Das Label Testament
bringt bislang nicht veröffentlichte BBC-Aufnahmen von Peter Pears und Benjamin
Britten heraus. In einer Aufnahme vom 9. März 1961 bieten die Musiker Schumanns
Dichterliebe dar, aus den zwei Jahren zuvor hören wir Lieder von Hugo Wolf: Ganymed,
Beherzigung, Spottlied, Der Scholar, Heimweg, Der Gärtner, Bei einer Trauung,
Schlafende Jesuskind, Die du Gott gebarst, Führ‘ mich Kind nach Bethlehem, Wie
sollt‘ ich heiter bleiben, Komm Liebchen komm, Wenn ich dein gedenke, Sankt
Nepomuks Vorabend und Frühling übers Jahr.
Die jahrzehntelange und bis zum Tod andauernde
Partnerschaft, sowohl persönlicher als auch künstlerischer Natur, von Peter
Pears und Benjamin Britten gehört zu den intensivsten der Musikgeschichte. Britten
legte seine Opernrollen genauestens auf die Stimme von Pears aus und bedachte
ihn mit einzigartigen Partien. Doch auch in der Kammermusik wirkten die beiden
kontinuierlich zusammen und schufen so unter anderem eine der gefühlvollsten
Aufnahmen von Schuberts großen Liedzyklen.
Bereits 1948 wurde eine Radioaufnahme der Dichterliebe mit
Pears und Britten gemacht, später gingen sie damit auch ins Studio. Die hier
erstmalig zu hörende Version entstand 1961 vergleichsweise spontan, was sich
vielleicht zu Ungunsten der Sauberkeit auswirkt, dafür umso mehr das Gefühl
betont. Die Musik Hugo Wolfs blieb in England lange Zeit umstritten; Britten
und Pears waren die ersten auf der Insel, die diese Musik erfolgreich in großem
Rahmen aufführen. Die hier gebrannten Aufnahmen gehörten zu den ersten in
England produzierten des Komponisten.
Trotz der schlechten Aufnahmequalität und des mittelmäßigen,
teils fehlerbehafteten Masterings kommen die Qualitäten der Musiker deutlich
zum Vorschein. Vor allem fällt die dichte Verbindung zwischen Pears und Britten
auf: sie folgen einander in jede noch so verwinkelte Stelle und rhythmische
Passage, stimmen nicht nur Tempo, sondern auch Klangfarbe, Timbre und
Artikulation so fein aufeinander ab, dass sie beide stets das beste Ergebnis
liefern können. Die Echtheit des Gefühls ist beiden ein wichtiges Anliegen und
sie stellen den technisch-mechanischen Aspekt der Musik dem Ausdruck hintenan.
Gefühl soll in diesem Kontext nichts zu tun haben mit romantischem Überschwang,
sondern mit reiner und zeitloser Emotion, die uns gerade bei Komponisten wie Schumann
und Wolf überwältigen kann. So entstehen die Lieder nicht als zeitgebundene
Gebilde, wie wir es von zahllosen Aufnahmen vergangener Epochen kennen, sondern
als noch immer wirkende und vor Energie glühende Juwelen fein komponierten und
lebendig vorgetragenen Liedguts.
Nach seinem
Debut-Album mit russischer Klaviermusik widmet sich der junge Pianist Jean-Paul
Gasparian nun Frédéric Chopin. Er spielt die vier Balladen, darüber hinaus je
zwei Nocturnes (opp. 48/1 und 27/2), zwei Walzer (E-Moll op. Post.; op. 34/3)
und zwei Polonaisen, die ‚heroische‘ op. 53 und die Polonaise-Fantasie op. 61.
Bereits mit seiner ersten CD erweckte der französische
Pianist Jean-Paul Gasparian meine Aufmerksamkeit; seine neue Chopin-Aufnahmen
überzeugen mich nun vollkommen. Der Musik Chopins kann man sich nicht durch
rein intellektuelles Verständnis nähern, auch nicht durch rein
mechanisch-technische Fähigkeiten, sondern nur über Gespür, wendigen Geist und
erst dann über Reflektion. Ein Mangel nur eines dieser drei Aspekte wirkt sich
verheerend auf die gesamte Struktur aus. Die Balladen insbesondere bergen einen
derart reichen Fundus an Details und spiegeln jede für sich derart viel
Individualität, dass wohl jeder andere Vorstellungen von ihnen erhält und sie
anders umsetzt – was eine große Bandbreite an verschiedenen Darbietungen mit
sich bringt: aber für den Hörer mit seinen eigenen Vorstellungen von den Werken
auch nie eine Aufnahme genau treffen lässt. Die Balladen Chopins gehören (neben
der Ballade von Grieg) zu den ganz wenigen Werken, die nie vollkommen meinen
Vorstellungen entsprechen, wenn ich sie höre; immer stören mich Kleinigkeiten,
die ich anders umzusetzen wünsche oder sie vernachlässigt fühle.
Die hier zu hörenden Aufnahmen von Jean-Paul Gasparian
treffen meine Vorstellungen zu den Balladen bislang am besten. All das bringt
Gasparian hervor, was andere Darbietungen vermissen lassen: Dies beginnt schon in
der improvisatorischen Einleitung der g-Moll-Ballade und der unverschleierten
Dissonanz in Takt 7, setzt sich fort in der Hervorhebung wichtiger Bassstimmen
(z.B. T. 22f und 35 mit Rückbezug auf T.7) – so zieht sich das durch alle vier
Gattungsbeiträge. Dabei spielt Gasparian sinnlich und lyrisch, bleibt auch ohne
übermäßige Rubati frei in seiner Agogik und spürt die Gesanglichkeit der Linien
auf. In der zweiten Ballade hütet er sich davor, die Tempo-Kontraste
überzustrapazieren und nimmt das Andantino recht zügig, in der dritten hält er
auch den vertrackten cis-Moll-Abschnitt unter seiner Kontrolle, ohne das Tempo
aufzugeben, in der vierten behält er den Blick auch auf den kleinen
gegenläufigen Stimmen. In den virtuosen Passagen mit thematischem Material in
der Unterstimme, in der meist nur die Läufe zu hören sind, dreht Gasparian den
Spieß um und präsentiert fast ausschließlich die Unterstimme, worüber hinweg
die Läufe beinahe verschwinden. Vielleicht übertreibt er dies ein wenig – wobei
das das einzige Detail ist, welches mich stört.
Die enorm hohe Qualität hält der französische Pianist auch
in den restlichen Stücken der CD. Die beiden ausgesuchten Walzer gehören zu den
spielfreudigen und geben den beiden schwermütigen Nocturnes eine lichte
Unterbrechung – programmatisch gut verteilt. Zum Abschluss die auftrumphende
As-Dur-Polonaise op. 53, die Gasparians brillante Akkordabstimmung ins Licht
rückt, und die gegensätzliche As-Dur-Polonaise op. 61 (gleiche Tonart,
diametrale Wirkung!), in welche er seine lyrische Seite zum Vorschein bringt,
ganz unverträumt, nüchtern, aber doch involviert. Jean-Paul Gasparian zählt
zweifelsohne zu den größten Entdeckungen der letzten Zeit.
Michele Barchi
arrangierte die zwölf Concerti, die Antonio Vivaldis in seinem L’Estro Armonico
op. 3 bündelte, für die Besetzung seines Ensembles, Armoniosa, bestehend aus
Cembalo, Orgel, Geige, fünfsaitigem Cello „Piccolo“ und Cello. An den
Instrumenten hören wir Michele Barchi, Daniele Ferretti, Francesco Cerrato,
Stefano Cerrato und Marco Demaria.
