Archiv für den Monat: September 2019

Diese Kammermusik ist dreidimensional!

Nathanael Carré geht seinen eigenen Weg, wenn er seine Lieblingstücke für das Ensemble Nuanz neu arrangiert

Der Flötist Nathanael Carré holt unverbrauchtes, seltenes Repertoire aus der Versenkung und taucht scheinbar bekanntes in leuchtende Farben eines virtuosen Neuarrangements. So hat er aus den Klavierparts der Kompositionen von Gabriel Fauré, Jean Francaix, Jacques Ibert, aber auch selten gespielten Stücken von Georges Hüe, Paul Taffanel, André Jolivet oder Francois Borne etwas neues gemacht, nämlich kunstvoll differenzierte Orchestrierungen für das hellhörig aufspielende, von ihm im Jahr 2015 gegründete Ensemble Nuanz. Vereint sind hier die beiden Geiger Evgeny Popov und Alexander Jussow, Jan Melichar und Robin Porta an den Violen, der Cellist Jan Pas sowie Stefan Koch-Roos am Kontrabass.

Carrés profunden Erfahrungen als Orchestermusiker und Dirigent ist zu verdanken, dass er die einstigen Klavierparts in wirkungsvolle orchestrale Dimensionen hinein ausgeweitet hat. Alleinstellungsmerkmale finden, Klischeevorstellungen konterkarieren: Das ist die Devise des jungen Franzosen, der gerne mal das Spezialistentum von Wettbewerbsjurys fröhlich ignoriert und sich stattdessen über Crowdfunding-Kampagnen des Publikumserfolges und über seine Unabhängigkeit versichert. Auch über eine aufgeklärte künstlerische Haltung sprach er mit Stefan Pieper.

Herr Carré, Sie haben gerade ein sehr ungewöhnliches Video veröffentlicht. Sie öffnen Ihren Flötenkoffer und entnehmen ihm Farbe und Pinsel, beginnen zu malen. Welche Farben wollen Sie mit dem Repertoire dieser CD kreieren?

Das Ziel war, zu zeigen, dass die Palette französischer Musik viel breiter als Debussy und Ravel ist. Hier gibt es doch so viele Klischees, die dringend überwunden werden müssen. Ich musste sogar die Erfahrung machen, dass selbst manche Wettbewerbsjury von Klischees dominiert ist: Als ich dort mal die Sonate von Poulenc spielte, wurde mein Spiel abqualifiziert, der dritte Satz höre sich „unschön“ und wie Straßenmusik an. Aber genau darum geht es doch hier! Nicht alles, was aus Frankreich kommt, klingt wie Daphne oder Syrinx. Viele Menschen glauben, französische Musik ist wie Chanel Nr 5. Georges Hüe kennt doch auch kaum jemand, aber es ist eine berückende Musik. Oder betrachten wir André Jolivets „Fantaisie Caprice“ – dieses Stück baut auf einer modalen Skala auf, die von der balinesischen und afrikanischen Musik dominiert ist.

Sämtliche Stücke der neuen CD sind im Original bzw. ihrer Ursprungsversion für Soloflöte und Klavier geschrieben. Was für neue Aspekte wollen Sie aus den Kompositionen heraus holen, wenn Sie sie einem Streichensemble auf den Leib geschrieben haben?

Ich wollte den Rahmen ausweiten. Sechs Streichinstrumente erzeugen viel mehr Dynamik. Entsprechend entfaltet sich das Stimmengeflecht der Kompositionen noch weiter. Außerdem wird das Gefüge reicher, weil auf einmal sechs Menschen ihre ganze Sichtweise in die Sache einbringen.  Alles wird transparenter und damit einfacher, die Musik als Ganzes zu verstehen. Die Linien werden weiter ausdifferenziert. Jeder kann musikalisch seine Phrase gestalten und ein größeres Ganzes kreieren, wo jede Stimme ihre Kraft hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau, die mich zur Verwirklichung der Idee dieses französische Repertoire neu zu arrangieren ermutigt hat!

Herr Carré, kann es sein, dass Sie in der schnöden Konnotation des Klavierparts als Begleitung eine Diskriminierung sehen?

Musik wird erst lebendig, wenn man aus einer rigiden Rolle heraustritt. Wenn ich verantwortungsvoll musiziere, dann fokussiere ich mich ja auch nicht auf meine eigene Solostimme, sondern konzentriere mich vor allem auf meinen Gegenpart. Schon meine Mutter, bei der ich die ersten musikalischen Gehversuche machte, hat mich immer aufgefordert, bei Lernen eines Stückes auf den Klavierpart zu hören. Wer dieses Prinzip wirklich ernst nimmt, kann viel tiefer in die Musik eintauchen. Umso mehr wird das Ganze erfahrbar und es gelingt, den Sinn des Komponisten weiterleben und sprechen zu lassen.

Also ist Musizieren für Sie vor allem eine Kunst des Zuhörens?

Ich möchte mit meiner Energie und Persönlichkeit alles entfalten, was in der Musik enthalten ist. Musizieren hat immer etwas mit höchster Aufmerksamkeit zu tun und ist ein Spiel mit der Energie der anderen Musikern und des Publikums. So kann jedes Konzert einzigartig werden. Durch diese Symbiose können tiefe Emotionen erreicht werden.

Wie wird Ihr eigenes Spiel durch die erweiterte Besetzung beeinflusst? Was ist anders, als wenn Sie mit einem Klavier zusammen musizieren?

