Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).
Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.
Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.
Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.
Flötensonaten des 20. Jahrhunderts stehen auf dem Programm der aktuellen CD des Flötisten Danis Lupachev und des Pianisten Peter Laul. Zu Beginn hören die die 1936 komponierte Sonate von Paul Hindemith, darauf folgen die Gattungsbeiträge von Vyacheslav Nagovitsyn (1962) und Edison Denisov (1960). Den Abschluss bildet die D-Dur-Sonate op. 94 aus der Feder Prokofieffs, geschrieben 1943.
So sehr ich ein Verfechter der weniger bekannten Musik bin, so muss ich doch in diesem Fall gestehen, dass die beiden bekannten Sonaten dieser Aufnahme die bezwingenderen und stilistisch wie musikalisch prägnanteren dieser CD sind. Die Sonate von Vyacheslav Nagovitsyn hat durchaus ihre starken Momente und betört mit manch einem ansprechenden Klangeffekt, wirkt aber als Gesamtes wenig stimmig, die einzelnen Teile wollen nicht so recht miteinander verschmelzen – zu groß klafft die Schlucht zwischen den modernistischen Stilelementen mit schrillen, engen Akkorden sowie dissoziierter Melodie und doch rückwärtsgewandten, beinahe tonalen Passagen. Recht bedeutungslos plätscherte die Sonate von Edison Denisov an mir vorbei, die in ihrer gemäßigten Modernität zwar nett zu hören ist, aber auch nichts Aufsehenerregendes birgt. In ihrer kecken Sperrigkeit und der wohldosierten Distanz sticht die Flötesonate op. 94 in D-Dur von Prokofieff hervor, die vor allem in ihrer späteren Umarbeitung zur Violinsonate Nr. 2 Bekanntheit erlangte. Klassizistisch ausgewogen und anders als in der Ersten Symphonie ohne den beißenden Sarkasmus bildet sie einen ernsten und substanzgeladenen Beitrag zur Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Die Flötensonate Hindemiths zählt zu dessen bekannteren Werken, wenn man doch nicht umher kommt anzumerken, dass dieser Großmeister – zweifelsohne einer der größten Komponisten Deutschlands – noch immer stiefmütterlich behandelt und fast nie wirklich aufgeführt wird. Mit seiner Reihe an idiomatischen Sonaten für alle möglichen Instrumente schuf er je auf das Instrument zugeschnittene, die Möglichkeiten ausschöpfende und perfekt ausbalancierte Gattungsbeiträge gerade für die Instrumente, denen sonst wenig Literatur gewidmet ist; in ihrer Gänze bilden diese Sonaten quasi ein Kompendium des Komponierens für die jeweiligen Instrumente.
Technisch präzise und stimmig meistern Denis Lupachev und Peter Laul diese anspruchsvollen Werke der Moderne. Die beiden Musiker stimmen sich dynamisch und artikulatorisch fein aufeinander ab, was besonders das Klavier zu flautierend-singenden Melodieführungen anspornt. Obgleich an dieser Aufnahme nur wenig auszusetzen ist, so springt doch der Funke nicht so recht über und man geht im Großen und Ganzen eher unberührt an dieser Aufnahme vorbei. Mag es daran liegen, dass Denis Lupachev doch nicht ganz die klangliche Flexibilität und Biegsamkeit besitzt, wie sie mir beispielsweise letztens bei Clara Andrada [Zur Rezension] begegnet sind? Oder ist doch die Tontechnik nicht sensibel genug auf die feinsten Schattierungen eingegangen, so dass nun die plastische Ebene fehlt? Woran es liegen mag, es unterminiert die Spannung, die gerade bei solchen wie den hier zu hörenden Werken hoch sein müsste, um all die Kontraste zu genießen und die stilistische Vielfalt dieser Musik zu bewundern.