Die Drucklegung von Vivaldis L’Estro Armonico 1711 als Opus
3 verhalf dem Komponisten zum internationalen Durchbruch. Interessanterweise
fragte Vivaldi für das Vorhaben nicht in Italien an, sondern suchte sich einen
Verlag in den Niederlanden, was alleine die persönliche Bedeutung dahinter zeigt.
Vivaldi hob die Form des Instrumentalkonzerts auf ein gänzlich neues Level
bezüglich Vielseitigkeit, durchgängiger Qualität, formaler Stringenz und
Ausdrucksstärke. Dies inspirierte zahlreiche Komponisten zu Arrangements oder
eigenen Kompositionen – so unter anderem den damals als Organist in Weimar
tätigen Johann Sebastian Bach, der mehrere der Konzerte bearbeitete. Das zehnte
Konzert arrangierte Bach etwa 20 Jahre später, was den enormen Einfluss dieser
Musik auf ihn unterstreicht.
Bearbeitungen waren zur Zeit des Barocks eine landläufige
Praxis, da zum einen die Ensembles keiner festen Instrumentation unterlagen,
man also entsprechend die Werke für die eigenen Instrumente anpassen musste, und
zum anderen die Musik nicht wie heute als unveränderbarer Monolith betrachtet
wurde. Das Ensemble Armoniosa greift diese Technik auf und bearbeitete die
zwölf Konzerte für ihr fünf Instrumente: Cembalo, Orgel, Geige, fünfsaitiges
Cello „Piccolo“ und Cello. Für die Aufnahmen verwendeten die Musiker insgesamt
sechs Cembali und zwei Orgeln.
Größtenteils funktioniert die Neuinstrumentation prächtig
und entlockt der Kammermusikbesetzung orchestrale Klänge. Lediglich das erste
der Konzerte erscheint mir zu Cembalolastig, da trotz der zwei Manuale die
Kontraste der ursprünglichen Soli verlorengehen, woran auch das etwas gewollte
und somit übermäßige Vortragsweise voll kleiner Verzögerungen nichts ändert.
Doch ab dem zweiten Konzert entfalten sich die Musiker. Die fünf
Instrumentalisten vereinen Spielfreude und akkurates Zuhören, sie achten
aufeinander und passen sich dynamisch präzise an – was nicht immer leicht ist
bei dieser Besetzung. Vor allem gelingt es ihnen, die Musik lebendig entstehen
zu lassen und so dem Klischee des Nähmaschinen-Barock ein Schnippchen zu
schlagen. In wenigen Fällen hört man zwar bei den Tasteninstrumenten eine
standardisierte Wendung heraus, die ihre Wirkung bereits verbraucht hat, doch
machen sie dies durch feine Artikulation schnell wett. Die kräftige Geige aus
dem frühen 19. Jahrhundert macht sich durch ihre Intensität gut in dieser
Aufnahme, eine ältere Geige könnte alleine die Höhe nicht genug ausfüllen
bezüglich des Volumens; die Tiefe wird durch das Wechselspiel des fünfsaitigen
Cellos aus dem späten 19. Jahrhundert und dem Cello aus der Mitte des 18.
Jahrhunderts facettenreich zum Schwingen gebracht.
Das fünfköpfige Ensemble Armoniosa ging in einem verwunschenen Schloss in Piemont in Klausur, um Vivaldis 12 Konzerte „L estro Armonico“ in eigenen Transkriptionen für Kammerbesetzung für eine neue Doppel-CD einzuspielen. Musiziert wurde oft nachts, weil es dann am ruhigsten ist. Ebenso entstand ein Videoclip, der eine tiefgehende visuelle Interpretation der gespielten Musik ist. Hier schwebt der Geist der Musik durch weite Landschaften, beflügelt und entrückt. Vor allem die eingefangenen Lichtstimmungen widerspiegeln eine Welt aus Licht und Schatten, wie sie auch in Vivaldis Konzerten in hoher Verdichtung lebt. Im Gespräch mit Stefan Pieper verrieten der Cellist Marco Demario und der Violinist Franceso Cerrato, an welchen Locations gedreht wurde – und erläuterten darüber hinaus den eigenen Anspruch, aus einer „alten“ Musik eine Botschaft fürs 21. Jahrhundert zu formen.
An welcher traumhaften Location haben Sie dieses Video
aufgenommen?
Marco Demaria:
Die Außendrehs haben wir in den französisch-italienischen Alpen gemacht, und zwar am Lac de Mont Cenis, der auf einer Passhöhe in etwa zweitausend Meter Höhe nahe der italienischen Grenze liegt. Hinzu kamen Landschaftsaufnahmen im Gran Paradiso Nationalpark. Die Innenaufnahmen entstanden im Königlichen Schloss Govone. Es ist der alte Sommerpalast der Königsfamilie aus dem 17.Jahrhundert, wie es hier in Piemont eine ganze Reihe solcher Residenzen gibt. In dem stilvollen Saal dieses Schlosses haben wir übrigens auch unsere Platte aufgenommen.
War es viel Arbeit, diesen Raum zu einem Studio
umzufunktionieren?
Francesco Cerrato:
Oh ja! Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, alles
herzurichten. Es brauchte viele akustische Vorbereitungen, da es überhaupt
keine Dämpfungen an Wänden und Fenstern gab, so dass viele Geräusche von außen
eindrangen. Schließlich haben wir beschlossen, nachts aufzunehmen, weil es dann
ruhiger ist. Auf jeden Fall hat die harte Arbeit sich gelohnt.
Das Video stellt einen intensiven Bezug zwischen der
Musik und der Umgebung her. Welche
Energie geht für Sie von solchen Orten aus?
Marco Demaria:
Die Musik ist ein Teil von uns. Und wir zeigen die Gegend,
aus der diese Musik kommt, von der sie inspiriert ist, denn sie soll Teil der
Schönheit dieses Landes werden. Wir sind sehr glücklich, dass wir in Italien
überall viel Schönheit haben. Wir haben die italienischen Alpen in den Fokus
gesetzt, um auch mal dieses Gesicht von Italien dem Publikum zu zeigen.
Francesco Cerrato:
Die Aufnahmesessions in diesem faszinierenden Schloss waren eine tolle Erfahrung. Wir waren ganz alleine in diesem Schloss, so dass eine unheimlich starke Aura auf uns wirkte. An diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt Vivaldi zu spielen, hat unvergleichliche Emotionen frei gesetzt. Wir haben uns jenseits von Raum und Zeit gefühlt.
Marco Demaria:
Dieses Schloss wirkt so echt, so real. Nicht zuletzt, weil
einige Teile des Gebäudes noch nicht renoviert und auch nicht öffentlich
zugänglich sind. Man atmet den Geruch der alten Zeit. Dieser Ort ist einfach
echt.
Der Videofilm ist zu einer tiefen Interpretation der
Musik geworden. War das von Anfang an geplant?
Marco Demaria:
Wir wollten eine Story erzählen. Dies einem Publikum zu
vermitteln ist genauso wichtig wie die Musik selbst. Eine gute PR kostet immer
viel Geld, deswegen sollte man so kreativ wie möglich an die Sache heran gehen.
Es ist ein Glücksfall, dass wir einen so künstlerisch idealistischen
Produzenten wie Alessandro Rota als Freund an unserer Seite haben. Er kennt unsere Fähigkeiten und unsere
Potenziale sehr gut und hat die besten Ideen, ihnen ein Gesicht zu verleihen.
Lassen Sie uns jetzt mal über den Kern der Musik
sprechen! Was ging der Einspielung dieser zwölf
Konzerte voraus?
