiel umgehen könnte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

„Momente, die ausschließlich mir gehören!“

Nach ihrer Duo-CD mit dem Klavierpartner David Fung legt die Geigerin So Jin Kim nun eine Produktion mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim vor. Für die schlanke Besetzung dieses Klangkörpers lag die Entscheidung für Mozarts Violinkonzerte KV 216 und 219 auf der Hand – Stücke, die erklärtermaßen wie eine Energiequelle für So Jjin Kim wirken. Mit Stefan Pieper sprach sie über diese Musik und die emotionalen Voraussetzungen dafür. Aber es ging auch um ihr Festival, das hoffentlich im Sommer im koreanischen Yeosu Premiere hat.

Wie geht es Ihnen unter den momentanen Umständen?

Ich habe viel freie Zeit. Zum Glück habe ich eine feste Stelle als stellvertretende Konzertmeisterin in einem Orchester und damit immer noch ein festes Auskommen. Aber es sind auch bei mir viele Konzerte ausgefallen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Freelancer sind, haben jetzt ein echtes Problem. Für die, denen jetzt gerade eine fest geplante Tour platzt, ist es besonders schlimm. Es zahlt sich jetzt aus, gut vorgesorgt zu haben. Gut aufgestellt ist, wer auf eine Mischkalkulation aus verschiedenen Einnahmenquellen zurück greifen kann. Es überrascht mich die optimistische Stimmung, die in den sozialen Medien herrscht.

Teile Ihrer Familie leben ja in den USA und in Südkorea. Was ist anders dort?

Es kommt mir so vor, als ob in Korea die Menschen schon das Schlimmste mit der Corona-Epidemie überstanden haben und die Menschen die Situation in den Griff bekommen. Dort wurde meiner Meinung nach auch besser reagiert. Alle verdächtigen Personen sind sofort isoliert worden – und das Gesundheitssystem ist viel effektiver dort!

Wirkt sich eine andere Kultur/Mentalität aus?

Unbedingt. Der Lebensstil ist anders. Das zeigt sich schon im Alltagsleben: Alles wird in Korea online bestellt und geliefert und es drängeln sich keine Menschenmassen in den Supermärkten.

Wie gestalten Sie Ihre freie Zeit?

Es ist schön, Zeit mit dem Instrument zu verbringen. Ich blicke in die Zukunft und will das Repertoire erweitern, Solokarriere und Orchesterjob verbinden und ein eigenes Festival planen.

Warum haben Sie sich für Ihre aktuelle Aufnahme für diese zwei Mozart-Violinkonzerte entschieden?

Beide Konzerte sind eine Art Pflichtprogram für Geiger. Man kommt um diese Stücke nicht herum. Jeder Violinist muss sie spielen, zu allen Gelegenheiten: Für Bewerbungen, in Wettbewerben bei allen erdenklichen Jobs. Normalerweise symbolisieren solche Stücke viel Stress und Erwartungsdruck, weil so vieles davon abhängt. Auch ich habe das ganze durchgemacht.

Da bin ich jetzt aber sehr neugierig, warum Sie gerade mit diesen Konzerten ins Aufnahmestudio gehen. Und wo das Geheimnis liegt, dass schließlich doch so eine beseelte Musik heraus kommt!  

Eigentlich ist es ganz einfach: Mozarts Musik erhebt sich auf Anhieb über alle schwierigen Begleitumstände. Beide Konzerte verkörpern für mich eine absolute Reinheit. Die Natürlichkeit der Phrasen erzeugt auf Anhieb so viel emotionale Wärme in mir. Die Außenwelt kann noch so aufreibend sein, sobald ich diese beiden Konzerte spiele, geben sie mir Momente, die ausschließlich mir gehören. Sogar in Wettbewerbssituationen haben mir Mozart (und auch Bach!) das starke Gefühl vermittelt, dass ich gerade etwas für mich mache. 

Gibt es trotzdem so etwas wie Schwierigkeit? 

Oh ja – und wie! Da ist der Prozess, um eine Idee im tiefsten Inneren nach außen lebendig zu machen und zwar so, dass diese in der Musik wirkt und diese lenkt. Kreative Ideen entstehen im Kopf – von da ab ist es ein langer Weg, diese zum Leben zu wecken. Da kommt immense Arbeit und viel Technik ins Spiel, bis schließlich alle Vorstellungen real sind.

Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf?

Bei mir geht es in dieser Hinsicht nicht so visuell zu. Für mich steht Mozart für eine ganz bestimmte Emotion. Egal was Mozart komponiert, da ist nie etwas Angestrengtes im Spiel, kein negatives Gefühl oder gar Aggressivität. Andere Komponisten bringen häufig auch Affekte wie Tragik, Trauer und Wut zum Ausdruck. Auch dabei kann große Musik heraus kommen. Mozart markiert eine andere Welt. Er hatte ja wirklich ein verrücktes Leben, war aber fähig, daraus das Schönste, Dramatischste und Tiefste zu schöpfen.

Denken Sie überhaupt noch über Technik nach?