Diese Neuarrangements sind eine sehr komplexe Kammermusik geworden. Jede Stimme ist anders. Es gibt keine Wiederholungen. Ebenso muss ich kräftiger spielen, wenn ich sechs Instrumenten gegenüber stehe. Außerdem muss ich dirigieren phasenweise. So etwas braucht im Konzert deutlich mehr Energie. Meine Aufmerksamkeit ist überall gefordert. Diese Kammermusik ist dreidimensional.

Der Klassikmarkt ist übersättigt mit viel Standard-Repertoire, das sich wiederholt. Wenn Sie hier etwas neues anbieten, ist es schwer, sich damit öffentlich durchzusetzen?

Ich habe mich immer sehr frei gefühlt und es geht mir einfach nur darum, etwas Gutes und Interessantes anzubieten. Es muss nicht unbedingt bekannt sein dafür. Für meine Debüt-CD habe ich zum Glück ein Label gefunden, dass sehr offen für ungewöhnliche, zugleich hochqualitative Projekte ist. Das Publikum war bisher sehr begeistert. Warum soll ich etwas aufnehmen, was schon viele andere aufgenommen haben? Wenn es um Standardrepertoire geht, kaufen die Leute doch von vornherein die Einspielung mit dem prominenteren Namen. Da konzentriere ich mich lieber auf eigene Projekte, die mir Spaß machen und finde meine eigene Richtung. Nur so kann ich eine echte künstlerische Persönlichkeit entwickeln. Dieses Projekt liegt mir auch besonders am Herzen, und ich wollte davon eine Spur in der Musikwelt hinterlassen.

Es wird ja überall getönt, dass die CD tot ist. Warum produzieren Sie und alle Ihre Kollegen weiterhin so viele CDs?

Allein, weil es ohne CD schwer ist, Konzerte zu bekommen. Man muss einfach eine CD machen! Sie ist und bleibt ein Türöffner.

Welche Rolle haben Wettbewerbe für Ihre Karriere gespielt?

Als Student hatte ich den Wunsch, internationale Wettbewerbe zu machen. Sie werden als einfache Autobahn zum Erfolg angesehen. Wer einen Wettbewerb gewinnt, bekommt ein paar Konzerte und kann oft kostenlos eine CD aufnehmen. Ich selbst bin aber kein Wettbewerbstyp – mein Profil deckte oft nicht die Vorlieben der ganzen Jury ab. Deswegen musste ich einen anderen Weg finden: So habe ich eine Stelle im Orchester bekommen und mich weiter als Künstler entwickelt. Das hat meine Kreativität und Unabhängigkeit gestärkt.

Sie gehen aktuell einen sehr modernen Weg, um sich über Crowdfunding ein Feedback über den eigenen Publikumserfolg einzuholen. Wie kam es dazu?

Das hatte erstmal rein praktische Gründe. Für dieses Projekt brauchte ich eine finanzielle Unterstützung. Es ist auch eine interessante Möglichkeit, das Interesse an meinem Projekt zu prüfen – obwohl ich schon sehr sicher über den Wert meiner Arbeit war. Aber ich bin sehr dankbar, dass mich so viele Leute übers Netz und darüber hinaus privat unterstützt haben.

Das Grundprinzip ist ja einfach: Es geht darum, Menschen zu überzeugen. Keine Spezialisten-Jury, sondern ein Publikum.

Ich habe mich immer um eine gute Vernetzung mit vielen Menschen bemüht. Und gerade, weil ein  Crowdfunding viel Netzöffentlichkeit herstellt, ist es ein guter Weg, an mehr junges Publikum heran zu kommen. Das Prinzip einer solchen Präsentation ist es, ein konkretes „Produkt“ anzubieten und dafür Begeisterung zu wecken. Natürlich ist es wichtig, mit künstlerischer Qualität zu begeistern und nicht mit kommerzielle Methoden.

Was muss ein gutes Produkt ausmachen?

Wir leben in einer Zeit, in der neue Erfahrungen wichtig sind. In jeder Werbung werden diese „neuen Erfahrungen“ ja auch versprochen. Man muss aber zugleich etwas hervor bringen, was qualitativ hervorragend ist. Das ist dringend nötig, um der klassischen Musik ein neues Publikum zu bringen. Ich begegne immer wieder Menschen, die keinen speziellen Bezug zur Musik haben, aber doch sehr neugierig sind. Es geht darum, auch den Nicht-Spezialisten etwas zu bieten, was deren Erwartungen übertrifft.

Welche persönlichen Ideale verbergen sich dahinter?

Es gibt in unserer Gesellschaft viele menschliche und geistige Einsamkeit. Die Musik, live erlebt, hat die Kapazität, Menschen zu sammeln und in eine andere Sphäre zu bringen. Eine Sphäre, die weit von Materialismus und menschlichen Sorgen entfernt ist. Jeder Mensch hat das tiefe Bedürfnis, etwas mit anderen Menschen zu erleben und teilzunehmen. 

Was ist Ihr Zukunftsplan?

Die Arbeit mit größeren Kammerensembles, aber auch Orchestern fasziniert mich sehr. Deswegen  studiere ich aktuell auch das Dirigieren. Vor allem möchte ich jetzt mit meinem Ensemble Nuanz und diesem Programm und später mit anderem Repertoire möglichst viele Konzerte spielen. Ich wünsche mir, dass ein breites Publikum diese wunderbare Musik erleben kann!