Francesco Cerrato:
Wir sind ursprünglich von einem großen Ensemble ausgegangen, wie es noch auf der ersten Platte zu hören ist. Mittlerweile hat sich unsere spezielle fünfköpfige Besetzung heraus kristallisiert. Seitdem loten wir immer neue Möglichkeiten aus und da rückten schließlich die Konzerte aus „L’estro Armonico“ in den Focus. Michele Barchi, unser Cembalospieler hat die ganzen Transkribierungen vorgenommen und über dieses Projekt viele Jahre nachgedacht. Was für neue interessante Klangaspekte lassen sich mit unserer Besetzung realisieren, lautete hier eine spannende Frage. Wie kann man es schaffen, diesen berühmten Zyklus mit einem kleinen Ensemble zu realisieren, dass am Ende wirklich große Musik herauskommt? Es taten sich bei der Erarbeitung immer neue Möglichkeiten und Aspekte auf, unser ganzes Potenzial zu entfalten.
Wie fühlen Sie sich in der Konkurrenz zu den zahllosen
anderen Barockensembles, die auch alle Vivaldi spielen?
Francesco Cerrato:
Ich glaube, diese Besetzung, diese Aufnahme und diese Neuarrangierungen
sind allesamt genug Antworten auf diese Frage. Wir haben das gute Gefühl, einen
neuen, anderen Weg gegangen zu sein.
Marco Demaria:
Man kann mit einer solchen Produktion auch immer die
Qualität des Materials aus einem neuen Blickwinkel heraus definieren. Vivaldi,
einer der größten Namen aus der Barockzeit, wird in unserer individuelle Lesart
in seiner Größe und Ausstrahlung einmal mehr bestätigt. Auch das Verhältnis von
Vivaldi zu Bach eine thematische Idee des Projekts. Bach hat bekanntlich diese
Konzerte transkribiert und diese Transkriptionen fließen ja auch in die neuen
Arrangements mit ein, vor allem was die Parts für Cembalo bzw. Orgel betreffen.
Wir haben zwei Jahre lang an diesem Projekte gearbeitet – jetzt haben wir das
gute Gefühl, dass etwas sehr persönliches dabei heraus gekommen ist.
Wie würden Sie Ihren eigenen Stil charakterisieren?
Marco Demaria:
Wir haben mit Reinhard Goebel und Trevor Pinnock gearbeitet,
das sind viele Erfahrungen, die uns immer zu Gute kommen. Bei allem sind wir
Italiener mit italienischen Prinzipien. Trotzdem bemühen wir uns um eine
emanzipierte Haltung gegenüber Dogmen und so mancher inflationärer Tendenz. Es
gibt ja viele Konventionen, Meinungen und Moden, etwa wenn es um Akzentierungen
in der Barockmusik geht. Wir wollen in dieser Hinsicht schon unter
italienisches Gepräge nicht verleugnen, zollen aber zugleich der Partitur
höchsten Respekt.
Was ist die Botschaft dieser Musik für die Gegenwart?
Marco Demaria:
Unsere Hauptbotschaft soll sein: Diese Musik lebt. Zu Beginn
nannten wir uns „Armoniosa Barock Ensemble“. Jetzt heißen wir einfach nur
Armoniosa. Barock ja – aber diese Stilschublade ist so behaftet mit
Konnotationen. Mit diesen aktuellen Transkriptionen zeigen wir unter anderem
auf, was Bach für Tasteninstrumente mit Vivaldis Musik gemacht hat. Die Musik berührte immer sehr unmittelbar in
ihrer spezifischen Zeit. Bach wollte, dass sein Publikum ihm zuhörte. Wir
wollen unsere eigene Botschaft herausholen, um diese Musik in heutiger Zeit
lebendig zu machen. Auf keinen Fall wollen wir kopieren oder gar etwas museales
oder archäologisches betreiben. Wir gehen dafür mit den Fertigkeiten des 21.
Jahrhunderts an diese Sache heran. Das schließt keineswegs die korrekte
Kenntnis der Regeln, Prinzipien und Theorien aus, denen wir höchsten Respekt
zollen. Wir respektieren, was Vivaldi wollte, was in der Partitur steht. Wir
bearbeiten Bachs Partituren, um sie auf neue Weise für Vivaldis Botschaft zu
öffnen. Damit diese im 21. Jahrhundert neu erfahrbar wird!
Francesco Cerrato:
Ich sage es noch direkter: Wir lieben diese Musik einfach
sehr. Wir haben sehr viel Leidenschaft, genießen diese Musik und wollen diese
Leidenschaft beim Publikum wecken. Wenn die Zuhörer diese Musik genauso lieben
wie wir, dann haben wir ein Ziel erreicht. Musik eine Sprache und Vivaldis
Musik ist unsere Sprache. Wir können dem Publikum Geschichten erzählen. Wir
können in unserer Sprache mit den Menschen sprechen.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen populärer und
klassischer Musik in Italien?
Francesco Cerrato:
Generell kommen relativ wenig Leute in Konzerte, um
Barockmusik zu hören. Das große Publikum hat gar keine Ahnung über klassische
Musik. Da sind die typischen Vorurteile: Barockmusik sei langweilig und es gibt
sie nur in der Kirche. Viele Menschen sind dann plötzlich sehr überrascht, wenn
sie in unseren Konzerten zum ersten Mal erleben, was für ein Spaß diese Musik
verströmt. Für solche Erlebnisse sind Vivaldis Konzerte natürlich
prädestiniert. Musik aus dieser Zeit hat eine unglaubliche Direktheit. Man kann
hier so viel erleben und sich mitreißen lassen. Es gibt hier noch nicht die
ganze Komplexität wie in der Musik des 19. Jahrhunderts. Das ist unsere große
Chance, um viel ungeahnte musikalische Frische zu erzeugen!
Bei den auf dieser CD
aufgenommenen Kammermusikwerken Karl Weigls handelt es sich hauptsächlich um Ersteinspielungen:
Zu hören sind die zweite Violinsonate G-Dur, Zwei Stücke für Cello und Klavier
op. 33 und Zwei Stücke für Violine und Klavier; lediglich das Klaviertrio
d-Moll wurde bereits zwei Mal auf Platte festgehalten. David Frühwirth spielt
die Geige, Benedict Kloeckner das Cello und Florian Krumpöck übernimmt den
Klavierpart.
Karl Weigl gehört zu den großen Unzeitgemäßen, die bis zum
Lebensende der Moderne den Rücken kehrten und die Tonalität fortleben ließen.
Ausgebildet bei Zemlinsky, Fuchs und Adler befanden sich schon frühe Werke auf
der Höhe der spätromantischen Ausdruckswelt, eine Stelle als Korrepetitor bei
Mahler komplettierte dies. Auch mit Arnold Schönberg stand Weigl in gutem
Kontakt, zumindest bis sich dieser der Atonalität verschrieb, was den Kontakt
verstummen ließ – wenngleich Schönberg 1938 noch schrieb, er betrachte „Dr.
Weigl immer für einen der besten Komponisten der alten Schule […]; einer von
denen, die die glanzvolle Wiener Tradition fortsetzten. Er bewahrt zweifellos
die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile
der Wiener Kultur darstellt.“ Nach dem Anschluss Österreichs an das
nazifizierte Deutschland wurde Weigls Musik verboten und er entkam nach
Amerika, wo seine Karriere trotz großer Bemühungen von vielen Seiten einen
Abbruch fand. Seitdem schlummert seine Musik, darunter sechs Symphonien,
mehrere Solokonzerte, Lieder und Kammermusik, gänzlich unbeachtet und wurde
erst in diesem Jahrzehnt vereinzelt wieder entdeckt.