Naxos hat letzten Sommer mit einer sensationellen Nepomuceno-CD in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Außenministerium eine vorerst auf 30 Veröffentlichungen angesetzte Reihe „The Music of Brazil“ eröffnet, die sich für die Entwicklung der dortigen Musik historisch relevanten Kompositionen widmet – auch jenseits der bekannten Größen wie Villa-Lobos oder Camargo Guarnieri. Die zweite CD bringt nun drei Violinsonaten von Leopoldo Miguez und Glauco Velásquez, gespielt von Emmanuele Baldini (Violine) und Karin Fernandes (Klavier). Auch sie kann qualitativ absolut überzeugen.
Zwei bisher eher unbekannten Namen begegnet man auf der vorliegenden, ersten Kammermusikveröffentlichung der neuen Naxos-Reihe The Music of Brazil: Leopoldo Miguez (1850-1902), aus Rio de Janeiro gebürtig, erfuhr seine musikalische Ausbildung in Spanien, Portugal und Frankreich, bevor er in die Heimat zurückkehrte und ab 1890 das Instituto Nacional de Música leitete. Aus Europa brachte er vor allem die Ästhetik Richard Wagners mit. Bisher hatte – insbesondere in der Kammermusik – ein mehr italienischer Stil mit Melodie plus Begleitung die brasilianische Romantik dominiert. Die halbstündige Violinsonate von 1885 entstand bereits in Brasilien, hat einen Kopfsatz mit symphonischen Dimensionen, formal entsprechend elaboriert, mit erstaunlicher kontrapunktischer Arbeit und emotionaler Tiefe. Das Trio im Scherzo – schon die Viersätzigkeit ist hier erwähnenswert – wird gar durch eine respektable, recht strenge Fuge ersetzt. Das ist dann weitaus mehr als Salon- oder Hausmusik, sondern für den großen Konzertsaal konzipiert.
Glauco Velásquez (1884-1914) war der Sohn eines portugiesischen Baritons; die Mutter stammte aus Rio. Er wuchs zunächst in Neapel auf und studierte ab 1897 dann in Brasilien, wo er, erst dreißigjährig, an Tuberkulose verstarb. Velásquez‘ Stil ist einerseits eklektizistisch – zeigt sowohl italienische wie neudeutsche Einflüsse –, gleichzeitig kühner und nuancenreicher als bei Miguez. Die klangliche Interaktion zwischen Violine und Klavier ist bis ins Detail durchgehört und effektvoll. Auffällig ist, neben den teilweise „tropischen“ Klangfarben, die demonstrative Vermeidung affirmativer Schlusswirkungen. Dabei gibt es zwischen den beiden, nur zwei Jahre auseinanderliegenden, dreisätzigen Sonaten (1909 bzw. 1911) eine bemerkenswerte Entwicklung, sodass sich beim Hören der CD – mit der Miguez-Sonate in der Mitte – eine sukzessive Steigerung ergibt.
Der italienische Geiger und Dirigent Emmanuele Baldini – in seiner Karriere Konzertmeister u.a. an der Mailänder Scala und beim Symphonieorchester von São Paulo – spielt die drei Sonaten mit absoluter technischer Präzision und Hingabe; völlige Souveränität paart sich mit historischem Verständnis und adäquatem Ausdruck, der immer feinsinnig bleibt. Karin Fernandes ist eine gleichwertige Partnerin, mit erfrischender Virtuosität, die nie zum Selbstzweck gerät, und perfekter klanglicher Balance. Auch die Aufnahmetechnik, mit schön eingefangener Räumlichkeit, lässt keine Wünsche offen. Eine echte Entdeckung für Kammermusikfreunde!
Das aus Emeline Pierre, Esther Gutiérrez Redondo, Sandra Garcia Hwung und Marion Platero bestehende Constanze Quartet spielt erstmalig alle drei Streichquartette des deutschen Komponisten Felix Draeseke ein, der zu den spannendsten Komponisten-Entdeckungen seiner Generation zählt. Auf der vorliegenden ersten CD sind zu hören das Quartett Nr. 1 op. 27 in c-Moll und das Quartett Nr. 2 op. 35 in e-Moll.
In Fachkreisen weiß man mittlerweile um Felix Draeseke als
einen der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im
Konzert hört man seine Musik dennoch nur in glücklichen Ausnahmefällen.
