Archiv für den Monat: Januar 2018

Ungeschlagen russisch

Channel Classics CCS 39517; EAN: 7 23385 39517 1

Violinmusik von Sergej Prokofieff hören wir auf vorliegender CD von Rosanne Philippens. Gemeinsam mit dem Sinfonieorchester St. Gallen unter Otto Tausk erklingt das Zweite Violinkonzert g-Moll op. 63, mit dem Pianistin Julien Quentin spielt sie die Fünf Melodien Op. 35bis und den Marsch aus Die Liebe zu den Drei Orangen Op. 33 in einem Arrangement von Jascha Heifetz sowie solo die Violinsonate D-Dur Op. 115. Das Orchester darf sich zudem mit der vom Komponisten stammenden Orchestration des zweiten Satzes aus der Vierten Klaviersonate Op. 29bis präsentieren.

Die Musik Sergej Prokofieffs strotzt vor Kraft und Potenz, mitreißenden Rhythmen und kühnen Harmonien. Es ist durch und durch russische Musik von ungeheurer Prägnanz. Die virtuosen Schwierigkeiten und die Wucht verleiten zahllose Künstler zu überstürzten, sich selbst übertrumpfenden und beinahe gewalttätigen Darbietungen, die zwar nicht selten der Uridee dieser Werke entgegenkommen, sie jedoch einseitig überspitzen und ohne jegliche Reflexion zugrunde richten. Umso erfreulicher gestaltet sich da die Aufnahme der niederländischen Violinistin Rosanne Philippens. Sie verleugnet in keinem Moment den so typischen Precipitato-Gestus und die Wuchtigkeit dieser Stücke, verleiht ihnen jedoch darüber hinaus Gediegenheit und Ausdrucksfülle der musikalischen Linie. Sie bringt einen weiblichen Touch in die Musik, der sich subtil in die charakterlich eher als männlich zu beschreibende Atmosphäre integriert und diese bereichert. Ohne, dass sie mit übermäßig Druck und Gewalt „schlagen“ oder dreschen würde, kann sie die Forte- und Fortissimopassagen mühelos stemmen und schmeichelt dem Ohr in lyrischem, nicht weniger bestimmtem Pianissimo. Sowohl im groß angelegten Violinkonzert als auch in den recht kurzen Sätzen der Solosonate oder der Melodien geht sie abgeklärt und reflektiert an die Gestaltung des Ganzen heran, woraus eine umfassende Beherrschung der Form resultiert. Ganz allgemein stürmt sie nicht sinnfrei durch die emotional sich auftürmenden Wellen hindurch und lässt sich eben nicht zu Medea-hafter Raserei aufstacheln, sondern betrachtet die Emotionen lieber aus wissender Distanz, um sie so umso glaubhafter und unmittelbarer auf den Hörer zu übertragen.

Durchaus musikalisch, wenn auch nicht so flexibel gewandt wie Philippens, trumpft das Symphonieorchester St. Gallen unter Otto Tausk auf, punktet mit luzidem Klang dank deutlicher Kontraste zwischen den Instrumentalgruppen. Julien Quentin überzeugt am Klavier in der feinen Abstimmung auf die Violinistin und durch singende Melodielineen, die tänzerisch die Geige umweben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Leider verzichtbar

Zoltán Kodály: Tänze aus Galanta, Konzert für Orchester, „Pfau“-Variationen, Tänze aus Marroszék / Buffalo Philharmonic Orchestra – Joann Falletta

Label: Naxos; Katalog-Nr.: 8.573838 / EAN: 747313383870

Man weiß gar nicht so genau warum eigentlich, aber das Buffalo Philharmonic Orchestra hat sich in den letzten Jahren häufig gerade um große sinfonische Werke des osteuropäischen Repertoires verdient gemacht. Wir verdanken dem Orchester und seiner Leiterin JoAnn Falletta wirklich hervorragende Einspielungen von u.a. Reinhold Glières monumentaler dritter Sinfonie „Il‘ya Muromets“, von Béla Bartóks Kossuth, von Vitězslav Novaks großartiger sinfonischer Dichtung „In der hohen Tatra“ und weiterer Werke, vor allem des tschechischen und ungarischen Repertoires.

Die künstlerischen Erfolge, die das Orchester dabei erzielte, fielen durchaus wechselhaft aus. Während man sich von Novak und Glière kaum bessere Aufnahmen vorstellen kann, als Falletta und ihr Orchester aus Buffalo vorgelegt haben, waren beim Bartók, aber auch bei Einspielungen der Musik von Dohnányi eher Abstriche zu machen. Zu keiner Zeit kam das Buffalo PO in diesen Fällen an die einschlägigen Referenzen der Vergangenheit heran.

Leider muss dies auch von vorliegender CD mit fast allen bekannten Orchesterwerken von Zoltán Kodály konstatiert werden, die nicht nur unter dem offensichtlichen Manko leidet, dass für die Tänze aus Galánta und den Tänzen aus Marosszék eine Partiturversion ohne Cimbalom verwendet wurde. Dadurch geht ein wesentlicher klanglicher Bestandteil von Kodálys Kompositionen verloren, der absolut prägend für die genannten Stücke ist. Aber das findet man auch bei anderen Labels häufig.