Die Musik gibt deutlich die Einflüsse der Wiener Klassik und
der spätromantischen Tradition Mahlers und Zemlinskys zu erkennen und bringt
doch eine ganz eigene Note hinein. Weigl degradiert Virtuosität und klangliche
Effekte nicht zum Selbstzweck, sondern benutzt sie ausschließlich im Sinne der
Musik. Im Gegensatz zu Mahler hält sich Weigl an eine stringente Form ohne
übermäßiges Eilen von Höhepunkt zu Höhepunkt; er geht ökonomischer mit
Ausbrüchen um. Die zwei eingespielten Großformen bewahren die klassische
Dreiteiligkeit und auch die Stücke für Violine und diejenigen für Cello und
Klavier lassen klassische Modelle durchscheinen. Nie stürmt Weigls Musik
ungehalten davon, selbst im „Wilden Tanz“ bewahrt sie Eleganz.
Der Pianist Florian Krumpöck hob 2002 bereits das Konzert
für die Linke Hand und Orchester (das vom Auftraggeber Paul Wittgenstein – ebenso
wie das bestellte Konzert von Hindemith – abgelehnt wurde) aus der Taufe und
nahm es 2013 für Capriccio auf. In diesen teils bereits auf 2012 zurückgehenden
Aufnahmen (die Stücke mit Cello sind auf 2016 datiert) hören wir ihn mit
Kammermusik für Violine und Cello. Er durchdringt die Musik Weigls und entlockt
ihr romantischen Flair und klassische Präzision, spielt sie nüchtern wie
einfühlsam zugleich. Auch David Frühwirth hörten wir bereits mit Weigl, er
spielte das Violinkonzert auf der gleichen CD, welche das Klavierkonzert
beinhaltet. Hier glänzt er in der Violinsonate, den Zwei Stücken und dem Trio
als akkurater und sensibler Geiger. Er verleiht seiner Stimme metallischen
Glanz und subtile Schönheit, leitet merklich das Geschehen in allen Stücken.
Neu hinzu kommt der rasant aufsteigende Newcomer Benedict Kloeckner, der
bereits eine beachtliche Diskographie vorzuweisen hat. Sein Spiel ist bestimmt
und kräftig, nicht weniger kann er jedoch auch die lyrische Seite zum Vorschein
bringen; im Trio passt er sich bestens seinen Mitstreitern an und geht vor
allem mit der Violine eine innig-klangliche Verbindung ein.
Die Pianistin Layla Ramezan taucht in die Musikkultur ihrer Heimat ein und entdeckt das erzählende Moment
Die iranisch-stämmige Pianistin Layla Ramezan, heute
in der Schweiz lebend, hat gerade einen Zyklus eines Landsmannes Alireza
Mashayekhi eingespielt, der das auf berühmte Sheherazade-Märchen erzählt. Die
neue CD ist der zweite Teil eines Gesamtprojektes, mit welchem Layla Ramezan
der persischen Musikkultur der letzten 100 Jahre auf den Grund geht. Das Volume
1 war noch eine reine Solo-CD. Auf dem neuen Werk steht ihr mit dem persischen Perkussionisten Keyvan Chemirani
auf der traditionellen Zarb eine zweite starke Stimme zur Seite, denn der
Dialog zwischen Tradition und Moderne zählt.
Layla Ramezan hat Stefan Pieper von ihrer musikalischen Forschungsreise
für dieses Projekt erzählt.
Wie funktioniert diese Musik und was ist anders in ihr?
Es geht vor allem um das erzählende Moment. Zwischen den
Klavier- und Perkussion-Parts werden Episoden aus der uralten Geschichte aus
1001 Nacht in der Originalsprache rezitiert.
Vor allem der Rhythmus ist sehr repetetiv. In dieser
Hinsicht ist diese Musikkultur sehr nah an der indischen Musik dran. Wir
erfreuen uns in unserem Land so vieler Einflüsse aus Arabien und Asien und von
anderswo. Das Entscheidende in der klassischen persischen Musik ist, dass alles
im Kern auf dem geschriebenen Wort, auf der Poesie aufbaut. Vor allem der
Rhythmus entwickelt sich in direkter Linie aus der Sprache heraus. Deswegen
denke ich beim Spielen immer an den Text. Es ist in etwa so, als würde ich auf
dem Klavier diese Dichtkunst singen.
Gibt es trotz der repetitiven Struktur eine dramatische
Entwicklung?
Ja, auf jeden Fall! Die ganze Struktur ist einer Oper nicht
unähnlich. Jeder Teil geht auf den Text zurück. Die erzählte Geschichte ist
übrigens nicht wie im Original-Märchen aus 1001 Nacht, sondern wurde verändert:
Am Ende sagt Sheherazade, dass sie verliebt ist. Der König verlässt das Land
und flieht in die Wüste. Das ist eine ganz andere Gewichtung als in der
Ursprungs-Geschichte. Ich habe mich gewundert, wie dramatisch es hinterher
wird. Und ich mag Dramatik!
Sie haben erst in Teheran und später in Paris und
Lausanne eine tiefe, umfassende Ausbildung durchlaufen und sind natürlich an
„westlicher Musik“ geschult. Was ist der Unterschied zu Chopin/Bach etc. ?
Der Unterschied ist riesig. Die Struktur und der formale
Rahmen sind völlig anders. Bei den Werken westlicher Komponisten ist er stark
vorgegeben und sehr konstruiert. Die persische Tonsprache funktioniert ganz
anders. Sie ist narrativer, wechselt gerne die Metren, etwa zwischen 5er und
8er – für den Interpreten ist es sehr schwer, hier eine Einheit zu finden. Ich
muss alle neun Stücke immer wieder spielen und Zusammenhänge ausloten, um die
innere Struktur heraus zu finden. Ich hatte beim Aufnehmen dem Toningenieur die
Noten gegeben. Der konnte sich erst mal beim Lesen überhaupt nicht vorstellen,
dass es sich mal so wie jetzt anhören würde.
Sind Sie in eine andere Welt eingetreten beim Spielen
dieser Stücke?
Auf jeden Fall! Bei Mozart kann man vieles auf Anhieb
verstehen – allein, weil es ein Erfahrungswissen gibt. Die Kompositionen von
Alireza Mashayekhi sind viel komplizierter zu erschließen, man muss erstmal in
narrativen Strukturen iranischer Musik eindringen. Es geht darum, die
Polyphonie zu erfassen und zu entscheiden, welche melodische Linie wichtiger
ist. Vor allem die Balance zwischen der Lautstärke der Linien ist hier das
Geheimnis. Im Ganzen betrachtet, ist diese Komposition sehr pianistisch und man
könnte viele Einflüsse darin erkennen. Man findet Jazz darin, ebenso serielle
Strukturen und vieles mehr. Zugute kommt mir, dass ich heute über sehr breit
gestreute Erfahrungen verfüge – mit vielen Instrumenten, im Theater und in der
Oper. Solche Horizonterweiterungen machen mich offen, die „Musik“ in dieser
Musik zu finden.
Von außen wirkt dieser Zyklus gar nicht so komplex, eher
fast improvisiert. Wie hängen die Elemente im Inneren zusammen?
Es ist ein starker improvisatorischer Aspekt enthalten, auch
wenn alles in Noten aufgeschrieben wurde. Trotzdem: Alles ist weit von jenem
festen Rahmen in der westlichen Kunstmusik entfernt, wo es viel einfacher ist,
vom Blatt oder auswändig zu spielen. In den Stücken von Alireza Mashayekhi muss
viel mehr intuitiv erfasst werden. Immer geht es darum, die Intention des
Komponisten zu verstehen. Es gibt zum Beispiel viele Gestaltungsräume bei den
Zeitmaßen, weil sehr viele Fermaten notiert sind. Hier möglichst intensiv zu
gestalten sorgt dafür, dass alles wirklich lebt. Jeder Spieler ist hier zur
Freiheit geradezu heraus gefordert.