Zeitlebens sah sich Draeseke im Zeichen des Fortschritts und doch wurde er in
seinen späten Jahren als Reaktionär betrachtet, insbesondere nach seinem
Mahnruf „Die Konfusion in der Musik“ gegen die Salome von Strauss. Dort schrieb
er unter anderem: „Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen
Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes
Harmoniegewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form,
schön vermittelte und überraschende
Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen
ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von
Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu
hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit
überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend
angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer
übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der
absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher
der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt
erscheint.“ Dabei trifft er durchaus einen Kern der Problematik, mit der Musik
des 20. Jahrhunderts bis heute zu kämpfen hat, und fand in seinen Thesen auch
namhafte Unterstützer; nicht zuletzt Strauss selbst kehrte mit dem
Rosenkavalier in die Sphäre der drei von Draeseke angeführten Grundpfeiler
zurück: Melodie, Harmonie, Rhythmik. Und innerhalb dieser Pfeiler darf das
Schaffen Draesekes fortwährend als modern bezeichnet werden. Er gilt vor allem
als begnadeter Melodiker, der durch geschickte Verschmelzung verschiedener
Motive große Tragweite in seinen Themen erreichte. In kontrapunktischer
Meisterschaft führte er die Themen durch die einzelnen Stimmen durch und formal
weiter. Dabei sticht eine erfrischende Rhythmik hervor, besonders für einen
deutschen Komponisten (wie er es ja selbst im angeführten Zitat erwähnte). Sein
harmonisches Geschick lässt sich auf seine frühe Begeisterung von Liszt und
Wagner begründen, deren Ausdruckswelten Draeseke aber für sich weiterführte.
Eine erschöpfende Darstellung von Leben, Stil und Werk kann auf zehn Seiten (!)
im Begleittext der vorliegenden CD von Norbert Florian Schuck bewundert werden.
Die Streichquartett Draesekes überraschen durch ihre
Subtilität, die gänzlich auf äußeren Effekt verzichtet, ebenso wie auf
Herbheiten und triumphale Gesten. Erst wer die weitgespannte Melodik erfasst,
wird den vollen Charme dieser Meisterwerke entdecken. In schier endlosen Themen
bündelt Deaeseke die Kontraste und gibt Ausgangspunkt für große Entfaltung. Die
Formen der Sätze muten klassisch an und auch die Ausdehnung der Quartette
übersteigt nicht die von Quartetten aus der Wiener Klassik; wohl aber
intensiviert der Komponist die harmonische Spannkraft und die kontrastierenden
Elemente, was den Quartetten eine ungemein dichte Textur verleiht. In minutiös
detailliertem Kontrapunkt herrscht eine konstante Vierstimmigkeit vor, welche
die Dichte noch unterstreicht.
Durch konzentriertes, fokussiertes und inniges Spiel
besticht das Constanze Quartet auf dieser ihrer Debut-CD. Die Musikerinnen
zeigen sich innig ergriffen, ohne dies in äußerlichen Eskapaden darzustellen:
so erhalten wir das Gefühl der Echtheit jeder Emotion, allgemein eine Purität
in jeder Note. Es entsteht ein Glimmern und Funkeln von innen heraus, das die
gesamte Musik wie eine Aura umhüllt. Das Constanze Quartet folgt den Melodien
und spüren die subtilen Überraschungen auf, um sie ebenso plastisch wie charmant
dem Hörer zu übermitteln. Dabei weben sie ein feines und transparentes
kontrapunktisches Geflecht, in dem stets die Richtung klar und nachvollziehbar
bleibt.
Die beiden ausladenden
Klavierkonzerte von Ernst von Dohnányi machen das Programm der vorliegenden CD
mit Sofja Gülbadamova als Solistin aus, die bereits das Soloklavierwerk des
Komponisten für Capriccio aufnahm. Das Erste Konzert op. 5 steht in der Tonart
e-Moll und wurde 1897-98 komponiert, das Zweite Konzert, in h-Moll, entstammt
dem Jahr 1947 und trägt die Opusnummer 42.
Ernst von Dohnányis Klavierkonzerte umrahmen sein Schaffen,
fünfzig Jahre trennen die beiden Werke, die er sich selbst auf den Leib schneiderte.
