Archiv für den Monat: Dezember 2019

Den Spieß umdrehen

Ars Produktin Schumacher, ARS 38 293; EAN: 4 260052 382936

„Was mag passieren, wenn zwei so hochdressierte Pferde durchbrennen und aus ihrem Gehege ausbrechen?“ fragt der Pianist Simon Bucher und antwortet gemeinsam mit der Mezzosopranistin Stephanie Szanto durch ihre CD „The High Horse. Best of Worst Vol.1“. Die hochdressierten Pferde, das sind sie, die beiden Musiker, die eine strenge Klassikausbildung durchgemacht und gemeistert haben. Doch hegen sie parallel heimliche Liebschaften mit dem Eurodance, der Popkultur ihrer Jugend. Was also mag passieren, wenn die Pferde sich ins ‚falsche‘ Gehege einschleichen?

Die erwartete Antwort wäre gewesen, dass die Pferde klassische Melodien nehmen und sie durch den Fleischwolf drehen, ihnen ein poppiges Antlitz verleihen und zu Easy Listening degradieren. Dies kennen wir bereits hundertfach und waren von einigen Beiträgen durchaus begeistert, beispielsweise von den Clazz Brothers oder Joachim Horsley (noch ein Pferd!) mit ihren fein ausgearbeiteten Cuba Sounds, oder auch von manch einer Darbietung Beethovens Mondscheinsonate auf elektrischer Gitarre. Doch dieses Feld ist langsam gesättigt und viele Neueinsteiger bleiben in einer stumpfen Masse stecken.

Aber nein: Szanto und Bucher drehen den Spieß um! Anstatt die Klassik zu verwaschen, wird der Eurodance auf das hohe Pferd gehoben und galoppiert herbei mit opernhaften Höhenflügen und pianistischem Virtuosentum. Ohne Rücksicht auf Verluste vermengen die beiden Musiker alles, was ihnen vor die Ohren kommt: selbst vor dem Flohwalzer und der Cantina Band machen sie keinen Halt. So kommt der Hörer aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus und fragt sich immer wieder: Woher kenne ich dieses Zitat? Was war das noch gleich? Hingebungsvoll widmen sich Szanto und Bucher den Pop-Hymnen und gestalten ihre Arrangements bis ins letzte Detail aus, sind immer wieder für Überraschungen gut und verlieren nicht eine Sekunde ihre aufrichtige Liebe zu beiden Welten, aus denen sie ihre eigene formen. Stephanie Szantos geschmeidiger, aber dennoch markanter Mezzosopran wiegt den Hörer ein, nur um ihn keck wieder der heilen Welt zu entreißen und durch alle Stilsphären zu zerren. Am Klavier ist Simon Bucher eine Band, ein Orchester, ein Konzertsolist, ein Liedbegleiter und noch vieles mehr. Mit unfassbarem Reichtum an Klangfarben rast er über die Tasten und passt sich stilsicher seiner Sängerin an, unterstützt sie teils sogar stimmlich.

Diese CD ist für alle. Sowohl gediegene Klassikhörer als auch Anhänger der Popkultur spricht sie gleichermaßen an, ein jeder fühlt sich sowohl eingeschlossen als auch hinters Licht geführt, nur um letztendlich über die eigenen Hörgewohnheiten lachen zu müssen. So passt „The High Horse“ gleichermaßen für aufmerksamen Hörgenuss wie auch als Hintergrundbeschallung für eine Autofahrt oder eine Party – wo Sie sicherlich die Gäste damit zum Stutzen und vielleicht sogar auf die Tanzfläche bringen werden.

Und selbst die Werbeunterbrechung nimmt man gerne in Kauf: zumindest dann, wenn Szanto einem in direkter Abfolge Schneekoppe und Milka, Gutfried, Zott und Merci in die Ohren säuselt und Bucher dazu freudig die Tasten schwingt. Und wer denkt, die CD wäre nach 18 Titeln vorbei, der hat nicht mit dem „Hidden Track“ gerechnet – der natürlich nicht in Spur 19 erklingt! Bis zum letzten Ton führen Szanto und Bucher uns an der Nase herum, und sie dürfen es gerne noch in Vol. 2 und vielen weiteren. Mich würde ja nicht wundern, wenn sie direkt mit Vol. 3 weitermachen und uns erstmal lange nach dem verlorenen zweiten Teil suchen lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

„Neue Wege einschlagen, ohne aus einer alten Kirche eine Disco zu machen…“

Im Gespräch mit dem Viola-Spieler Atilla Aldemir

Atilla Aldemir kam als Spätberufener zur Viola – oder ist es zutreffender, zu sagen: Die Viola hat ihn gefunden? Auf einem Streichinstrument die Mittellage zu entdecken hat bei ihm etwas mit „sich selbst erfinden“ zu tun. Seine neue Doppel-CD vereint Meisterwerke aus Westeuropa mit aktuellen türkischen Kompositionen. Vor allem Spätwerke hatten es ihm bei der Auswahl angetan, da sich gerade hier die emotionale Reife bündelt. Mit der emotionalen Reife geht eine spirituelle Dimension einher. Stefan Pieper traf den umtriebigen Vollprofi in der lauschigen Kantine des Berliner Konzerthauses. Diese Spielstätte und ihr Orchester waren für ihn von 2013 bis 2017 künstlerische Heimat, bevor er seine Stelle als Solobratscher im MDR-Sinfonieorchester antrat.

Das Interview führte Stefan Pieper

Herr Aldemir, Sie sind im schnelllebigen Probenalltag eines Rundfunksinfonieorchesters gefordert, musizieren im Duo mit ihrem Pianisten Itamar Golan –  und morgen geben Sie ein Konzert mit einem türkischen Kemence-Spieler, wo Jazz und Kunstmusik aufeinander treffen. Wie geht das alles bei Ihnen zusammen?

Es hat mir immer schon gefallen, das sinfonische und das solistische Leben zu kombinieren. Abwechselnd mit internationalen Dirigenten und Solisten zu arbeiten, bereichert meine künstlerische Arbeit und tut der schöpferischen Produktivität sehr gut.

Sie haben erst vor einigen Jahren überhaupt angefangen, Bratsche zu spielen und sind jetzt schon Solospieler beim MDR. Wie erklärt sich diese rasante Entwicklung?

Ich kann auf diesem Instrument eine besondere Beseeltheit zum Ausdruck bringen. Eine maßgebliche Anregung dazu habe ich durch meinen damaligen Mentor Matthias Maurer bekommen. Er war mein Bratschenprofessor und ehemaliger Solobratschist des Concertgebouw-Orchesters. Außerdem hatte ich das Glück, zwei hervorragende Instrumente zu finden. Zum einen eine Zanetti Pellegrino, sie stammt aus dem Jahr 1560 und ist von der Größe her fast ein Mini-Cello. Die zweite Bratsche ist ein ganz neues Instrument, gebaut 2016 vom Geigenbauer Alexandre Breton und fast 500 Jahre jünger. Beide haben sehr unterschiedliche Qualitäten, die ich nicht missen möchte. Ich bin seitdem Feuer und Flamme, mir viel Repertoire anzueignen bzw. dieses überhaupt erst für die Bratsche zu erschließen. Neben den Stücken für die neue CD haben es mir die Solo-Violinsonaten von Johann Sebastian Bach besonders angetan.