Was hat sich gegenüber Ihrer ersten CD zu diesem Thema
weiter entwickelt?
Auf meiner ersten CD, die im Jahr 2017 erschien, habe ich
fünf iranische Komponisten präsentiert. Da stand ich noch amAnfang, um hier
alles herauszuhören, zu erfassen und mich frei zu spielen.
Ich habe weiter gearbeitet, um tiefer einzudringen. Dadurch
geraden auch Gegenwart und jahrtausendealte Geschichte in einen engen Bezug
miteinander. Wenn ich diese Sheherazade-Kompositionen spiele, kommt es mir vor,
als wäre ich gleichzeitig im lärmigen Stadtgewimmel des modernen Teheran und im
selben Moment in den stillen Ruinen von Persepolis in Shiraz, einem 2500 Jahre
alten historischen Monument. Genau das soll die Botschaft sein: Moderne und
uralte persische Hochkultur leben im selben Moment und sind kein Widerspruch.
Wenn wir diese unterschiedlichen Prinzipien vergleichen
und diese Stücke betrachten, was für eine spezifische Geisteshaltung in der
iranischen Kltur würden Sie hier ausmachen?
Die europäische Klassik steht für eine große Klarheit, die
in der Musik meines Heimatlandes nicht in dieser Form vorhanden ist. Darin
bildet sich durchaus eine Mentalität der Menschen hier ab, Diese Direktheit in
der Kommunikation ist im iranischen Alltagsleben weitgehend unbekannt. Wenn
Menschen sich begegnen, läuft dies auf
verschlungeneren Wegen ab. Man muss oft rätseln und deuten, was jemand
sagen will. Die Menschen im Iran sind extrem freundlich, aber es ist oft etwas
schwierig, sie wirklich zu verstehen. Was sie sagen wollen, kommt manchmal
etwas versteckt zum Ausdruck.
Also offenbart diese neue Lesart des Sheherazade-Märchens
ein wohlgehütetes Geheimnis?
Persische Poesie und Philosophie gehen manchmal sehr
verschlungene Wege, was man wem sagen will. Das ist unsere Kultur.
Unter dem Titel „France
Romance“ verbergen sich Klavierwerke vorwiegend französischer Komponisten,
gespielt von Kotaro Fukuma. Auf dem Programm stehen zwei kurze Werke Debussys,
aus der Feder Faurés zwei der acht kurzen Stücke op. 84 und die drei Romanzen
ohne Worte op. 17, Ravels Pavane pour une infante défunte und La Valse (neu
arrangiert), die erste der Gymnopédies und Je te veux (bearbeitet vom
Pianisten) von Satie, Poulencs 15. Improvisation und drei Novelettes, 6
Arrangements des Bulgaren Alexis Weissenberg von Charles Trenets Liedern und
Parlez-moi d’amour von Jean Lenoir, arrangiert vom Pianisten.
Zunächst erweckte dieses bunt gemischte Programm
verschiedener, größtenteils französischer Komponisten mein Interesse, denn man
hätte einige Werke dieser Tonsetzer sicherlich stimmig zusammenfügen können zu
einem einheitlich wirkenden Ganzen. Doch das Aufstellen eines guten Programms
ist eine Kunst für sich, wie diese CD als Gegenbeispiel eindrücklich zeigt.
Zusammengefasst wurden die Werke unter dem kitschigen Titel
„France Romance“, was weder der epochalen Vielseitigkeit der Musik gerecht
wird, noch derem teils enormen Gehalt. Auch die Reihenfolge der einzelnen
Stücke wirkt komisch: Wie kann man nach dem skurrilen und hoch virtuosen
Glanzstück La Valse die „Möbelmusik“ Saties, zumal dessen erste Gymnopédie,
programmieren? Sicherlich, Kontraste geben Vielfalt und halten die Spannung,
doch es hängt schließlich auch keiner einen Bilderrahmen eines schwedischen
Möbelkonzerns neben die Mona Lisa. Wo es hier zu viele Kontraste gibt, gibt es
an anderen Stellen zu wenige, und ein sentimentales Stück reiht sich ans
Nächste. Will also Kotaro Fukuma ein seriöses Klavieralbum präsentieren oder
eine Kamin-Musik für romantische Abende? Die Zusammenstellung passt zu keinem
von beidem.
Technisch spielt Kotaro Fukuma auf höchstem Niveau und
bleibt absolut akkurat, was die Ausführung der Spielanweisungen angeht. In den
melancholischen und sentimentschwangeren Stücken verträumt er sich gerne in
eine Stimmung, hier könnte er noch mehr die innermusikalischen Kontraste
hervorheben. Präzise bleibt Fukuma in La Valse, dem er noch einige der
Orchesterstimmen hinzugefügt hat: Bei diesem Werk merkt man die enorme Arbeit,
die der Pianist hineinstecken musste, um die eigenwillige Klangwelt zum Leben
zu erwecken, was abgesehen des etwas gedroschenen Finals durchaus gelingt.
Weniger Mühe machte sich Fukuma mit Ravels Pavane pour une infante défunte, das
zwar seine Wirkung nicht verfehlt, allerdings in vielen Details vor allem der
Pedalisierung nicht der Intention des Komponisten entspricht: welch enormen
Ausdruck kann das Thema entfalten, wenn man es die ersten beiden Male ohne oder
fast ohne Pedal nimmt! Ich denke hier an die grandiosen Aufnahmen von Juan José
Chuquisengo und auch die von Håkon Austbø, welche das je auch ihre Art intensiv
und reflektiert umgesetzt haben. Etwas schockiert war ich von Fukumas
Bearbeitung von Saties Je te veux. Dieses Lied lebt, wie eben die Musik Saties
allgemein, von größtmöglicher Einfachheit und Sachlichkeit: Fukuma fügt
allerdings virtuose Passagen wie von Liszt ein, verschnörkelt die Melodie oder
fügt neue Stimmen hinzu. Bei romantischer Musik ließe sich sowas durchaus
machen, nicht aber bei einer Musik, die eben aller Virtuosität entsagt.
Das RTÉ ConTempo Quartet
spielt Kammermusik von Swan Hennessy. Auf dem Programm stehen die vier
Streichquartette opp. 46, 49, 61 und 75, die Sérénade op. 65 und das Petit trio
celtique.
Viele Komponisten waren überzeugt, dass sie bald nach ihrem
Tod vergessen werden, so unter anderem auch Johannes Brahms und Edvard Grieg;
bei Swan Hennessy war dies tatsächlich der Fall und über 70 Jahre blieben seine
Werke in der Versenkung. Erst den exzessiven Bemühungen von Dr. Axel Klein ist
es zu verdanken, dass die Musik wieder aufkommt und gespielt wird. Klein
schreibt aktuell an einer Biographie über den Komponisten und steuerte auch das
Vorwort der vorliegenden CD bei.
