Ars Produktin Schumacher, ARS 38 293; EAN: 4 260052 382936
„Was mag passieren, wenn zwei so hochdressierte Pferde
durchbrennen und aus ihrem Gehege ausbrechen?“ fragt der Pianist Simon Bucher
und antwortet gemeinsam mit der Mezzosopranistin Stephanie Szanto durch ihre CD
„The High Horse. Best of Worst Vol.1“. Die hochdressierten Pferde, das sind
sie, die beiden Musiker, die eine strenge Klassikausbildung durchgemacht und
gemeistert haben. Doch hegen sie parallel heimliche Liebschaften mit dem
Eurodance, der Popkultur ihrer Jugend. Was also mag passieren, wenn die Pferde
sich ins ‚falsche‘ Gehege einschleichen?
Die erwartete Antwort wäre gewesen, dass die Pferde
klassische Melodien nehmen und sie durch den Fleischwolf drehen, ihnen ein
poppiges Antlitz verleihen und zu Easy Listening degradieren. Dies kennen wir
bereits hundertfach und waren von einigen Beiträgen durchaus begeistert,
beispielsweise von den Clazz Brothers oder Joachim Horsley (noch ein Pferd!)
mit ihren fein ausgearbeiteten Cuba Sounds, oder auch von manch einer
Darbietung Beethovens Mondscheinsonate auf elektrischer Gitarre. Doch dieses
Feld ist langsam gesättigt und viele Neueinsteiger bleiben in einer stumpfen
Masse stecken.
Aber nein: Szanto und Bucher drehen den Spieß um! Anstatt
die Klassik zu verwaschen, wird der Eurodance auf das hohe Pferd gehoben und
galoppiert herbei mit opernhaften Höhenflügen und pianistischem Virtuosentum.
Ohne Rücksicht auf Verluste vermengen die beiden Musiker alles, was ihnen vor
die Ohren kommt: selbst vor dem Flohwalzer und der Cantina Band machen sie
keinen Halt. So kommt der Hörer aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus und fragt
sich immer wieder: Woher kenne ich dieses Zitat? Was war das noch gleich?
Hingebungsvoll widmen sich Szanto und Bucher den Pop-Hymnen und gestalten ihre
Arrangements bis ins letzte Detail aus, sind immer wieder für Überraschungen
gut und verlieren nicht eine Sekunde ihre aufrichtige Liebe zu beiden Welten, aus
denen sie ihre eigene formen. Stephanie Szantos geschmeidiger, aber dennoch
markanter Mezzosopran wiegt den Hörer ein, nur um ihn keck wieder der heilen
Welt zu entreißen und durch alle Stilsphären zu zerren. Am Klavier ist Simon
Bucher eine Band, ein Orchester, ein Konzertsolist, ein Liedbegleiter und noch
vieles mehr. Mit unfassbarem Reichtum an Klangfarben rast er über die Tasten
und passt sich stilsicher seiner Sängerin an, unterstützt sie teils sogar
stimmlich.
Diese CD ist für alle. Sowohl gediegene Klassikhörer als
auch Anhänger der Popkultur spricht sie gleichermaßen an, ein jeder fühlt sich
sowohl eingeschlossen als auch hinters Licht geführt, nur um letztendlich über
die eigenen Hörgewohnheiten lachen zu müssen. So passt „The High Horse“
gleichermaßen für aufmerksamen Hörgenuss wie auch als Hintergrundbeschallung
für eine Autofahrt oder eine Party – wo Sie sicherlich die Gäste damit zum
Stutzen und vielleicht sogar auf die Tanzfläche bringen werden.
Und selbst die Werbeunterbrechung nimmt man gerne in Kauf:
zumindest dann, wenn Szanto einem in direkter Abfolge Schneekoppe und Milka,
Gutfried, Zott und Merci in die Ohren säuselt und Bucher dazu freudig die
Tasten schwingt. Und wer denkt, die CD wäre nach 18 Titeln vorbei, der hat
nicht mit dem „Hidden Track“ gerechnet – der natürlich nicht in Spur 19
erklingt! Bis zum letzten Ton führen Szanto und Bucher uns an der Nase herum,
und sie dürfen es gerne noch in Vol. 2 und vielen weiteren. Mich würde ja nicht
wundern, wenn sie direkt mit Vol. 3 weitermachen und uns erstmal lange nach dem
verlorenen zweiten Teil suchen lassen.
Atilla Aldemir kam als Spätberufener zur Viola – oder ist
es zutreffender, zu sagen: Die Viola hat ihn gefunden? Auf einem
Streichinstrument die Mittellage zu entdecken hat bei ihm etwas mit „sich
selbst erfinden“ zu tun. Seine neue Doppel-CD vereint Meisterwerke aus
Westeuropa mit aktuellen türkischen Kompositionen. Vor allem Spätwerke hatten
es ihm bei der Auswahl angetan, da sich gerade hier die emotionale Reife bündelt.
Mit der emotionalen Reife geht eine spirituelle Dimension einher. Stefan Pieper
traf den umtriebigen Vollprofi in der lauschigen Kantine des Berliner
Konzerthauses. Diese Spielstätte und ihr Orchester waren für ihn von 2013 bis
2017 künstlerische Heimat, bevor er seine Stelle als Solobratscher im
MDR-Sinfonieorchester antrat.
Das Interview führte Stefan Pieper
Herr Aldemir, Sie sind im schnelllebigen Probenalltag
eines Rundfunksinfonieorchesters gefordert, musizieren im Duo mit ihrem
Pianisten Itamar Golan – und morgen
geben Sie ein Konzert mit einem türkischen Kemence-Spieler, wo Jazz und
Kunstmusik aufeinander treffen. Wie geht das alles bei Ihnen zusammen?
Es hat mir immer schon gefallen, das sinfonische und das
solistische Leben zu kombinieren. Abwechselnd mit internationalen Dirigenten
und Solisten zu arbeiten, bereichert meine künstlerische Arbeit und tut der schöpferischen Produktivität sehr gut.
Sie haben erst vor einigen Jahren überhaupt angefangen,
Bratsche zu spielen und sind jetzt schon Solospieler beim MDR. Wie erklärt sich
diese rasante Entwicklung?
Ich kann auf diesem Instrument eine besondere Beseeltheit zum Ausdruck bringen. Eine maßgebliche Anregung dazu habe ich durch meinen damaligen Mentor Matthias Maurer bekommen. Er war mein Bratschenprofessor und ehemaliger Solobratschist des Concertgebouw-Orchesters. Außerdem hatte ich das Glück, zwei hervorragende Instrumente zu finden. Zum einen eine Zanetti Pellegrino, sie stammt aus dem Jahr 1560 und ist von der Größe her fast ein Mini-Cello. Die zweite Bratsche ist ein ganz neues Instrument, gebaut 2016 vom Geigenbauer Alexandre Breton und fast 500 Jahre jünger. Beide haben sehr unterschiedliche Qualitäten, die ich nicht missen möchte. Ich bin seitdem Feuer und Flamme, mir viel Repertoire anzueignen bzw. dieses überhaupt erst für die Bratsche zu erschließen. Neben den Stücken für die neue CD haben es mir die Solo-Violinsonaten von Johann Sebastian Bach besonders angetan.