Geiger gibt es endlos viele, Bratschisten ja schon deutlich weniger. Reizt Sie auch eine gewisse Befreiung von zu viel „Konkurrenz“?

Ich empfinde mich als Streich-Instrumentalist, dem es in erster Linie darum geht, Musik zu machen, egal ob auf der Geige oder auf der Bratsche. Ich habe einige Zeit in Wien gelebt, wo ich wichtige Impulse von meiner ›Geigenmutter‹ Barbara Górzyńska erhielt. Ihr Mann, Matthias Maurer erkannte mein Potential und hat mich dazu ermutigt, mich als eigentlicher Geiger ebenso der Bratsche zuzuwenden. Auf der Bratsche ist es noch einfacher, einen deutlich erkennbaren Wiedererkennungsfaktor herauszuhören. Auch bei den ganz berühmten Spielerinnen und Spielern ist es so. Darüber hinaus empfinde ich den Klang der Bratsche als beseelter, so dass ich mich damit als Künstler noch besser identifizieren kann und daher meine eigene Signatur für die Hörer noch klarer erkennbar wird. Ich bin nun seit April 2017 Solobratschist beim MDR-Sinfonieorchester in Leipzig und möchte zukünftig auch in meinen solistischen Tätigkeiten den Fokus auf die Bratsche legen.

Verraten Sie mir einige grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Streichinstrumenten!

Als Geiger denkt man oft, je schneller und lauter, desto besser. Diesem sportlichen Aspekt setzt die Bratsche eine andere Dimension entgegen: Der Klang ist einfach tiefer und oft auch eigenständiger. Auch geht es nicht so sehr um Tempo auf der Bratsche, denn für alles braucht es viel mehr Bogenkontrolle. Die Bogentechnik ist wesentlich schwieriger würde ich sagen. Generell geht es mir nicht um irgend welchen Ehrgeiz, der beste sein zu wollen. Ich möchte einfach auf der Bühne sein und Musik machen.

Sie haben beim MDR Sinfonieorchester unter Kristian Järvis Leitung gespielt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Järvis Mut zu kreativen Programmen hat mich maßgeblich zu meinen aktuellen Projekten inspiriert. Ich habe hier eine neue Art der Interpretation kennen gelernt. Sie ist wenig konventionell, dafür eher kompakt. Järvi bricht gerne Tabus, aber gerade das kommt gut an! Genau diese Denkweise lebt auf der neuen CD fort: Warum soll man nicht etwas machen, wenn es doch Spaß macht? Deswegen präsentiere ich neue Arrangements von Kompositionen, die jetzt zum ersten Mal auf der Bratsche erklingen. Man muss neue Wege einschlagen – aber ohne, dass man aus alten Kirchen eine Disco macht. Denn das wäre Scharlatanerie.

Gehört es zu Ihrem Wesen, dass Sie sich immer neu erfinden?

Ich habe beobachtet, wie Personen oder Künstler früher ihre Laufbahn geplant haben. Man bewarb sich, um irgendwo unter zu kommen, lernte fürs Probespiel das Konzert von Hofmeister oder Stamitz und alles maß sich daran. Für mich ist dieser Weg heute zu eingegrenzt. Das musikalische Repertoire ist dafür viel zu reichhaltig und riesig. Da reicht es mir nicht, einfach nur 40 Jahre lang zum Dienst zu gehen. Sie dürfen das nicht falsch verstehen: Ich liebe es, im Orchester zu musizieren. Vor allem mit Kristjan Järvi habe ich viele Crossover-Projekte gemacht. Und ich verspüre auch den starken Drang, mehr aus der eigenen Kultur zu machen. In meiner Freizeit höre ich unter anderem gern türkische Kniegeigenmusik. Warum nicht irgendwann mal ein Bratschenkonzert im Stil einer Kemence komponieren? Wie klingen die Violinsonaten von Bach auf der Viola? Oder Schumanns Violinkonzert? Ich würde all diese Neuerungen gerne für mich entdecken und dann dem Publikum zugänglich machen.

Erzählen Sie, wie das Programm entstand! Sie erweitern ja das Spektrum durch türkische Komponisten…

Necil Kazim Akses gehörte zu dem sogenannten „türkischen Fünfer“ und mich hat die Schönheit dieser Musik immer schon fasziniert. Ich höre im Capriccioso für Solo-Bratsche von Akses viel Begeisterung für den Komponisten Enescu heraus. Auch zu Bartok gibt es Parallelen, denn Akses hat Bartok bei Recherchen in Anatolien begleitet – zugleich war er Mitarbeiter von Paul Hindemith. Ebenso ist er tief in der türkischen Kultur verwurzelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich hier den Sound der orientalischen Längsflöte Ney nachempfinde.

Was für eine zeitlose Botschaft steckt in dieser Musik?

Da ist ein ganzer Ozean, ein echtes Meer drin. Und so viel Liebe, ebenso viel Klage und so viel Wehmütiges. All das ist doch fantastisch für den Bratschenklang. Dieser kann auch diese typische Bambusflöte gut nachempfinden. Der will sagen: Erkenne, was für Dich Glaube ist und bringe dies zum Ausdruck. Und damit liegt diese Musik auf derselben geistigen Ebene wie Bach. 

Der Sufismus ist eine friedliche Geisteshaltung und eben keine Herrschaftsideologie, die sich der Religion bedient. Es geht viel um Achtsamkeit. Liegt Halit Turgays Stück „Troja“ auf einer ähnlichen Wellenlänge?

Das Stück für Solobratsche, das der türkische Komponist, Flötist und Professor am Konservatorium in Ankara für mich geschrieben hat, ist ein Lamento, das von virtuos-furiosen Ausbrüchen durchbrochen wird. Ich habe es im Sommer 2018 in Burhaniye/Ören an der Ägäisküste uraufgeführt.

Turgay hatte beim Komponieren jene Söldner im Sinn, die im Kampf um die nach Troja entführte Helena fielen. Sowohl melodisch wie rhythmisch ist das Werk tief in Kleinasien verwurzelt. Die  sich verdichtenden Pizzicato-Passage lassen hier an das Spiel der Oud denken. „Hellas … Hier begann alles und hier wird alles enden.“ Dieses von Mevlana, dem im Westen unter dem Namen Rumi bekannten Begründer des Sufismus überlieferte Wort fällt mir zu diesem Stück ein. Ich wollte hier aber etwas aufnehmen, das intuitiv komponiert ist und nicht verkopft mit einer schöngeistigen Haltung im Kern. Auch bei Turgay habe ich das Gefühl, er komponiert eben das, was ihm Spaß macht. Mich reizen keine Komponisten, die nur eine bessere Technik präsentieren wollen. Konkret geht es hier um Krieg und um Liebe. 

Darum, das Liebe den Krieg besiegt?

Liebe und Tragik sind gleichberechtigt vorhanden. Viel morbide Trauer kommt hier lautmalerisch zum Ausdruck, wenn direkt am Steg gespielt wird.

Warum haben Sie Henri Vieuxtemps Capriccio als Finale dieser CD ausgewählt?

