Christoph Graupner (1683-1760): Das Leiden Jesu, Passion Cantatas III
Solistenensemble Ex Tempore, Barockorchester Mannheimer Hofkapelle, Florian Heyerick
Cpo, CD 555 230 2; EAN 7 61203 52302 3
Wer war Christoph Graupner? Der
Komponist am Darmstädter Hof, der etwa 2.000 Werke schrieb, Opern,
weltliche Kantaten, 113 Sinfonien, 44 Solokonzerte usw., usw… Seine
Neuentdeckung begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist noch
längst nicht abgeschlossen. Verdienstvoll, dass seine Musik auf
mehreren CDs vorliegt, cpo ist wieder federführend, auch diesmal.
Die Musik fesselt von ersten bis zum letzten Ton, sowohl von ihrer
Melodik als vor allem durch das klangliche und instrumentale
Spektrum. Darmstadt war damals eines der wichtigsten und
renommiertesten Zentren für die zeitgenössische Musik. Bekannte und
berühmte Solistinnen und Solisten kamen an den Hof, Graupner fand
also für seine musikalischen Utopien auch die entsprechenden
Musiker, auch wenn er gerne nach Leipzig als Nachfolger von Johann
Kuhnau gekommen wäre. Sein Dienstherr erlaubte das nicht, was für
Darmstadt eine ganz besondere Blüte bedeutete.
Die Aufführung dieser drei Passionen
ist vorbildlich. Nicht nur, was die Solistinnen und Solisten, das
Orchester und den Chor angeht, auch Florian Heyerick, der Leiter –
vielbeschäftigt und in mannigfachen Funktionen unterwegs –
überzeugt durch die Bank in allen Ausdrucksbereichen. Das Hören
dieser angeblich so unzeitgemäßen Musik ist gerade im durch
Bach’sche Passionen überreich eingeengten Repertoire eine
hervorragende Ergänzung und Entdeckung.
Vielleicht gelingt es sogar, einiges
aus Graupners Opernschaffen wieder einmal auf die Bühne zu bringen
und auch da die Programme zu erweitern?
Zwar verfügte Christoph Graupner, dass
alle seine Kompositionen nach seinem Tod vernichtet werden sollten,
allein seine Erben setzten in einem jahrelangen Rechtsstreit durch,
dass heute fast alle seine Werke in der Universitäts- und
Landesbibliothek Darmstadt erhalten sind. Wir dürfen also gespannt
sein auf weitere großartige Entdeckungen.
Sonntags-Matineee der
Kammerphilharmonie dacapo München am 14. April 2019 im
Herkulessaal: Mozart, Mendelssohn, Brahms
Was ist besser als ein Orchester? Natürlich deren zwei. Vor allem, wenn damit nicht nur die Musik, sondern auch der kulturelle und persönliche Austausch zwischen so weit entfernten Ländern wie Taiwan und Deutschland gefördert wird. Und so saßen beim sonntäglichen Konzert der Kammerphilharmonie dacapo nicht nur die hiesigen Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, auch Spielerinnen und Spieler eines Taiwanesischen Orchesters aus Kaohsiung verstärkten die Besetzung.
Zuerst – welch ein Beginn eines
vollbesuchten Sonntagskonzertes – erklang mit dem jungen Jernej
Cigler aus Slowenien als Hornsolist das vierte Hornkonzert in Es-Dur
KV 495 von W.A. Mozart, delikat begleitet vom Streichorchester der
Kammerphilharmonie DaCapo und ihrem Dirigenten Franz Schottky. Zu den
sehr ansprechenden Eigenheiten diese Konzertreihe gehört – wie
üblich – die Begrüßung und eine kurze Einleitung des Programms
durch Franz Schottky, der auch die beiden Solisten des Tages und die
Gäste aus Fernost vorstellte und begrüßte. Natürlich kennt „man“
die Mozartschen Hornkonzerte, obwohl sie seltener im Programm stehen
als es diese wunderbare Musik verdient, aber das leibhaftige Erleben
ist dann doch wieder einmal etwas ganz Eigenes. Vor allem, wenn der
Solist so überzeugend seinen Part vertritt wie es Jernei Cigler in
den drei Sätzen tat. Besonders schön gelang der langsame zweite
Satz, die Romanze.
Als zweites Konzert stand jenes berühmte Violinkonzert in e-Moll op. 64 auf dem Programm. Der junge Augsburger Simon Luethy spielte auf seiner Gaglino Geige mit dem Satori-Bogen dieses bei allen Geigern hochgeschätzte Stück mit souveräner Meisterschaft, begeisterte Publikum und Musiker gleichermaßen mit seiner uneitlen und hochmusikalischen Präsenz, die dem Orchester Anlass bot, das „Silbertablett“ seiner Begleitkunst zu präsentieren. Auch hier wieder gelang der langsame zweite Satz, das Andante, ganz besonders schön und innig, aber auch der Virtuosität des ersten und dritten Satzes bleiben Solist und Orchester nichts schuldig. Großer Beifall und als Zugabe eine Paganini Caprice Nr. 3 .
Nach der Pause – noch einmal vergrößerte sich das gemeinsame Orchester für die vierte Symphonie von Johannes Brahms in e-Moll. Für Arnold Schönberg begann mit dieser – Brahms letzter – Symphonie das Zeitalter der Neuen Musik, wie Franz Schottky zu Anfang erwähnte. Und wirklich zeigen diese vier Sätze ein Kompendium der rhythmischen und melodischen, neue Klänge schaffenden, sowie polyphon-verarbeitenden Meisterschaft des 52-jährigen Komponisten, sie ist vor allem im letzten, vierten Satz ein absolutes Novum der bisherigen Musikgeschichte. Brahms verwendet hier, ausgehend von einem Bach‘schen Thema eine bis dahin nicht symphonisch verwendete Variationsform, die weit in die Zukunft deutet. Das Orchester lief zu Hochform auf, Bläser und Streicher, Pauken und Schlagzeug ebenfalls und unter der Stabführung von Franz Schottky erblühte dieses letzte Meisterwerk des Johannes Brahms in Gelassenheit voller Energie vom ersten bis zum letzten Ton. Wie modern und faszinierend auch heute noch diese Musik ist und berührt, zeigte der enthusiastische Beifall, der dem Orchester und seinen besonders geforderten Solistinnen und Solisten gebührte.
Ceterum censeo… Ein viel zu wenig beachtetes, jedoch beachtenswertes Orchester! Aber das Nichtbeachten ist ja leider beim heutigen Münchner Feuilleton schon Usus.
Der 1995 in Paris geborene Pianist Jean-Paul Gasparian präsentiert auf seiner zweiten CD Werke russischer Komponisten. Er spielt die Études-Tableaux op. 39 von Sergei Rachmaninoff, die zweite Klaviersonate op. 19 sowie Trois Études op. 65 von Alexander Scriabin und Sergei Prokofieffs zweite Klaviersonate d-Moll op. 14.