Die Technik auf der Violine ist kein Selbstzweck, sondern einfach da. Ich möchte die Emotion dahinter aufspüren. Auch wenn gerade Trauer dominiert, erwächst bei Mozart doch immer eine schöne Farbe daraus. Das wunderbare ist hier auch, dass diese Empfindungen von Menschen sehr unmittelbar geteilt werden, die gar keine Kenntnisse von Klassik haben. Mozart kann jeden an einen froheren und glücklicheren Platz bringen.

Was wollen Sie Ihrem Publikum mit einer CD-Aufnahme weitergeben?

Es geht immer darum, auf dem Weg der Musik den besonderen Moment zu finden. Aber alles, was wir machen, ist temporär. Daraus erwächst das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu schöpfen. Etwas zu erzeugen, das man immer wiederholen möchte. Und mit dem sich ein gemeinsamer Nenner beim Publikum und bei den Hörern zuhause finden lässt.

Wie kam es zur Aufnahme gerade mit diesem Orchester?

Ein gemeinsames Projekt mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester ist ein Glücksfall für mich. Ich hatte schon vorher von diesem Orchester gehört. Diese Musiker sind sehr offen und wunderbar flexibel. Allein deswegen wollte ich sofort mit ihnen arbeiten. Erst danach fiel die Wahl auf Mozart.  Dass wir in der Mannheimer Epiphaniaskirche aufgenommen haben, geht ebenso auf meine persönliche Wahl zurück. Es hatte mehrere Alternativen gegeben.

Warum ist ein kleines Orchester für dieses Unterfangen so prädestiniert?

Die Instrumentierungen bleiben schlank und das passt unmittelbar zu Mozarts eigenem Schaffenskontext: Mozart schrieb für sich selber, dirigierte und spielte.

Sie spielen und dirigieren ja auch abwechselnd. Wie wirkt sich das auf die Kommunikation aus?

Der Dirigent ist normalerweise Kommunikator zwischen Solist und Orchester. Bei einem kleinen Orchester ohne Dirigent ist die Verbindung viel unmittelbarer. Davon profitieren auch die Proben: Sie machen viel Spaß und alles geht scheinbar wie von selbst. Das kommt nicht zuletzt den opernhaft-dramatischen Aspekten in Mozarts Kompositionen zugute.

Wie sehen Sie das spezifisch opernhafte in Mozarts Musik?

Oper heißt ja, dass die Musik Geschichten erzählt. Alles hat eine Bedeutung und sagt etwas. Mozarts Opern transportieren viel Menschlich-allzu-Menschliches. Egal ob die „Hochzeit des Figaro“ oder auch „Don Giovanni“ –  alles kommt aus dem prallen Leben! Und diese Natürlichkeit im Ausdruck lässt bei Mozart immer den Funken überspringen.

Sie hatten gerade schon Ihr eigenes Festival angesprochen. Darüber möchte ich gerne noch mehr erfahren.

Es soll – wenn alles so kommt wie erhofft –  in Yeosu in Südkorea stattfinden. Dort leben auch meine Eltern. Es ist ein ganz toller Platz am Meer. Im Jahr 2012 wurde hier anlässlich der Expo eine spektakuläre Halle gebaut. Ich habe mich für ein Festival mit klassischer Musik an diesem Ort stark gemacht. Ich möchte hier vor allem junge Musiker präsentieren, bevorzugt kleinere Kammerensemble. Dabei ist mir an einem zeitgemäßen Konzept gelegten, den Menschen in dieser Stadt die klassische Musik nahe zu bringen.

Was für Prioritäten setzen Sie hier?

Wir haben ja gerade schon über diese besonderen Momente gesprochen. Mir ist an Musikern gelegen, die so etwas transportieren können. Denn das kann Schlüsselerlebnisse für die klassische Musik vermitteln. Ein sinnvolles Festivalprogramm sollte einem klaren Narrativ folgen, denn es geht doch auch um die Geschichten hinter der Musik. Und zwar für ein Publikum, das nicht zu den Spezialisten gehört. Mein Ziel ist es, dass die Klassik das Elitäre abschüttelt und sich Schwellenängste abbauen. Das wichtigste bleibt aber, wie die Musiker spielen. Mittelmaß hat in klassischer Musik nichts verloren. In der Popkultur mag sich vieles über schöne Dekoration definieren. In der Klassik ist echte Substanz alternativlos und gerade dadurch geht diese Musikform einen bedeutenden Schritt weiter.

Wie motiviert man die medial dauerberieselten Menschen, diesen Schritt mitzugehen?

Es ist schwerer geworden. Die sozialen Medien diktieren eine Kultur der Kurzlebigkeit. Keiner guckt mehr ein Video, das länger als 5 Minuten ist. Jeder will alles immer kürzer. Das ist dass genaue Gegenteil von Klassik – und genau da wird die Vermittlung zur Herausforderung. Eine ganze Komposition hören, kann manchmal heißen, ein ganzes Leben zu durchlaufen.