Romain Nosbaum im Gespräch über seine neue CD „Saudades“
Zeit zu haben ist für den luxemburgischen Pianisten Romain Nosbaum die wichtigste Ressource, um künstlerisch aufzutanken, sich in neue Projekte hinein zu versenken, die Essenz reifen zu lassen. Die Idee für seine aktuelle CD kam ihm im letzten Jahr, als die kalte, dunkle Jahreszeit herauf zog. Spanien und Südamerika standen als aktuelles musikalisches Reiseziel auf der Agenda. Das Programm beginnt mit einer sehnsuchtsvollen Fantasiereise aus Enrique Granados „Goyescas“, in denen Francisco de Goyas tiefgründige Bilder ihren Widerhall finden. Darauf folgen Musikstücke von spanischen und brasilianischen Komponisten. Sie verdichten einen Zustand, für den es in der portugiesischen Sprache das Wort „saudades“ gibt. Das ist ein sehr universelles Wort, es steht für Fernweh, Sehnsucht, Liebe, Freude, Trauer. Vielleicht alles zugleich. In unserer nordisch-westlichen, rationalisierten Welt gibt es dieses Wort nicht – wen wundert es!?
Das Interview führte Stefan Pieper
Was war die Initialzündung zu diesem spanisch-südamerikanischen Projekt?
Die kam eher zufällig etwa vor einem Jahr. Draußen war es kalt und ich hörte solche Musik. Ich spürte, so etwas will ich jetzt selber machen. Da fließen viele persönliche Erlebnisse mit ein. Ich war ja selbst viel im Süden, vor allem in Brasilien und habe dort viel Zeit in kleinen Läden mit Livemusik verbracht und war immer fasziniert. Da gibt es so viel Musik, die hier niemand kennt. Also nahm ich mir Zeit, dies näher zu erforschen. Hinzu kommt, dass ich lange mit einer Person zusammen war, die aus Brasilien kommt. Das alles hat mich schon stark geprägt. Ich bin viel gereist, war vor allem an der Küste unterwegs. Man kann dort so viel unmittelbare Emotion spüren. Das ist alles ohne Filter dort und kommt wirklich von Herzen! Die Mentalität ist sehr direkt und die Menschen überlegen nicht dreimal, bevor sie etwas sagen.
Gibt es einen Unterschied zwischen den großen Städten und dem kulturellen Leben auf dem Land?
Ich war ja viel in den Küstenregionen. Das Leben ist dort schon anders als in den Städten. Die echte, authentische Musik kommt vor allem von dort her, was ich gerade in den vielen Cafés immer neu erlebt habe. Es ist so faszinierend – diese Stimmen, dieses Rhythmusgefühl!
Die Kompositionen auf der CD sind natürlich in erster Linie raffinierte Kunstmusik. Wie widerspiegelt sich in der Dramaturgie die populäre Musik?
Das Programm ist so aufgebaut, dass es mit den „klassischsten“ Werken beginnt. Die beiden Stücke von Enrique Granados zum Beispiel sind noch sehr „klassisch“ geschrieben mit viel Polyphonie. Nach und nach geht es aber in immer populärere Richtungen, nachher dann etwa mit Ernesto Lecuonas Danzas Cubanas, dann zum Schluss Marlos Nobres Stück „Frevo“. Sehr populär ist auch Luisa Sobras „Amarpelos dois“. Man kann schon sagen, dass die südeuropäische Musik schon viel klassischer verwurzelt ist, als etwas die cubanischen Stücke.
Wie sind Sie auf die Stücke gestoßen?
Ich habe einige meiner besten Musikerfreunde kontaktiert – vor allem einen in Brasilien. Der kennt viele Werke und hat mir Vorschlüge gemacht. Es gibt schon viele tolle Sachen für Klavier. Nicht alles ist unbedingt sehr pianistisch, aber es klingt immer gut. Es lohnt sich außerordentlich, vor Ort die Bibliotheken zu durchstöbern. Es gibt mittlerweile auch gute online-Dokumentationen.
Aber es finden sich ja auch viele moderne Farben in den Stücken.
Das stimmt. Es ist alles sehr unmittelbar aufeinander bezogen und berührt sich. Das merkt man vor allem bei der Sonatina von Carlos Guastavino. Da klingt so manches typisch romantisch, fast französisch, so dass es von Debussy oder Ravel sein könnte mit Rhythmen, die südländisch wirken. Guastavino ist hier sicherlich von Debussy und Ravel inspiriert worden.
Umgekehrt hat sich Debussy ja auch mächtig bei solchen Einflüssen bedient!
Natürlich. Die Habanera ist ja so ein typisches Beispiel.
War es Ihnen wichtig, diese enge Verbindung zwischen Musikstilen, Kulturen und auch Emotionen darzustellen?