Zwar unterscheidet sich die Musik von Rachmaninoff, Scriabin
und Prokofiev grundsätzlich in ihrer Intention und ihrer Wirkung, doch sie
warten mit ähnlichen Gefahren für den ausführenden Musiker auf. Alle drei
Komponisten sind recht dankbar für den Pianisten, was bedeutet, dass sie bei
der Darbietung kaum so sehr verstümmelt werden können, dass ihre überbordende
Wirkung komplett verloren ginge. Doch eben dadurch geben sie sich dem Pianisten
gegenüber auch undankbar, denn genau auf dem schmalen Grad zwischen Effekt und
tatsächlichem musikalischen Inhalt trennen sich die rein technikaffinen Musiker
von denen, die weiter- und der Musik auf den Grund gehen.
Gasparians Spiel zeichnet sich durch eine Frische und
Lebendigkeit aus, die vielen älteren Kollegen fehlen oder die ihnen
verlorenging. Obgleich er sich gerne auf gewisse Grundstimmungen verlässt, geht
er auch mit der Musik mit und erkundet sich auftuende Änderungen der
Atmosphäre; mit diesen platzt er nicht sogleich heraus, sondern bringt sie dem
Hörer allmählich und mitvollziehbar näher.
Rachmaninoff verleiht er eine angenehme Süßlichkeit, die dem persönlichen Weltschmerz des Komponisten schmeichelt, ohne ihn überzustrapazieren. Gasparian gelingt es, flächige Passagen oder Stücke in der schwebenden Spannung zu halten, so wie die zweite Rachmaninoff-Etüde, bei welcher der Pianist den Reiz aus der verschobenen Rhythmik zieht. Manche der heute so oft anzutreffenden „Pianistin-Krankheiten“ in Form von Manierismen zeigen sich bei Jean-Paul Gasparian nur in den kargeren Strukturen wie der 7. Und 9. Etüde aus dem Opus 39: Hier bemerkt der Hörer schnell, dass die Rubati stets mechanisiert gleich an den selben Stellen und Motiven auftauchen, und, dass das Tempo ohne erkennbaren Grund deutlich schwankt – selbiges im ersten Satz der Scriabin-Sonate, in welcher sich das Tempo zwischenzeitlich sogar in etwa verdoppelt! Abgesehen davon hält Gasparian die Sonate allerdings gut zusammen und trägt den Hörer auch über die schwierig zu realisierenden Generalpausen des Anfangs und die über lange Konturlosigkeit des zweiten Satzes hinweg. Scriabins drei Etüden op. 65 erforschen je ein bestimmtes Intervall: Die große Non, die große Sept und die reine Quint. Die dadurch entstehenden eigenwilligen Harmonien hebt Jean-Paul Gasparian hervor, wodurch es ihm sogar gelingt, in einer Art „Gewöhnungseffekt“ die Dissonanzen beinahe zu Konsonanzen werden zu lassen. (Gleiches versuchte Scriabin mit der kleinen Sept bereits in seinem frühen Präludium op. 11/2.) Besonders gelungen hören wir auf dieser Aufnahme die zweite Prokofiev-Sonate: Gasparian entsagt jeder Art von brachialen Akkordentladungen, gedroschenen Läufen oder Effekthascherei, er bleibt weich, durchlässig und verleiht auch diesem Komponisten eine angenehme dolce-Note – eine erfrischende Gegendarstellung zu den meisten Darbietungen des Werks, in der wir auch einmal eine ganz andere Seite von Prokofiev wahrnehmen, welche so oft verborgen bleibt.
Sofia de Salis und Iryna Krasnovska gingen für die Aufnahme ihrer Duo-CD in Wuppertals Immanuelskirche in Klausur
Kirchenräume bieten eine gute Zuflucht, wenn es draußen
heiß ist. Auch die Wuppertaler Immanuelskirche ist ein idealer Ort für
Konzentration und Versenkung – in diesem Fall für die russisch-schweizerische
Flötistin Sofia de Salis und die ukrainische Pianistin Iryna Krasnovska, die im
August 2018 in nur drei Tagen ihre neue CD „Shades of Love“ aufnahmen. Jetzt
liegt das Resulat vor – jedes Werk von Franz Schubert, Robert Schumamm und
César Frank erzählt dabei eine Liebesgeschichte für sich.
Die kühlen Temparaturen, die in dieser Kirche, die zum
Aufnahmeort für das ARS-Label umfunktioniert wurde, herrschen, fördern in
diesen „Hundstagen“ die entspannte Routine. Eine ganze Woche war für die
Aufnahmen eingeplant, aber schon nach drei Tagen steht alles weitgehend. „Wir
fühlten uns auf Anhieb hier sehr zuhause“ –
bekundet Sofia de Salis im Nachhinein. Sie benennt eine wichtige
Grundlage für eine gute Aufnahme: „Ich muss mich frei fühlen. Iryna und ich
schätzen am Tonmeister Manfred Schumacher, dass er nie bevormundet. Wir können
hier machen, was wir wollen. Das ist sehr wichtig, um produktiv zu sein“.
Was nicht ausschließt, dass Schumacher Vorschläge macht und
im richtigen Moment den Blick auf etwas lenkt. Wichtig sei, dass die letztliche
Entscheidung bei den Künstlerinnen selbst liegt: „Es gibt Tonmeister, die haben
schon irgendeine Version im Ohr und wollen diese dann auf die neue Aufnahme
kopieren. Damit degradieren sie die Musiker zum Werkzeug ihrer eigenen
Vorstellungen.“
Von so etwas frei, durchdringt bei den Aufnahmesessions viel
ansteckende Spielfreude den Kirchenraum, der durch das ARS-Label zum Studio
umfunktioniert wurde. Die braucht es auch in diesem Moment, denn eine physisch
fordernde Tour de Force bleiben die Werke für die neue CD allemal – nicht
zuletzt wegen der riesigen emotionalen Bandbreite und den entsprechend
auszugestaltenden Spannungsbögen: „Vor allem Schuberts Arpeggione-Sonate war
eine fast sportliche Herausforderung für mich. Für Iryna war Cesar Francks
Sonate mit ihrem gigantischen Klaviersatz besonders anspruchsvoll. Aber wir beide
sind ein wunderbares Team und haben schon viele Jahre lang gemeinsam gespielt.
