„Die Zeit der Nacht, der Zauber ist vorbei“

Aribert Reimanns „Medea“ wird im Aalto-Theater zum modernen Psychodrama

Musikalische Leitung: Robert Jindra, Inszenierung: Kay Link. Bühne, Kostüme, Video:
Frank Albert. Choreographische Mitarbeit:  Julia Schalitz. Dramaturgie: Christian Schröder

Solisten:
Medea: Claudia Barainsky. Gora, ihre Amme: Marie-Helen Joël. Jason:
Sebastian Noack. Kreon, König von Korinth: Rainer Maria Röhr. Kreusa, seine Tochter: Liliana de Sousa. Ein Herold: Hagen Matzeit

Aufführung am Samstag, 6.April 2019, Aalto-Theater Essen

Foto © Karl Forster

Die antike Welt ist in Kay Links Inszenierung von Aribert Reimanns Oper „Medea“ zu einem neumodischen Luxusbau erstarrt, der irgendwo in einer „gentrifizierten“ Metropole von heute stehen könnte. Die Figur der Medea, jene umstrittene Kindermörderin wird hier zur Getriebenen, die an den kalten Egoismen ihrer Mitwelt verzweifelt. Bestimmt das Sein das Bewusstsein? Im Essener Aalto-Theater wird Reimanns im Jahr 2010 an der Wiener Staatsoper uraufgeführte moderne Oper zur beklemmenden Parabel über das Ende von Beziehungen – das Publikum feierte die überragende musikalische und darstellerische Leistung mit viel Enthusiasmus.

Vor allem die Anforderungen an Claudia Barainsky als „Medea“ sind extrem. Ein großer Teil der zweieinhalb Stunden mutet wie ein Monolog an, was für die herausragende Sopranistin schon Tour de Force genug ist. Reimann komponiert streng von der Gesangslinie aus: Jede Seelenregung hat bis in die letzte Nuance seine Entsprechung in den melismatischen Gesanglinien, die aber zugleich eine riesige Menge Text transportieren. Ebenso gefordert ist das Orchester, sich ständig weit von den Pfaden gewohnter Aufführungsroutine zu entfernen, um diesen dramatischen Prozess mit einem Geflecht aus Spaltklängen, Mikrointervallen, geräuschhaften Passagen und dramatischen Ausbrüchen zu überhöhen – eine spektakuläre Großtat also auch vom Orchester unter Leitung des  neuen Ersten Kapellmeisters Robert Jindra!

Die Story spielt in der Antike. Ihr Konflikt passt aber in heute gesellschaftliche Wirklichkeit, in der egoistische Kälte eher zu – als abnimmt. Die Königstochter Medea hat sich in verhängnisvolle Dinge hineinreißen lassen. Sie wird zur Komplizin des griechischen Prinzen Jason (schneidend expressiv verkörpert durch Sebastian Noack), der das sagenumwobene goldene Vlies aus Kolchis raubt. Medea isoliert sich sozial durch diese Handlung. Sie, Jason und die beiden gemeinsamen Kinder flüchten und versuchen, in Korinth als Asylsuchende unterzukommen. Der soziale Zusammenhalt, den eine solche Krisensituation braucht, erweist sich als brüchig: Jason serviert Medea wegen einer anderen, nämlich der korinthischen Prinzessin Kreusa (glamourrös und exaltiert: Liliana de Sousa) eiskalt ab. Die Gefühlskälte geht noch weiter: Er will ihr fortan auch die gemeinsamen Kinder vorenthalten. Sie bleibt als Enttäuschte, Verletzte übrig, dem Kontrollverlust nah.

Claudia Barainsky zeigt sich in all diesen aus den Fugen geratenen Seelenzuständen als über alle Grenzen erhabenes Energiebündel, was es auch braucht, um dem ganzen Psycho-Höllentrip der Hauptfigur gerecht zu werden. Die Kostümwahl ist nüchtern, aber symbolträchtig: Medea immer in knallrot – als Schuldige, Getriebene, Verurteilte! Rot als Vorweggnahme der finalen Bluttat?

Es kommt zur finalen Katastrophe, wenn schließlich Flammen über eine Projektionswand züngeln, der Orchesterapparat immer schneindendere Geräuschwelten, immer aberwitzigere Spaltklänge erzeugt und schließlich Medea als Getriebene zum Racheengel wird, welche die Nebenbuhlerin und schließlich ihre Kinder mordet. Die  Tat bleibt ungesühnt und es gibt kein Moralisieren am Schluss. Fast existenzphilosophisch muten die letzten Worte an, welche Medea singt:  „Der Traum ist aus, aber die Nacht dauert noch an“ .

[Stefan Pieper, April 2019]

Weitere Aufführungen: 16.4 / 17.4 / 10.5

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