Dieses Stück ist der Grund, warum ich zur Bratsche gefunden habe. Das Stück ist so virtuos und dramatisch. Als ich es gehört habe, habe ich mich in die Bratsche verliebt.

In welcher Relation stehen diese „Repertoire“-Entdeckungen zu den bekannten Meisterwerken dieser CD?

Ich wollte hier einen inneren Zusammenhang herstellen. Schostakowitschs Werk wollte ich schon lange mal aufnehmen und hatte jetzt das Gefühl, dass die Zeit dafür reif ist. Von diesem Ausgangspunkt suchte ich andere Meisterwerke als Gegengewicht.

Die Schostakowitsch-Sonate widerspiegelt ja sehr unmittelbar das Lebensende ihres Schöpfers. Sehen Sie hier einen Zusammenhang zum Mevlana-Satz, den Sie auf dem Booklet veröffentlichen, wo es „Stirb in Liebe“ heißt? 

Ja, auf jeden Fall. Schostakowitsch bilanziert sein ganzes Leben mit wenigen Tönen. Damit eine Aufführung dieses Stückes wirkt, braucht es eine ganz besondere Haltung: Wir haben bei der Aufführung den Saal verdunkelt, damit die richtige Stimmung entsteht. Erst dann ist ein hohes Maß an innerer Einkehr möglich. Dieser Satz wird nur sehr selten gespielt. Es ist definitiv kein Stück für einen schönen Abschluss im Konzert. Schostakowitsch weiß hier, dass sein Ende nah ist.

Die Sonate von Johannes Brahms und Cesar Francks berühmte A-Dur-Sonate sind Spätwerke. Was für eine Faszination geht gerade aus diesem reifen Lebensabschnitt hervor?

In der späten Brahms-Sonate bündelt sich so viel Ausdrucksreife. Es ist mir ein Anliegen, dies so zu spielen, dass hier die ganze Emotion, diese ganze Liebe und Melancholie zum Leben erwacht. Meine Brahms-Affinität hat sich maßgeblich während der neun Jahre, in denen ich in Wien lebte, entwickelt. Auf dieser CD schlägt Brahms dann auch wieder eine innere Brücke zu den türkischen Komponisten, zur Kultur meines Heimatlandes. Denn auch in der Türkei spricht man sehr viel über die Liebe und räumt solchen Emotionen viel Gewicht ein. Cesar Francks Sonate bündelt ebenfalls viel Leidenschaft, die hier aus einem gelebten Leben hervor geht. Sie entstand gerade einmal zwei Jahre vor dem Tod des Komponisten. Er hat diese Sonate als Hochzeitgeschenk für Eugene Ysaye geschrieben. Ich finde übrigens, die Sonate bekommt auf der Bratsche noch mehr Gewicht und Tiefe als auf der Geige.

Wie gestalteten sich die Aufnahmen mit Ihrem Klavierpartner Itamar Golan? 

Wir haben fünf Tage gearbeitet, von morgens bis tief in die Nacht. Wir haben nur gespielt und so gut wie nie darüber gesprochen. Vor allem das macht die Musik so authentisch. Sobald man alles zerredet und die Noten mit Bleistift-Anmerkungen vollkritzelt, geht die Spontaneität verloren. Das war auf Anhieb Konsens zwischen Itamar und mir. Er ist unglaublich schnell und erfasst alles sofort. Umfassender kann ein musikalisches Verständnis kaum sein. Und natürlich fühle ich mich sehr geehrt, dass ich einen so prominenten Klavierpartner für dieses Projekt gefunden habe.

Schön, dass die CD so attraktiv geworden ist. Auch der von Ihnen verfasste Booklet-Text ist sehr bereichernd. Zugleich gibt es viele Major-Labels, die ihre Aufnahmen nur noch als Download herausbringen und überall wird lamentiert, dass die CD tot sei. Wie bewerten Sie selbst die Zukunft des physischen Tonträgers?

Aus eigener Erfahrung sehe ich keine Bedenken, was die Nachfrage nach physischen CDs betrifft. Nach jedem Konzert erlebe ich beim Publikum eine sehr große Nachfrage nach CDs. Die Menschen sind erfüllt und möchten einfach die Begeisterung mit nach Hause nehmen. Als es noch keine Aufnahmen von mir gab, wurde ich immer wieder danach gefragt. Das Publikum hatte so etwas vermisst. Vor allem die aktuelle CD füllt hier eine wichtige Lücke.

Mit Liszt unterm Weihnachtsbaum

Musicom, CD 010227; EAN: 4 030606 102279

Jürgen Plich spielt zwei Werke von Franz Liszt, die nicht durch oberflächliche Virtuosität glänzen, sondern innermusikalisch erspürt werden müssen: Die etwa 1850 entstandenen sechs „Consolations“ und der zwölfteilige Zyklus „Der Weihnachtsbaum“ von 1874.

Im Alter wandte sich Liszt immer weiter der überschäumenden Virtuosität ab und versuchte, seine musikalischen Ideen auf das Wesentlichste zu reduzieren. Als erster Wegweiser in diese Richtung dienen die sechs Consolations, also Tröstungen, die er auch als „Sechs poetische Gedanken“ betitelte. Sie gehören zweifelsohne alle zu den gehaltvollsten Werken Liszts, schaffen zartes Gefühl und sprechen an mit grenzenloser Ehrlichkeit.

Der knapp 25 Jahre später komponierte Zyklus „Der Weihnachtsbaum“ verknappt die Musik noch weiter hin zu einem kargen und teils trostlosen Stil, in dem nur das Wesentlichste gesagt wird. Immer wieder fällt die Musik in die Einstimmigkeit, wiederholt den gleichen Gedanken auf gleiche Weise und gibt Pausen zentralen Stellenwert. Die so entstandenen Stücke sind von unterschiedlichster Qualität von recht redundanten Stücken bis zu wahren Meisterwerken, die im Scherzoso und in Ehemals gipfeln. Von den Volksliedbearbeitungen darf Adeste Fideles beachtet werden und auch das Glockenspiel zeugt von Liszts Fähigkeit, ein außermusikalisches Bild auf wenige Noten verknappt zu vertonen.

Pianistisch beeindruckt die Fähigkeit Jürgen Plichs, in die Musik hineinzuhorchen und von den Noten zu abstrahieren. Plich erforscht, um was es in der Musik geht, was sie ausdrücken will, und setzt dies um. So entsteht ein zutiefst persönliches und mitfühlendes Resultat, das uns als Mensch anspricht und die perfekte Übermittlung der Intention des Komponisten hin zum Hörer darstellt, so dass dieser sich automatisch öffnet und die Musik in sich hineinströmen lässt. Selbst die kompositorisch wenig ansprechenden, beinahe trostlosen Weihnachtsliedbearbeitungen Liszts erhalten so ein Zentrum und eine Konzentration, dass sie dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen. Des Weiteren besticht die pure, sangliche Linienführung Plichs, die in manchen Passagen besonders bei den Consolations förmlich zu glimmen und zu leuchten beginnt. Wir meinen fast, ein Orchester spiele diese zarten Melodien.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Das Beethovenjahr beachtlich einläuten