Iryna weiß, wie sie mich motivieren kann, wenn bei mir die Kraft zur Neige
gehen droht – und umgekehrt!“
„Shades of Love“ definiert das Thema für das gewählte
Programm für diese CD-Aufnahme: „Alle Kompositionen dieser CD präsentieren sehr
verschiedene Farben der Liebe und des Lebens an sich. Jedes Stück leistet
seinen eigenen Beitrag dazu. Franz Schuberts Arpeggione-Sonate bringt ein altes
Streichinstrument ins Spiel, auf dem Liebende einst gerne vor dem Fenster der
Angebeteten musizierten. Robert Schumanns Romanzen sind eine Liebeserklärung an
seine Frau Clara. Sie widerspiegeln darüber hinaus Schumanns beginnende
psychische Erkrankung. César Francks Sonate hat auch etwas mit Liebe zu tun,
denn sie war als Hochzeitsgeschenk für Eugene Isaye gedacht.“
Das gegenseitige Motivieren zwischen Sofia des Salis und
Iryna Krasnovsksa sowie die menschliche und fachliche Unterstützung durch
Annette und Manfred Schumacher haben das Endresultatet hörbar geprägt:
Schuberts a-Moll-“Arpeggione“-Sonate in dieser Version für Flöte und Klavier,
ebenso Cesar Francks berühmte A-Dur-Sonate werden auf dieser CD zu einem
runderneuerten Hörerlebnis. Spieltechnisch bietet Sofia des Salis einiges auf,
dass es den Hörer in die elementare Gefühls-Fieberkurve dieser Komposition
hinein zieht. Schumanns Romanzen markieren gewisse elegische Ruhepole nach
hitzigen Gefühlskurven der voran gehenden Sonaten. Sofia de Salis ist stolz,
dass diese CD auch eine Weltersteinspielung präsentiert. So ist Franz Schuberts
„Atzenbrugger Tanz“ zum ersten Mal für Flöte aufgenommen worden.
Wenn die Flötistin Sofia des Salis großes
kammermusikalisches Repertoire zur Sache ihres eigenen Instrumentes macht, hat
dies immer etwas mit Aneignung zu tun.
„Da ist auch der Wunsch, zu zeigen, wie es auf der Flöte klingt, was für andere
Instrumente geschrieben war. Man muss es nicht vergleichen – es ist halt ein
anderes Erlebnis.“
Es gibt auch Limitierungen durch das eigene Instrument, die
sich Sofia de Salis bewusst sind: „Wenn beispielsweise Schubert oder Franck für
ein Streichinstrument schreiben, kommen zwangsläufig Doppelgriffe ins Spiel.
Natürlich kann hier eine Violine, eine Viola oder ein Cello mehr.“ Dafür hat
die Flöte aber vieles in Sachen Unmittelbarkeit anderen Instrumenten voraus,
und genau dieser Aspekt reizt die in Russland geborene, heute in der Schweiz
lebende, vielbeschäftigte Musikerin, deren Mutter Gesangslehrerin ist. Auf dem
Instrument spielen und Singen liegt für Sofia de Salis sehr eng beieinander.
„Ich kann in verschiedenen Tonlagen sehr flexibel die Klanggfarbe verändern,
so, als würde ich singen. Ich habe mir hierfür eine spezielle Technik
angeeignet, bei der die Luftmenge im Mund konzentriert wird. Vor allem in der
Cesar-Franck-Sonate mit seinen Tonlagenwechseln kommt mir das sehr zugute. Ich
laufe niemals Gefahr, dass der Ton flach wird, wenn es mal richtig hoch hinaus
geht“.
Für Chandos nimmt das
Doric String Quartet, bestehend aus Alex Redington, Jonathan Stone, Hélène
Clément und John Myerscough, alle Streichquartette Felix Mendelssohns auf. Der
vorliegende erste Teil dieser Aufnahme beinhaltet auf zwei CDs die Quartette
op. 12 Es-Dur, op. 44/3 Es-Dur und op. 80 f-Moll.
Neben Mozart zählt Felix Mendelssohn wohl als bekanntestes
Wunderkind der Musikgeschichte: Seit frühester Kindheit an lauschte er den
Kammermusikkonzerten im Wohnzimmer seiner Familie und begann schnell, selbst zu
komponieren. Später verbannte er die meisten Kompositionen dieser Zeit in die
Schublade: Mittlerweile wurden sie entdeckt und zumindest zu großen Teilen gespielt
und aufgenommen. Dazu gehören neben den zwölf heute recht populären
Streichersymphonien mehrere Instrumentalkonzerte mit Streicherbegleitung und
eine Vielzahl vorzüglicher Kammermusikwerke, unter anderem ein mit 14 Jahren
komponiertes Streichquartett und zahlreiche Fugen für diese Besetzung.
Zu Lebzeiten publizierte Mendelssohn sechs Streichquartette
(opp. 12, 13, 44/1-3, 80), Funde von Skizzen und Stücken für diese Besetzung
könnten auf die Arbeit an einem siebten schließen lassen. Orientieren sich die
ersten fünf Quartette formal noch an Beethovens Gattungsbeiträge (wenngleich
natürlich in unverkennbar eigenem Stil), so geht Mendelssohn mit seinem op. 80
in f-Moll gänzlich andere Wege. Dieses Werk entstand in tiefer Depression nach
dem unerwarteten Tod seiner Schwester Fanny Hensel und verarbeitet den
Schicksalsschlag innig, aufwühlend und expressiv, gespickt mit Dissonanzen und
herben Tremoli, suchend statt findend. Mendelssohn selbst bezeichnete es als
Requiem für Fanny, doch es sollte zugleich sein eigenes werden; das
Streichquartett war Mendelssohns letztes fertiggestelltes Werk.
Die Aufnahmen des Doric String Quartets fallen auf durch die
unnachgiebige Kraft ihrer musikalischen Aussage. Was die Musiker spielen, das
meinen sie auch. Sie versuchen nicht, Mendelssohn in eine Kategorie
einzuordnen, ihn wie Beethoven darzustellen oder in eine Romantiker-Schiene zu
bringen, sondern erkunden den persönlichen Stellenwert dieses Komponisten. Die
Quartette opp. 12 und 44/3 erhalten dabei strahlenden Glanz und kernige Linien,
op. 80 sticht durch geheimnisvolle Zwischenklänge und extreme Kontraste hervor.
Besonderes Augenmerk legt das Doric String Quartet auf die Klarheit der
Polyphonie und auf das ‚Concertieren‘, Wetteifern, der Instrumente: Oftmals
instrumentiert Mendelssohn die vier Streicher so, dass einer gegen die drei
anderen antreten muss, was jedoch immer anderen innermusikalischen Gründen
entspringt.
Die Musiker des Doric String Quartets haben ein Gespür dafür
entwickelt, wo in der Musik sie sich gerade befinden. In den Finalsätzen ist
dies noch nicht so deutlich ausgeprägt, umso mehr dafür in den großformatigen
Kopfsätzen, wo sie den Hörer von der ersten bis zur letzten Note geleiten;
dabei ist ihnen stets bewusst, was bereits passierte und was noch geschehen
wird – eine außerordentlich seltene Fähigkeit für heutige Musiker!
