RCA Red Seal; Best.-Nr.: 19075836952; EAN: 1 9075836952 5
Der Schweizer Sebastian Bohren hat voriges Jahr in der schönen Klosterbibliothek Polling sämtliche Sonaten & Partiten für Violine solo bei RCA aufgenommen. Die erste CD-Veröffentlichung widmet sich BWV 1004-1006.
Werke für ein unbegleitetes Melodieinstrument galten im Barock – wegen des notwendigen Verzichts auf den üblichen Generalbass – als eine Königsdisziplin für Komponisten. Nur wenige haben sich überhaupt daran gewagt, und es verwundert nicht, dass damit dann auch nur unbestrittene Größen wie Bach oder Telemann Erfolg hatten. Über den historischen Wert der insgesamt sechs Solo-Violinsonaten bzw. Partiten von Johann Sebastian Bach braucht man keine weiteren Worte zu verlieren; sie gelten völlig zu Recht bis heute als eine der anspruchsvollsten Messlatten, denen sich ein Geiger stellen kann. Nun also auch der 30-jährige Schweizer Sebastian Bohren.
Zunächst einmal dürfte jeder Zuhörer sich vom generell angeschlagenen Tonfall dieser Darbietung einfangen lassen. Dermaßen rund, wohlklingend und sonor hat man selten eine einzelne Violine gehört, was noch zusätzlich durch eine optimale aufnahmetechnische Umsetzung der wunderbaren Akustik der Pollinger Klosterbibliothek unterstrichen wird. Auch die dynamische Bandbreite und Differenzierung sind vortrefflich: Obwohl Bohren den großen Ton favorisiert, gelingen ihm faszinierende Echoeffekte und auch die versteckte Mehrstimmigkeit wird so gut dargestellt. Allerdings kommen schnell Zweifel, ob dem Violinisten sein durchaus erfolgreiches Bemühen um reinen Schönklang dann nicht unfreiwillig zum Selbstzweck gerät.
Nimmt man die beiden anspruchsvollsten, auch längsten Sätze der drei hier präsentierten Werke, die berühmte Ciaccona der d-Moll-Partita BWV 1004 sowie die gefürchtete Fuge der Sonate C-Dur BWV 1005, so wird dem Klangideal zu vieles geopfert – vor allem adäquate Tempi. Gerade die C-Dur-Fuge wird derartig zäh, dass der große formale Bogen, den Bach hier spannt, völlig verloren geht, das zu seiner Zeit sicher gewagte Stück in Einzelmomente zerfällt, die dann in der Summe nur langweilen können. Man darf vermuten, dass Bohren hier jegliche rhythmische Unschärfe, die in rascherem Tempo selbst ganz großen Geigern wie Gidon Kremer oder Christian Tetzlaff bei den mit einem modernen Bogen nur durch Arpeggieren realisierbaren Akkorden zu attestieren ist, unbedingt vermeiden wollte. Der Preis dafür erscheint mir bei Weitem zu hoch. Die Chaconne beginnt Bohren in durchaus vertretbarem Tempo, aber bereits das Thema wird durch das zu starke Betonen etwa der „Eins“ in Takt 5 in seinem Fluss gestört, und Ähnliches zieht sich tendenziell durch alle Variationen. Dass die Wiederkehr des Themas in Vierteln und die ganze folgende Passage mit ihren mächtigen Akkorden ein dramatisches Ausrufezeichen setzen muss, wozu der Maggiore-Abschnitt danach psychologisch als Gegensatz fungiert, wird von Bohren völlig ignoriert. Die Stelle ist ja möglicherweise bereits ein Vorbild für den vergleichbaren Prozess in Beethovens Hammerklaviersonaten-Fuge. Dadurch bekommt Bachs geniale Chaconne in ihrem Gesamtplan zu wenig Spannung – die gewaltige Form trägt so nicht. Der Hörer lebt ständig gewissermaßen von der Hand in den Mund, bei den langsamen Sätzen der drei Werke gefährlich nah am Verhungern.
Die schnelleren Tanzsätze können eher überzeugen, bilden eine breite Palette an Charakteren ab – von elegisch über relaxed bis kapriziös. Das klingt wie alles immer sehr schön; aber auch hier neigt Sebastian Bohren häufig zum Überbetonen fast jeder Eins, was längere Phrasen verhindert bzw. kurzatmig macht. Julia Fischer etwa, die den Zyklus 2005 – damals noch einiges jünger als der Schweizer – herausbrachte (Pentatone), konnte das schon wesentlich besser. Auch ihrer Aufnahme könnte man ein Stück Selbstverliebtheit in den hervorgebrachten Klang unterstellen. Die großen Zusammenhänge bleiben aber gewahrt, gleichzeitig ist ihre Gestaltung vielschichtiger. Dass Bohren als Vorbilder Nathan Milstein und Hansheinz Schneeberger nennt, wird wohl jeder Geiger unterschreiben können. Bei deren Bach-Interpretationen, auch mit oft ruhigen Tempi, gelang allerdings souverän die Vermittlung der Architektur dieser Stücke, oft sogar einer gewissen Teleologie der gesamten Satzfolge. Davon ist Bohren noch meilenweit entfernt – ebenso von der großartigen, beinahe demütigen Distanziertheit der Neuaufnahme von Christian Tetzlaff (Ondine 2017). Manchmal sollte man sich vielleicht lieber noch etwas gedulden, bevor man nach den Sternen greift.
[Martin Blaumeiser, Oktober 2018]
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