CD:  Palette; Nathanae Carré, Ensebmle Nuanz – ARS Produktion 2019

Interview geführt von Stefan Pieper, September 2019

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Belzebub mit E-Gitarre

ex oriente – Music by George Ivanovitch Gurdjieff; Gunter Herbig : Electric Guitar

BIS 2435, EAN: 7 318590 024355

Gurdjieff? War das nicht der Verrückte, der… und Musik hat der auch noch geschrieben?

Doch, das stimmt, auch wenn er dafür einen richtigen Komponisten: Thomas de Hartmann (1885-1956) gebraucht hat, der die Melodien, die Gurdjieff auf einer Gitarre gespielt oder ihm vorgesungen hat, in Noten aufschreiben und somit auch für andere verfügbar machen konnte. Dass dieser Prozess hin und wieder auch – wegen der Schnelligkeit Gurdjieff’scher Einfälle – chaotisch ablief, kann man im Booklet nachlesen, auch wie Gunter Herbig auf die E-Gitarre kam. Von ihm sind ja bei Naxos in den letzten Jahren zwei herausragende CDs mit der Klassischen Gitarre erschienen, eine absolute Ausnahme im Naxos’schen Gitarrenrepertoire. Aber diese neue CD ist darüber hinaus auch eine Art „Ehrenrettung“ für das sonst bei „Klassikern“ so verpönte elektrische  Instrument.

Was Gunter Herbig nämlich da an Musik entstehen lässt, an Klangreichtum und an Melodien, ist einfach ungewöhnlich. Und lässt diese Musik – urspünglich für Klavier bei Schott in vier Bänden erschienen, und von manchen Musikern eingespielt wie z.B. Keith Jarrett – nicht nur in einem völlig neuen Licht, besser Klang, erscheinen. Wie Herbig diese Kompositionen verwirklicht, ist faszinierend wie bei seinen beiden Klassik-CDs. Er lässt sich und der Musik nämlich die Zeit, sich zu entfalten, hat ein untrügliches Gefühl für den Auf- und Abbau der Melodien, den Klangraum, den diese Gebilde benötigen, und das alles in völliger Gelassenheit und dennoch spannend vom ersten bis zum letzten Ton.

Ein völlig neuer Zugang zu einer Musik, die natürlich so geheimnisvoll ist wie ihr Schöpfer selber. Was wiederum sehr anregend auf jeden wirken kann, der sich damit befasst, und dafür ist diese neue CD von Gunter Herbig der ideale Einstieg.

[Ulrich Hermann, September 2019]

Wiederentdeckung eines Unterschätzten

KAROL SZYMANOWSKI (1882-1937): Klavierwerke: Préludes op. 1, sämtliche Etüden (opp. 4 & 33), Masken op. 33, Andrea Vivanet

Naxos  8.551401; EAN 730099140133

Schon die ersten Préludes Opus 1 lassen aufhorchen: Da spielt einer nicht nur phänomenal Klavier, nein, er erweckt diese Musik des zwischen Chopin und der Moderne eingespannten, im Westen noch immer nicht so recht gewürdigten großen polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937) zu einem Leben, das unüberhörbar aufzeigt, was für ein Schatz da zu heben ist.

Rhythmisch, harmonisch, melodisch, klanglich, keine Dimension bleibt unerfüllt bei dieser Musik. Als Nachfolge Chopins ist das ebenso zu erleben wie als Zeitgenosse der Moderne eines Debussy, Bartók oder Strawinsky, jedoch mit ganz eigener, überreicher Klang- und Musiksprache.

Dabei sah Szymanowski sich selbst – wie im sehr informativen Booklettext von Norbert Florian Schuck nachzulesen ist – als nicht gerade übermässig virtuosen Pianisten, war aber mit so vielen weltberühmten und erfolgreichen Musikern wie beispielsweise Fitelberg, Artur Rubinstein oder Artur Rodzinski befreundet, dass er seiner musikalischen Fantasie auch im Virtuosen immer freien Lauf lassen konnte.

Zunächst war Szymanowski ein Exponent des hemmungslos blühenden musikalischen Jugendstils der 1910er Jahre, wie man hier in den grandiosen drei ‚Masken‘ von 1915-16 mit ihren herrlichen Orientalismen hören kann. Doch dann lehnte er, der die Geisteswelt des Orient so sehr liebte, eine Berufung ans Konservatorium in Kairo ab, denn er meinte, seiner Heimat dienen zu müssen. Man hat es ihm zu Lebzeiten nicht gedankt, und erst posthum entdeckten die Polen ihre Liebe zu ihm. Als wiederholter Direktor des Warschauer Konservatoriums kam er zwangsläufig in Konflikte mit seinen konservativen Mitarbeitern; er gab diese Stellung resigniert wieder auf, noch dazu quälte ihn seine Tuberkulose, der er 1937 in Lausanne erlag.

Andrea Vivanet spielt diese Musik mit exorbitanter Beherrschung aller Feinheiten, einem äußerst wandlungsfähigen, stets wunderbaren Ton, einer unwiderstehlich leidenschaftlichen Liebe ohne exzessive Entgleisungen, und durchdringt auch die komplexesten Harmonien an den Grenzen der Tonalität mit klar strukturierendem Sinn und macht so das Hören dieser Kompositionen zu einem erlesenen und auf alles Weitere von Szymanowski neugierig machenden Erlebnis. Wahrscheinlich hat in den letzten Jahrzehnten diese Werke keiner so meisterhaft vorgetragen. So gespielt, gehört Szymanowski nachhaltig in den Pianistenolymp und die ‚Gefahr‘, dass Vivanet Nachahmer findet, ist erfreulich groß. Auch der Aufnahmeklang ist ausgezeichnet, so dass ich diese Scheibe nur rundum uneingeschränkt empfehlen kann.