Juanjo Mena leitet das BBC Philharmonic mit Orchesterwerken von Juan Crisóstomo de Arriaga. Wir hören die Ouvertüre zu „Los esclavos felices“ (Die glücklichen Sklaven), die Ouvertüre D-Dur op. 20 und die Symphonie à grand orchestre d-Moll sowie die zwei von der Sopranistin Berit Norbakken Solset unterstützten Werke: Die Kantate Herminie und die Arie aus der Oper Médée ‚Hyman! Viens dissiper une vaine frayeur‘.
Wir können nur erahnen, welch großartige Musik uns Juan
Crisóstomo de Arriaga noch hinterlassen hätte, wäre er nicht wenige Tage vor
seinem zwanzigsten Geburtstag an einem Lungenleiden gestorben. Sein früher Tod
und die dennoch ausgesprochen reife Musik des Komponisten haben ihm später den
Beinamen „spanischer Mozart“ verliehen; nach seiner ersten Wiederentdeckung
durch seinen Großneffen Emiliano de Arriaga rankten sich regelrecht Mythen um
Leben und Schaffen des Wunderkindes. Belegt ist heute, dass er nach ersten
Versuchen als Geiger und Komponist nach Paris zog, um sich gründlich ausbilden
zu lassen. Dort studierte er bei Fétis und später bei Baillot, wurde allem
Anschein nach aber auch maßgeblich von Luigi Cherubini unterstützt, wodurch er
die Musik Beethovens kennenlernte, was ihn zu seinen drei Streichquartetten
anregte.
Das früheste Werk dieser CD ist die Ouvertüre in D-Dur, auf
deren Titelseite der damals 15-jährige Arriaga sogar vermerkte, dass er sie
ohne das Wissen um Harmonielehre komponierte, die anderen Werke schrieb oder
revidierte er in Paris. Herminie sollte das letzte fertiggestellte Werk des
Komponisten werden.
Juanjo Mena beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem
Schaffen des ‚spanischen Mozarts‘, so wirkte er beispielsweise an der 2006 von
Christophe Rousset veröffentlichten kritischen Edition des Gesamtwerks von
Arriaga mit. Hier erleben wir ihn als einfühlsamen und präsenten Dirigenten
erster Güte. Aufmerksam tastet er sich in Arriagas Klangwelt hinein und holt
genau das aus den Partituren heraus, was sich auch in ihnen befindet. Er
verzichtet auf jede Art der Zurschaustellung oder willkürlichen Interpretation
zugunsten einer lebendigen und damals wie heute aktuellen Darstellung der
Musik. Das BBC Philharmonic hält er als Einheit zusammen und meißelt selbst die
subtil-unauffälligen Nebenstimmen zum Gesamtbild passend aus dem Orchester
heraus: Sie gehen weder unter, noch stören sie die Hauptstimme; sie fügen sich
ein und bereichern das Geschehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der
Sopranistin Berit Norbakken Solset, die durch ihre weiche Stimme und den
anschmiegsamen Tonfall ideal zu der farbenreichen wie ausdrucksstarken Musik
Arriagas passt. In Herminie präsentiert sie unprätentiös und leichtfüßig die
Flexibilität ihrer Stimme, von samtig bis durchschlagend kräftig, jedoch immer kontrolliert
und auf das Orchester angepasst.
WERGO hat mit „Polyphone Schatten“ und dem „Dritten Labyrinth“ zwei im Abstand von zwölf Jahren entstandene Orchesterwerke des Münchners Jörg Widmann in exemplarischen Aufnahmen herausgebracht. Im ersten Stück übernehmen der Komponist an der Klarinette und der Bratscher Christophe Desjardins die Solopartien. Sarah Wegener ist die Sopranistin des „Dritten Labyrinths“. Die Leitung des WDR Sinfonieorchesters liegt in den Händen von Heinz Holliger bzw. Emilio Pomárico.
Jörg Widmann hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl als Klarinettist von Weltrang wie als Komponist einen Namen gemacht. Seine Fähigkeiten als Dirigent darf man noch anzweifeln (siehe Kritik des Musica viva Konzerts vom 29.9.2017, in dem u.a. das Dritte Labyrinth erklang). Auf der vorliegenden CD dirigieren zum Glück zwei erfahrene Experten, die in Widmanns Partituren noch das kleinste Detail hörbar machen.
Beide hier eingespielten Stücke gehören jeweils einem Zyklus an: Polyphone Schatten von 2001 ist Teil II der Lichtstudie; und hier werden Klänge in der Tat wie Skulpturen behandelt, die unter verschiedenen Perspektiven und Beleuchtungen letztlich nicht greifbare Charaktere herausbilden. Das Stück wirkt trotz der großen Orchesterbesetzung – allerdings ohne Oboen, Fagotte und Violinen – durchgehend kammermusikalisch und die beiden Solisten glänzen mit faszinierend virtuoser Mikrotonalität, spannend und unheimlich zugleich. Heinz Holliger umwölkt dies mit großer Sensibilität.
Das Dritte Labyrinth (2013/14) gehört mit fast 47 Minuten zu Widmanns umfangreichsten Instrumentalkompositionen – und es weist Längen auf, die von der Substanz her kaum gerechtfertigt erscheinen. Die vom Zuschauerraum aus schließlich aufs Podium „wandelnde“ Sopranistin bringt sich mit Textfragmenten aus Nietzsches Klage der Ariadne sowie Jorge Louis Borges Das Haus der Asterion in das allzu sehr von Geräuschhaftem – wenngleich hochdifferenziert – dominierte Klangbild der Partitur ein. Sarah Wegener setzt die chimärenhaften Facetten stimmlich mutig um, bleibt dennoch emotional äußerst blass. Das Werk insgesamt stellt aber nicht nur eine imaginäre Mann-Frau-Beziehung dar, sondern auf einer weiteren Metaebene das Labyrinth, das Jörg Widmann während jedes Kompositionsprozesses zu durchschreiten hat. Zu Recht verglich er die sich durch marginalste Entscheidungen neu eröffnenden Wege mit dem Film Lola rennt. Diesen Aspekt unterschlägt der ansonsten höchst informative Booklettext von Pia Steigerwald.
Emilio Pomàrico und sowie der sensationell
guten Tontechnik des WDR gelingt hier eine mustergültige Darbietung, die die
unvorstellbare Dichte an verschiedensten, oft ungewöhnlichen Spielanweisungen
ernst nimmt und über Strecken auch kontrastreich in einen gewissermaßen musiktheatralischen
Kontext zu stellen weiß. Dennoch entsteht hier, und das ist bei Widmann ja
geradezu Programm, keinerlei Teleologie. Der Hörer bekommt niemals auch nur
eine Ahnung davon, wie es an der nächsten „Ecke“ weitergehen könnte – was leider
schnell ermüdend wirkt. Davon einmal abgesehen verdient diese CD eine
eindeutige Empfehlung, gerade weil Widmanns Detailfülle im Konzertsaal allein
akustisch kaum so präzise zu erfassen sein dürfte.