Geiger gibt es endlos viele, Bratschisten ja schon
deutlich weniger. Reizt Sie auch eine gewisse Befreiung von zu viel „Konkurrenz“?
Ich empfinde mich als Streich-Instrumentalist, dem es in
erster Linie darum geht, Musik zu machen, egal ob auf der Geige oder auf der
Bratsche. Ich habe einige Zeit in Wien gelebt, wo ich wichtige Impulse von
meiner ›Geigenmutter‹ Barbara Górzyńska erhielt. Ihr Mann, Matthias Maurer
erkannte mein Potential und hat mich dazu ermutigt, mich als eigentlicher Geiger
ebenso der Bratsche zuzuwenden. Auf der Bratsche ist es noch einfacher, einen
deutlich erkennbaren Wiedererkennungsfaktor herauszuhören. Auch bei den ganz berühmten
Spielerinnen und Spielern ist es so. Darüber hinaus empfinde ich den Klang der
Bratsche als beseelter, so dass ich mich damit als Künstler noch besser
identifizieren kann und daher meine eigene Signatur für die Hörer noch klarer
erkennbar wird. Ich bin nun seit April 2017 Solobratschist beim
MDR-Sinfonieorchester in Leipzig und möchte zukünftig auch in meinen
solistischen Tätigkeiten den Fokus auf die Bratsche legen.
Verraten Sie mir einige grundsätzliche Unterschiede
zwischen den beiden Streichinstrumenten!
Als Geiger denkt man oft, je schneller und lauter, desto
besser. Diesem sportlichen Aspekt setzt die Bratsche eine andere Dimension
entgegen: Der Klang ist einfach tiefer und oft auch eigenständiger. Auch geht
es nicht so sehr um Tempo auf der Bratsche, denn für alles braucht es viel mehr
Bogenkontrolle. Die Bogentechnik ist wesentlich schwieriger würde ich sagen.
Generell geht es mir nicht um irgend welchen Ehrgeiz, der beste sein zu wollen.
Ich möchte einfach auf der Bühne
sein und Musik machen.
Sie haben beim MDR Sinfonieorchester unter Kristian Järvis
Leitung gespielt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Järvis Mut zu kreativen Programmen hat mich maßgeblich zu
meinen aktuellen Projekten inspiriert. Ich habe hier eine neue Art der
Interpretation kennen gelernt. Sie ist wenig konventionell, dafür eher kompakt.
Järvi bricht gerne Tabus, aber gerade das kommt gut an! Genau diese Denkweise
lebt auf der neuen CD fort: Warum soll man nicht etwas machen, wenn es doch
Spaß macht? Deswegen präsentiere ich neue Arrangements von Kompositionen, die
jetzt zum ersten Mal auf der Bratsche erklingen. Man muss neue Wege einschlagen
– aber ohne, dass man aus alten Kirchen eine Disco macht. Denn das wäre
Scharlatanerie.
Gehört
es zu Ihrem Wesen, dass Sie sich immer neu erfinden?
Ich habe beobachtet, wie Personen oder Künstler früher ihre Laufbahn
geplant haben. Man bewarb sich, um irgendwo unter zu kommen, lernte fürs
Probespiel das Konzert von Hofmeister oder Stamitz und alles maß sich daran. Für
mich ist dieser Weg heute zu eingegrenzt. Das musikalische Repertoire ist dafür
viel zu reichhaltig und riesig. Da reicht es mir nicht, einfach nur 40 Jahre
lang zum Dienst zu gehen. Sie dürfen das nicht falsch verstehen: Ich liebe es,
im Orchester zu musizieren. Vor allem mit Kristjan Järvi habe ich viele
Crossover-Projekte gemacht. Und ich verspüre auch den starken Drang, mehr aus
der eigenen Kultur zu machen. In meiner Freizeit höre ich unter anderem gern türkische
Kniegeigenmusik. Warum nicht irgendwann mal ein Bratschenkonzert im Stil einer
Kemence komponieren? Wie klingen die Violinsonaten von Bach auf der Viola? Oder
Schumanns Violinkonzert? Ich würde all diese Neuerungen gerne für mich
entdecken und dann dem Publikum zugänglich machen.
Erzählen Sie, wie das Programm entstand! Sie erweitern ja
das Spektrum durch türkische Komponisten…
Necil Kazim Akses gehörte zu dem sogenannten „türkischen Fünfer“ und mich hat die Schönheit dieser Musik immer schon
fasziniert. Ich höre im Capriccioso für Solo-Bratsche von
Akses viel Begeisterung für den Komponisten Enescu heraus. Auch zu
Bartok gibt es Parallelen, denn Akses hat Bartok bei Recherchen in Anatolien
begleitet – zugleich war er Mitarbeiter von Paul Hindemith. Ebenso ist er tief
in der türkischen Kultur verwurzelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich hier
den Sound der orientalischen Längsflöte Ney nachempfinde.
Was für eine zeitlose Botschaft steckt in dieser Musik?
Da ist ein ganzer Ozean, ein echtes Meer drin. Und so viel
Liebe, ebenso viel Klage und so viel Wehmütiges. All das ist doch fantastisch für
den Bratschenklang. Dieser kann auch diese typische Bambusflöte gut nachempfinden. Der will sagen:
Erkenne, was für Dich Glaube ist und bringe dies zum Ausdruck. Und damit liegt
diese Musik auf derselben geistigen Ebene wie Bach.
Der Sufismus ist eine friedliche Geisteshaltung und eben
keine Herrschaftsideologie, die sich der Religion bedient. Es geht viel um
Achtsamkeit. Liegt Halit Turgays Stück „Troja“ auf einer ähnlichen Wellenlänge?
Das Stück für
Solobratsche, das der türkische Komponist, Flötist und Professor am Konservatorium in Ankara für mich geschrieben
hat, ist ein Lamento, das von virtuos-furiosen Ausbrüchen durchbrochen wird.
Ich habe es im Sommer 2018 in Burhaniye/Ören an der Ägäisküste uraufgeführt.
Turgay hatte beim Komponieren jene Söldner im Sinn, die im Kampf um die nach Troja entführte Helena fielen. Sowohl melodisch wie rhythmisch ist das Werk tief in Kleinasien verwurzelt. Die sich verdichtenden Pizzicato-Passage lassen hier an das Spiel der Oud denken. „Hellas … Hier begann alles und hier wird alles enden.“ Dieses von Mevlana, dem im Westen unter dem Namen Rumi bekannten Begründer des Sufismus überlieferte Wort fällt mir zu diesem Stück ein. Ich wollte hier aber etwas aufnehmen, das intuitiv komponiert ist und nicht verkopft mit einer schöngeistigen Haltung im Kern. Auch bei Turgay habe ich das Gefühl, er komponiert eben das, was ihm Spaß macht. Mich reizen keine Komponisten, die nur eine bessere Technik präsentieren wollen. Konkret geht es hier um Krieg und um Liebe.
Darum, das Liebe den Krieg besiegt?
Liebe und Tragik sind gleichberechtigt vorhanden. Viel
morbide Trauer kommt hier lautmalerisch zum Ausdruck, wenn direkt am Steg
gespielt wird.
Warum haben Sie Henri Vieuxtemps Capriccio als Finale
dieser CD ausgewählt?