[Ulrich Hermann, September 2019]

Tief erspürt, intuitiv und klar

Naxos, 8.551401; EAN: 7 30099 14013 3

Der aus Italien stammende und in Frankreich lebende Pianist Andrea Vivanet präsentiert Werke von Karol Szymanowski. Auf dem Programm stehen fünf der neun Préludes op. 1, die Études op. 4 und die Études op. 33 sowie abschließend die Masques op. 34.

„Wie im Fieber blätterten wir die Noten durch – entdeckten wir doch hier einen bedeutenden polnischen Komponisten!“ So rief der Pianist Artur Rubinstein aus, als er erstmals die Préludes Szymanowskis, sein erstes mit Opuszahl versehenes Werk, zu lesen und spielen bekam. Obgleich Szymanowski selbst nie eine Laufbahn als Virtuose einschlagen wollte, verfolgte ihn das Klavier durch sein gesamtes Werkschaffen; und später musste es aus finanziellen Gründen notgedrungen auf das Konzertieren zurückgreifen. Seine eigenen klaviertechnischen Einschränkungen hielten ihn nicht davon ab, den darbietenden Künstlern seiner Werke enorme Schwierigkeiten abzuverlangen: Gab es, neben namhaften Freunden wie Rubinstein, schließlich auch Pianisten in seiner Verwandtschaft, so unter anderem Felix Blumenfeld und weiter entfernt Natalia und Heinrich Neuhaus.

Die neun Préludes op. 1 sind auf die Jahre 1899 und 1900 datiert, auch wenn einige von ihnen sicherlich schon früher entstanden. Sie, wie die 1903/04 entstandenen vier Etüden op. 4, verfolgen einen lyrischen und weichen Stil, immer wieder gewürzt durch rhythmische Divergenzen und zarte Dissonanzen. Popularität erlangte die dritte der Etüden, bei welcher die fingertechnischen Hürden im Hintergrund stehen zugunsten eines hinreißenden Themas und großer Sanglichkeit. Ein ganz anderes Bild geben die späteren Masques op. 34 und die kurz darauf fertiggestellten Etüden op. 33: Hier experimentiert Szymanowski damit, harsche Dissonanzen nicht regelkonform aufzulösen, sondern in neue instabile Klänge weiterzuführen, wodurch die Musik einen schwebenden Zustand erreicht. Die Masques beziehen sich auf drei Gestalten der Weltliteratur, Shéhérazade, Tantris (Tristan) und Don Juan (den er ursprünglich italienisch Don Giovanni bezeichnen wollte), und bringen fantasievolle Seelenlandschaften hervor. Die einzelnen Episoden überlappen sich regelmäßig und in immer neuen Formationen, was eine stete Spannung evoziert. Walter Georgii rühmte die Masques: „Seit Debussy ist kein so persönlicher Klavierstil mehr gefunden worden.“ Die Etüden op. 33 verfolgen ebenso den freien und unaufgelösten Stil; jede für sich ist von miniaturistischer Dauer, doch gehören sie untrennbar und mit „attaca“ verbunden zusammen, wodurch sie einen umfassenden Eindruck bilden.

Das Spiel Andrea Vivanets zeichnet sich aus durch Lebendigkeit und Organik. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat dies besonders auf die späteren Werke in ihren nahezu undurchdringlichen Harmonien und ihrer Sprunghaftigkeit. Während die meisten Pianisten verständnislos vor den nur noch subtil auftretenden Bezügen zwischen den Episoden stehen (vor allem in harmonischer Hinsicht), gelingt es Vivanets Temperament, die Teile zusammenzuhalten und schlüssig von einem in den anderen überzugehen. Kleine Reminiszenzen hebt Vivanet hervor, um das Verständnis beim Hören zu stärken. Die grellen Harmonien kostet er aus und genießt die Reibungen zwischen den Tönen: so wie beispielsweise die in Shéhérazade oft auftretende Non a-ais‘, die er in Debussys Manier schweben lässt. In den früheren Werken Szymanowskis fokussiert Vivanet die reiche Melodik und die Wendigkeit der Stücke, wobei die reine Fingerfertigkeit in den Hintergrund rückt. Der Pianist versteht die Stücke, selbst die komplexesten unter ihnen, und gibt alles hinein, sie auch dem Hörer verständlich zu machen. So entsteht eine der am tiefsten erspürten, intuitivsten und klarsten Aufnahmen von Szymanowskis Musik.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Ein britisches Monster entvölkert die Elbphilharmonie – A British Monster Empties the Elbphilharmonie

[English translation below]

Ein musikalisches Weltereignis durfte man am Sonntag, 15.9.2019 mit Kevin Bowyers Aufführung der 2. Orgelsinfonie des britischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988) in der Elbphilharmonie bestaunen. War dies doch erst die dritte, zusammenhängende Darbietung dieses mit netto 8½ Stunden Spieldauer wohl längsten nicht-repetitiven Orgelwerkes der gesamten Literatur. Die dortige Klais-Orgel erwies sich als ein klanglich optimaler Vermittler dieser über die gesamte Länge zudem äußerst komplexen Musik. Wie eigentlich immer bei Sorabji mochte – oder konnte – nur ein kleiner Teil der Zuhörer diesem Spektakel bis zum Schluss folgen.