„Hommage à Horațiu Rădulescu“ beinhaltet auf drei CDs das gesamte Klavierwerk des rumänisch-französischen Komponisten, gespielt von Ortwin Stürmer. Wir hören das Klavierkonzert „The Quest“ op. 90, die sechs Klaviersonaten opp. 5, 82, 86, 92, 106, 110 und die frühe Omaggio a Domenico Scarlatti op. 2. In „The Quest“ wird Stürmer unterstützt vom Frankfurt Radio Symphony Orchestra unter Lothar Zagrosek.
Der in Bukarest
geborene und später nach Frankreich gezogene Komponist Horațiu Rădulescu gilt
als einer der Erfinder des Spektralismus‘ in der Musik. Bereits zu
Studienzeiten interessierte er sich dafür, einzelne Klänge aufzuspalten und die
darin enthaltenen Mikrokosmen zu erforschen. Um dies zu bewerkstelligen,
wendete Horațiu Rădulescu sich bald von herkömmlichen Temperierungen und
Notationssystemen ab, differenzierte dynamische Abstufungen weiter aus und
versuchte, neuartige Klangfärbungen zu realisieren. Der Komponist basierte
viele Stücke rein auf bestimmte Obertöne eines einzelnen Tons, kombinierte sie
und ließ teils sogar die Instrumente nach ihnen stimmen.
Die Musik Horațiu
Rădulescus ist nicht zuletzt philosophischer Natur mit gewissen theosophischen
Grundlagen. Entsprechungen seiner Vorstellung fand der Komponist in den
Aphorismen des Tao Te Ching, das Lao tzu zugeschrieben wird. Diese Lehre, aus
der unter anderem die Grundlagen von Yin und Yang sowie die des Qigong hervorgehen,
setzt das Weiche über das Harte und Starre, das Leichte vor das Schwere. Viele
seiner Werke überschrieb Horațiu Rădulescu mit einem Zitat aus dem Tao Te Ching
und versuchte, ihren philosophischen Gedanken in die Musik zu übertragen.
Zur Bekanntheit von Horațiu
Rădulescu trugen wesentlich die lobenden Worte von Olivier Messiaen bei, die
ihn als einen der kreativsten Komponisten der jüngeren Generation preisten. Als
Musiker setzte sich der Pianist Ortwin Stürmer für die Verbreitung seiner Musik
ein. Die beiden lernten sich 1990 kennen und Stürmer regte Rădulescu dazu an,
seine zweite bis vierte Klaviersonate sowie das Klavierkonzert „The Quest“ zu
komponieren.
Auf drei CDs spielte
Ortwin Stürmer nun das gesamte Oeuvre für Klavier von Horațiu Rădulescu ein,
welches aus dem Klavierkonzert „The Quest“ op. 90, sechs Klaviersonaten opp. 5,
82, 86, 92, 106, 110 und der frühen Omaggio a Domenico Scarlatti op. 2 besteht.
Im Klavierkonzert bekommt Stürmer Unterstützung durch das Frankfurt Radio
Symphony Orchestra unter Lothar Zagrosek.
Wir hören eine Musik von größter Ruhe und Meditation, die schlichte Motive und in den späten Werken auch rumänische Volksweisen durchexerziert. Sie werden in ihre elementaren Bausteine zersetzt und jeder davon nach Möglichkeit noch weiter aufgespaltet, minutiös erforscht und wieder zusammengebaut. Von den mathematischen Überlegungen in Horațiu Rădulescus Systemen bekommt der Hörer nichts mit, dafür umso mehr von den philosophischen Anhaltspunkten, die sich durch die langwierige Entwicklung nicht offenkundig aufdrängen, sondern allmählich ins Bewusstsein rücken. Klanglich setzt sich die Musik deutlich von den Avantgardisten der Zeit ab, evoziert eher Parallelen zu den Klangwelten derjenigen, die heute als frühe Postserialisten eingeordnet werden; so wie beispielsweise Einojuhani Rautavaara, wenngleich in dessen Musik die Entwicklung deutlich voranschreitet, während sich bei Rădulescu vor allem meditative Zustände einstellen. Ortwin Stürmer nimmt die Klaviermusik des Rumänen mit größter Sorgfalt und Ruhe, lässt den Keimzellen Zeit, sich zu entwickeln. Die enge Verbindung zwischen Pianisten und Komponisten wird bis hin zum philosophischen Aspekt spürbar. In allen Dynamikbereichen schattiert Stürmer minutiös sorgfältig ab und gibt gleichzeitig Einblick in die verschiedenen Ebenen, die parallel in der Musik ablaufen. Mit seiner Einstellung steckt Stürmer auch das Frankfurt Radio Symphony Orchestra unter Lothar Zagrosek an, das zwar nicht das tiefe Verständnis und die Intensivität des Pianisten vorweisen kann, sich aber doch mit allen Mitteln bemüht, der Musik ihren Reiz zu entlocken und sich in der gegebenen Probenzeit den Anforderungen dieses eigenwilligen Konzerts zu stellen.
Aribert Reimanns „Medea“ wird im Aalto-Theater zum modernen Psychodrama
Musikalische Leitung: Robert Jindra, Inszenierung: Kay Link. Bühne,
Kostüme, Video:
Frank Albert. Choreographische Mitarbeit:
Julia Schalitz. Dramaturgie: Christian Schröder
Solisten: Medea: Claudia Barainsky. Gora, ihre Amme: Marie-Helen Joël. Jason: Sebastian Noack. Kreon, König von Korinth: Rainer Maria Röhr. Kreusa, seine Tochter: Liliana de Sousa. Ein Herold: Hagen Matzeit
Aufführung am Samstag, 6.April 2019, Aalto-Theater Essen
Die antike Welt ist in Kay Links Inszenierung von Aribert Reimanns Oper
„Medea“ zu einem neumodischen Luxusbau erstarrt, der irgendwo in einer
„gentrifizierten“ Metropole von heute stehen könnte. Die Figur der Medea, jene
umstrittene Kindermörderin wird hier zur Getriebenen, die an den kalten
Egoismen ihrer Mitwelt verzweifelt. Bestimmt das Sein das Bewusstsein? Im
Essener Aalto-Theater wird Reimanns im Jahr 2010 an der Wiener Staatsoper
uraufgeführte moderne Oper zur beklemmenden Parabel über das Ende von
Beziehungen – das Publikum feierte die überragende musikalische und
darstellerische Leistung mit viel Enthusiasmus.