Dieses Stück ist der Grund, warum ich zur Bratsche gefunden
habe. Das Stück ist so virtuos und dramatisch. Als ich es gehört habe, habe ich mich in die Bratsche
verliebt.
In welcher Relation stehen diese „Repertoire“-Entdeckungen zu den bekannten
Meisterwerken dieser CD?
Ich wollte hier einen inneren Zusammenhang herstellen.
Schostakowitschs Werk wollte ich schon lange mal aufnehmen und hatte jetzt das
Gefühl, dass die Zeit dafür reif ist. Von diesem Ausgangspunkt suchte ich
andere Meisterwerke als Gegengewicht.
Die Schostakowitsch-Sonate widerspiegelt ja sehr
unmittelbar das Lebensende ihres Schöpfers. Sehen Sie hier einen Zusammenhang zum Mevlana-Satz, den Sie
auf dem Booklet veröffentlichen,
wo es „Stirb in Liebe“ heißt?
Ja, auf jeden Fall. Schostakowitsch bilanziert sein ganzes
Leben mit wenigen Tönen.
Damit eine Aufführung dieses Stückes wirkt, braucht es eine ganz besondere
Haltung: Wir haben bei der Aufführung den Saal verdunkelt, damit die richtige
Stimmung entsteht. Erst dann ist ein hohes Maß an innerer Einkehr möglich. Dieser Satz wird nur sehr
selten gespielt. Es ist definitiv kein Stück für einen schönen
Abschluss im Konzert. Schostakowitsch weiß hier, dass sein Ende nah ist.
Die Sonate von Johannes Brahms und Cesar Francks berühmte
A-Dur-Sonate sind Spätwerke.
Was für eine Faszination geht gerade aus diesem reifen Lebensabschnitt
hervor?
In der späten Brahms-Sonate bündelt sich so viel
Ausdrucksreife. Es ist mir ein Anliegen, dies so zu spielen, dass hier die
ganze Emotion, diese ganze Liebe und Melancholie zum Leben erwacht. Meine
Brahms-Affinität hat sich maßgeblich während der neun Jahre, in denen ich in
Wien lebte, entwickelt. Auf dieser CD schlägt Brahms dann auch wieder eine
innere Brücke zu den türkischen Komponisten, zur Kultur meines Heimatlandes.
Denn auch in der Türkei spricht man sehr viel über die Liebe und räumt solchen
Emotionen viel Gewicht ein. Cesar Francks Sonate bündelt ebenfalls viel
Leidenschaft, die hier aus einem gelebten Leben hervor geht. Sie entstand
gerade einmal zwei Jahre vor dem Tod des Komponisten. Er hat diese Sonate als
Hochzeitgeschenk für Eugene Ysaye geschrieben. Ich finde übrigens, die Sonate
bekommt auf der Bratsche noch mehr Gewicht und Tiefe als auf der Geige.
Wie gestalteten sich die Aufnahmen mit Ihrem Klavierpartner
Itamar Golan?
Wir haben fünf Tage gearbeitet, von morgens bis tief in die
Nacht. Wir haben nur gespielt und so gut wie nie darüber gesprochen. Vor allem
das macht die Musik so authentisch. Sobald man alles zerredet und die Noten mit
Bleistift-Anmerkungen vollkritzelt, geht die Spontaneität verloren. Das war auf
Anhieb Konsens zwischen Itamar und mir. Er ist unglaublich schnell und erfasst
alles sofort. Umfassender kann ein musikalisches Verständnis kaum sein. Und
natürlich fühle ich mich sehr
geehrt, dass ich einen so prominenten Klavierpartner für dieses Projekt
gefunden habe.
Schön,
dass die CD so attraktiv geworden ist. Auch der von Ihnen verfasste
Booklet-Text ist sehr bereichernd. Zugleich gibt es viele Major-Labels, die
ihre Aufnahmen nur noch als Download herausbringen und überall wird lamentiert,
dass die CD tot sei. Wie bewerten Sie selbst die Zukunft des physischen Tonträgers?
Aus eigener Erfahrung sehe ich keine Bedenken, was die
Nachfrage nach physischen CDs betrifft. Nach jedem Konzert erlebe ich beim
Publikum eine sehr große Nachfrage nach CDs. Die Menschen sind erfüllt und möchten einfach die Begeisterung mit
nach Hause nehmen. Als es noch keine Aufnahmen von mir gab, wurde ich immer
wieder danach gefragt. Das Publikum hatte so etwas vermisst. Vor allem die
aktuelle CD füllt hier eine wichtige Lücke.
Jürgen Plich spielt
zwei Werke von Franz Liszt, die nicht durch oberflächliche Virtuosität glänzen,
sondern innermusikalisch erspürt werden müssen: Die etwa 1850 entstandenen
sechs „Consolations“ und der zwölfteilige Zyklus „Der Weihnachtsbaum“ von 1874.
Im Alter wandte sich Liszt immer weiter der überschäumenden
Virtuosität ab und versuchte, seine musikalischen Ideen auf das Wesentlichste
zu reduzieren. Als erster Wegweiser in diese Richtung dienen die sechs
Consolations, also Tröstungen, die er auch als „Sechs poetische Gedanken“
betitelte. Sie gehören zweifelsohne alle zu den gehaltvollsten Werken Liszts,
schaffen zartes Gefühl und sprechen an mit grenzenloser Ehrlichkeit.
Der knapp 25 Jahre später komponierte Zyklus „Der
Weihnachtsbaum“ verknappt die Musik noch weiter hin zu einem kargen und teils
trostlosen Stil, in dem nur das Wesentlichste gesagt wird. Immer wieder fällt
die Musik in die Einstimmigkeit, wiederholt den gleichen Gedanken auf gleiche
Weise und gibt Pausen zentralen Stellenwert. Die so entstandenen Stücke sind
von unterschiedlichster Qualität von recht redundanten Stücken bis zu wahren
Meisterwerken, die im Scherzoso und
in Ehemals gipfeln. Von den
Volksliedbearbeitungen darf Adeste
Fideles beachtet werden und auch das Glockenspiel
zeugt von Liszts Fähigkeit, ein außermusikalisches Bild auf wenige Noten
verknappt zu vertonen.
Pianistisch beeindruckt die Fähigkeit Jürgen Plichs, in die
Musik hineinzuhorchen und von den Noten zu abstrahieren. Plich erforscht, um
was es in der Musik geht, was sie ausdrücken will, und setzt dies um. So
entsteht ein zutiefst persönliches und mitfühlendes Resultat, das uns als
Mensch anspricht und die perfekte Übermittlung der Intention des Komponisten
hin zum Hörer darstellt, so dass dieser sich automatisch öffnet und die Musik
in sich hineinströmen lässt. Selbst die kompositorisch wenig ansprechenden,
beinahe trostlosen Weihnachtsliedbearbeitungen Liszts erhalten so ein Zentrum
und eine Konzentration, dass sie dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen. Des Weiteren
besticht die pure, sangliche Linienführung Plichs, die in manchen Passagen
besonders bei den Consolations förmlich zu glimmen und zu leuchten beginnt. Wir
meinen fast, ein Orchester spiele diese zarten Melodien.
Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 6 (Weltersteinspielung Fragment), Nr. 2, Op. 19 und Nr. „0“ (WoO 4); Symphoniker Hamburg – Peter Ruzicka; Sophie-Mayuko Vetter (Klavier)
Oehms OC1710/EAN: 4260330917102
Sophie-Mayuko Vetter ist eine außergewöhnliche Künstlerin:
Sie ist als eine von nur sehr wenigen Interpretenpersönlichkeiten sowohl auf
dem modernen Konzertflügel „zu Hause“ als auch auf allerlei historischen
Fortepiani, und – wichtig zu erwähnen – sie hat in beiden Fächern eine
fundierte Ausbildung genossen, wie sich überhaupt der Lebens- und
Ausbildungsverlauf der Pianistin sehr beeindruckend liest: Klavier-Studium bei
Edith Picht-Axenfeld, Leon Feuchtwanger und Vitaly Margulis, Musikwissenschaft
bei Claus-Steffen Mahnkopf und Peter Gülke, historische Aufführungspraxis bei
Robert Hill. Man fragt sich, ob man sich wundern soll oder ob es vielmehr nur
folgerichtig ist, dass eine so ausgebildete Interpretin zudem einen eigenen
Stil entwickeln konnte, der mit dem aktuellen, durch eine Weltersteinspielung
sehr aufsehenerregenden Beethoven-Album beim Label Oehms im Status der Reife
angekommen zu sein scheint.
Zu hören ist auf Sophie-Mayuko Vetters neuer CD in
Weltersteinspielung ein Fragment von Beethovens sechstem Klavierkonzert
(vervollständigt von Nicholas Cook und Hermann Dechant), das bekannte zweite
Klavierkonzert Beethovens Op. 19 sowie das immer noch vergleichsweise selten zu
hörende Jugendkonzert in Es-Dur WoO 4.
Sophie-Mayuko Vetter erweist sich als eine mit allen Wassern
gewaschene Pianistin, die sozusagen über den Belangen der Spieltechnik steht
und gerade deswegen in der Lage ist, eine im besten Sinne poetische
Interpretation aller Stücke zu erreichen. Peter Ruzicka, seines Zeichens
Dirigent, Komponist und Intendant in Personal-Union, ist mit den vorzüglich
aufgelegten Hamburger Symphonikern ein kongenialer Partner. Und auch die
hervorragende Tontechnik tut hier ein Übriges hinzu.
Natürlich kann man sich trefflich über bestimmte Aspekte
streiten: Wäre das eingespielte, rekonstruierte Fragment des ersten Satzes
eines sechsten Klavierkonzerts wirklich so im Sinne Beethovens? Fragt man mich,
so würde ich sagen: Wahrscheinlich nicht, denn Beethoven war ein akribischer
Ausarbeiter und hätte die bisweilen dürftigen Themen sicherlich noch viele Male
umgearbeitet, um ein Ergebnis zu erzielen, das seinen Ansprüchen genügt hätte.
Ich würde aber auch sagen, dass das Anhören dieses Re-Konstrukts sehr viel
Freude macht und die Einspielung sicherlich sehr lohnenswert war.
Das eigentliche Highlight des Albums ist für mich das
Klavierkonzert Nr. 2, Op. 19, das Sophie-Mayuko Vetter mindestens auf Augenhöhe
mit auch den größten Beethoven-Interpreten der zumindest jüngeren Vergangenheit
interpretiert. Zum Glück verfallen weder sie noch Ruzicka dem Drang, die Tempi
zu schnell zu nehmen, und so ist dieses vielleicht zarteste aller
Beethoven-Konzerte in dieser Einspielung schier ein Gedicht! Besonders
auffällig hierbei auch die ausgezeichneten Holz- und Blechbläser der Hamburger
Symphoniker. Ja, wirklich in allen Bereichen ist das eine ganz ausgezeichnete
Aufnahme, und man würde sehr gern auch noch andere Beethoven-Konzerte aus den
Händen Vetters entgegennehmen.
Ob es hingegen nun das Jugendkonzert WoO 4 sein musste,
lasse ich da mal dahingestellt. Sicherlich ist dieses Stück ein eindrucksvolles
Beispiel für Beethovens jugendliche Frühreife, und es ist eine gute Erinnerung
daran, weil man Beethoven selten mit dieser frühen Reife in Bezug setzt,
sondern eher den Fokus auf seine „titanischen“ Spätwerke legt. Gleichwohl ist
die Komposition im direkten Umfeld einfach erkennbar nicht gleichrangig und
dann auch noch am Ende des Albums platziert, sodass sich der Eindruck eines
kompositorischen Rückschritts förmlich aufdrängt. Chronologisch hingegen war es
ja anders herum.
Sophie-Mayuko Vetter spielt bei der Aufnahme dieses
Jugendwerks einen historischen Broadwood-Flügel von der Art, wie ihn auch
Beethoven unter seinen Instrumenten gehabt haben könnte.
Es ist erstaunlich, dass der Zusammenklang von historischem
Instrument und modernem Sinfonieorchester so gut funktioniert, und es ist
bemerkenswert, dass die Interpretin auch auf diesem gewiss nicht einfach zu
beherrschenden Instrument ihren persönlichen Stil beibehalten kann und auch
nicht in Versuchung kommt, affektierte Manierismen der historischen
Aufführungspraxis aus dem Köcher zu holen.
Und so bleibt festzuhalten, dass wir hier ein
Beethoven-Album haben, das zwar polarisieren wird, das zwar zu Diskussionen und
dem Austausch von Meinungen förmlich herausfordert, das aber gerade deshalb so
erfrischend und positiv ist, weil dies zum Beginn des „Beethoven-Jahres“ 2020
geschieht, in dem wir Polarisierung, Debatte und Austausch viel nötiger
brauchen als leere Marketing-Hülsen und tausendmal Aufgewärmtes. Insofern: Hut
ab vor Sophie-Mayuko Vetter! Möge sie ihrer Linie treu bleiben und weiterhin so
spannende Entdeckungen zu Gehör bringen! Einspielungen von „Standardrepertoire“
haben wir wahrlich genug.
Zeitgenössische Musik kann auch anders. In einem extravaganten Programm stellen die Violinistin Anna Kakutia, der Cellist Graham Waterhouse und der Pianist Dmitrij Romanov am 16. Dezember 2019 im Sitzungssaal der Versicherungskammer Bayern (veranstaltet von Tonkünstler München e.V.) Werke moderner bayerischer (bzw. in Bayern lebender) Komponisten vor. Das Programm beginnt mit Stigmen für Klaviertrio von Dieter Acker, es folgt die Episode von Laurence Traiger für die selbe Besetzung. Romanov spielt allein Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel von Dafydd Llywelyn, dessen Tod 2013 von Graham Waterhouse in seinem Stück Bells of Beyond für Klaviertrio verarbeitet wurde. Nach der Pause erklingt zunächst das Vierte Klaviertrio von Romanov, danach Duettino und Gioco per Due von Herbert Baumann für die beiden Streicher ohne Klavier. Das Programm endet mit Richard Hellers Novellette.