Zunächst einmal muss man der Leitung der Elbphilharmonie höchstes Lob dafür zollen, dass sie es überhaupt ermöglicht hat, dieses ursprünglich bereits für Mai 2018 angesetzte Konzert – der britische Organist musste damals kurzfristig absagen – nun doch noch stattfinden zu lassen. Es gehört Mut dazu, einen Komponisten aufs Programm für den großen Saal (2100 Plätze) zu setzen, der in Deutschland nahezu unbekannt ist, und sich hartnäckig als „Kassengift“ allerhöchster Güte erweist – zumal mit einem Pauschalpreis von nur 40 €. Natürlich ist es fast schon eine Zumutung, auch für das Publikum, die Menschheit mit einer derart langen Klangorgie zu bombardieren – ganz abgesehen von den im Grunde übermenschlichen manuellen wie intellektuellen Anforderungen an einen Interpreten. Trotzdem dürfen die „Macher“ des Hauses das Event als Erfolg verbuchen. Es waren wohl 800 Karten verkauft: Um 11 Uhr erscheinen ca. 650 Zuhörer, von denen nach dem 80-minütigen 1. Satz etwa die Hälfte bleiben. Der zweite Satz mit seiner Dauer von gut 4 Std. bekommt noch eine Pause – nach der 28. Variation, die insgesamt so wie ein Trugschluss wirkt. Bis zu dessen Ende kurz nach 18 Uhr hat sich dann aber längst der „harte Kern“ herauskristallisiert, der auch bis zum Schluss durchhält. Dazu kommen schließlich noch ein paar neue Gäste, denn den zweiten Teil (3. Satz) der Orgelsinfonie konnte man für 20 Uhr separat buchen.

Kevin Bowyer hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit den drei Orgelsinfonien Sorabjis intensiv auseinandergesetzt und den schon über 95-Jährigen – dann bereits im Pflegeheim – noch persönlich kennengelernt. Bowyer hat nicht nur 1988 die erste CD-Aufnahme der 1. Orgelsinfonie (der einzig zu Lebzeiten des Komponisten gedruckten) eingespielt (auf Continuum) – mit 2 Stunden „das Baby“ (Bowyer) –, sondern dann von dieser und den beiden monströsen, bis dato nur als Manuskript vorliegenden Folgewerken, in mühevoller Kleinarbeit wissenschaftlich-kritische Neueditionen herausgegeben. Und schließlich wurde 2010 dann von ihm die 2. Orgelsinfonie (1929-32) in Glasgow endlich aus der Taufe gehoben. Niemand sonst hat sich bisher an diesen Giganten gewagt.

Der Rezensent hatte seine erste Begegnung mit Sorabjis maßloser Musik 1983 (Opus Clavicembalisticum, nachzulesen hier in einer Konzertkritik von 2016). Trotzdem herrscht auch bei mir eine gewisse Anspannung, wie man wohl ein – mit Pausen – 12-stündiges Konzert überstehen würde. Nach einer kurzen Einführung – u.a. mit dem Hinweis auf die 65 Stunden Arbeit, allein die 1475 verschiedenen Registrierungen in die Klais-Orgel einzuprogrammieren – startet Bowyer also den riesigen, dichten Kopfsatz: Quasi atonal und über Strecken „very angry“ (Bowyer). Das Stück folgt keinesfalls der klassischen Sonatenhauptsatzform – Sorabji mochte die Wiener Klassik, insbesondere Beethoven, überhaupt nicht. Vielmehr baut der Satz auf nicht weniger als 16 verschiedenen Themen auf – mit simultan fünf davon startet schon der erste Takt. Hier geht es also – wie vorher im 1. Satz seiner 4. Klaviersonate – nicht um simple Dialektik, sondern eher um eine Art stream of consciousness, wie man ihn aus James Joyces Ulysses kennt, oder zumindest ansatzweise von Busonis Klavierkonzert. Die einzelnen Themen werden permanent umgeformt und treffen in stets neuer Kombination aufeinander, oft mit absurd schwierig auszuführender rhythmischer Komplexität: Die durchgehend vier Systeme sind schwarz von Noten – Reger zum Quadrat. Bowyers Registrierung erweist sich angesichts dieser Notenmassen als erstaunlich durchsichtig und selbst in den dicksten Akkordballungen im Orgelplenum dazu noch klangschön. Dennoch treiben die ersten Höhepunkte mit lang ausgehaltenen ffff-Akkorden schon Teile des Publikums in die Flucht. Die Akustik der Elbphilharmonie ist für diese Musik geradezu ideal; mit dem Hall einer Kirche gingen viele Details verloren, die hier mit hochdifferenzierter Dynamik und immer neuen, abwechslungsreichen Klangfarben alle voll zur Geltung kommen. Eine Zuhörerin, die leider nur bis zum Mittag Zeit hat, sagt mir, dass sie diesen Satz trotz der für sie gewöhnungsbedürftigen Harmonik zu jeder Zeit wie eine „gut erzählte Geschichte“ aufnehmen konnte.