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 6 (Weltersteinspielung Fragment), Nr. 2, Op. 19 und Nr. „0“ (WoO 4); Symphoniker Hamburg – Peter Ruzicka; Sophie-Mayuko Vetter (Klavier)

Oehms OC1710/EAN: 4260330917102

Sophie-Mayuko Vetter ist eine außergewöhnliche Künstlerin: Sie ist als eine von nur sehr wenigen Interpretenpersönlichkeiten sowohl auf dem modernen Konzertflügel „zu Hause“ als auch auf allerlei historischen Fortepiani, und – wichtig zu erwähnen – sie hat in beiden Fächern eine fundierte Ausbildung genossen, wie sich überhaupt der Lebens- und Ausbildungsverlauf der Pianistin sehr beeindruckend liest: Klavier-Studium bei Edith Picht-Axenfeld, Leon Feuchtwanger und Vitaly Margulis, Musikwissenschaft bei Claus-Steffen Mahnkopf und Peter Gülke, historische Aufführungspraxis bei Robert Hill. Man fragt sich, ob man sich wundern soll oder ob es vielmehr nur folgerichtig ist, dass eine so ausgebildete Interpretin zudem einen eigenen Stil entwickeln konnte, der mit dem aktuellen, durch eine Weltersteinspielung sehr aufsehenerregenden Beethoven-Album beim Label Oehms im Status der Reife angekommen zu sein scheint.

Zu hören ist auf Sophie-Mayuko Vetters neuer CD in Weltersteinspielung ein Fragment von Beethovens sechstem Klavierkonzert (vervollständigt von Nicholas Cook und Hermann Dechant), das bekannte zweite Klavierkonzert Beethovens Op. 19 sowie das immer noch vergleichsweise selten zu hörende Jugendkonzert in Es-Dur WoO 4.

Sophie-Mayuko Vetter erweist sich als eine mit allen Wassern gewaschene Pianistin, die sozusagen über den Belangen der Spieltechnik steht und gerade deswegen in der Lage ist, eine im besten Sinne poetische Interpretation aller Stücke zu erreichen. Peter Ruzicka, seines Zeichens Dirigent, Komponist und Intendant in Personal-Union, ist mit den vorzüglich aufgelegten Hamburger Symphonikern ein kongenialer Partner. Und auch die hervorragende Tontechnik tut hier ein Übriges hinzu.

Natürlich kann man sich trefflich über bestimmte Aspekte streiten: Wäre das eingespielte, rekonstruierte Fragment des ersten Satzes eines sechsten Klavierkonzerts wirklich so im Sinne Beethovens? Fragt man mich, so würde ich sagen: Wahrscheinlich nicht, denn Beethoven war ein akribischer Ausarbeiter und hätte die bisweilen dürftigen Themen sicherlich noch viele Male umgearbeitet, um ein Ergebnis zu erzielen, das seinen Ansprüchen genügt hätte. Ich würde aber auch sagen, dass das Anhören dieses Re-Konstrukts sehr viel Freude macht und die Einspielung sicherlich sehr lohnenswert war.

Das eigentliche Highlight des Albums ist für mich das Klavierkonzert Nr. 2, Op. 19, das Sophie-Mayuko Vetter mindestens auf Augenhöhe mit auch den größten Beethoven-Interpreten der zumindest jüngeren Vergangenheit interpretiert. Zum Glück verfallen weder sie noch Ruzicka dem Drang, die Tempi zu schnell zu nehmen, und so ist dieses vielleicht zarteste aller Beethoven-Konzerte in dieser Einspielung schier ein Gedicht! Besonders auffällig hierbei auch die ausgezeichneten Holz- und Blechbläser der Hamburger Symphoniker. Ja, wirklich in allen Bereichen ist das eine ganz ausgezeichnete Aufnahme, und man würde sehr gern auch noch andere Beethoven-Konzerte aus den Händen Vetters entgegennehmen.

Ob es hingegen nun das Jugendkonzert WoO 4 sein musste, lasse ich da mal dahingestellt. Sicherlich ist dieses Stück ein eindrucksvolles Beispiel für Beethovens jugendliche Frühreife, und es ist eine gute Erinnerung daran, weil man Beethoven selten mit dieser frühen Reife in Bezug setzt, sondern eher den Fokus auf seine „titanischen“ Spätwerke legt. Gleichwohl ist die Komposition im direkten Umfeld einfach erkennbar nicht gleichrangig und dann auch noch am Ende des Albums platziert, sodass sich der Eindruck eines kompositorischen Rückschritts förmlich aufdrängt. Chronologisch hingegen war es ja anders herum.

Sophie-Mayuko Vetter spielt bei der Aufnahme dieses Jugendwerks einen historischen Broadwood-Flügel von der Art, wie ihn auch Beethoven unter seinen Instrumenten gehabt haben könnte.

Es ist erstaunlich, dass der Zusammenklang von historischem Instrument und modernem Sinfonieorchester so gut funktioniert, und es ist bemerkenswert, dass die Interpretin auch auf diesem gewiss nicht einfach zu beherrschenden Instrument ihren persönlichen Stil beibehalten kann und auch nicht in Versuchung kommt, affektierte Manierismen der historischen Aufführungspraxis aus dem Köcher zu holen.

Und so bleibt festzuhalten, dass wir hier ein Beethoven-Album haben, das zwar polarisieren wird, das zwar zu Diskussionen und dem Austausch von Meinungen förmlich herausfordert, das aber gerade deshalb so erfrischend und positiv ist, weil dies zum Beginn des „Beethoven-Jahres“ 2020 geschieht, in dem wir Polarisierung, Debatte und Austausch viel nötiger brauchen als leere Marketing-Hülsen und tausendmal Aufgewärmtes. Insofern: Hut ab vor Sophie-Mayuko Vetter! Möge sie ihrer Linie treu bleiben und weiterhin so spannende Entdeckungen zu Gehör bringen! Einspielungen von „Standardrepertoire“ haben wir wahrlich genug.

[Gilbert Praetorius, Dezember 2019]

Gegen alle Vorurteile

Zeitgenössische Musik kann auch anders. In einem extravaganten Programm stellen die Violinistin Anna Kakutia, der Cellist Graham Waterhouse und der Pianist Dmitrij Romanov am 16. Dezember 2019 im Sitzungssaal der Versicherungskammer Bayern (veranstaltet von Tonkünstler München e.V.) Werke moderner bayerischer (bzw. in Bayern lebender) Komponisten vor. Das Programm beginnt mit Stigmen für Klaviertrio von Dieter Acker, es folgt die Episode von Laurence Traiger für die selbe Besetzung. Romanov spielt allein Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel von Dafydd Llywelyn, dessen Tod 2013 von Graham Waterhouse in seinem Stück Bells of Beyond für Klaviertrio verarbeitet wurde. Nach der Pause erklingt zunächst das Vierte Klaviertrio von Romanov, danach Duettino und Gioco per Due von Herbert Baumann für die beiden Streicher ohne Klavier. Das Programm endet mit Richard Hellers Novellette.

