Chandos, Chan 20122(2); EAN: 0 95115 21222 6
Für Chandos nimmt das Doric String Quartet, bestehend aus Alex Redington, Jonathan Stone, Hélène Clément und John Myerscough, alle Streichquartette Felix Mendelssohns auf. Der vorliegende erste Teil dieser Aufnahme beinhaltet auf zwei CDs die Quartette op. 12 Es-Dur, op. 44/3 Es-Dur und op. 80 f-Moll.
Neben Mozart zählt Felix Mendelssohn wohl als bekanntestes Wunderkind der Musikgeschichte: Seit frühester Kindheit an lauschte er den Kammermusikkonzerten im Wohnzimmer seiner Familie und begann schnell, selbst zu komponieren. Später verbannte er die meisten Kompositionen dieser Zeit in die Schublade: Mittlerweile wurden sie entdeckt und zumindest zu großen Teilen gespielt und aufgenommen. Dazu gehören neben den zwölf heute recht populären Streichersymphonien mehrere Instrumentalkonzerte mit Streicherbegleitung und eine Vielzahl vorzüglicher Kammermusikwerke, unter anderem ein mit 14 Jahren komponiertes Streichquartett und zahlreiche Fugen für diese Besetzung.
Zu Lebzeiten publizierte Mendelssohn sechs Streichquartette (opp. 12, 13, 44/1-3, 80), Funde von Skizzen und Stücken für diese Besetzung könnten auf die Arbeit an einem siebten schließen lassen. Orientieren sich die ersten fünf Quartette formal noch an Beethovens Gattungsbeiträge (wenngleich natürlich in unverkennbar eigenem Stil), so geht Mendelssohn mit seinem op. 80 in f-Moll gänzlich andere Wege. Dieses Werk entstand in tiefer Depression nach dem unerwarteten Tod seiner Schwester Fanny Hensel und verarbeitet den Schicksalsschlag innig, aufwühlend und expressiv, gespickt mit Dissonanzen und herben Tremoli, suchend statt findend. Mendelssohn selbst bezeichnete es als Requiem für Fanny, doch es sollte zugleich sein eigenes werden; das Streichquartett war Mendelssohns letztes fertiggestelltes Werk.
Die Aufnahmen des Doric String Quartets fallen auf durch die unnachgiebige Kraft ihrer musikalischen Aussage. Was die Musiker spielen, das meinen sie auch. Sie versuchen nicht, Mendelssohn in eine Kategorie einzuordnen, ihn wie Beethoven darzustellen oder in eine Romantiker-Schiene zu bringen, sondern erkunden den persönlichen Stellenwert dieses Komponisten. Die Quartette opp. 12 und 44/3 erhalten dabei strahlenden Glanz und kernige Linien, op. 80 sticht durch geheimnisvolle Zwischenklänge und extreme Kontraste hervor. Besonderes Augenmerk legt das Doric String Quartet auf die Klarheit der Polyphonie und auf das ‚Concertieren‘, Wetteifern, der Instrumente: Oftmals instrumentiert Mendelssohn die vier Streicher so, dass einer gegen die drei anderen antreten muss, was jedoch immer anderen innermusikalischen Gründen entspringt.
Die Musiker des Doric String Quartets haben ein Gespür dafür entwickelt, wo in der Musik sie sich gerade befinden. In den Finalsätzen ist dies noch nicht so deutlich ausgeprägt, umso mehr dafür in den großformatigen Kopfsätzen, wo sie den Hörer von der ersten bis zur letzten Note geleiten; dabei ist ihnen stets bewusst, was bereits passierte und was noch geschehen wird – eine außerordentlich seltene Fähigkeit für heutige Musiker!
[Oliver Fraenzke, April 2019]