Grand Piano, GP813; EAN: 7 47313 98132 8
Gottlieb Wallisch erkundet den Foxtrott in Europa: Was haben die Komponisten aus den amerikanischen Jazztänzen gemacht? Der erste Teil dieser Forschungsreise bringt uns nach Österreich und Tschechien. Als österreichischen Repräsentanten dieser CD hören wir Ernst Krenek mit dem Potpourri aus der Oper „Jonny spielt auf“ (arr. Jenő Takács) und dem Foxtrott „Der Sprung über den Schatten“ op. 17 (arr. Gustav Blasser), Julius Bittner mit dem „Shimmy auf den Namen Bach“, Ralph Benatzkys „Drei Stücke aus dem Ballett ‚Die Fünf Wünsche‘, Franz Mittlers Foolish Spring, dann Shimmy und Tango aus dem Tanzspiel „Baby in the Bar“ von Wilhelm Grosz (arr. Gustav Blasser), Leopold Krauss-Elka mit dem Tannhäuser-Foxtrott, Lied an den Morgenstern, Hans Eislers Shymmy-Tampo und schließlich Illusion-Foxtrott und Arizona-Foxtrott von Felix Petyrek. Aus Tschechien kommen der Bugatti Step und Ozveny z music-hallu aus der Feder von Jaroslav Ježek, Vier Tänze op. 39 von Alois Hába und Foxtrott, One-Step sowie Black Bottom von Bohuslav Martinů. Ferner erklingen The Kingdom of Heaven von Karel Boleslav Jirák, City Shimmy von Jaromír Weinberger und zwei Auszüge aus „Groteske“ von Erwin Schulhoff in der Klavierfassung des Komponisten.
Nach dem Ersten Weltkrieg schwappte eine gewaltige Welle des Jazz aus Amerika nach Europa über. Diese neuartigen Klänge und die kecke Rhythmik begeisterten das Publikum, dem nach Aufschwung und frischer Lebendigkeit zu Mute war. Auch zahllose Komponisten wurden eingenommen von dieser Musik, besonders von der erweiterten Harmonik, die genau ins Konzept der musikalischen Moderne passte. Manche Komponisten wollten diesen neuen Stil imitieren und möglichst authentische Stilkopien schaffen, andere integrierten jazzige Elemente in die europäisch-moderne Musik: die Palette an Schattierungen zwischen diesen Polen ist groß. Berühmte Beispiele kennen wir vor allem aus Frankreich von der Groupe des Six, sowie von Debussy und Ravel, aber auch von Strawinsky und später von Bernd Alois Zimmermanns „Nobody knows the trouble I’ve seen“. Von der anderen Seite her, also aus dem Jazz kommend, kennt man Gorge Gershwin und Duke Ellington als geniale Gradwanderer zwischen den Stilen.
Die Beiträge der hier vorliegenden CD gehören größtenteils zu den unbekannten oder vergessenen Komponisten, bei denen es sich Größtenteils um Tonsetzer der Universal Edition handelt, welche auf die Welle aufsprang und große Bände mit „Modern Jazz Music“ publizierte. Lediglich die Namen Krenek, Eisler und Schulhoff hätte ich tatsächlich im Programm erwartet und auch verdutzt es nur wenig, Martinů unter den Komponistennamen zu lesen, wenngleich der Jazz seine Musik im Allgemeinen nur wenig ausmacht. Als Überraschung dient wohl Alois Hába, der musikgeschichtlich vor allem durch seine mikrotonalen Experimente inklusive extra dafür konzipierter Instrumente von sich reden machte. Seine neoromantisch tonalen Werke gerieten dahingegen schnell in Vergessenheit; und mit jazzbeeinflussten Tänzen hätte wohl keiner gerechnet. Die restlichen Namen kursieren lediglich in kleineren Kreisen, die meisten zählen heute entweder rein oder zumindest teils auch als Setzer von Unterhaltungsmusik, wobei andere wie vor allem der bei Guido Adler und Franz Schreker studierte Felix Petyrek der Neuen Musikszene zugeordnet werden. Petyrek geriet in den Brennpunkt der Öffentlichkeit durch seine Sechs grotesken Klavierstücke, die verschiedene Stile auf die Schippe nehmen.
Ein Großteil der Beiträge entstand, noch bevor die großen Jazzkapellen und Stars der Szene Europa erreichten, man kannte die Musik in erster Linie von Schallplatten oder aus Cafés, deren Musiker vor allem der Mode folgten, selbst aber nicht unbedingt die größte Ahnung von dieser Musik hatten. Kurzum wurde alles als Jazz angesehen, was synkopiert war und vor Septimklängen strotzte. Entsprechen vielseitig gestalten sich auch die hier zu hörenden Nummern, die teils nur wenig mit echtem Jazz zu tun haben, teils aber auch aus profunder Klangforschung heraus entstanden. Der Gedanke eines immer wiederkehrenden Refrains war besonders verbreitet, eingängig zu hören bei Petyrek und Ježek. Interessant gestaltet sich auch Bittners Shimmy über B-A-C-H, wobei er nicht den Barockmeister, sondern einen jazzbegeisterten Kritiker rühmte, der „abgedroschenen“ Floskel B-A-C-H aber ganz neue Möglichkeiten entlockte.
Gottlieb Wallisch zeigt sich als feiner und leichtfüßiger Pianist, der ohne Pathos und Überspitzungen dieser Musik Witz und Lebendigkeit einhaucht. Mit einfachsten Mitteln geht er an diese unterhaltsame Musik heran und schafft so eine mitreißende Unbekümmertheit. Dabei gestaltet er die Melodien sanglich aus, dass sie stets organisch bleiben. Der Witz entsteht rein durch die Charakteristika, die in der Musik selbst vorhanden sind: manch ein Pianist würde sie sofort unterstreichen und ihnen eben dadurch den Reiz der Subtilität nehmen, während Wallisch ihnen gerade durch die Beiläufigkeit ein keckes Glimmen entlockt.
[Oliver Fraenzke, März 2020]
Eine gute Idee, einen Versuch zu starten und den Jazz aus der Klassik her zu betrachten. Es gibt nur gute und schlecht gemachte Musik. Die Hörgewohnheiten für die eine oder andere Stilrichtung bestimmen das Vergnügen.