Schon mit dem ersten Stück, Stigmen von Dieter Acker, setzen Anna Kakutia, Graham Waterhouse und Dmitrij Romanov ein Statement: Moderne Musik muss nicht geräuschlastig, nicht formal willkürlich und auch nicht gegen das Ohr sein, sie kann auch trotz Novität gefallen! Stigmen besteht aus fünf ineinander übergehenden und thematisch zusammenhängenden Sätzen, die teils durch präzise ausgewogene Zäsuren verknüpft sind. Es herrscht ein rauer, aber zutiefst menschlicher und einladender Ton vor, der den Hörer in das Geschehen integriert. Das intensive Spiel der drei Musiker besticht: sie sehen sich nicht bloß als Reproduzenten, sondern treten in Kontakt mit der Partitur und erforschen die darin enthaltene emotionale Substanz, kosten die Pausen delikat aus und akzentuieren treffsicher die subtilen harmonischen und formalen Überraschungen.

Noch mehr bringt uns die Episode von Laurence Traiger aus dem Konzept: das ist ja tonal! Traiger beweist, dass die Tonalität noch lange nicht ausgeschöpft ist, sondern Möglichkeiten besitzt, die noch lange nicht ergründet wurden. Durch die tonale Verwurzelung, und noch mehr durch den harmonischen Beziehungsreichtum, gelingt es dem Komponisten, die Form eisern zusammenzuhalten. Auch fürchtet sich Traiger nicht davor, an etwas zu erinnern: denn kurz darauf fließt die Musik schon weiter und hinterlässt kurze Reminiszenzen an eine lange Traditionslinie, die er weiterführt. Keine Sekunde verliert er an Eigenständigkeit, er schreibt eine klare Handschrift.

Mystisch wird es in Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel für Klavier solo von Dafydd Llywelyn, der Glocken zu einem zentralen Paradigma seiner Musik machte. Konturlos und ohne erkennbares Material schwebt die beinahe impressionistisch anmutende Musik dahin, bringt uns in Trance und die Gedanken zum (Mit-)Wandern. Romanov überzeugt durch konzentriertes und meditativ-ruhiges Spiel, in dem jeder Akkord seinen festen Platz erhält und in sich ausgewogen wird. So überkommt die tiefsphärische Wirkung dieser Musik den Hörer. Das Stück hätte nur ein paar Minuten früher enden können, da sich der Effekt im umrisslosen Raum doch auf Dauer erschöpft.

Der Cellist des Abends, Graham Waterhouse, erhielt von Llywelyn zentrale Impulse für seine kompositorische Arbeit. In Gedenken an dessen Tod im Jahr 2013 komponierte Waterhouse sein Bells of Beyond, was auf die Glockenthematik anspielt, die wir schon in Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel vernahmen. Anstelle eines Requiemstücks hören wir allerdings ein lebendiges und aufgewecktes Werk, humorvoll bis sarkastisch. Die Musik wirkt teils wie ein Pool aus (scheinbaren?) Zitaten: von Smetana bis Gubaidulina mit besonderer Vorliebe für Debussys Préludes. Gerade diese (scheinbar?) bekannten oder zumindest an Bekanntes gemahnenden Motive sorgen dafür, dass die Musik eine Geschlossenheit und einen nachvollziehbaren Fluss bekommen.

Nach der Pause beginnen die Musiker mit dem Vierten Klaviertrio des Pianisten Kmitrij Romanov, das sich spröde und archaisch vor uns auftut, durch seine Sperrigkeit eine bestimmte Größe erreicht. Kontrapunktisch durchwebt und mit beachtlicher Eloquenz modulierend, spricht die Musik mehr die intellektuelle als die emotionale Seite des Hörers an.

Die jugendlichsten Stücke des Abends entstammen der Feder des 1925 geborenen Herbert Baumann: sowohl das Duettino als auch das Gioco per Due komponierte er nach seinem 90. Geburtstag! Schwungvoll sprudeln die Streicher über vor Witz, Charme und tänzerischen Elementen, überbieten sich gegenseitig an Frische und wetteifern um die strahlendste Stimme. Das ist feinste Zugabenmusik, wie man sie sich vorstellt, quirlig und vital, dabei nicht vorhersehbar oder abgedroschen, sondern in ihrer Wirkung unerhört.

Zuletzt erklingt die Novellette von Richard Heller. Dieses Stück müsste ich noch einmal hören. Nach den verspielten Duetti von Baumann war mein Gehör noch nicht auf diese tiefschürfende Musik eingestellt, um sie von Anfang bis Ende voll aufzunehmen. Hellers Trio erscheint innerlich aufgewühlt und gespickt mit schwarzem Humor. So bildet sie einen Dipol zwischen abgrundtief ernst und doch irgendwo verspielt, wenngleich auf eine beinahe makabre Art. Novellette verfolgt mich von allen Stücken des Abends bislang am längsten und ich verspüre den dringenden Wunsch, dieses Stück und andere Werke des Komponisten zu entdecken.

Bis zuletzt bewahren Kakutia, Waterhouse und Romanov die Konzentration und beglücken die Hörer mit erspürendem und detailverliebtem Spiel. Von den Schwierigkeiten der Gattung des Klaviertrios, dass das Klavier gerne die Streicher verschluckt, bemerken wir nichts: souverän findet jeder Musiker seinen Platz im Geflecht der Stimmen. Die Musiker wissen, auf was es den jeweiligen Komponisten und auf was es in der Musik selbst ankommt und sprechen den Hörer direkt an. So entsteht ein wahres Erlebnis aus Klängen, das Lust auf mehr macht.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Technik, Emotion oder weder noch

Paraty, 209187; EAN: 3 760213 651549

In ihrem Album „3 Aspects of Emotions“ wagt sich die bulgarische Pianistin Vanya Pesheva an drei virtuose Werke des 20. und 21 Jahrhunderts: Maurice Ravels Gaspard de la Nuit, vier der Mirages von Albena Petrovic-Vratchanska und Alexander Scriabins Fünfte Klaviersonate fis-Dur op. 53.

Wenn ein Musiker im Begleittext schon dezidiert auf enorme virtuose Fähigkeiten hinweist, so gilt das bereits als Warnschuss: denn wo Technik überwiegt, leidet oft die Musik.

Dies bewahrheitet sich einmal mehr bei vorliegender CD der Bulgarin Vanya Pesheva. Gleich zwei rasend schwere Werke aus dem 20. Jahrhundert stehen auf dem Programm, beide absolute Highlights im Repertoire eines jeden Pianisten. Ravels Gaspard de la Nuit zählt nicht umsonst als eines der anspruchsvollsten Werke für das Klavier, vor allem da der Komponist sich vornahm, mit Scarbo alle dagewesenen Schwierigkeiten zu überbieten; und auch Scriabin erweiterte mit seinen insgesamt zehn Klaviersonaten das Spektrum der technischen Möglichkeiten und schuf durch Konfliktrhythmen neue Wege der Mehrstimmigkeit, die für ein einziges Gehirn kaum korrelierbar scheinen. Wichtiger jedoch als diese oberflächlichen Fakten: beide Komponisten verschrieben sich in allem der Musik jenseits der bloßen Töne. Ravel komponierte hypersensibel plastische Gemälde in schwerelosem Fluss, penibel ausgefeilt in jedem Detail und von unfehlbarer Präzision in ihrer Wirkung. Scriabin widmete sich der Extase und versuchte, orgastische Zustände durch Musik zu vermitteln. Seine Musik ist erotisch, hingebungsvoll, berauscht und launisch, dabei von vorne bis hinten durchkonzipiert und ausgewogen. Beide Komponisten gingen über die bloße Emotion hinaus.