Das Erste Klavierkonzert e-Moll op. 5 begann er während seiner Lehrzeit bei
Eugen d’Albert am Starnberger See, um damit als Solist zu touren. Knapp 50
Minuten misst das traditionell-romantisch gehaltene Konzert, strotzt dabei im
vollgriffigen Klaviersatz vor technischen Höchstschwierigkeiten. Zu Lebzeiten
Dohnányis gehörte es zu den häufig programmierten Klavierkonzerten, nicht
zuletzt dank des eindrucksvollen Klavierparts; insgesamt ist die Anlage
allerdings recht prätentiös bis plakativ. Lärmend hangelt sich das Konzert von
Höhepunkt zu Höhepunkt, geht verschwenderisch mit großen Tonmengen um und
verliert sich im Übermaß. Von ganz anderem Kaliber präsentiert sich da das
spätere Konzert, zwar ebenso gesättigt von pianistischem Blendwerk, was aber
hier viel mehr der musikalischen Substanz dient und den Themen auch den nötigen
Platz zur Entfaltung gibt, ohne sie durch immer neue Solopassagen zu ersticken.
Meisterlich vor allem der Mittelsatz, ein herrliches Variationswerk im Adagio,
das grazil aus dem Kopfsatz entspringt.
Staunend steht der Hörer vor der brillanten Technik Sofja
Gülbadamovas, die unbeschwert eine Hürde nach der nächsten meistert und dabei
auch musikalische Substanz offenbart. Präzise und elegant schwingt sie sich in
die Höhen und beleuchtet beide Hände gleichermaßen luzide, verfällt zu keiner
Zeit in Starrheit oder verliert den Fokus auf die hinter der Technik stehenden
Musik. Das Zweite Konzert nehmen auch die Orchestermusiker unter Ariane Matiakh
farbenfroh differenziert; im e-Moll-Konzert op. 5 hingegen lässt sich das
Orchester blenden von der Wucht und geht in aller Ruppigkeit mit. Doch gerade
hier würde ausgeglichenes und abschattiertes Spiel Gewinn bringen, denn die
Unnachgiebigkeit hebt eine Gewalt in der Partitur hervor, die differenziertes
Spiel umgehen könnte.
Nach ihrer Duo-CD mit dem Klavierpartner David Fung legt die Geigerin So Jin Kim nun eine Produktion mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim vor. Für die schlanke Besetzung dieses Klangkörpers lag die Entscheidung für Mozarts Violinkonzerte KV 216 und 219 auf der Hand – Stücke, die erklärtermaßen wie eine Energiequelle für So Jjin Kim wirken. Mit Stefan Pieper sprach sie über diese Musik und die emotionalen Voraussetzungen dafür. Aber es ging auch um ihr Festival, das hoffentlich im Sommer im koreanischen Yeosu Premiere hat.
Wie geht es Ihnen unter den momentanen Umständen?
Ich habe viel freie Zeit. Zum Glück habe ich eine feste
Stelle als stellvertretende Konzertmeisterin in einem Orchester und damit immer
noch ein festes Auskommen. Aber es sind auch bei mir viele Konzerte
ausgefallen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Freelancer sind, haben
jetzt ein echtes Problem. Für die, denen jetzt gerade eine fest geplante Tour platzt,
ist es besonders schlimm. Es zahlt sich jetzt aus, gut vorgesorgt zu haben. Gut
aufgestellt ist, wer auf eine Mischkalkulation aus verschiedenen
Einnahmenquellen zurück greifen kann. Es überrascht mich die optimistische
Stimmung, die in den sozialen Medien herrscht.
Teile Ihrer Familie leben ja in den USA und in Südkorea. Was ist anders dort?
Es kommt mir so vor, als ob in Korea die Menschen schon das
Schlimmste mit der Corona-Epidemie überstanden haben und die Menschen die
Situation in den Griff bekommen. Dort wurde meiner Meinung nach auch besser
reagiert. Alle verdächtigen Personen sind sofort isoliert worden – und das
Gesundheitssystem ist viel effektiver dort!
Wirkt sich eine andere Kultur/Mentalität aus?