Vor allem die Anforderungen an Claudia Barainsky als „Medea“ sind
extrem. Ein großer Teil der zweieinhalb Stunden mutet wie ein Monolog an, was
für die herausragende Sopranistin schon Tour de Force genug ist. Reimann
komponiert streng von der Gesangslinie aus: Jede Seelenregung hat bis in die
letzte Nuance seine Entsprechung in den melismatischen Gesanglinien, die aber
zugleich eine riesige Menge Text transportieren. Ebenso gefordert ist das
Orchester, sich ständig weit von den Pfaden gewohnter Aufführungsroutine zu
entfernen, um diesen dramatischen Prozess mit einem Geflecht aus Spaltklängen,
Mikrointervallen, geräuschhaften Passagen und dramatischen Ausbrüchen zu
überhöhen – eine spektakuläre Großtat also auch vom Orchester unter Leitung
des neuen Ersten Kapellmeisters Robert
Jindra!
Die Story spielt in der Antike. Ihr Konflikt passt aber in heute
gesellschaftliche Wirklichkeit, in der egoistische Kälte eher zu – als abnimmt.
Die Königstochter Medea hat sich in verhängnisvolle Dinge hineinreißen lassen.
Sie wird zur Komplizin des griechischen Prinzen Jason
(schneidend expressiv verkörpert durch Sebastian Noack), der das sagenumwobene
goldene Vlies aus Kolchis raubt. Medea isoliert sich sozial durch diese
Handlung. Sie, Jason und die beiden gemeinsamen Kinder flüchten und versuchen,
in Korinth als Asylsuchende unterzukommen. Der soziale Zusammenhalt, den eine
solche Krisensituation braucht, erweist sich als brüchig: Jason serviert Medea
wegen einer anderen, nämlich der korinthischen Prinzessin Kreusa (glamourrös
und exaltiert: Liliana de Sousa) eiskalt ab. Die Gefühlskälte geht noch weiter:
Er will ihr fortan auch die gemeinsamen Kinder vorenthalten. Sie bleibt
als Enttäuschte, Verletzte übrig, dem Kontrollverlust nah.
Claudia Barainsky zeigt sich in all diesen aus den Fugen geratenen
Seelenzuständen als über alle Grenzen erhabenes Energiebündel, was es auch
braucht, um dem ganzen Psycho-Höllentrip der Hauptfigur gerecht zu werden. Die
Kostümwahl ist nüchtern, aber symbolträchtig: Medea immer in knallrot – als
Schuldige, Getriebene, Verurteilte! Rot als Vorweggnahme der finalen Bluttat?
Es kommt zur finalen Katastrophe, wenn schließlich Flammen über eine
Projektionswand züngeln, der Orchesterapparat immer schneindendere
Geräuschwelten, immer aberwitzigere Spaltklänge erzeugt und schließlich Medea
als Getriebene zum Racheengel wird, welche die Nebenbuhlerin und schließlich
ihre Kinder mordet. Die Tat bleibt
ungesühnt und es gibt kein Moralisieren am Schluss. Fast existenzphilosophisch
muten die letzten Worte an, welche Medea singt:
„Der Traum ist aus, aber die Nacht dauert noch an“ .
„Symphonie Classique“
betitelt das Orchester der Akademie St. Blasius ihr erstes Abokonzert des
Jahres am 7. April 2019 im Haus der Musik Innsbruck. Auf dem Programm steht „Orakel“
für Streichorchester von Günter Zobl, das Konzert für Klavier und
Streicherorchester op. 136 von Alfred Schnittke mit dem Solisten Michael
Schöch, Alexander von Zemlinskys „Waldgespräch“ mit der Sopranistin Susanne
Langbein sowie Joseph Haydns Symphonie D-Dur Hob. I:104, die „7. Londoner“.
Geleitet wird das Orchester von Karlheinz Siessl.
Werke aus vier Jahrhunderten umfasst das Programm des
Orchesters der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl. Die Musiker haben
es sich zur Aufgabe gemacht, aufgeschlossenen Hörern auch unbekannte Musik
näherzubringen und lebende Komponisten aus Tirol zu fördern.
Eröffnet wird das Programm vom fünfsätzigen
Streichorchesterstück Orakel von Günter Zobl. Der Komponist erforscht das
Suchen und das Ambivalent-Rätselhafte, wozu er herbe Kontraste und
unterschiedliche Techniken verwendet. Rhythmisch aufreibende Passagen wechseln sich
mit weittragenden Melodien ab. Im Präludium tauchen moderne Streichertechniken
auf, die eine surreale Atmosphäre schaffen, in welche die folgenden zwei Sätze
wie Träume hineintreten; große Linien und ein sonor reibender Streicherklang –
der recht nordisch wirkt – öffnen den Raum. Es folgt ein rascher Basso
ostinato, mit dem die hohen Streicher spielen und hinreißende Ideen präsentieren.
Und schließlich führt ein ruhiger Satz die Musik zu einem Ende, wenngleich sie
nicht wirklich abschließt, sondern auch in der Stille noch sucht, anstatt
gefunden zu haben.
Alfred Schnittkes zweites Klavierkonzert op. 136 ist ein
Meisterstück der Polystilistik, das trotz unterschiedlichster Einflüsse und
streng durchdachten Aufbaus doch rein musikalischer Erfindungsgabe entspringt.
Ungekünstelt und intuitiv passen sich die Fragmente und Melodiesplitter
zusammen und das Werk gibt als Gesamtheit Sinn. Die Streicher bestechen durch
hoch expressiven Klang, Sensibilität für die Vielseitigkeit und durch ihre ausgesprochen
schnellen Wechsel zwischen den unterschiedlichen musikalischen Welten. Michael
Schöch dagegen steht da wie ein Felsen in der Brandung: Alles um ihn herum
explodiert vor Ausdruck und Innigkeit, während er davon unbeeindruckt nüchtern,
fokussiert und gebändigt bleibt. Als Zugabe des Solisten gibt es noch Haydn,
der durch überhaspeltes Tempo seine Konturen und sogar die Gestalt seines
Hauptthemas verliert – hier war wohl die Freude nach dem siegreich bestrittenen
Klavierkonzert übergroß.