Wenig dessen hören wir bei Vanya Peshevas Darbietung der beiden Kompositionen und selbst der virtuose Aspekt lässt bei Ravels drei Tongedichten stellenweise zu wünschen übrig. Gaspard de la Nuit klingt träge und schwerfällig, in manchen Passagen der Ondine gar angestrengt: und das, obgleich die sprudelnden Wellen mit ihren schaumig verspielten Kronen eigentlich das genaue Gegenteil dessen darstellen sollen. Im Gegenzug dazu klingt Le Gibet romantisch verhalten, ohne die subtil aufreibenden Dissonanzen zu würdigen. In Scriabins einsätziger Fünfter Klaviersonate holt Pesheva die Stimmen nicht in ihrer Eigenständigkeit hervor, sondern lässt sie zu einer Einheitsmasse verschmelzen, in der weder die rhythmischen Finessen, noch die gegeneinander agierenden Kontrapunkte durchhörbar sind. In den Rubati agiert sie derart frei, dass der über große Strecken vorgeschriebene 5/8-Takt sich vollkommen auflöst. Die einzelnen Akkorde wiegt Pesheva nicht ineinander ab und verliert so das Gefühl für selbst kleinste harmonische Bezüge.

Zwischen Ravel und Scriabin stehen vier Mirages der luxemburgischen Komponistin, Pianistin und Pädagogin Albena Petrovic. Die Musik streicht recht belanglos am Hörer vorbei, gibt wenig Anlass zum Aufhorchen. Die wiederkehrenden Glockenklänge ermüden nach kurzer Zeit und es fehlt an Kontur und Struktur, plätschert mit ein paar dissonanteren Ausbrüchen vor sich hin.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Gerade im Winter: Komm, holder Lenz

Stadttheater Schweinfurt Samstag 23. November 2019 19 Uhr 30

Die Jahreszeiten: Oratorim von Joseph Haydn (1732-1809)Text:  Gottfried van Swieten (1733-1803)

Hanne, Sopran: Anna Nesyba / Lukas, Tenor: Falk Hoffmann / Simon, Bass: Eric Fergusson – Liederkranz Schweinfurt, Konzertchor Bad Kissingen, Orchester Ensemble Würzburg (Leitung: Matthias Göttemann, Hermann Freibott)

Zu Beginn begrüsste Matthias Göttemann die Gäste und die Musikerinnen und Musiker, wies auf das heutige Jubiläum des Schweinfiurter Chores und die Patenschaft für den Bad Kissinger Konzertchor hin, musste allerdings auch ansagen, dass der Tenor des Abends, Falk Hoffman, indisponiert sei, und deswegen ein Teil seiner Rezitative und Arien von seiner Kollegin und seinem Kollegen übernommen würden.

Dann übergab er die Stabführung dem Kissinger Chorleiter, der den ersten Teil, den Frühling, leitete. Darin natürlich auch die berühmte Arie der Hanne „Komm, holder Lenz“, die schon eine  erste Glanzleistung der Solistin war.

Zum zweiten Teil, allen übrigen Jahreszeiten, kam dann Matthias Göttemann als Dirigent, und der Sommer brachte dann alle Beteiligten so richtig in Schwung. Auch wenn der Text des Librettos von Baron van Swieten teilweise doch sehr gewöhnungsbedürftig ist: was Joseph Haydn daraus gemacht hat, ist bewundernswert. In allen Stilrichtungen ist er zu Hause, schreibt Fugen, die den Händelschen nicht nachstehen, kann aber auch harmonisch zum Äussersten greifen, neben den Secco-Rezitativen stehen welche, die vom Orchester begleitet werden, neben hellsten Melodien und Klängen für den Sommer stehen dunkle und düstere Klänge für Herbst und Winter, ein unaufhörlicher Strom an schönster Musik und ohrwurmhaften Melodien ergiesst sich während der anderthalb-stündigen Darbeitung der entzückten und auch immer wieder verblüfften Zuhörerschar im fast ausverkauften Schweinfurter Theater.

Natürlich war man gespannt, wie der Fast-Ausfall des Tenorsolisten überbrückt werden könnte, aber tatsächlich ließen Anna Nesyba und Eric Fergusson keine Zweifel aufkommen, dass sie in der Lage waren, sich dieser schwierigen Aufgabe sehr gekonnt zu stellen. Von Enrico Caruso heisst es, dass auch er in der „Met“ mal die Partie eines verhinderten Bass-Kollegen mit übernahm.

Und zu den Trio-Stücken gesellte sich Falk Hoffmann – so gut seine Indisponiertheit es zuließ – dazu.

Von besonderem Reiz waren natürlich die Stellen, wo beide Chöre ihr Können unter Beweis stellen konnten.  Angefeuert vom überzeugenden und mitreissenden Dirigat von Matthias Göttemann liefen allen Beteiligten – Musiker, Solisten und Chöre – zu absoluter Hochform auf.

Wieder einmal stellte sich der „Alte Pappa Haydn“, der doch allzuoft im Schatten Mozarts und Beethovens steht, als nicht nur ebenbürtig sondern aus genauso einzigartig in seinen Werken dar wie diese.

Ein großartiger Abend der mit großem Beifall und vielen Blumen das Publikum beschenkt in den Abend entließ.

Ulrich Hermann November 2019 München

In den Sphären der Ewigkeit

Wergo, WER 7382 2; EAN: 4 010228 738223

Mathis Mayr und Antonis Anissegos spielen für Wergo das 80-minütige Werk „Patterns in a chromatic field“ von Morton Feldman ein. Der Tonmeister Sebastian Schottke wird in die ästhetischen Präferenzen einbezogen und wirkt somit als gleichberechtigtes Mitglied an der Aufnahme mit.

Morton Feldman durchbricht das Zeitgefühl. Gerade in seinen späten Werken experimentiert er mit der Auflösung von Vergangenheit und Zukunft zugunsten eines gestählten Jetzt-Bewusstseins. Um dies zu bewerkstelligen, geht er von kurzen Mustern aus, die sich ständig wiederholen und dabei minimalste Variationen durchschreiten. Die Variationen vorauszuahnen, stellt sich als unmöglich heraus, ebenso vergisst der Hörer bereits gewesene Abwandlungen der Muster wieder und geht so im Strom der Musik verloren. Feldman schafft auf diese Art tief meditative Sphären des Stillstandes, in jegliches Gefühl von Korrelation auflösen und den Hörer in die Jetztzeit zwingen.

Patterns in a chromatic field ist wie alle späten Werke Feldmans nicht mehr graphisch notiert, sondern traditionell auf fünflinigen Notensystemen, um alle Details der Aufführung zu determinieren. Dabei legte der Komponist größten Wert auf die graphische Anschaulichkeit, sprich, dass jede Seite die gleiche Anzahl an Systemen mit je der gleichen Anzahl an Takten besitzt. Selbst die Partituren geben so einen optischen Eindruck der Ereignislosigkeit, erinnern mit ihren subtilen Ungleichmäßigkeiten aber auch an orientalische Teppichkunst, welche Feldman eben aufgrund der kaum erkennbaren Abweichungen schätzte.