Schon mit dem ersten Stück, Stigmen von Dieter Acker, setzen
Anna Kakutia, Graham Waterhouse und Dmitrij Romanov ein Statement: Moderne
Musik muss nicht geräuschlastig, nicht formal willkürlich und auch nicht gegen
das Ohr sein, sie kann auch trotz Novität gefallen! Stigmen besteht aus fünf ineinander
übergehenden und thematisch zusammenhängenden Sätzen, die teils durch präzise
ausgewogene Zäsuren verknüpft sind. Es herrscht ein rauer, aber zutiefst
menschlicher und einladender Ton vor, der den Hörer in das Geschehen
integriert. Das intensive Spiel der drei Musiker besticht: sie sehen sich nicht
bloß als Reproduzenten, sondern treten in Kontakt mit der Partitur und
erforschen die darin enthaltene emotionale Substanz, kosten die Pausen delikat
aus und akzentuieren treffsicher die subtilen harmonischen und formalen
Überraschungen.
Noch mehr bringt uns die Episode von Laurence Traiger aus dem
Konzept: das ist ja tonal! Traiger beweist, dass die Tonalität noch lange nicht
ausgeschöpft ist, sondern Möglichkeiten besitzt, die noch lange nicht ergründet
wurden. Durch die tonale Verwurzelung, und noch mehr durch den harmonischen
Beziehungsreichtum, gelingt es dem Komponisten, die Form eisern
zusammenzuhalten. Auch fürchtet sich Traiger nicht davor, an etwas zu erinnern:
denn kurz darauf fließt die Musik schon weiter und hinterlässt kurze Reminiszenzen
an eine lange Traditionslinie, die er weiterführt. Keine Sekunde verliert er an
Eigenständigkeit, er schreibt eine klare Handschrift.
Mystisch wird es in Prayers and Lullabies of the Guardian
Archangel Gabriel für Klavier solo von Dafydd Llywelyn, der Glocken zu einem
zentralen Paradigma seiner Musik machte. Konturlos und ohne erkennbares
Material schwebt die beinahe impressionistisch anmutende Musik dahin, bringt
uns in Trance und die Gedanken zum (Mit-)Wandern. Romanov überzeugt durch konzentriertes
und meditativ-ruhiges Spiel, in dem jeder Akkord seinen festen Platz erhält und
in sich ausgewogen wird. So überkommt die tiefsphärische Wirkung dieser Musik den
Hörer. Das Stück hätte nur ein paar Minuten früher enden können, da sich der
Effekt im umrisslosen Raum doch auf Dauer erschöpft.
Der Cellist des Abends, Graham Waterhouse, erhielt von
Llywelyn zentrale Impulse für seine kompositorische Arbeit. In Gedenken an
dessen Tod im Jahr 2013 komponierte Waterhouse sein Bells of Beyond, was auf
die Glockenthematik anspielt, die wir schon in Prayers and Lullabies of the Guardian
Archangel Gabriel vernahmen. Anstelle eines Requiemstücks hören wir allerdings
ein lebendiges und aufgewecktes Werk, humorvoll bis sarkastisch. Die Musik wirkt
teils wie ein Pool aus (scheinbaren?) Zitaten: von Smetana bis Gubaidulina mit
besonderer Vorliebe für Debussys Préludes. Gerade diese (scheinbar?) bekannten
oder zumindest an Bekanntes gemahnenden Motive sorgen dafür, dass die Musik
eine Geschlossenheit und einen nachvollziehbaren Fluss bekommen.
Nach der Pause beginnen die Musiker mit dem Vierten
Klaviertrio des Pianisten Kmitrij Romanov, das sich spröde und archaisch vor
uns auftut, durch seine Sperrigkeit eine bestimmte Größe erreicht. Kontrapunktisch
durchwebt und mit beachtlicher Eloquenz modulierend, spricht die Musik mehr die
intellektuelle als die emotionale Seite des Hörers an.
Die jugendlichsten Stücke des Abends entstammen der Feder
des 1925 geborenen Herbert Baumann: sowohl das Duettino als auch das Gioco per
Due komponierte er nach seinem 90. Geburtstag! Schwungvoll sprudeln die
Streicher über vor Witz, Charme und tänzerischen Elementen, überbieten sich gegenseitig
an Frische und wetteifern um die strahlendste Stimme. Das ist feinste Zugabenmusik,
wie man sie sich vorstellt, quirlig und vital, dabei nicht vorhersehbar oder abgedroschen,
sondern in ihrer Wirkung unerhört.
Zuletzt erklingt die Novellette von Richard Heller. Dieses
Stück müsste ich noch einmal hören. Nach den verspielten Duetti von Baumann war
mein Gehör noch nicht auf diese tiefschürfende Musik eingestellt, um sie von
Anfang bis Ende voll aufzunehmen. Hellers Trio erscheint innerlich aufgewühlt
und gespickt mit schwarzem Humor. So bildet sie einen Dipol zwischen
abgrundtief ernst und doch irgendwo verspielt, wenngleich auf eine beinahe makabre
Art. Novellette verfolgt mich von allen Stücken des Abends bislang am längsten
und ich verspüre den dringenden Wunsch, dieses Stück und andere Werke des
Komponisten zu entdecken.
Bis zuletzt bewahren Kakutia, Waterhouse und Romanov die
Konzentration und beglücken die Hörer mit erspürendem und detailverliebtem
Spiel. Von den Schwierigkeiten der Gattung des Klaviertrios, dass das Klavier
gerne die Streicher verschluckt, bemerken wir nichts: souverän findet jeder
Musiker seinen Platz im Geflecht der Stimmen. Die Musiker wissen, auf was es
den jeweiligen Komponisten und auf was es in der Musik selbst ankommt und sprechen
den Hörer direkt an. So entsteht ein wahres Erlebnis aus Klängen, das Lust auf
mehr macht.
In ihrem Album „3
Aspects of Emotions“ wagt sich die bulgarische Pianistin Vanya Pesheva an drei
virtuose Werke des 20. und 21 Jahrhunderts: Maurice Ravels Gaspard de la Nuit,
vier der Mirages von Albena Petrovic-Vratchanska und Alexander Scriabins Fünfte
Klaviersonate fis-Dur op. 53.
Wenn ein Musiker im Begleittext schon dezidiert auf enorme
virtuose Fähigkeiten hinweist, so gilt das bereits als Warnschuss: denn wo
Technik überwiegt, leidet oft die Musik.
Dies bewahrheitet sich einmal mehr bei vorliegender CD der
Bulgarin Vanya Pesheva. Gleich zwei rasend schwere Werke aus dem 20.
Jahrhundert stehen auf dem Programm, beide absolute Highlights im Repertoire
eines jeden Pianisten. Ravels Gaspard de la Nuit zählt nicht umsonst als eines der
anspruchsvollsten Werke für das Klavier, vor allem da der Komponist sich
vornahm, mit Scarbo alle dagewesenen Schwierigkeiten zu überbieten; und auch
Scriabin erweiterte mit seinen insgesamt zehn Klaviersonaten das Spektrum der
technischen Möglichkeiten und schuf durch Konfliktrhythmen neue Wege der
Mehrstimmigkeit, die für ein einziges Gehirn kaum korrelierbar scheinen. Wichtiger
jedoch als diese oberflächlichen Fakten: beide Komponisten verschrieben sich in
allem der Musik jenseits der bloßen Töne. Ravel komponierte hypersensibel plastische
Gemälde in schwerelosem Fluss, penibel ausgefeilt in jedem Detail und von
unfehlbarer Präzision in ihrer Wirkung. Scriabin widmete sich der Extase und
versuchte, orgastische Zustände durch Musik zu vermitteln. Seine Musik ist
erotisch, hingebungsvoll, berauscht und launisch, dabei von vorne bis hinten
durchkonzipiert und ausgewogen. Beide Komponisten gingen über die bloße Emotion
hinaus.