Musikalisch gehört Swan (der eigentlich Edward hieß) Hennessy den nationalen Schulen der Romantik an, zudem hinterließ der frühe Impressionismus zarte Spuren in manchen Werken des Iren. Für Orchester oder größere Besetzungen komponierte Hennessy nie, konzentrierte sich voll auf Solo- und Kammermusikwerke sowie Lieder. Er wollte nie ‚groß‘ oder bedeutend sein, suchte nicht nach Weltruhm, neuen Ausdrucksweisen oder einer genialen Ader in seiner Musik – Swan Hennessy wollte das Publikum direkt ansprechen und ihnen klare, reine und schöne (im nicht-abgedroschenen Sinne des Wortes) Tonwelten vermitteln. Seine Musik ist leicht, zart und delikat, berührt unmittelbar und bleibt klar nachvollziehbar. Die Folklore spielt dabei eine zentrale Rolle: „it is the love of Ireland that has inspred my work“ schrieb er 1923 bereuend, dass er so viel Zeit seines Lebens im Ausland verbracht hatte. Viele seiner Werke, oder Sätze daraus, stehen in irischem oder bretonischem Stil und oftmals hört man auch darüber hinaus volksliedhafte Einflüsse. Formal hält er seine Stücke recht kurz, um dadurch ein Überstrapazieren der Aussage zu vermeiden; lieber bleibt er gradlinig und prägnant.
Mit dem RTÉ ConTempo Quartet hören wir die Streichquartette, die Sérénade und das Petit trio celtique erstmalig auf CD festgehalten. Das aus Rumänien stammende Ensemble setzt sich zusammen aus den Ehepaaren Bogdan Sofei und Ingrid Nicola sowie Andreea Banciu und Adrian Mantu. Im letzten Jahr erhielten sie die Ehrendoktorwürde der Universität von Irland für ihr kulturelles Schaffen, zu dem nun auch diese CD gehört. Bemerkenswert ist die kammermusikalische Kommunikation und Interaktion der Musiker, die als Einheit zusammen funktionieren. Sie hören einander zu und schaffen so einen luziden, klaren und feingliedrigen Klang. Dabei nehmen sie die Musik lebendig und leicht, indem sie nicht in Routine verfallen, sondern den Phrasen ihren individuellen Charakter lassen. Abgesehen von manch einer etwas zu kurz gehaltenen Pause gibt es absolut nichts, was in ihrem beschwingten und durch und durch musikalischen Spiel auszusetzen wäre.
SWR music publiziert
eine CD mit dem Klavierrezital des französischen Pianisten Samson François vom
3. Mai 1960. Auf dem Programm stehen zwei Lieder ohne Worte (op. 67/5 und op.
62/6) von Felix Mendelssohn, die Nocturne f-Moll op. 55/1 sowie die
Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 von Frédéric Chopin, drei Preludes von Claude
Debussy (La danse de Puck, La cathédrale engloutie, Feux d’artifice) und die 7.
Klaviersonate B-Dur op. 83 von Sergei Prokofieff.
Oberflächlich bekannt als enfant terrible, als glänzender
Virtuose und dem Alkohol zugeneigter Nachtschwärmer, vergisst man gerne die
unvorstellbare musikalische Potenz von Samson François. Der Pianist starb
bereits im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines zwei Jahre zuvor erlittenen
Herzinfarkts und wir können nur erahnen, was wir von ihm noch hätten erwarten
können. Vorliegende CD gibt uns ein umfangreiches Bild seines Schaffens, wir
hören ein Rezital vom 3. Mai 1960, welches er also kurz vor seinem 36
Geburtstag spielte.
Samson François war ausgestattet mit einem genuinen Gespür
für musikalischen Ausdruck; er wusste genau, wie viele Freiheiten er sich
lassen konnte, um die Musik zur vollen Entfaltung zu bringen, so dass sie weder
zum Museumsstück noch zum persönlichen Stimmungsgemälde degradiert wird. Bei
aller Wildheit bleibt dabei die Struktur klar und die Linien nachvollziehbar,
die innermusikalischen Kontraste deutlich. François spürte die Intention des
Komponisten auf und brachte diese ans Licht, wodurch er verblüffende
Gegendarstellungen zu den landläufigen Vorträgen der Stücke schuf.
Das Programm wählte Samson François geschickt und
abwechslungsreich, so dass es gut am Stück durchhörbar ist, ohne, dass die
Aufmerksamkeit schwindet. Er beginnt mit zwei Liedern ohne Worte von Felix
Mendelssohn und einem Nocturne Chopins, in denen er je seine lyrische Seite
präsentiert, schlichter und sanglicher Vortrag von reinster Schönheit. Bei
Chopins Nocturne pedalisiert er ausgesprochen wenig, um die
Staccato-Artikulation der linken Hand zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen
Formteile setzt er durch starke Ritardandi voneinander ab, hält ansonsten das
Momentum jedoch aufrecht – was in einer herrlich unverträumten Darstellung des
Nocturnes resultiert, die dennoch nicht weniger sinnlich ist. Die zweite
Klaviersonate hält François formal streng zusammen und strafft sie sichtlich,
nicht zuletzt durch Auslassung sämtlicher Wiederholungen. Im Grave sticht der
graduelle Aufbau am Anfang hervor, im Scherzo die enormen Kontraste zwischen
den einzelnen Teilen. Der Marche funèbre erklingt tatsächlich einmal als Marsch
und nicht wie gewohnt als Trauergesang! Dies gelingt François durch eine
markige linke Hand, so dass die Tiefen sonor heraufklingen und nicht beiläufig
unter der Melodie verlorengehen, und durch präzise Rhythmik – so darf der
Mittelteil auch ein wenig sanfter dagegenwirken. Das Finale rauscht beinahe
konturlos und rasend schnell (1:05!) an uns vorüber; und doch nehmen wir eine
unterschwellige Bogenform wahr bis zu einem kurzen Sforzato und sofort wieder
zurück. Glänzende Virtuosität, aber mit musikalischem Impetus.
Debussy wollte die Titel seiner Preludes ursprünglich gar nicht
abdrucken, entschied sich aber auf Wunsch des Verlegers doch dafür. Eine gute
Entscheidung, denn die Stücke strahlen eine derartig hypersensitive Bildlichkeit
aus, dass die Titel beinahe unentbehrlicher Bestandteil werden – zumindest zur
Vollendung der Imagination. Diese Bilder setzt François präzise um und lässt
die Subjekte der Preludes regelrecht im Geiste auferstehen (ich glaube, selbst
ohne Wissen um die Titel, doch das kann ich nicht beurteilen). Wie lebendig und
keck springt der kleine Puck umher, und wie farbenprächtig strahlt das
Feuerwerk voller Spielfreude und Flexibilität. Zum Geniestreicht wird vor allem
aber die cathédrale engloutie, deren Aufsteigen und wieder Hinabtauchen wir
förmlich miterleben. Dabei überspielt François geschickt den notwendigen
Tempowechsel vor dem volltönenden Höhepunkt durch langes Accellerando und hütet
sich davor, aus dem zweiten Fortissimo noch einen Höhepunkt zu machen, was der
Gesamtstruktur sehr zugute kommt. François erlaubt sich sogar kleine Änderungen
des Notentexts inklusive einer neuen Bassnote im Höhepunkt, die jedoch durchaus
Sinn ergibt, da man so den Bass komplett durchhört und die tiefe Ebene nicht
zwischenzeitig entschwindet.
Die siebte Prokofieff-Sonate hören wir heute meist als wild
hämmerndes Getöse ohne Sinn und Struktur. Bei François geht es nicht weniger
wild zu – eher im Gegenteil – und doch vernehmen wir jede Linie glasklar und
den Verlauf schlüssig. Auch hier zieht der Pianist den Reiz aus
innermusikalischen Kontrasten, wobei er die Andante-Passagen nicht verträumt,
sondern im gleichen Precipitato-Trieb hält, der sich im Finale wörtlich
niederschlägt. Die teils unterschwellige Polyphonie bleibt luzide und jede
Stimme erhält ihren festen Platz.