Unbedingt. Der Lebensstil ist anders. Das zeigt sich schon
im Alltagsleben: Alles wird in Korea online bestellt und geliefert und es
drängeln sich keine Menschenmassen in den Supermärkten.
Wie gestalten Sie Ihre freie Zeit?
Es ist schön, Zeit mit dem Instrument zu verbringen. Ich
blicke in die Zukunft und will das Repertoire erweitern, Solokarriere und
Orchesterjob verbinden und ein eigenes Festival planen.
Warum haben Sie sich für Ihre aktuelle Aufnahme für diese zwei Mozart-Violinkonzerte entschieden?
Beide Konzerte sind eine Art Pflichtprogram für Geiger. Man
kommt um diese Stücke nicht herum. Jeder Violinist muss sie spielen, zu allen
Gelegenheiten: Für Bewerbungen, in Wettbewerben bei allen erdenklichen Jobs.
Normalerweise symbolisieren solche Stücke viel Stress und Erwartungsdruck, weil
so vieles davon abhängt. Auch ich habe das ganze durchgemacht.
Da bin ich jetzt aber sehr neugierig, warum Sie gerade
mit diesen Konzerten ins Aufnahmestudio gehen. Und wo das Geheimnis liegt, dass
schließlich doch so eine beseelte Musik heraus kommt!
Eigentlich ist es ganz einfach: Mozarts Musik erhebt sich
auf Anhieb über alle schwierigen Begleitumstände. Beide Konzerte verkörpern für
mich eine absolute Reinheit. Die Natürlichkeit der Phrasen erzeugt auf Anhieb
so viel emotionale Wärme in mir. Die Außenwelt kann noch so aufreibend sein,
sobald ich diese beiden Konzerte spiele, geben sie mir Momente, die
ausschließlich mir gehören. Sogar in Wettbewerbssituationen haben mir Mozart
(und auch Bach!) das starke Gefühl vermittelt, dass ich gerade etwas für mich
mache.
Gibt es trotzdem so etwas wie Schwierigkeit?
Oh ja – und wie! Da ist der Prozess, um eine Idee im
tiefsten Inneren nach außen lebendig zu machen und zwar so, dass diese in der
Musik wirkt und diese lenkt. Kreative Ideen entstehen im Kopf – von da ab ist
es ein langer Weg, diese zum Leben zu wecken. Da kommt immense Arbeit und viel
Technik ins Spiel, bis schließlich alle Vorstellungen real sind.
Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf?
Bei mir geht es in dieser Hinsicht nicht so visuell zu. Für mich steht Mozart für eine ganz bestimmte Emotion. Egal was Mozart komponiert, da ist nie etwas Angestrengtes im Spiel, kein negatives Gefühl oder gar Aggressivität. Andere Komponisten bringen häufig auch Affekte wie Tragik, Trauer und Wut zum Ausdruck. Auch dabei kann große Musik heraus kommen. Mozart markiert eine andere Welt. Er hatte ja wirklich ein verrücktes Leben, war aber fähig, daraus das Schönste, Dramatischste und Tiefste zu schöpfen.
Denken Sie überhaupt noch über Technik nach?
Die Technik auf der Violine ist kein Selbstzweck, sondern
einfach da. Ich möchte die Emotion dahinter aufspüren. Auch wenn gerade Trauer
dominiert, erwächst bei Mozart doch immer eine schöne Farbe daraus. Das
wunderbare ist hier auch, dass diese Empfindungen von Menschen sehr unmittelbar
geteilt werden, die gar keine Kenntnisse von Klassik haben. Mozart kann jeden
an einen froheren und glücklicheren Platz bringen.
Was wollen Sie Ihrem Publikum mit einer CD-Aufnahme
weitergeben?
Es geht immer darum, auf dem Weg der Musik den besonderen Moment zu finden. Aber alles, was wir machen, ist temporär. Daraus erwächst das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu schöpfen. Etwas zu erzeugen, das man immer wiederholen möchte. Und mit dem sich ein gemeinsamer Nenner beim Publikum und bei den Hörern zuhause finden lässt.
Wie kam es zur Aufnahme gerade mit diesem Orchester?