Die Musik Zemlinskys steht nach wie vor im Schatten von
Mahler, von Strauss und später auch von Schönberg, dabei birgt sie so viel
Eigenes! Die Orchestration Zemlinskys ähnelt zwar durchaus derjenigen seiner
genannten Kollegen, unterscheidet sich aber doch durch eine gewisse träumerische
Note (nicht bloß im Traumgörge) und einen zarten Schleier, der gezielt manche
Konturen verwischt. Im „Waldgespräch“ fügt er dem Streichorchester noch zwei
Hörner und Harfe hinzu, Eichendorffs Text vertraut er einem opernhaften Sopran
an. Die Harfe sorgt für den Schleier, während die Hörner den Text in zwei
Sinngruppen gliedert: Das Schöne, Heroische inklusive dem Jagdaspekt gegen das
Düstere, Gespenstische und Suchende der Hexensphäre. Wir erleben nun ganz
andere Klangwelten des Orchesters der Akademie St. Blasius unter Karlheinz
Siessl, sensibel auf die Empfindsamkeit des Stücks eingehend, ertasten die
Musiker die beiden Sinngruppen und erfüllen sie jeweils mit Leben. Susanne
Langbein präsentiert eine facettenreiche und ausdrucksstarke Stimme, die sich
von beinahe rezitierten mühelos bis in durchdringend kräftige Passagen
aufschwingen kann und genau so leichtfüßig wieder hinabsteigt. Der Text bleibt
zwar nicht durchgehend verständlich (was bei Zemlinsky eh eine Kunst für sich
ist), dafür findet die Solistin unzählige Farben und Schattierungen der Stimme,
die sie in einen schlüssigen Kontext bringt.
Zum Abschluss des Programms hören wir noch die versprochene
„Symphony Classique“, wenngleich nicht wie vielleicht erwartet die so betitelte
Erste von Prokofieff, sondern eine wirklich der ‚klassischen‘ Epochen entstammende:
Haydns letzte Symphonie, die Nr. 104 mit dem später hinzugefügten Beinamen
„Londoner“. Selten erlebt man dieses vielgespielte Werk derart lebendig und
frisch wie heute. Auch hier zeigen die Musiker ihr charakteristisches echtes
Gefühl, das unabhängig von Epoche oder Komponist stets für die Musik spricht.
Die Musiker haben sich intensiv und auch emotional mit den Werken
auseinandergesetzt und stellen die Musik dar, weil es ihnen ein Anliegen ist –
und das wird hörbar.
Fumito Nunoya spielt Konzerte für Marimba: Das Programm beginnt mit Antonio Vivaldis C-Dur-Konzert RV 433, welches ursprünglich für Flautino komponiert wurde. Hiernach hören wir das Konzert für Marimba und Streicher des 1961 geborenen Franzosen Emmanuel Séjourné und schließlich das Marimbakonzert „The Crossed Sonar Of Dolphins“ von Takatomi Nobunaga, der 1971 in Tokyo auf die Welt kam. Nunoya wird begleitet vom Kurpfälzischen Kammerorchester unter Johannes Schlaefli, in Nobunagas Konzert unterstützt von Benyamin Nuss am Klavier.
In die Kunstmusik fand die Marimba erst spät Einzug,
wenngleich es bereits Belege für das Instrument aus dem Jahr 1680 gibt. Vom
heutigen Guatemala aus verbreitete sich die Marimba schnell in mehreren Ländern,
wobei immer wieder neue Bauformen auftraten – auch nach Japan gelangte das
Instrument recht früh. Popularität erreichte die Marimba im 20. Jahrhundert,
als unter anderem Steve Reich und Harald Genzmer Werke für sie komponierten und
The Rolling Stones sie in „Under my thumb“ verwendeten.
Auf der vorliegenden CD hören wir zwei Originalkompositionen
für die Marimba sowie das Flautinokonzert C-Dur RV 433 von Antonio Vivaldi,
wozu die Schlagwerkstimme allerdings ebenso vortrefflich passt. In diesem
Konzert minimiert Nunoya den Hall seines Instruments weitgehend und achtet auf
präzise Linien, denen er ein gutes Maß an Kernigkeit verleiht, und dennoch
weich bleibt. Lange Noten verziert er mit Trillern und kleine Verzierungen,
passt den Klang der Marimba allgemein dem Ideal der Barockzeit an.
Emmanuel Séjournés Konzert für Marimba und Streicher zählt
mittlerweile zu den Klassikern für das Instrument. Ein romantischer Schleier
durchzieht das gesamte Werk, besonders Rachmaninoff gibt sich als Einfluss zu
erkennen. Das Konzert ist idiomatisch für die Marimba konzipiert, erkundet das
Instrument in allen Registern und schöpft dessen Möglichkeiten aus. Nunoya
entlockt der Marimba einen singenden und zarten Ton, lässt teils gar die
perkussive Funktion des Instruments zugunsten der Melodieelemente vergessen.
Zuletzt geht die Reise nach Japan zu Takatomi Nobunagas
Marimbakonzert, welches den Titel „The Crossed Sonar Of Dolphins“ trägt. Die
Bildlichkeit dieses Werks übersteigt bloße Programmatik, taucht eher ein in die
Naturalistik: Man glaubt förmlich, Delphine zu hören, Wellen zu sehen und das
Meer zu riechen. Nobunagas Musik lässt sich schwer einer Schule oder einem Stil
zuordnen, er schafft vollkommen eigene Sphären und Regeln, die dem Instinkt wie
auch der Sinnlichkeit unterliegen. Nunoya gibt die Rolle des Solisten auf, fügt
sich als gleichberechtigter Mitstreiter ins Kurpfälzische Kammerorchester ein,
wirkt als Einheit mit den Streichern und dem Klavier, das Benyamin Nuss
beisteuert. So entsteht eine Symbiose aus drei gänzlich unterschiedlichen
Klangcharakteren, die sich vermischen und vermengen, dabei immer wieder neue
Facetten und Kombinationen zutage fördern.
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 558; EAN: 4 260052 385586
„Pour le tombeau de Claude Debussy“ der Pianistin Judith Jáuregui beschäftigt sich mit Werken des französischen Meisters und seines Umfelds. Beginn und Ende des Albums stehen im Zeichen spanischer Komponisten, auf die Debussy großen Einfluss ausübte: Manuel de Falla, dessen Homenaje mit gleichem Titel ‚Pour le tombeau de Claude Debussy‘ wir hören, und Federico Mompou, von dem Jáuregui ‚Jeunes filles au jardin‘ aus Debussys Todesjahr 1918 spielt. In der Mitte des Programms finden wir Debussys Estampes L100 und L’Isle joyeuse, welche umgeben sind von zwei Komponisten, auf die sich Debussy seinerseits bezog: Franz Liszt, dessen Ballade Nr. 2 S.171 gespielt wird, und Frédéric Chopin, von dem Andante Spianato und Grande Polonaise Brillante op. 22 erklingen.
Im vergangenen Jahr hörten wir anlässlich des 100. Todestags
von Claude Debussy zahlreiche Aufnahmen seines Werks; zum Ausklang dessen
erschien nun Judith Jáureguis CD „Pour le Tombeau de Claude Debussy“, ein
Mitschnitt ihres Livekonzerts vom 4. Oktober 2018 im Rahmen der Imperial in Concert Series in Wien.
Jáuregui widmet sich Werken, die Debussy prägten, die Debussy komponierte und
auf die Debussy Einfluss übte.