Auf jeden Fall. Deswegen kam ich ja auch auf das portugiesische Wort „Saudades“. Dieses Wort fasst so vieles zusammen. Es liegt so viel unendliches darin: Melancholie, Sehnsucht, Liebe.
Hatten Sie als erstes dieses Wort im Sinn und haben daraufhin erst die Musik ausgesucht oder stand „Saudades“ hinterher als Fazit im Raum?
Eher ist letzteres der Fall. Ich hatte erst Musik im Sinn, die ich gerne spielen wollte. Am Anfang standen die Goyescas von Enrique Grandados. Alles weitere hat sich daraus ergeben. Schnell wurde eine große Einheit daraus – und die hat viel mit Seele zu tun. Das Wort „Saudades“ ergab sich dann als verbindende Assoziation, als großer gemeinsamer Nenner. Ich habe das dann einfach so stehen gelassen, weil es passte.
Es ist doch bezeichnend, dass es dieses Wort in keinen Übersetzungen gibt. Was ist an diesem Wort spezifisch für die portugiesisch/brasilianische Kultur?
Das Wort ist sehr undefinierbar, sogar in der Sprache selbst. Es heißt alles mögliche: Das Verlangen nach einer Person oder die Sehnsucht nach einem Land, Fernweh also. Das alles kommt in jedem Stück vor. Ebenso liegen Melancholie und Tristesse und andererseits auch Freude stark beieinander.
In unserer westeuropäischen Mentalität ist ja alles rationaler und schablonenhafter. Alles hat seine Schublade, es gibt ein ausgeprägtes entweder/oder. Was für eine andere Mentalität haben Sie in Südamerika entdeckt?
Vor allem dieser Wechsel und diese Gleichzeitigkeit von Gefühlen: Man kommt ganz schnell von einem Sentiment ins andere. Jemand ärgert sich drei Minuten lang aufs heftigste und ist danach wieder weg. Genauso verhält es sich auch in dieser Musik.
Was war Ihnen beim Spiel besonders wichtig, um diese Gemengelage abzubilden?
Es geht vor allem darum, die ideale Balance zu finden. Es ist wichtig, diese Stücke bloß nicht zu süßlich überzuckert zu spielen.
Würden Sie sagen, einige Stücke füllen diskografische Lücken?
So direkt neu weiß ich nicht. Ich höre auch gar nicht so viele andere Interpretationen vorher, weil ich gerne eine eigene Idee selber verwirkliche. Einige Stücke sind noch nie aufgenommen worden. Wiederum andere sind natürlich sehr bekannt – das berühmteste dürfte wohl Asturias von Isaac Albeniz sein.
Sie arbeiten hier ja einen echt perkussiven Gestus heraus. Wie haben Sie diese Technik entwickelt?
Ursprünglich ist dieses Stück ja für Gitarre geschrieben. Hier wird immer eine Note repetiert und alterniert. Als Gitarrist kann man hier nicht viel falsch machen, wenn man die Saiten zupft. Es war fast eine Art Obsession, einen vergleichbaren Effekt aus dem Klavier heraus zu kitzeln. Es bot sich hier an, auch mal eine Prise Scarlatti einzubringen. Es sollte wie ein Perpetuum mobile sein und im guten Sinne „auf den Wecker gehen“.
Möchten Sie neben dem persönlichen Erfahrungsgewinn auch dem Publikum etwas Neues vermitteln?
Auf jeden Fall! Ich freue mich, dass es im deutschsprachigen Raum noch so vieles vermitteln gibt. Im französischen Raum, der mir als Luxemburger natürlich auch sehr nah ist, gibt es einen größeren Bezug zum Spanischen. Aber ich glaube nicht, dass zum Beispiel Wiener üblicherweise Konzerte mit solchem Repertoire erleben und auch in Luxemburg betrete ich mit diesem Repertoire immer noch Neuland. Ich habe es kürzlich in der Philharmonie aufgeführt und dass war eine ganz neue, starke Erfahrung für mich: Ich war wirklich erstaunt, allein, weil ich ganz viele neue Menschen hier im Publikum gesehen habe – weit jenseits vom „normalen“ gediegenen luxemburgischen Bildungsbürgertum. Plötzlich waren ganz viele Portugiesen und auch Kapverdianer im Publikum.
Gibt es einen kulturellen Patriotismus, der in die Konzertsäle lockt? Erlebnisse mit brasilianischen Musikern, die auch in Deutschland ihr „eigenes“ Publikum haben, bestärken diesen Eindruck. Wenn berühmte Musiker aus der heimischen Kultur spielen, scheint sich dies wie ein Lauffeuer herumzusprechen.