Der zweite Satz – in der Partitur als Thema cum variationibus (49) betitelt, was angesichts Sorabjis Quadratzahlenfetischismus auch zu erwarten wäre, hat tatsächlich 50 (es gibt Var. 43a und 43b). Abgesehen von der immensen Länge ist er wesentlich leichter fasslich als der erste Satz, auch weitestgehend tonal. Unnötig zu sagen, dass der Einfallsreichtum des Komponisten bezüglich Faktur (bis zu 7 Systeme!) und Ausdruck einen wahren Kosmos darstellt, dem sich der Hörer kaum entziehen kann. Und Bowyer darf auch hier wieder mit Klängen bezaubern, die teilweise verrückt und schräg sind – für mich gab es etwas zu viele Tremoloeffekte – aber immer die Struktur und vor allem die Idee dahinter genau treffen. Die Schönheiten erfasst der Hörer am besten mit geschlossenen Augen – dann entsteht ein dreidimensionales, plastisches Klangbild von fast hellsichtiger Klarheit. Was aber auch beweist, wie stark Sorabjis Musik das Gehirn in Anspruch nimmt: Lässt man die – zugegeben auch interessante – Betrachtung eines mit Händen und Füßen geradezu unfassbar agilen Organisten weg, schnappt sich Sorabji sofort auch noch die restlichen, dadurch frei gewordenen Kapazitäten. Die letzten Variationen beziehen nach und nach zusätzlich alle Themen des 1. Satzes mit ein – spätestens bei Var. 48 ist auch hier Schluss mit lustig.

Der nonstop dreistündige dritte Satz Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga beginnt zwar ruhig, fast harmlos mit gewissen Bezügen zu Messiaens Le Banquet céleste; ab der Toccata wird es dann aber wild und hochvirtuos. Die abschließende Fuge allein dauert 120 Minuten, ist damit wohl die längste jemals komponierte Orgelfuge, auch in Sorabjis Werk einmalig. Die Komplexität ist unbegreiflich, der Satz – man darf sich da nicht durch das Wort Tripelfuge täuschen lassen – ist fast die ganze Zeit sechsstimmig, von den drei Themen gibt es Durchführungen in allen möglichen Kombinationen, natürlich inklusive Krebs und Umkehrung. Die Konzentration und ständige Handspannung, die hier dem Interpreten abverlangt wird, ist eigentlich unmenschlich. Und wieviele Kilometer mag der Organist heute allein mit den Füßen zurückgelegt haben? Bowyer ist aber nun anscheinend in einem absoluten Flow – er bekommt, und da ist die Orgel natürlich gegenüber den Klavierfugen Sorabjis im Vorteil, auch hier eine Durchsichtigkeit hin, die man nie für möglich gehalten hätte. Der Schlussakkord wirkt dann wirklich wie der Blick vom Mount Everest, oder vom Weltall auf die Erde. Die kaum 100 verbliebenen Zuhörer – auch hier haben noch vor Beginn der Fuge viele der Neuankömmlinge bereits das Handtuch geworfen – geben dem sich bescheiden verbeugenden Kevin Bowyer standing ovations – und sind natürlich auch verdientermaßen ein wenig stolz auf ihr eigenes Durchhaltevermögen. Doch der Applaus gilt definitiv nicht nur der sportlichen Ironman-Leistung, sondern auch der musikalischen Grenzüberschreitung, die Sorabji provoziert. Für sie – den Rezensenten natürlich eingeschlossen – war das in jeder Hinsicht ein großer Konzerttag.


A real musical world event could be marvelled at here in Hamburg’s Elbphilharmonie last Sunday, 15th September 2019. Kevin Bowyer played the 2nd Organ Symphony by the British composer Kaikhosru Sorabji (1892-1988) – only for the third time complete within one day. With its duration of 8½ hours this piece probably is the longest non-repetitive organ work of all time. The local Klais organ proved as an optimal sound agent for this moreover extremely complex music. As always with Sorabji only a small part of the audience liked – or was able – to follow this spectacle to its very end.

First of all Elbphilharmonie‘s management deserves the highest praise for having made this event possible anyway. The performance was initially fixed for a festival in May 2018, but the organist had to cancel it briefly. It needs much courage to put a composer on a program for the large concert hall (2,100 seats), who’s almost unknown in Germany and shows as a persistent box-office poison, especially at a price of only 40 €. Of course, it’s almost an imposition also for the audience, to bomb mankind with such an orgy of sounds – apart from the basically superhuman manual and intellectual demands on the performer. Nevertheless, the house can chalk this event up as a success. 800 tickets were sold: Approx. 650 listeners are appearing at 11 o’clock, half of them will stay after the 1st movement (80 minutes). The 2nd movement of 4 hours duration gets an additional pause – after the 28th variation, which works as a deceptive cadence. The hardcore fans have crystallised out for a long time until its ending at 6 o’clock p.m. – those will stand the whole concert. Finally, there are arriving some new guests at 8 o’clock; the 2nd part (3rd mvt.) of the organ symphony could be booked separately.

Kevin Bowyer has intensively worked on Sorabji’s three organ symphonies since the mid-1980s and still met the composer, then at 95 already living in a nursing home. Bowyer not only recorded the first CD of Organ Symphony No. 1, the only one printed during the composer’s lifetime, in 1988 – “the Baby” (Bowyer): Later he published new critical editions of all three works with painstaking attention to detail. Finally, he premièred the 2nd organ symphony (1929-1932) in Glasgow, 2010. Nobody else has ventured to tackle this giant so far…