Wenig dessen hören wir bei Vanya Peshevas Darbietung der
beiden Kompositionen und selbst der virtuose Aspekt lässt bei Ravels drei
Tongedichten stellenweise zu wünschen übrig. Gaspard de la Nuit klingt träge
und schwerfällig, in manchen Passagen der Ondine gar angestrengt: und das,
obgleich die sprudelnden Wellen mit ihren schaumig verspielten Kronen
eigentlich das genaue Gegenteil dessen darstellen sollen. Im Gegenzug dazu
klingt Le Gibet romantisch verhalten, ohne die subtil aufreibenden Dissonanzen
zu würdigen. In Scriabins einsätziger Fünfter Klaviersonate holt Pesheva die
Stimmen nicht in ihrer Eigenständigkeit hervor, sondern lässt sie zu einer
Einheitsmasse verschmelzen, in der weder die rhythmischen Finessen, noch die
gegeneinander agierenden Kontrapunkte durchhörbar sind. In den Rubati agiert
sie derart frei, dass der über große Strecken vorgeschriebene 5/8-Takt sich
vollkommen auflöst. Die einzelnen Akkorde wiegt Pesheva nicht ineinander ab und
verliert so das Gefühl für selbst kleinste harmonische Bezüge.
Zwischen Ravel und Scriabin stehen vier Mirages der
luxemburgischen Komponistin, Pianistin und Pädagogin Albena Petrovic. Die Musik
streicht recht belanglos am Hörer vorbei, gibt wenig Anlass zum Aufhorchen. Die
wiederkehrenden Glockenklänge ermüden nach kurzer Zeit und es fehlt an Kontur
und Struktur, plätschert mit ein paar dissonanteren Ausbrüchen vor sich hin.
Stadttheater Schweinfurt Samstag 23. November 2019 19 Uhr 30
Die Jahreszeiten: Oratorim von Joseph Haydn (1732-1809) – Text: Gottfried van Swieten (1733-1803)
Hanne, Sopran: Anna Nesyba / Lukas, Tenor: Falk Hoffmann / Simon, Bass: Eric Fergusson – Liederkranz Schweinfurt, Konzertchor Bad Kissingen, Orchester Ensemble Würzburg (Leitung: Matthias Göttemann, Hermann Freibott)
Zu Beginn begrüsste Matthias Göttemann die Gäste und die Musikerinnen und Musiker, wies auf das heutige Jubiläum des Schweinfiurter Chores und die Patenschaft für den Bad Kissinger Konzertchor hin, musste allerdings auch ansagen, dass der Tenor des Abends, Falk Hoffman, indisponiert sei, und deswegen ein Teil seiner Rezitative und Arien von seiner Kollegin und seinem Kollegen übernommen würden.
Dann übergab er die Stabführung dem Kissinger Chorleiter,
der den ersten Teil, den Frühling, leitete. Darin natürlich auch die berühmte
Arie der Hanne „Komm, holder Lenz“, die schon eine erste Glanzleistung der Solistin war.
Zum zweiten Teil, allen übrigen Jahreszeiten, kam dann Matthias Göttemann als Dirigent, und der Sommer brachte dann alle Beteiligten so richtig in Schwung. Auch wenn der Text des Librettos von Baron van Swieten teilweise doch sehr gewöhnungsbedürftig ist: was Joseph Haydn daraus gemacht hat, ist bewundernswert. In allen Stilrichtungen ist er zu Hause, schreibt Fugen, die den Händelschen nicht nachstehen, kann aber auch harmonisch zum Äussersten greifen, neben den Secco-Rezitativen stehen welche, die vom Orchester begleitet werden, neben hellsten Melodien und Klängen für den Sommer stehen dunkle und düstere Klänge für Herbst und Winter, ein unaufhörlicher Strom an schönster Musik und ohrwurmhaften Melodien ergiesst sich während der anderthalb-stündigen Darbeitung der entzückten und auch immer wieder verblüfften Zuhörerschar im fast ausverkauften Schweinfurter Theater.
Natürlich war man gespannt, wie der Fast-Ausfall des
Tenorsolisten überbrückt werden könnte, aber tatsächlich ließen Anna Nesyba und
Eric Fergusson keine Zweifel aufkommen, dass sie in der Lage waren, sich dieser
schwierigen Aufgabe sehr gekonnt zu stellen. Von Enrico Caruso heisst es, dass
auch er in der „Met“ mal die Partie eines verhinderten Bass-Kollegen mit
übernahm.
Und zu den Trio-Stücken gesellte sich Falk Hoffmann – so
gut seine Indisponiertheit es zuließ – dazu.
Von besonderem Reiz waren natürlich die Stellen, wo beide
Chöre ihr Können unter Beweis stellen konnten.
Angefeuert vom überzeugenden und mitreissenden Dirigat von Matthias
Göttemann liefen allen Beteiligten – Musiker, Solisten und Chöre – zu absoluter
Hochform auf.
Wieder einmal stellte sich der „Alte Pappa Haydn“, der
doch allzuoft im Schatten Mozarts und Beethovens steht, als nicht nur ebenbürtig
sondern aus genauso einzigartig in seinen Werken dar wie diese.
Ein großartiger Abend der mit großem Beifall und vielen
Blumen das Publikum beschenkt in den Abend entließ.
Mathis Mayr und
Antonis Anissegos spielen für Wergo das 80-minütige Werk „Patterns in a
chromatic field“ von Morton Feldman ein. Der Tonmeister Sebastian Schottke wird
in die ästhetischen Präferenzen einbezogen und wirkt somit als
gleichberechtigtes Mitglied an der Aufnahme mit.
Morton Feldman durchbricht das Zeitgefühl. Gerade in seinen
späten Werken experimentiert er mit der Auflösung von Vergangenheit und Zukunft
zugunsten eines gestählten Jetzt-Bewusstseins. Um dies zu bewerkstelligen, geht
er von kurzen Mustern aus, die sich ständig wiederholen und dabei minimalste
Variationen durchschreiten. Die Variationen vorauszuahnen, stellt sich als
unmöglich heraus, ebenso vergisst der Hörer bereits gewesene Abwandlungen der
Muster wieder und geht so im Strom der Musik verloren. Feldman schafft auf
diese Art tief meditative Sphären des Stillstandes, in jegliches Gefühl von Korrelation
auflösen und den Hörer in die Jetztzeit zwingen.
Patterns in a chromatic field ist wie alle späten Werke
Feldmans nicht mehr graphisch notiert, sondern traditionell auf fünflinigen
Notensystemen, um alle Details der Aufführung zu determinieren. Dabei legte der
Komponist größten Wert auf die graphische Anschaulichkeit, sprich, dass jede
Seite die gleiche Anzahl an Systemen mit je der gleichen Anzahl an Takten
besitzt. Selbst die Partituren geben so einen optischen Eindruck der
Ereignislosigkeit, erinnern mit ihren subtilen Ungleichmäßigkeiten aber auch an
orientalische Teppichkunst, welche Feldman eben aufgrund der kaum erkennbaren
Abweichungen schätzte.