Ich weiß, was Sie meinen. Es gibt diese Legenden, etwa Caetano Veloso oder Mariza. Einen solchen Effekt spüre ich auch, wenn ich brasilianische Musik aufführe. Ich habe mit vielen Brasilianern nach dem Konzert gesprochen, die waren unglaublich glücklich und dankbar, dass sie „mal für eine Stunde zuhause“ waren, wie mir gesagt wurde. Die Leute fühlen sich geehrt, dass man in einem kalten Land weit weg deren eigene Musik spielt. So eine Rückmeldung gibt mir eine ganz neue Energie, die ich bei Klassikprogrammen zuweilen vermisse. Ich wusste, da sitzen Leute, die haben eine riesige Lust, das zu hören. Das war wirkte unmittelbarer als beim normalen kritischen Konzertpublikum, das meist auf die Interpretation eines bekannten Werkes achtet. Mein neues Programm steht für einen sehr unmittelbaren Zugang, wo die Musik ohne Umwege zu den Menschen kommt. Der Abend in der Luxemburger Philharmonie war ein echtes Erweckungserlebnis. Viele Menschen, die noch nie in der Philharmonie waren, hatten neue Erlebnisse und Vorurteile abgebaut.
Fühlen Sie sich wie auf einer Mission bei so etwas?
Ich mache vor allem, was ich gerne mache. Ich kann nicht etwas machen, bei dem ich mich nicht wohlfühle. Es muss eine richtige Idee dahinter sein.Wenn ich südamerikanische Musik aufnehme, ist das integrale, übergreifende Programm sehr wichtig. Die große Idee geht über das einzelne einstudierte Werk weit hinaus. Deswegen habe ich auf Konzerten auch schon mal alles in einem Durchgang ohne Pausen gespielt. Denn, wenn ein Konzert zu viel in Zwischenapplaus zerfällt, geht viel von der Magie verloren, die möglich wäre.
Was machen Sie anders als viele Ihrer Kollegen?
Viele junge Musiker von heute lassen sich nur auf Leistung trimmen- das hat mich noch nie interessiert. Ich hatte einst gar nicht so sehr die große Karriere im Visier, sondern habe Klavier studiert, um zu unterrichten. Wettbewerbe haben mich auch nicht interessiert. Aber ich bekam immer mehr Lust am Spielen. Der Wunsch, aufzutreten, nahm langsam, aber sicher Gestalt an. Alles passierte ohne jeden Druck. Vielleicht ist dies meine tiefe Weisheit. Vor allem möchte ich etwas mit Menschen teilen. Es geht doch nicht ums eitle Imponieren, stattdessen birgt Musik doch die große Chance, eine Gemeinsamkeit mit anderen zu Menschen finden. Musik soll doch ehrlich sein und Wahrheit, aber auch Schönheit transportieren.
Ich höre bei allem heraus, dass Sie sehr gern der Sache auf den Grund gehen. Wie hat sich diese Haltung bei Ihnen entwickelt?
Ich brauche relativ lange, bis ich Sachen fühle. Dass ich den Weg finde und erkenne, was ich machen will. Was ich hier auf der CD vorliege ist im Vergleich etwa zu Mozart oder Bach eine sehr freie, imaginative Musik. Es ist wichtig, hier erst mal mit allen Sinnen hinein zu finden. Viele andere Pianisten sind oft sehr ungeduldig oft. Ich will mir aber möglichst viel Zeit nehmen, um die die Stücke ausgiebig zu lernen. Das beinhaltet auch, dass ich aus Prinzip immer auswendig spiele. Ich bin ein sehr intuitiver Mensch. Aber ich bin auch sehr rational in meinen Gefühlen. Ich lasse es gehen, aber ich weiß auch, wie ich es gehen lasse. Und dabei eine Idee finde, das große Ganze wieder zu bündeln. Also die Affekte in einer Musik zu bündeln wie die Gefühle in diesem Wort. Musik ohne Spannung lebt nicht.
Sind die Lebensbedingungen für Musiker in Luxemburg besser?
Wir sind schon unter einem gewissen Druck, kenne ein paar Musiker. Aber Kulturschaffende bekommen viel finanzielle Unterstützung. Das ist absolut genial bei uns. Da haben wir haben ein Riesenglück. Trotzdem haben wir starke Konkurrenz, vor allem, weil hier alles so lokal ist. Aber ich halte mich auch manchmal fern davon, das hilft mir, meinen eigenen Weg zu machen. Trotz aller Gelassenheit bin ich auch sehr diszipliniert und verlange viel von mir. Manchmal brauche ich auch Distanz, um die Musik immer aufs neue frisch anzugehen. Das beinhaltet auch Alltagsrituale: Abends mache ich den Klavierdeckel zu und höre dann sehr gerne Jazz.