The reviewer had his first encounter with Sorabji’s unbounded music in 1983 (Opus Clavicembalisticum, read the story here in a 2016 concert review). Nevertheless, there’s some tension how to stand a twelve-hour – with breaks – performance. After a short introduction with, among other things, reference to the 65-hour work necessary alone for programming the Klais organ with 1,475 different registrations, Bowyer begins with the huge first movement: almost atonal and „very angry“ (Bowyer). The piece doesn’t follow the classical sonata form in any way – Sorabji disliked the Viennese Classic, especially Beethoven. The movement rather is built up of no less than 16 different themes – already the very first bar simultaneously starts with five of them. The matter here, as in the first movement of the 4th piano sonata, isn’t about simple dialectic, more like some kind of stream of consciousness, we know from James Joyce’s Ulysses, or basically from Busoni’s piano concerto. The individual themes are permanently being transformed and clash in always new combinations – resulting in absurd rhythmical complexity most of the time, intricate to play. The non-stop four staves are black of notes – Reger to the square. Bowyer’s registration in view of that massiveness proves astonishing transparency with a certain beauty of tone even in the thickest chordal accumulations. Still the first climaxes with long sustained ffff-chords put parts of the audience to flight. The acoustics of the Elbphilharmonie is really ideal for this music. With the reverberation of a church many details would get lost; here they are shown to their fullest advantage, with subtle nuances of dynamics and varied timbres. A listener, who unfortunately has only time until lunch, tells me, that she received this movement, despite the harmonics she initially had to get used to, like a “well told story” at any time.

The 2nd movement, entitled in the score as Thema cum variationibus (49), what could be expected knowing about Sorabji’s obsession with square numbers, indeed has 50 – there are Var. 43a and 43b. Apart from the immense duration it is much easier comprehensible than the first one, and more tonal, too. Unnecessary to say, that the composer’s inventiveness regarding the musical texture (on up to seven staves!) and expression represents a real cosmos the listener can hardly resist. This again gives Bowyer reason to enchant with sounds, that are partly crazy or strident, but always convenient for the structure and the ideas beyond. For me there are only a little too much tremolo effects. The listener can grasp all this beauty best with closed eyes – then there will emerge a three-dimensional sound shape of shrewd clarity. This shows how demanding Sorabji’s music is of our brain: If you leave out the observation of the incredibly agile organist, Sorabji immediately takes advantage of the capacities thus set free. The last variations gradually include all the themes from the first movement – at the latest from variation 48 onwards the fun’s over.

The 3rd movement Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga calmly, almost harmlessly starts with some references to Messiaen’s Le Banquet céleste, from the Toccata on it goes wild and highly virtuoso again – another three hours non-stop. The final fugue alone lasts 120 minutes and is probably the longest organ fugue ever composed, even unique in Sorabji’s output. Its complexity seems unbelievable – you mustn’t be fooled by the term triple fugue – it’s six-part most of the time. There are extensive expositions of all three themes, and everything comes in retrograde, inversion etc. in all possible combinations during the development. The concentration and constantly broad span in both hands demanded from the performer is really tremendous. And how many miles did the organist with his feet alone today? Bowyer apparently is in an absolute flow now – he even here achieves a level of transparency, one never would have believed in. The possibilities of the organ are superior to Sorabji’s fugues for the piano, of course. The final chord in the end indeed has an effect like a view from Mt. Everest, or even outer space, on earth. The hardly hundred remaining listeners – many of the newcomers again have given up already before the fugue – are celebrating Kevin Bowyer, modestly bowing, with standing ovations. They are deservedly a little bit proud of their own stamina. But the applause isn’t only for the outstanding “Ironman” performance, but also for the overstepping of the boundaries, which Sorabji’s music provokes. For the audience, including the reviewer, this was a great concert experience in every sense.

 [Martin Blaumeiser, September 2019]

Ausdruck von innen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 562; EAN: 4 260052 385623

Bei Ars Produktion Schumacher erschien eine neue Aufnahme der Winterreise op. 89, D 911 von Franz Schubert. Es singt der Bariton Johannes Held, das Klavier spielt Daniel Beskow.

Egal, in wie vielen Konzerten und Aufnahmen man Schuberts Winterreise bereits gehört hat, dieses Werk verliert niemals seine unmittelbare Wirkung. Noch immer fühlt sich der Hörer mitgerissen, verlassen, isoliert, verrückt und todesnah, wenn die gewagten Harmonien der Klavierstimme ertönen und die für damalige Zeit extravagant komplexen Linien des Gesangs uns den Halt verlieren lassen. Wir wollen die Lyrik von Wilhelm Müller ergründen und stoßen doch immer wieder auf Rätsel, denen man zwar Lösungsvorschläge beigeben kann, aber die doch ungelöst erscheinen. Müller und Schubert waren beide jung und schrieben über einen jungen Protagonisten, und doch ist dieser so alt, welterfahren und zermürbt, sehnt sich nach der anderen Seite. Verlassen von der Liebsten zieht er ziellos in die winterliche Landschaft; immer neue Bilder kommen auf, ohne wirklich zusammenzuhängen, und man fragt sich, ob die darin geschilderten Wahrnehmungen echt sind, Traum oder Verwirrung. Im 20. und 21. Jahrhundert könnte man das entstehende Geflecht als impressionistisches Seelengemälde bezeichnen, tief psychologische Traumata entschlüsseln. Am Ende geht der Protagonist ins Unbekannte, folgt dem Leiermann und singt mit ihm seine Lieder. Stellt es den Tod dar, den auch Müller und Schubert 1927 und 1928 früh ereilte (Müller starb noch vor der Fertigstellung der Vertonung und es bleibt unsicher, ob er um sie wusste), oder bildet der Leiermann den Wahnsinn ab, oder fungiert er als Tröster und gibt neue Hoffnung?