Bei der vorliegenden Aufnahme fällt sogleich die Nähe zum
Musiker auf, die Instrumente stehen beinahe plastisch vor dem Hörer. Jeder
Bogenstrich wird hörbar. Die Instrumente erhalten einen gedämpften, leicht
fahlen Klang, in dem aber jede Klangfarbe deutlich hervorstrahlt. Mathis Mayr
und Antonis Anissegos bewahren eine eiserne Kontinuität und unerschütterliche
Ruhe, ohne dabei mechanisch zu werden. Gleichzeitig verweilen sie in der
Starrheit des Musters und holen das Fortschreiten der Musik an die
Bildoberfläche. Die extreme Reduktion gibt Raum für farbenreiche Imaginationen
im Kopf des Hörers, von denen alle aber wie aufblühende Rosen erst im Begriff
des Entstehens sind und durch die Fragilität der Kontinuität nie ihren
Endzustand erreichen. Mit der präzisen Aufnahmetechnik entsteht die Musik dreidimensional
im Raum und formt sich fast wie bildende Kunst. Feldman erreicht sein Ziele der
Grenzüberschreitung, des Verlusts eines jeden Zeitgefühls sowie der
mehrdimensionalen Auffassung dieser Töne im Klangraum.
Drei unterschiedliche
Werke mit der Gemeinsamkeit der Retrospektive bilden das Programm dieser
CD-Aufnahme des Giraud Ensemble Chamber Orchestras unter Sergey Simakov. Zu
Beginn steht das groß angelegte Concerto for Myself des Pianisten und Komponisten
Friedrich Gulda (Mischa Cheung, Klavier; Janic Sarott, Schlagzeug; Stanislaw
Sandronov, E-Bass), es folgt die Erste Symphonie, Classique, von Prokofieff und
das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Poulenc (Yulia Miloslavskays
& Mischa Cheung, Klaviere).
Die Verehrung der Meister aus der Epoche der sogenannten
Wiener Klassik inspiriert bis heute ungebrochen Künstler aller Sparten. Die
Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, aber
auch das Feingefühl für Timing, Kontrast und vollendete Form stehen als
erstrebenswertes Idol dar. Auf der
vorliegenden CD hören wir drei Werke, die sich je auf ihre Weise diesem Vorbild
stellen.
Frei nach dem Titel des ersten Satzes, der als Motto für das
gesamte Werk gelten könnte, konzipiert Friedrich Gulda sein Concerto For
Myself: The new in view (,then old is new). Die Basis für Guldas Inspiration
bildet das klassische Klavierkonzert, in das immer mehr Einflüsse und direkte
wie auch indirekte Zitate aller erdenklichen Musikstile einfließen. Dabei
entsteht allerdings kein bloßes Potpourri aus bekannten Melodien, sondern Gulda
bündelt die Stile und bringt sie elegant in eine funktionierende Großform,
spinnt die wichtigsten Melodien weiter zu wiederkehrenden Themen und lässt
andere als simple Figuration vorübergehen. Spannende Kontraste schafft er durch
das Wechselspiel aus ‚alt‘ und ‚neu‘, nicht zuletzt ‚klassisch‘ und ‚jazzig‘.
Mischa Cheung erweist sich als gewandt in beiden Stilwelten und changiert
geschickt zwischen barockem, klassischem, romantischem und jazzigem Anschlag,
nimmt sogar einiges der Kantigkeit von Guldas eigener Darbietung weg zugunsten
größerer Leichtigkeit. Leider höre ich den E-Bass nicht heraus aus dem
Orchester, diese Stimme scheint im Mastering untergegangen zu sein.
Zwischen Hommage und Persiflage bewegt sich die Symphony
Classique aus der Feder Prokofieffs. Haydn steht hier als deutliches Vorbild
voran, dessen Stilwelt der Russe aufgreift, aber immer wieder durch sanfte
Reibungen und scheinbar unpassende Abweichungen würzt. Später erscheinen auch
gewisse Anklänge an den frühen Tschaikowski. Simakov greift vor allem die
scherzhafte Vitalität dieser Symphonie auf und überzeugt durch sein Gespür für
Mehrstimmigkeit. Insgesamt könnte die Musik etwas ruhiger und somit auch
entspannter geschehen.
Als Hommage an Mozart bezeichnete Poulenc den Mittelsatz
seines Doppelkonzerts für zwei Klaviere, das zu seinen bekanntesten Werken
zählt, und ließ sich spürbar von dessen Klavierkonzert Nr. 20 zu einem Thema
hinreißen, geht aber in der Wirkung mehr auf Ravels Klavierkonzert in G zurück,
dessen Uraufführung Poulenc beiwohnte. Zwar war Poulenc kein tadelloser Pianist
und ließ zahllose technische Pannen zu, dennoch halte ich seine eigene Aufnahme
gemeinsam mit Jacques Février für unübertroffen in Unbekümmertheit und
Feinheit. Yulia Miloslavskaya und Mischa Cheung gehen in wohltuender Distanz an
das Konzert heran, behalten eine durchgehende Spielfreude und Feingliedrigkeit,
klassischen Feinsinn. Faszinierend sind die perfekt synchron abgestimmten Läufe
und die Abgestimmtheit ihres Spiels, so dass kaum zu sagen ist, wer gerade
spielt und wer welche Rolle übernimmt.
Mit ihrem „The
GershWIEN Project“ begeben sich der Klarinettist Markus Adenberger und die
Pianistin Maria Radutu auf eine abenteuerliche Reise durchs 19. und 20.
Jahrhundert. Pendereckis satirische Drei Miniaturen öffnen den Vorhang, bevor
wie zwei jazzige Solokonzerte in Arrangements hören: Gershwins Rhapsodie in
Blue und Artie Shaws Klarinettenkonzert, wo Franz Hofferer als Gast am Drumset dazustößt.
Sarasates Zigeunerweisen und Schumanns Drei Romanzen op. 94 bringen uns in die
Welt der Romantik, bevor Poulenc uns nach Frankreich entführt: von ihm hören
wie zunächst die Hommage à Edith Piaf für Klavier solo und schließlich die
Klarinettensonate FP 184.
Über George Gershwins Aufenthalt in Wien gibt es eine
Anekdote, deren Richtigkeit nicht nachgewiesen wurde: Nachdem er bereits in
Paris Künstler wie Ravel, Prokofieff und Strawinsky getroffen hatte, besuchte
er in Wien Kálmán, Lehár und Berg. Kálmán machte Gershwin die Überraschung,
dass die örtliche Kapelle zum Nachtisch seine Rhapsody in Blue aufspielte, deren
in Europa noch völlig unbekannte Klänge für sie eine gewaltige Herausforderung
darstellten. Zum Dank schenkte der gerührte Gershwin seinem Kollegen den Kugelschreiben,
mit dem er angeblich die Rhapsody geschrieben habe. Dieser Stift verblüffte die
Anwesenden, die so etwas noch nie gesehen haben, denn dieses war der erste
Kugelschreiber in Wien.
So hängt zumindest das hier zu hörende Werk Gershwins mit
der Metropole Wien zusammen, aus der Klarinettist Markus Adenberger stammt. Die
anderen der Titel haben meines Wissens keine Verbindung mit Gershwin oder der
Hauptstadt Österreichs: dafür bieten sie umso mehr Kontraste und lebendige
Musikgestaltung.