Zur ersten Kategorie, die für Debussy maßgeblichen
Komponisten, zählen Franz Liszt und Frédéric Chopin. Besonders bei Liszt gibt
sich schnell Jáureguis eigener Ton zu erkennen: Bereits in den ersten Takten
verblüfft die Pianistin durch ein extrovertiertes und markiges Spiel. Sie hält
die umherirrend chromatischen Läufe der linken Hand nicht in geheimnisvoller
Dunkelheit, wie man sie meist hört, sondern stellt sie als aussagekräftige
Figur in den Raum, zu der die rechte Hand später gleichwertig hinzutritt.
Virtuos, aber ohne übermäßige Selbstzurschaustellung durchbrechen die
rasanteren Passagen die Stimmung des Beginns, die Ruhepole nimmt Jáuregui nicht
zu schleppend in sanglichem Zeitmaß. Chopins Andante Spianato gestaltet die
Pianistin zu einem großen Einatmen vor der rasenden Grande Polonaise Brillante:
Hier gelingen ihr die größten Kontraste zwischen absoluter Introversion und
übermächtig rhythmischen Drang.
Jáureguis Debussy-Aufnahmen sollte man sich mehrfach
anhören, um sich in ihre Darstellungsweise einzuhören. Denn sie überrascht
durch offenes und vergleichsweise extrovertiertes Spiel, das so gar nicht zu
dem üblichen Bild passt, was wir von Debussy haben. Doch es funktioniert! Vor
allem Pagodes erscheint anfangs ungewohnt, besticht jedoch durch enormen
Farbenreichtum und präzise abgestuften Klang. La soirée dans Grenade ruft
sogleich Erinnerungen an das zuvor gehörte Stück de Fallas wach; in Jardins
sous la pluie werden die Regentropfen regelrecht spürbar beim Spiel von Judith
Jáureguis und man nimmt dieses Stück mit allen Sinnen wahr. L’Isle joyeuse ist
der Pianistin förmlich auf den Leib geschrieben, die sprudelnde Energie und die
fröhliche Stimmung schmeicheln ihrem Stil das Werk wird zur erquickenden Quelle,
die Fernweh evoziert.
Fernweh nach Spanien vielleicht. Das Programm beginnt mit
Manuel de Fallas Homanaje ‚Pour le tombeau de Claude Debussy“, welches
ursprünglich für Gitarre komponiert wurde und einen Trauermarsch in Form einer
langsamen Habanera darstellt – ein von Debussy sehr geschätzter und selbst
mehrfach in Noten gesetzter Tanz. Beschlossen wird die CD durch Mompous ‚Jeunes
filles au jardin‘. Judith Jáuregui nimmt die Musik temperamentvoll, in jedem
Ton klingt Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit mit, dass sie das, was sie spielt,
genauso meint. Dabei bleibt die wechselseitige Verbindung zwischen der
französischen und der spanischen Musik unverkennbar.
Naxos hat in der vielbeachteten Serie ‚American Classics‘ nun das Requiem von John Harbison (geb. 1938) herausgebracht. 2001-02 nicht zuletzt unter dem Eindruck des Terrors von 9/11 entstanden, folgt das Stück in seiner Textvertonung klar der Gattungstradition, aber im Detail ganz persönlichen musikalischen Ideen. Die Erstaufnahme aus Nashville unter der Leitung von Giancarlo Guerrero entstand 2017 und ist durchaus gelungen.
Der
amerikanische Komponist John Harbison
war Schüler von Walter Piston, Roger Sessions und – in Berlin – Boris Blacher.
Er stand immer für eine erweiterte, postserielle Tonalität, die zeigt, dass er
neben seinen Lehrern auch viel von Strawinsky gelernt hat. Außer mittlerweile sieben
Symphonien hat er u.a. zahlreiche Vokalwerke mit Orchester komponiert.
Sein
2002 vollendetes Requiem geht in
Teilen bis 1985 zurück; das Recordare baut
auf dem Material des Juste judex auf,
das 1995 Harbisons Beitrag zum von Helmuth Rilling uraufgeführten Gemeinschaftsprojekt
Requiem der Versöhnung war. Aber erst durch einen Auftrag des
Boston Symphony Orchestra 2001 entstand schließlich ein vollständiges Requiem,
das ganz traditionell dem üblichen Textkanon folgt. Auch die formale Gestaltung
einzelner Teile ist stark der Gattungsgeschichte verpflichtet – etwa, wo der
Chor bzw. die Solisten singen. Und so findet sich dann bei Quam olim Abrahae dichter Kontrapunkt, im Agnus Dei das anscheinend unverzichtbare Violinsolo etc. Dass der
Hörer hier aber bei soviel Erwartbarem trotzdem keine Sekunde gelangweilt wird,
liegt an Harbisons Kunst, den Text doch sehr dramatisch, ausdrucksvoll in Musik
zu gießen – vielleicht auch unter dem Eindruck von 9/11. Gerade im bewussten
Verfolgen der Tradition zeigt sich nicht nur seine handwerkliche Meisterschaft,
sondern der ganz persönliche Ausdruckswille, bei dem alle Teile wiederum
durchaus individuelle Züge erhalten. Hier wird also nie mit direkten Zitaten oder
auch nur Anspielungen gearbeitet – jedes Motiv, jede melodische Figur ist ein
persönliches Statement, wobei es einheitsstiftende Elemente gibt. Auch gehen
die Sätze, anders als gemeinhin üblich, ineinander über; lediglich nach dem Lacrymosa am Schluss der Sequentia gibt es eine kleine
Verschnaufpause. Das relativ klein besetzte Orchester übertüncht zudem nie den
Vokalsatz durch äußerliche Effekte.
Chor
und Orchester aus Nashville leisten Außerordentliches: Klanglich und dynamisch
wird alles fein abgestuft, die Wirkung des Chores erinnert oft an Brittens War Requiem, im Piano geradezu mystisch.
Der Dirigent Giancarlo Guerrero
schafft es, über die einzelnen Abschnitte hinaus einen großen Spannungsbogen
aufzubauen und zu halten. Die Solisten sind leider etwas durchwachsen:
Bewältigen Michaela Martens (Mezzosopran)
und Kelly Markgraf (Bariton) ihre Aufgaben
recht überzeugend, geraten Jessica Rivera
(Sopran) und Nicholas Phan (Tenor)
in der Höhe an ihre Grenzen. Phan muss da pressen und Rivera produziert in einigen
Passagen ein unerträglich breites Vibrato, was den positiven Eindruck in Normallage
erheblich schmälert.
Insgesamt ist Harbison hier erneut ein tief beeindruckendes Werk gelungen, das emotional authentisch wirkt, aber auch nichts wirklich Neues hervorbringt, was einen völlig vom Hocker reißen könnte. Mangels Konkurrenz ist die Naxos-Einspielung vorerst alternativlos, musikalisch und aufnahmetechnisch aber eine ohnehin empfehlenswerte Realisation der interessanten Partitur.