Virtuosität und Brillanz müssen nicht gleichbedeutend sein
muss stumpfen oder unmusikalischem Spiel. Viel zu oft ist dies ein „entweder,
oder“, nicht jedoch bei Samson François. Und genau deshalb lege ich diese
Aufnahme alldenjenigen ans Herz, die trotz unbändigem Ausdruck nicht auf das
verzichten wollen, was Musik eigentlich ausmacht – denn diese beiden Pole sind
vereinbar, wie wir hier eindrucksvoll hören.
Label: Grand Piano, Art.-Nr.: GP794; EAN: 747313979424
Was für eine verrückte Idee: Der amerikanische Pianist Yvar
Mikhashoff (bürgerlich Ronald McKay, *1941, †1993) muss ein Tango-Besessener
gewesen sein, denn er hat zwischen 1983 und 1991 nicht weniger als 127
zeitgenössische Komponisten beauftragt, Tangos für ihn zu schreiben. Geplant
war laut dem sehr interessanten Interview mit der hier zu hörenden Pianistin
Hanna Shybayeva im Booklet zu dieser Veröffentlichung eine Notenausgabe aller
eingesandten Kompositionen. Leider verstarb Mikhashoff jung im Alter von 53
Jahren und konnte sein Projekt nicht zu Ende bringen. Nach seinem Tod fanden
sich 70 Tango-Kompositionen in seinem Nachlass. Ob die anderen beauftragten
Komponisten keine Stücke eingesandt hatten oder ob die Kompositionen irgendwie
verloren gegangen sind, ist aktuell noch nicht aufgearbeitet und wäre
wahrscheinlich eine schöne Aufgabe für angehende
Musikwissenschafts-Doktoranden.
Jedenfalls hat Hanna Shybayeva für ihr hochinteressantes Album
aus diesen 70 Tangos 17 ausgewählt, die sie um eine weitere, eigene
Transkription eines Piazzolla-Stücks ergänzte. Hochinteressant ist dieses Album
schon alleine deswegen, weil jeder Komponist etwas völlig anderes unter dem
Auftrag, einen Tango zu komponieren, verstand. Und so finden sich Tangos im
engeren Sinne eines „Tango Argentino“ ebenso wie Zwölftonmusik und Serialismus,
die kaum noch Ähnlichkeit mit dem „typischen“ Tango hat – und natürlich alle
möglichen und unmöglichen Abstufungen dazwischen.
Die beteiligten Komponisten lesen sich einerseits wie ein
„Who is who“ des 20. Jahrhunderts: (Nyman, Wolpe, Babbit, etc.), andererseits
tauchen Namen auf, die selbst Kenner der Szene kaum auf dem Schirm haben. Das
Album ist aber wohl auch kaum etwas für Repertoirekrämer und
Spezialitätensammler, sondern vermutlich eher etwas für den Genuss in „einem
Rutsch“. Die „Tangos for Yvar“ werden so zum skurrilen Gesamtkunstwerk, das als
ein Kuriosum des 20. Jahrhunderts äußerst liebenswert erscheint.
Hanna Shybayeva ist eine mit allen Wassern gewaschene
Pianistin, die bereits seit Anfang der 2000er-Jahre (damals startete sie
blutjung ihre Karriere bei Philips Classics) für unterschiedlichste Labels
Einspielungen beigesteuert hat (darunter in jüngerer Zeit Etcetéra, Ars
Produktion, Brilliant Classics). Sie spielt hoch virtuos und ihre Liebe zu
diesen Kompositionen, die sie persönlich für das Album ausgewählt hat,
schimmert häufig durch und gibt der Einspielung eine sehr persönliche Note. Von
der Interpretationsseite her betrachtet kann man sich dieses Projekt also kaum
besser wünschen. Lediglich der Aufnahmeklang enttäuscht, ist viel zu
undynamisch und wirkt leicht komprimiert. Die ganze Einspielung wirkt wie eine
Aufnahme einer klassischen Pianistin in einem Jazzmusikstudio. Das passt zu
manchen dieser Tangos zugegebenermaßen ganz gut, deckt aber die gesamte
Repertoirebandbreite nicht ab.
Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen. Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.
Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo
etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine
dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir
Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg
zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs
Klavierkonzert.
Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste
Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte
Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das
imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten
Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal
errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und
wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für
Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen
Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten
bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik
verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es
den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste
Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den
Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im
vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert
hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat
meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr
zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und
selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das
B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone
Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem
Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und
Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte –
schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten.
Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik,
hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt
dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose
harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio
überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.
Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor. Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!
Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.
Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.
Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.
Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für
diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs
80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich
bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola
und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren
die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von:
Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute
erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev.
1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex
für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai
Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das
Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen,
Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke
Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und
wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden,
gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage
zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall,
indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies
sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für
ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil
sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen
seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese
immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer
Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und
eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete
sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds
Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er
regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt
beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches
Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten
Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher
Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist
laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik
und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich
ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das
Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder
Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren
seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er
denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an
Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen
muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema
als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine
Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich
anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt
des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als
Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider
zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst
reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen
Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen
muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie;
oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er
sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem
Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und
fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim
Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück
unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal
wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein,
bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich
darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird;
er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben
steht.
Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem
Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat
ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er,
während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel
Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt
und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier
bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal
auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der
dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht
entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt.
Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper
Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die
zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit
zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen
Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er
sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar
unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen.
Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die
Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten
Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen
mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen
Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von
denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes
Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf
die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten
die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir
das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem
Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch
heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es
musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der
Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren,
dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie
meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt.
Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und
beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich,
teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es
klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben,
den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie
Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und
Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig
abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh
und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich
jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar
eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die
beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo
Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und
setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu
vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für
ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem
Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um
das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen
Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden
Musikern, die so präzise hörten und interagierten.
Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch
zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten
Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit
von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen
Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt
wurden.
Das deutsche Symphonie-Orchester Berlin widmet sich unter Leitung von Antoni Wit den Streicherkonzerten von Johannes Brahms. Mit der Solistin Tianwa Yang steht das Violinkonzert D-Dur op. 77 auf dem Programm, im Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester a-Moll op. 102 kommt Gabriel Schwabe hinzu.
Johannes Brahms gehört zu den ganz wenigen großen
Komponisten vor Ausbruch der Atonalität, der durchweg unzeitgemäß komponierte,
dessen Musik nicht durch seine Zeit beflügelt wurde, sondern sich ständig gegen
sie zur Wehr setzen musste. Ließen sich frühe Werke noch annäherungsweise als
Fortführung der Tradition der Wiener Klassiker bezeichnen, löste er sich in
späteren Jahren durch die enorme Konzentration und Komprimierung auf das
Wesentliche vollkommen von seiner musikalischen Umwelt. Brahms‘ Werke sind
weder fortschrittlich, noch sind sie reaktionär – sie beschreiten einen ganz
eigenen Weg und stehen für sich alleine. Auf sein Umfeld musste Brahms
gespalten gewirkt haben, verehrt als den Meister, den man nicht verkennen kann,
und zugleich skeptisch beäugt, da er nicht so recht passen wollte in die Zeit
und in die aktuelle Musik.
So verwundert auch nicht, dass die Musik von Brahms
regelmäßig floppte oder zwiegespalten aufgenommen wurde. Das Publikum musste die
Werke einfach schätzen, doch verstanden sie nur die wenigsten. Das trifft
besonders auf sein letztes Orchesterwerk zu, dem bahnbrechenden Doppelkonzert
a-Moll, welches die beinahe ausgestorbene Gattung auf völlig neue Weise
wiederbelebte. Warum hingegen das Violinkonzert derartig populär wurde trotz
des gewaltigen und kaum durchdringbaren Kopfsatzes, bleibt fraglich: Lag es am
Einsatz des Widmungsträgers Joseph Joachim, an der an Unspielbarkeit
gemahnenden Schwierigkeit oder am eingängigen Thema des Finals?