Johannes Held und Daniel Beskow legen eine tief emotionale und ergriffene Darbietung dieses gewaltigen Liedzyklus‘ vor. Die mitreißende Wirkung erzielt die Aufnahme nicht durch äußere Effekte, sondern durch inniges Teilhaben am Geschehen. Mit unprätentiös schlichtem Spiel ergründen Held und Beskow die Lieder von innen heraus und legen die wahren Emotionen dieser Lieder frei, anstatt durch aufgesetzten Impetus welche in sie hineinzugeben. Ohne gewollte Rubati, übermäßige Vibrati oder überspitzte Akzente lassen sie die Musik von sich aus wirken, präsentieren sich selbst nur als Medien der Übertagung – und genau dadurch entwickelt sich der unentrinnbare Sog der Töne. Die Musiker behalten eine klare Linie und nehmen den Hörer mit auf eine imaginäre Reise, die eine durchgehende Struktur aufzeigt und beim Leiermann enden „muss“, der sich eisig und in seiner Fragilität angsteinflößend vor uns aufbäumt und in der Klaviereinleitung sogar die Zeit beinahe zum Stillstand zwingt. Mit diesem Schock lassen uns Johannes Held und Daniel Beskow zurück und wir erkennen, dass der gesamte Zyklus als große Einheit bereits vorübergegangen ist.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Bunt schimmernde Miniaturen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 282; EAN: 4 260052 382820

Für Flöte und Streichsextett arrangierte Nathanael Carré französische Werke, die ursprünglich für Flöte und Klavier besetzt sind. Darunter sind die Fantaisie op. 79 von Gabriel Fauré, Georges Hües Fantaisie, Paul Taffanaels Andantino & Allegretto grazioso, Fantaisie-Caprice von André Jolivet, ein Divertimento von Jean Françaix, Eugène Bozzas Aria, die ursprünglich für Saxophon komponiert wurde und in einer Klarinettenfassung Bekanntheit erlangte, die Suite de trois Morceaux op. 116 Benjamin Godards, eine Aria von Jacques Ibert, François Bornes Fantaisie brillante sur Carmen und Danse pour une déesse aus der Feder von Reynaldo Hahn. Begleitet wird Carré dabei vom Ensemble Nuanz bestehend aus Evgeny Popov, Alexander Jussow, Jan Melichar, Robin Porta, Jan Pas und Stefan Koch-Roos.

Mit seinem Titel „Palette“ suggeriert der Flötist Nathanael Carré einerseits die ungeheuere Stilpalette im Frankreich des 20. Jahrhundert, die er in seiner CD-Aufnahme präsentiert, zum anderen die Palette an Klangfarben, die er den begleitenden Klavierstimmen durch Auffächerung in eine Streichsextettfassung verleiht. Das vielseitige Programm dieser Aufnahme lädt zum Entdecken ein. Neben einigen allseits bekannten Kompositionen wie Faurés Fantaisie und dem Divertimento von Françaix finden wir auch Namen, die selten auf Programmen zu hören sind. So beispielsweise den heute höchstens als Opernkomponist in Erinnerung gebliebene Georges Hüe, der ursprünglich als Architekt arbeitete, bis Gounod sein musikalisches Talent entdeckte, oder Benjamin Godard, der trotz seines frühen Todes eine Vielzahl groß- wie kleinformatiger, stets aber fein ausgearbeiteter Werke in romantischem Gestus komponierte. Das Ausdrucksspektrum von „Palette“ reicht von den Klängen des frühen Flötenvirtuosen Paul Taffanael, der als unerreichter Meister der von Theobald Böhm erst frisch revolutionierten Flöte galt, bis zu den freitonalen Klängen Jolivets. Das einzig lange Werk der CD ist Bornes Fantaisie brillante sur Carmen, zugleich das einzig bekannte Werk des Komponisten; mit Abenteuerlust und Frische greift es die Themen der Oper auf und verwandelt sie in wahnwitzige Capricen und erhebt sie teils in ganz neue Klangsphären.

Bei seinen Arrangements intendierte Carré, nicht bloß eine Klavierstimme gleichwertig umzusetzen, sondern den Klang durch die Möglichkeiten der Streichinstrumente aufzufasern und neue Facetten aus dem Part herauszuholen. Entsprechend nennt er als wichtigstes Auswahlkriterium, dass die Klavierstimme nicht dezidiert auf das Klavier abgestimmt ist oder sich auf Harfenklänge bezieht, sondern vom Komponisten orchestral angelegt erscheint. In der Streicherfassung kommen vor allem die ausgeklügelten Akkorde mehr zum Tragen und allgemein entsteht mehr Plastizität, als sie am Klavier möglich wäre. Im Gegensatz zum Klavier verklingen die Harmonien der Streicher nicht, was der Flöte eine solidere Basis verleiht, sich zu entfalten. Besonders bei Hüe, Jolivet und Godard, aber auch bei Borne und Bozza präsentieren sich die Arrangements als große Bereicherung, um die Stücke auf eine neue Weise kennenzulernen.

Carré erweist sich als aufmerksamer und flexibler Flötist, der minutiös auf die Klanglichkeit seines Instruments achtet und einen weichen, aber doch direkten Ton erzielt. In den Virtuositäten von Bornes Carmen-Fantasie erreicht er genug Prägnanz, um jeden Ton einzeln zum Vorschein zu bringen; bei Bozza und Ibert hingegen schwebt er schwerelos über der Streicherbegleitung und zelebriert den Flötenklang in zarter Umnebelung. Das Ensemble Nuanz hält die Akkorde der Klavierstimme kompakt zusammen und präsentiert sich als einheitlicher Klangkörper, der aus dem gleichen Atem heraus musiziert. Durch abgestimmte Kontrapunktik entsteht die bereits angesprochene Plastizität des Gesamteindrucks, ohne dass dabei die Stimmen zu sehr auseinanderdriften würden.

[Oliver Fraenzke, September 2019]