Bei der vorliegenden Aufnahme fällt sogleich die Nähe zum Musiker auf, die Instrumente stehen beinahe plastisch vor dem Hörer. Jeder Bogenstrich wird hörbar. Die Instrumente erhalten einen gedämpften, leicht fahlen Klang, in dem aber jede Klangfarbe deutlich hervorstrahlt. Mathis Mayr und Antonis Anissegos bewahren eine eiserne Kontinuität und unerschütterliche Ruhe, ohne dabei mechanisch zu werden. Gleichzeitig verweilen sie in der Starrheit des Musters und holen das Fortschreiten der Musik an die Bildoberfläche. Die extreme Reduktion gibt Raum für farbenreiche Imaginationen im Kopf des Hörers, von denen alle aber wie aufblühende Rosen erst im Begriff des Entstehens sind und durch die Fragilität der Kontinuität nie ihren Endzustand erreichen. Mit der präzisen Aufnahmetechnik entsteht die Musik dreidimensional im Raum und formt sich fast wie bildende Kunst. Feldman erreicht sein Ziele der Grenzüberschreitung, des Verlusts eines jeden Zeitgefühls sowie der mehrdimensionalen Auffassung dieser Töne im Klangraum.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Rückblicke

Solo Musica, SM 325; EAN: 4 260123 643256

Drei unterschiedliche Werke mit der Gemeinsamkeit der Retrospektive bilden das Programm dieser CD-Aufnahme des Giraud Ensemble Chamber Orchestras unter Sergey Simakov. Zu Beginn steht das groß angelegte Concerto for Myself des Pianisten und Komponisten Friedrich Gulda (Mischa Cheung, Klavier; Janic Sarott, Schlagzeug; Stanislaw Sandronov, E-Bass), es folgt die Erste Symphonie, Classique, von Prokofieff und das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Poulenc (Yulia Miloslavskays & Mischa Cheung, Klaviere).

Die Verehrung der Meister aus der Epoche der sogenannten Wiener Klassik inspiriert bis heute ungebrochen Künstler aller Sparten. Die Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, aber auch das Feingefühl für Timing, Kontrast und vollendete Form stehen als erstrebenswertes Idol dar.  Auf der vorliegenden CD hören wir drei Werke, die sich je auf ihre Weise diesem Vorbild stellen.

Frei nach dem Titel des ersten Satzes, der als Motto für das gesamte Werk gelten könnte, konzipiert Friedrich Gulda sein Concerto For Myself: The new in view (,then old is new). Die Basis für Guldas Inspiration bildet das klassische Klavierkonzert, in das immer mehr Einflüsse und direkte wie auch indirekte Zitate aller erdenklichen Musikstile einfließen. Dabei entsteht allerdings kein bloßes Potpourri aus bekannten Melodien, sondern Gulda bündelt die Stile und bringt sie elegant in eine funktionierende Großform, spinnt die wichtigsten Melodien weiter zu wiederkehrenden Themen und lässt andere als simple Figuration vorübergehen. Spannende Kontraste schafft er durch das Wechselspiel aus ‚alt‘ und ‚neu‘, nicht zuletzt ‚klassisch‘ und ‚jazzig‘. Mischa Cheung erweist sich als gewandt in beiden Stilwelten und changiert geschickt zwischen barockem, klassischem, romantischem und jazzigem Anschlag, nimmt sogar einiges der Kantigkeit von Guldas eigener Darbietung weg zugunsten größerer Leichtigkeit. Leider höre ich den E-Bass nicht heraus aus dem Orchester, diese Stimme scheint im Mastering untergegangen zu sein.

Zwischen Hommage und Persiflage bewegt sich die Symphony Classique aus der Feder Prokofieffs. Haydn steht hier als deutliches Vorbild voran, dessen Stilwelt der Russe aufgreift, aber immer wieder durch sanfte Reibungen und scheinbar unpassende Abweichungen würzt. Später erscheinen auch gewisse Anklänge an den frühen Tschaikowski. Simakov greift vor allem die scherzhafte Vitalität dieser Symphonie auf und überzeugt durch sein Gespür für Mehrstimmigkeit. Insgesamt könnte die Musik etwas ruhiger und somit auch entspannter geschehen.

Als Hommage an Mozart bezeichnete Poulenc den Mittelsatz seines Doppelkonzerts für zwei Klaviere, das zu seinen bekanntesten Werken zählt, und ließ sich spürbar von dessen Klavierkonzert Nr. 20 zu einem Thema hinreißen, geht aber in der Wirkung mehr auf Ravels Klavierkonzert in G zurück, dessen Uraufführung Poulenc beiwohnte. Zwar war Poulenc kein tadelloser Pianist und ließ zahllose technische Pannen zu, dennoch halte ich seine eigene Aufnahme gemeinsam mit Jacques Février für unübertroffen in Unbekümmertheit und Feinheit. Yulia Miloslavskaya und Mischa Cheung gehen in wohltuender Distanz an das Konzert heran, behalten eine durchgehende Spielfreude und Feingliedrigkeit, klassischen Feinsinn. Faszinierend sind die perfekt synchron abgestimmten Läufe und die Abgestimmtheit ihres Spiels, so dass kaum zu sagen ist, wer gerade spielt und wer welche Rolle übernimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Klarinetten-Kontraste

All Sound Around, EAN: 9 120094 930029

Mit ihrem „The GershWIEN Project“ begeben sich der Klarinettist Markus Adenberger und die Pianistin Maria Radutu auf eine abenteuerliche Reise durchs 19. und 20. Jahrhundert. Pendereckis satirische Drei Miniaturen öffnen den Vorhang, bevor wie zwei jazzige Solokonzerte in Arrangements hören: Gershwins Rhapsodie in Blue und Artie Shaws Klarinettenkonzert, wo Franz Hofferer als Gast am Drumset dazustößt. Sarasates Zigeunerweisen und Schumanns Drei Romanzen op. 94 bringen uns in die Welt der Romantik, bevor Poulenc uns nach Frankreich entführt: von ihm hören wie zunächst die Hommage à Edith Piaf für Klavier solo und schließlich die Klarinettensonate FP 184.

Über George Gershwins Aufenthalt in Wien gibt es eine Anekdote, deren Richtigkeit nicht nachgewiesen wurde: Nachdem er bereits in Paris Künstler wie Ravel, Prokofieff und Strawinsky getroffen hatte, besuchte er in Wien Kálmán, Lehár und Berg. Kálmán machte Gershwin die Überraschung, dass die örtliche Kapelle zum Nachtisch seine Rhapsody in Blue aufspielte, deren in Europa noch völlig unbekannte Klänge für sie eine gewaltige Herausforderung darstellten. Zum Dank schenkte der gerührte Gershwin seinem Kollegen den Kugelschreiben, mit dem er angeblich die Rhapsody geschrieben habe. Dieser Stift verblüffte die Anwesenden, die so etwas noch nie gesehen haben, denn dieses war der erste Kugelschreiber in Wien.

So hängt zumindest das hier zu hörende Werk Gershwins mit der Metropole Wien zusammen, aus der Klarinettist Markus Adenberger stammt. Die anderen der Titel haben meines Wissens keine Verbindung mit Gershwin oder der Hauptstadt Österreichs: dafür bieten sie umso mehr Kontraste und lebendige Musikgestaltung.