Die mitwirkenden Musiker dieser CD präsentieren tiefes Verständnis und ansprechende Lebendigkeit in Kombination mit einer hinreißenden Schlichtheit. Für das Projekt ging Naxos in die Vollen und engagierte das Weltruhm genießende Deutsche Symphonieorchester Berlin und nahm die CD in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin Dahlem auf, in der bereits Furtwängler, Karajan, Abbado, Barenboim und zahlreiche andere konzertierten und einspielten. Als Solistin glänzt Tianwa Yang durch ihre Leichtigkeit und ihr akkurates Zuhören, wodurch sie stets in einer Einheit mit dem Orchester bleibt. Auch das Orchester unter Leitung Antoni Wits bleibt ausgewogen, wenngleich gerade im Kopfsatz die Tontechnik die Ausgeglichenheit unterminiert: Die hohen Streicher wurde deutlich heruntergeregelt, vermutlich um der Solovioline den Vortritt zu lassen, doch dadurch leidet die gesamte klangliche Abstimmung der Musiker. Im Mittelsatz bröckelt anfangs das Tempo zu einem Achtelzeitmaß, später gewinnt Yang das von Brahms ausdrücklich vorgeschriebene Viertelmaß wieder zurück und leitet energetisch direkt über in das souveräne Finale. Im Doppelkonzert unterstützt Gabriel Schwabe, der bereits das gesamte Cellowerk Brahms‘ aufgenommen hat, und fügt sich problemlos in das Geflecht der Stimmen ein. Die beiden Solisten wirken zusammen ohne jeden Bruch, sie sind perfekt aufeinander eingespielt. Schwabe erreicht auf dieser CD eine beinahe unerhörte Sanftheit der Cellostimme, wie sie nur von wenigen Meistern erreicht wurde, derart zart und weich klingt sein Instrument. Im Doppelkonzert kommt nun auch die Tontechnik weitesgehend mit und so schweißen alle Beteiligten das Konzert zusammen zu einem großen und zeitlosen Werk mit kolossaler Spannweite und tief empfundenem Ausdruck.
Tianwa Yang – nach einigen ganz außerordentlichen Sarasate- und Rihm-Aufnahmen so etwas wie die Star-Violinistin des Naxos-Labels – hat nun unter der Leitung von Antoni Wit Brahms‘ Violinkonzert und zusammen mit Gabriel Schwabe das Doppelkonzert eingespielt. Naxos kann hierbei auf einen so bedeutenden Klangkörper wie das DSO Berlin zurückgreifen. Das alleine schon weckt hohe Erwartungen.
Die
Anzahl der – verschiedenen – Aufnahmen des Brahms-Violinkonzerts dürfte
mittlerweile die 300 weit übersteigen; und auch vom im Konzertsaal doch
seltener gespielten Doppelkonzert für Violine und Violoncello a-moll op. 102
ist sie sicherlich dreistellig. Dass die in Deutschland lebende Chinesin Tianwa
Yang momentanzu den talentiertesten Geigerinnen gehört, sollte
spätestens nach ihren acht Sarasate-CDs und den jüngsten Aufnahmen mit Werken
von Wolfgang Rihm außer Frage stehen. Noch recht neu im Tonträgergeschäft ist
der mehrfach ausgezeichnete Berliner Cellist Gabriel Schwabe – seine Saint-Saëns-CD
ließ schon mal aufhorchen. Antoni Wit – bei Naxos mit seinen fast
durchgehend konkurrenzlos guten Lutoslawski- und Penderecki-Einspielungen ein
alter Hase – konnte live schon immer mit Brahms überzeugen. Der eigentliche
Paukenschlag dieser Neueinspielung ist jedoch die Tatsache, dass Naxos diese
Aufnahme mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin realisieren
konnte, und dies auch noch in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem, jahrzehntelang
die Top-Location für aufwändige Projekte, vor allem Opern, der „alteingesessenen“
Labels.
Tatsächlich
kann die musikalische Darbietung hier mit denen etlicher „Weltstars“ mithalten:
Frau Yang gelingt im Violinkonzert eine packende Interpretation, die nicht nur
technisch höchste Erwartungen befriedigt: Extrem willensstarker Zugriff vom
ersten Einsatz an, in den lyrischen Passagen romantischer Gesang, der sich über
Klangschönheit hinaus ausdrucksmäßig entfaltet, aber auch Mut zu kleinen Brahms-typischen
Grobheiten. So intoniert Yang etwa die übermäßigen Sexten (erster Satz, T. 237
ff. bzw. T. 480 ff.) bewusst dissonant, nicht zu kleinen Septen weichgespült. Ihre
Artikulation erscheint genauestens durchdacht, hält sich nicht stur an die
Vorgaben der Partitur, die Agogik ist flexibel und immer sinnfällig, die
Joachim-Kadenz wirkungsvoll. Wit und sein Orchester begleiten dies ohne Fehl
und Tadel, präziser (Intonation!) als etwa Karajans Berliner Philharmoniker
Anne-Sophie Mutter bei ihrer ersten Aufnahme, die natürlich auch schon 37 Jahre
her ist. Der eher unproblematische Orchestersatz erreicht bei den beiden Werken
allerdings auch nicht annähernd die Komplexität von Brahms‘ Symphonien oder
Klavierkonzerten. Das Tempo im Adagio ist flüssig, beim Finale schießt die
Solistin anfangs leider ein wenig übers Ziel hinaus, neigt leicht zum Treiben.
Das Ganze gefällt aber durch eine wirkliche Frische, bei der man die echte
Begeisterung aller Beteiligten an diesem Repertoire – trotz Routinegefahr –
doch spüren kann.
Noch
besser erscheint im Vergleich das Doppelkonzert: Hier überwiegt eine
Leichtigkeit, die andere Interpreten Brahms wohl nicht zutrauen mochten, die
dem über Strecken ein wenig akademisch wirkenden Stück aber offensichtlich sehr
guttut – darin herrscht bei beiden Solisten und dem Dirigenten absolute
Einigkeit. Das wird dann gewissermaßen zu feinsinniger Kammermusik für den
großen Konzertsaal – gleichzeitig mit reichlich Raum für solistische
Entfaltung. Im Mittelsatz überwiegt die Demonstration des Dialogisierens gegenüber
der unterschwelligen Melancholie; das ungarisch angehauchte Finale ist wieder
ein wahres Feuerwerk. Das moderne Konzept der Musiker eines jugendlich-frischen
Brahms geht auf und hat zweifellos seine Daseinsberechtigung – eine der überzeugendsten
Einspielungen im Studio überhaupt.
Bliebe
nicht doch ein Wermutstropfen: Leider bleibt die Aufnahmetechnik des
Naxos-Teams weit hinter dem zurück, was man von anderen Produktionen an diesem
Ort kennt. Die Dynamik wirkt etwas zu gepresst, der optimale Hall dieser Kirche
kommt kaum zur Geltung, der Bass ist zu dünn, Höhen und vor allem die
Mittellage erscheinen fast schon penetrant hervorgehoben. Das Klangbild ist
also insgesamt inhomogen und nervig, wie aus einer Blechdose – schade. Heymanns
hervorragende Künstler, die in diesem Fall keine Konkurrenz fürchten müssen, hätten
da mehr Sorgfalt verdient. Das wird man in Berlin zukünftig hoffentlich noch
nachjustieren.