EAN: 5060113444677; Art.-Nr. TOCC0467
Emil Tabakov: Complete Symphonies, Volume Three; Konzertstück für Orchester; Sinfonie Nr. 4; Sinfonieorchester des bulgarischen Rundfunks, Emil Tabakov (Leitung)
Zu den faszinierendsten Aufnahmeprojekten der letzten Jahre zählt die laufende Ausgabe sämtlicher Sinfonien des bulgarischen Komponisten und Dirigenten Emil Tabakov beim britischen Label Toccata Classics. Der 1947 geborene Tabakov, den man ohne mit der Wimper zu zucken als die am deutlichsten herausragende musikalische Persönlichkeit bezeichnen kann, die sein Heimatland zumindest in Belangen der Kunstmusik je hervorgebracht hat, schreibt ultimativ spannende Hörliteratur.
Die vorliegende CD eröffnet mit dem ganz ungewöhnlichen „Konzertstück“ für Orchester aus dem Jahr 1985. Hierbei trifft ein klassisches Sinfonieorchester auf einen arpeggierenden Synthesizer, der in harter, metallischer Klangfarbe das Stück abrupt eröffnet. Während der Synthesizer nur wenige Noten in mechanisch anmutenden Arpeggien repetiert, scheint das Orchester auf diese fremdartigen Klänge in unterschiedlichster Weise zu reagieren – dabei reicht die Emotionspalette anscheinend von Schockiert-sein bis Gleichgültigkeit. Dabei kommt aber kein Dialog zustande, vielmehr „reden“ beide Parteien in dieser anschaulichen Musik aneinander vorbei. Im Zuge dieser „Zwillings-Monologe“ wurde so ziemlich jeder Orchestersektion solistische Bravura-Epdisoden in die Partitur geschrieben, sodass diese Komposition Tabakovs als eine äußerst originelle Antwort auf i.d.R. „Konzert für Orchester“ getaufte Kompositionen anderer Komponisten gelten kann. Dass dabei die Musik den Hörer unmittelbar angeht und auch für mit Neuer Musik weniger vertraute Hörer wohl sogleich attraktiv sein dürfte, ist das besondere Verdienst ihres Komponisten.
Die ebenfalls eingespielte Sinfonie Nr. 4 stammt aus den Jahren 1996-97. Das beinahe stundenlange Werk beginnt mit einem dramatisch-klagenden Largo, das sowohl Assoziationen an die herbe Klangwelt Mieczyslaw Weinbergs aufkommen, als auch einen Ur-Ahnen in Gustav Mahler vermuten lässt. Tabakov klingt hier im direkten Vergleich zu seinem „Konzertstück“ wie ein anderer Komponist: Deutlich tonaler, geerdet im Expressionismus der 1930er-Jahre, gleichzeitig aber auch wie einer, der alles von Alfred Schnittke und Arvo Pärt gehört hat. Minimalismus ist dieser Spielart der Musik Tabakovs ebenso wenig fremd wie der gezielt eingesetzte pastose Pinselstrich. Die beständig brodelnde, grübelnde, durchaus verunsichernde Stimmung erinnert des Weiteren an manche Sinfonien von Jean Sibelius oder auch an Schostakowitschs unergründliche Sechste. Emil Tabakov wies selbst darauf hin, dass seine Vierte in seinem sinfonischen Kanon eine Ausnahmestellung einnimmt und (Zitat des Komponisten) „wie keine andere meiner Sinfonien“ klänge.
Was in diesem Stück alles passiert, welche Querverweise zu Zeitgenossen und Vorgängern sich ergeben, zeigt sich in dieser hochinteressanten Musik stets aufs Neue. In einem sarkastischen Allegro vivace, das als Scherzo-Satz dient, nimmt Tabakov ganz offenbar Bezug auf rumänische und bulgarische Folklore, ist dabei aber ebenso nah an ähnlich sarkastischen Scherzo-Sätzen Schostakowitschs. Der dritte Satz wird in seiner schimmernd-irisierenden, unwirklichen Klanglichkeit zu einem nebulösen Nachtstück, in dem Schatten durch die Partitur huschen, Eulen klangmalerisch Laut zu geben scheinen und eine fahle Stimmung sich ausbreitet wie ein Pesthauch. Der letzte Satz endet als gewissermaßen „unmögliches“ Andante: Während die Hauptmelodie sich zäh zieht wie Kaugummi und somit das eigentliche „Andante“ in diesem Satz repräsentiert, wird sie umspielt von rasend schnellen, Philip Glass-artigen Arpeggien, die eine unruhige, zuweilen bedrohliche Stimmung erzeugen. Spätesten hier wird klar, dass diese Sinfonie nach einem Top-Orchester verlangt.
Das Sinfonieorchester des bulgarischen Rundfunks erweist sich dieser anspruchsvollen Aufgabe mehr als gewachsen, vermag unter Tabakovs Leitung eine beeindruckende Einspielung zu realisieren, die vom bulgarischen Rundfunk in hochklassiger Klangqualität aufgezeichnet wurde. Zweifellos würde man so großartige Musik gerne auch einmal von einem der ganz großen Klangkörper hören, denn dass es sich hier um ganz große Musik handelt, das kann man kaum abstreiten.
Volume 3 der Tabakov-Reihe ist damit noch spannender ausgefallen, als die beiden vorangehenden Volumes, und das ist eine nochmalige Steigerung, die ich kaum für möglich gehalten hätte. Gerade auch für Tabakov-Einsteiger bieten sich hier beste Voraussetzungen. Hier gilt es, einen wirklich aufregenden Sinfoniker zu entdecken, der sich keinesfalls hinter den bekannteren Namen seiner Zeitgenossen Schnittke, Rautavaara, Sallinen oder Sumera zu verstecken braucht.
[Grete Catus, November 2018]
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