Ein gemeinsames Projekt mit dem Kurpfälzischen
Kammerorchester ist ein Glücksfall für mich. Ich hatte schon vorher von diesem
Orchester gehört. Diese Musiker sind sehr offen und wunderbar flexibel. Allein
deswegen wollte ich sofort mit ihnen arbeiten. Erst danach fiel die Wahl auf
Mozart. Dass wir in der Mannheimer
Epiphaniaskirche aufgenommen haben, geht ebenso auf meine persönliche Wahl
zurück. Es hatte mehrere Alternativen gegeben.
Warum ist ein kleines Orchester für dieses Unterfangen so
prädestiniert?
Die Instrumentierungen bleiben schlank und das passt
unmittelbar zu Mozarts eigenem Schaffenskontext: Mozart schrieb für sich
selber, dirigierte und spielte.
Sie spielen und dirigieren ja auch abwechselnd. Wie wirkt
sich das auf die Kommunikation aus?
Der Dirigent ist normalerweise Kommunikator zwischen Solist
und Orchester. Bei einem kleinen Orchester ohne Dirigent ist die Verbindung
viel unmittelbarer. Davon profitieren auch die Proben: Sie machen viel Spaß und
alles geht scheinbar wie von selbst. Das kommt nicht zuletzt den
opernhaft-dramatischen Aspekten in Mozarts Kompositionen zugute.
Wie sehen Sie das spezifisch opernhafte in Mozarts Musik?
Oper heißt ja, dass die Musik Geschichten erzählt. Alles hat eine Bedeutung und sagt etwas. Mozarts Opern transportieren viel Menschlich-allzu-Menschliches. Egal ob die „Hochzeit des Figaro“ oder auch „Don Giovanni“ – alles kommt aus dem prallen Leben! Und diese Natürlichkeit im Ausdruck lässt bei Mozart immer den Funken überspringen.
Sie hatten gerade schon Ihr eigenes Festival
angesprochen. Darüber möchte ich gerne noch mehr erfahren.
Es soll – wenn alles so kommt wie erhofft – in Yeosu in Südkorea stattfinden. Dort leben auch meine Eltern. Es ist ein ganz toller Platz am Meer. Im Jahr 2012 wurde hier anlässlich der Expo eine spektakuläre Halle gebaut. Ich habe mich für ein Festival mit klassischer Musik an diesem Ort stark gemacht. Ich möchte hier vor allem junge Musiker präsentieren, bevorzugt kleinere Kammerensemble. Dabei ist mir an einem zeitgemäßen Konzept gelegten, den Menschen in dieser Stadt die klassische Musik nahe zu bringen.
Was für Prioritäten setzen Sie hier?
Wir haben ja gerade schon über diese besonderen Momente
gesprochen. Mir ist an Musikern gelegen, die so etwas transportieren können.
Denn das kann Schlüsselerlebnisse für die klassische Musik vermitteln. Ein
sinnvolles Festivalprogramm sollte einem klaren Narrativ folgen, denn es geht
doch auch um die Geschichten hinter der Musik. Und zwar für ein Publikum, das
nicht zu den Spezialisten gehört. Mein Ziel ist es, dass die Klassik das
Elitäre abschüttelt und sich Schwellenängste abbauen. Das wichtigste bleibt
aber, wie die Musiker spielen. Mittelmaß hat in klassischer Musik nichts
verloren. In der Popkultur mag sich vieles über schöne Dekoration definieren.
In der Klassik ist echte Substanz alternativlos und gerade dadurch geht diese
Musikform einen bedeutenden Schritt weiter.
Wie motiviert man die medial dauerberieselten Menschen,
diesen Schritt mitzugehen?
Es ist schwerer geworden. Die sozialen Medien diktieren eine
Kultur der Kurzlebigkeit. Keiner guckt mehr ein Video, das länger als 5 Minuten
ist. Jeder will alles immer kürzer. Das ist dass genaue Gegenteil von Klassik –
und genau da wird die Vermittlung zur Herausforderung. Eine ganze Komposition
hören, kann manchmal heißen, ein ganzes Leben zu durchlaufen.