Innerlich aufgewühlt, unstet und gewissermaßen sarkastisch
geben sich die Drei Miniaturen von Penderecki, die modernistischsten Stücke
dieser Aufnahme, die zugleich direkt zu Beginn stehen und damit ein Statement
setzen: auch freitonale, dissonante Musik kann ein Programm stilsicher
eröffnen! Dann folgt das titelgebende GershWIEN-Stück, die Rhapsody in Blue, dem
die beiden Musiker eine erstaunlich melancholische Note verleihen. Anstelle der
großstädtischen Aufgeregtheit erhält das Werk hier eine warme, beinahe zärtlich
liebevolle Note, die der Musik durchaus wohltut. Shaws Klarinettenkonzert führt
uns vollends in den Bereich des Jazz, rhythmisch getragen von Franz Hofferer am
Drumset. In diesem Stück kann sich vor allem die Klarinette klanglich
entfalten, mit kleinen Zerrungen und Schleifen arbeiten, dabei einen
vollkernigen Ton in den Raum projizieren; das Klavier errichtet bei Shaw die klangliche
Basis für die Klarinette und sorgt für den nötigen Drive. Noch virtuoser
trumpft die Klarinette bei Sarasate auf, dessen Zigeunerweisen wir hier für das
Blasinstrument arrangiert hören, wodurch der beliebten Zugabe vieles an Schärfe
und Direktheit genommen wird, was Markus Adenberger mit Innigkeit, Lyrik und
Witz füllt. Introvertiert gelingen die Drei Romanzen von Schubert, in denen
Radutu und Adenberger echtes Gefühl voller Wärme kundtun. Unvorstellbar
sensibel gestalten sich die Stücke von Francis Poulenc, die alle Feinheiten und
Nuancen der Klanggebung abverlangen, wofür sie aber auch mit fesselnder Wirkung
und Unmittelbarkeit danken. Maria Radutu und Markus Adenberger nehmen jedes
dieser Stücke für sich und gehen auf die individuellen Anforderungen an Klang
und Gefühl ein, folgen je der Musik und erzielen so unverfälschte und reine
Darstellungen all dieser verschiedenartigen Stilwelten.
Der Livemitschnitt der Uraufführung von Wolfgang Rihms Requiem-Strophen mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung des vorgestern verstorbenen Mariss Jansons erschien dieses Jahr bei NEOS. Solisten sind Mojca Erdmann, Anna Prohaska und Hanno Müller-Brachmann.
Wolfgang Rihm zählte schon immer zu den mutigen Komponisten,
zu denjenigen, die sich nicht in einer Stilrichtung verlieren oder sich für
stumpfen Modernismus selbst beschränken. Tradition und Novität stehen insofern
gleichberechtigt nebeneinander. Das erkennen wir auch in den 2015/2016
komponierten Requiem-Strophen für Soli, gemischten Chor und Orchester, deren
Uraufführung aufgenommen und nun bei NEOS veröffentlicht wurde. Allein die
Textauswahl lässt aufhorchen, denn Rihm bezieht Verse von Rilke, Michelangelo,
Bobrowski und Sahl in die traditionelle Missa mit ein und verschmelzt die
geistlichen und weltlichen Sphären. In diesem Vorgehen stehen die
Requiem-Strophen (benannt nach dem letzten der verwendeten Texte von Sahl)
jedoch nicht allein: bereits im Kindesalter erlebte Rihm Orchestermusik für den
Kirchengebrauch als Öffnung bis Entgleisung im positiven Sinne und schrieb (beginnend
1984 mit ‚Dies‘) selbst mehrere sakrale Werke mit weltlichen Bezügen.
Musikalisch begehren die Requiem-Strophen
überraschenderweise überhaupt nicht auf, anders als in den meisten Requien hält
sich sogar das Dies Irae zurück. Damit sucht Rihm die bewusste Nähe zu Faurés
Requiem, das er nach eigenen Angaben besonders schätzt. Die Reflexion des
Menschen an sich ist es, die im Zentrum dieser Komposition steht, und nicht die
apokalyptische Vorstellung des jüngsten Gerichts. Schmerz, Trauer und
Melancholie werden seziert und psychologisch durchexerziert, bevor sie in die
Musik einfließen.
All dies bringt Rihm in einem frei fließenden Klangstrom
ohne tonale Bindung zum Tönen, was Nachdenklichkeit, Unsicherheit und gewisse
innere Furcht evoziert, ganz ohne den äußeren Schrecken zu betonen. Kontraste
schafft der Komponist in erster Linie durch Orchestrierung und geschickten
Wechsel der Gesangspartien mit rein instrumentalen Passagen. Dennoch verliert
der Hörer schnell den Halt und wird fortgetragen von den freitonalen Ergüssen,
ohne sich der Formgestaltung unmittelbar bewusst zu werden: vielleicht liegt
dies daran, dass kaum wiederkehrende Motive ins Ohr gehen; vielleicht aber auch
daran, dass das Ohr nie durch klare harmonische Abphrasierungen (Kadenzen) zur
Ruhe kommt, sondern immer weiter beansprucht wird – wie in einem Satz mit 200
Wörtern ohne Punkt und Komma. Dies betrifft aber nicht allein die Musik Rihms,
sondern stellt sich allgemein als Problematik Neuer Musik dar, die ohne
konventionelle Harmonik und deren Gesetzmäßigkeiten der Spannung und Entspannung
arbeitet. Ich bin gespannt darauf, welche Lösungsansätze die nahe Zukunft
bringt und welche tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führen.
Aufs Ganze gesehen gelingt es Rihm, eine Grundspannung
aufrechtzuerhalten und zu einem schlüssigen Ende zu gelangen, welches das
80-minütige Werk in gewisser Einheit erstrahlen lässt, verbunden durch die
zwingende Stimmung der Musik und die stilistische Einzigartigkeit des
Komponisten.
Gerade in Anbetracht der bekanntlich kurzen Probenzeit der
Musica-Viva-Konzerte ist erstaunlich, was Mariss Jansons in dieser Liveaufnahme
der Uraufführung von 2017 auf die Bühne bringt. Man bedenke allein die
hochkomplexen vierstimmigen Chorsätze, die in faszinierender Ausgewogenheit
erklingen und die nur schwer fasslichen Linien des Orchesters, dessen Harmonien
in stetiger Mehrdeutigkeit schweben und eine potentielle Auflösung suchen.
Gewollten Dissenz hören wir in den beiden nie allein auftretenden Sopranpartien
gesungen von Mojca Erdmann und Anna Prohaska, die gegeneinander ausgespielt
werden und so der Rolle des traditionellen Sopran-Solos hämen. Umso prominenter
erscheint der Solo-Bariton Hanno Müller-Brachmann, der mit gleich drei großen
Partien betraut wird und diesen in inniger Ergriffenheit und mit klar
markiertem Timbre Leben einhaucht. Das Orchester strotzt vor Perfektion, die jedoch
stellenweise steril wirkt und den Hörer nicht mit einbezieht, dafür aber jedes
noch so kleine Detail aus der Partitur ans Licht zaubert und ihm den exakten
Stellenwert beschert.