Innerlich aufgewühlt, unstet und gewissermaßen sarkastisch geben sich die Drei Miniaturen von Penderecki, die modernistischsten Stücke dieser Aufnahme, die zugleich direkt zu Beginn stehen und damit ein Statement setzen: auch freitonale, dissonante Musik kann ein Programm stilsicher eröffnen! Dann folgt das titelgebende GershWIEN-Stück, die Rhapsody in Blue, dem die beiden Musiker eine erstaunlich melancholische Note verleihen. Anstelle der großstädtischen Aufgeregtheit erhält das Werk hier eine warme, beinahe zärtlich liebevolle Note, die der Musik durchaus wohltut. Shaws Klarinettenkonzert führt uns vollends in den Bereich des Jazz, rhythmisch getragen von Franz Hofferer am Drumset. In diesem Stück kann sich vor allem die Klarinette klanglich entfalten, mit kleinen Zerrungen und Schleifen arbeiten, dabei einen vollkernigen Ton in den Raum projizieren; das Klavier errichtet bei Shaw die klangliche Basis für die Klarinette und sorgt für den nötigen Drive. Noch virtuoser trumpft die Klarinette bei Sarasate auf, dessen Zigeunerweisen wir hier für das Blasinstrument arrangiert hören, wodurch der beliebten Zugabe vieles an Schärfe und Direktheit genommen wird, was Markus Adenberger mit Innigkeit, Lyrik und Witz füllt. Introvertiert gelingen die Drei Romanzen von Schubert, in denen Radutu und Adenberger echtes Gefühl voller Wärme kundtun. Unvorstellbar sensibel gestalten sich die Stücke von Francis Poulenc, die alle Feinheiten und Nuancen der Klanggebung abverlangen, wofür sie aber auch mit fesselnder Wirkung und Unmittelbarkeit danken. Maria Radutu und Markus Adenberger nehmen jedes dieser Stücke für sich und gehen auf die individuellen Anforderungen an Klang und Gefühl ein, folgen je der Musik und erzielen so unverfälschte und reine Darstellungen all dieser verschiedenartigen Stilwelten.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Ein traditionell untraditionelles Requiem

NEOS 11732; EAN: 4 260063 117329

Der Livemitschnitt der Uraufführung von Wolfgang Rihms Requiem-Strophen mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung des vorgestern verstorbenen Mariss Jansons erschien dieses Jahr bei NEOS. Solisten sind Mojca Erdmann, Anna Prohaska und Hanno Müller-Brachmann.

Wolfgang Rihm zählte schon immer zu den mutigen Komponisten, zu denjenigen, die sich nicht in einer Stilrichtung verlieren oder sich für stumpfen Modernismus selbst beschränken. Tradition und Novität stehen insofern gleichberechtigt nebeneinander. Das erkennen wir auch in den 2015/2016 komponierten Requiem-Strophen für Soli, gemischten Chor und Orchester, deren Uraufführung aufgenommen und nun bei NEOS veröffentlicht wurde. Allein die Textauswahl lässt aufhorchen, denn Rihm bezieht Verse von Rilke, Michelangelo, Bobrowski und Sahl in die traditionelle Missa mit ein und verschmelzt die geistlichen und weltlichen Sphären. In diesem Vorgehen stehen die Requiem-Strophen (benannt nach dem letzten der verwendeten Texte von Sahl) jedoch nicht allein: bereits im Kindesalter erlebte Rihm Orchestermusik für den Kirchengebrauch als Öffnung bis Entgleisung im positiven Sinne und schrieb (beginnend 1984 mit ‚Dies‘) selbst mehrere sakrale Werke mit weltlichen Bezügen.

Musikalisch begehren die Requiem-Strophen überraschenderweise überhaupt nicht auf, anders als in den meisten Requien hält sich sogar das Dies Irae zurück. Damit sucht Rihm die bewusste Nähe zu Faurés Requiem, das er nach eigenen Angaben besonders schätzt. Die Reflexion des Menschen an sich ist es, die im Zentrum dieser Komposition steht, und nicht die apokalyptische Vorstellung des jüngsten Gerichts. Schmerz, Trauer und Melancholie werden seziert und psychologisch durchexerziert, bevor sie in die Musik einfließen.

All dies bringt Rihm in einem frei fließenden Klangstrom ohne tonale Bindung zum Tönen, was Nachdenklichkeit, Unsicherheit und gewisse innere Furcht evoziert, ganz ohne den äußeren Schrecken zu betonen. Kontraste schafft der Komponist in erster Linie durch Orchestrierung und geschickten Wechsel der Gesangspartien mit rein instrumentalen Passagen. Dennoch verliert der Hörer schnell den Halt und wird fortgetragen von den freitonalen Ergüssen, ohne sich der Formgestaltung unmittelbar bewusst zu werden: vielleicht liegt dies daran, dass kaum wiederkehrende Motive ins Ohr gehen; vielleicht aber auch daran, dass das Ohr nie durch klare harmonische Abphrasierungen (Kadenzen) zur Ruhe kommt, sondern immer weiter beansprucht wird – wie in einem Satz mit 200 Wörtern ohne Punkt und Komma. Dies betrifft aber nicht allein die Musik Rihms, sondern stellt sich allgemein als Problematik Neuer Musik dar, die ohne konventionelle Harmonik und deren Gesetzmäßigkeiten der Spannung und Entspannung arbeitet. Ich bin gespannt darauf, welche Lösungsansätze die nahe Zukunft bringt und welche tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führen.

Aufs Ganze gesehen gelingt es Rihm, eine Grundspannung aufrechtzuerhalten und zu einem schlüssigen Ende zu gelangen, welches das 80-minütige Werk in gewisser Einheit erstrahlen lässt, verbunden durch die zwingende Stimmung der Musik und die stilistische Einzigartigkeit des Komponisten.

Gerade in Anbetracht der bekanntlich kurzen Probenzeit der Musica-Viva-Konzerte ist erstaunlich, was Mariss Jansons in dieser Liveaufnahme der Uraufführung von 2017 auf die Bühne bringt. Man bedenke allein die hochkomplexen vierstimmigen Chorsätze, die in faszinierender Ausgewogenheit erklingen und die nur schwer fasslichen Linien des Orchesters, dessen Harmonien in stetiger Mehrdeutigkeit schweben und eine potentielle Auflösung suchen. Gewollten Dissenz hören wir in den beiden nie allein auftretenden Sopranpartien gesungen von Mojca Erdmann und Anna Prohaska, die gegeneinander ausgespielt werden und so der Rolle des traditionellen Sopran-Solos hämen. Umso prominenter erscheint der Solo-Bariton Hanno Müller-Brachmann, der mit gleich drei großen Partien betraut wird und diesen in inniger Ergriffenheit und mit klar markiertem Timbre Leben einhaucht. Das Orchester strotzt vor Perfektion, die jedoch stellenweise steril wirkt und den Hörer nicht mit einbezieht, dafür aber jedes noch so kleine Detail aus der Partitur ans Licht zaubert und ihm den exakten Stellenwert beschert.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]