Das größere Problem der Aufnahme ist ihre emotionale Oberflächlichkeit. Die Musik wird vom technisch hervorragenden Orchester aus Buffalo zwar äußerst virtuos und auf Hochglanz poliert dargeboten, doch der emotionale Gehalt der Stücke bleibt dabei fast völlig auf der Strecke. Und das ist schon ein Unterschied z.B. zu den Interpretationen des ungarischen Staats-Symphonieorchesters unter Adam Fischer (Nimbus), die ich sehr empfehlen möchte, oder selbst zu den ganz ausgezeichneten Einspielungen dieser Stücke durch das Radio-Symphonieorchester aus Bratislava unter Leitung Adrian Leapers, die bei Naxos Anfang der 1990er-Jahre erschienen waren.

Vorteil dieser neuen NAXOS-Aufnahme ist natürlich, dass man hier einmal eine moderne Einspielung von Kodálys „Konzert für Orchester“ in die Hände bekommt, aber auch in diesem Punkt haben ältere Aufnahmen einfach meilenweit die Nase vorn. So z.B. die DECCA-Einspielung der Philharmonia Hungarica unter Antal Doráti (obwohl deren überschäumender „Zigeuner-Pepp“ heute zugegebenermaßen vielleicht nicht mehr so ganz zeitgemäß wirkt und außerdem klangliche Abstriche einkalkuliert werden müssen). Aber auch Aufnahmen aus jüngerer Zeit (wie beispielsweise die gute 2014er Hungaroton-Aufnahme des „Konzerts für Orchester“ durch das Miskolc Symphony Orchestra) sind emotional (wenn auch nicht technisch) der Einspielung aus Buffalo überlegen. Da letztlich sogar die sonst vorzügliche Klangtechnik von Naxos-Tonmeister Tim Handley bei diesem Album etwas schwächelt, kann man diese CD-Neuheit leider als verzichtbar einstufen. Wenn, dann lohnt es sich höchstens wegen der Neu-Aufnahme des „Konzerts für Orchester“, das ich selten virtuoser dargeboten gehört habe.

[Grete Catus, Dezember 2017]

Von Einem besonderen Jubilar

Am heutigen Tage wäre der österreichische Komponist Gottfried von Einem 100 Jahre alt geworden. Obgleich als einer der führenden Komponisten Österreichs aus der Nachkriegszeit geltend, stand er vor allem in späten Jahren auch stets im Kreuzfeuer der Kritik. Der Vorwurf des Traditionalimus wider das lineare Fortschrittsdenken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält sich mancherorts bis heute, und zuletzt wurden absurde Unterstellungen laut, er sei ein Nazi-Sympathisant gewesen. Er, der sein eigenes Leben riskierend einem jüdischen Musiker falsche Papiere verschaffte und damit dessen Leben rettete! Gestützt durch die aktuelle Biographie von Joachim Reiber (zu letzterem siehe die Rezension von Annabelle Leskov) wurden Tagebuchdetails aus der Jugend hochstilisiert und in beschämender Weise rufschädigend eingesetzt. Vergessen wird darüber dann nicht nur sein eleganter und tiefgründiger Stil, seine Reflexion alter wie neuer Musik und seine feurige Persönlichkeit, die durch die Zeugnisse langjähriger Freunde und Kollegen in vieler Hinsicht untermauert wird.

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Am 24. Januar 1918 ist Gottfried von Einem als Sohn von Gerta-Luise und (vermeintlich) General William von Einem in Bern zur Welt gekommen. Später erst sollte er erfahren, dass sein leiblicher Vater László Hunyady war, ein ungarischer Graf, welcher 1927 in Ägypten bei der Löwenjagd ums Leben kam. Anstelle seiner meist abwesenden Eltern wurde Gottfried von Einem vom Hauspersonal erzogen, mit seinen beiden Brüdern im Luxus eines gewaltigen Familienanwesens in Schleswig-Holstein unterwiesen, und erhielt dort auch ersten Klavierunterricht. Zur Ausbildung ging er nach Berlin, wo er bei der Aufnahmeprüfung von Heinz Tiessen als Dilettant abgelehnt wurde, doch schließlich privat bei Boris Blacher Anschluss fand. Blacher zählte wie Tiessen zu den angesehensten Lehrern der Zeit und verhalf zahlreichen Größen der kommenden zwei Generationen in all ihrer stilistischen und menschlichen Vielfalt zum Erblühen. Wie nur wenige andere Lehrer wussten sowohl Blacher als auch Tiessen, die Individualität ihrer Schüler zu wahren und aus dem Vorhandenen das Beste herauszumeißeln und zu -schleifen. Blacher urteilte über von Einem, er habe schon in seinen ersten Noten alles gehabt, was seinen späteren Individualstil ausmachen sollte. Nach den Privatstunden bei Blacher absolvierte von Einem noch ein kurzes Studium der Kontrapunktik bei Johann Nepomuk David. Zur Zeit seiner Ausbildung war die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland alles dominierend. Dass Gottfried von Einem sich nie aktiv gegen die Nazi-Herrschaft wandte und gewisse Kontakte für sich und andere nutzte, lässt sich natürlich von uns Heutigen leicht monieren, zumal wenn man ausblendet, was er im Verborgenen an Positivem bewirkte. Nach dem Kriege lebte Gottfried von Einem zunächst in Salzburg, dann in Wien und auf dem österreichischen Lande, und unterrichtete ab 1963 an der Wiener Musikhochschule, wovon er sich allerdings bereits 1972 zurückzog und seine letzten 24 Lebensjahre fast ausschließlich dem Komponieren widmete. Der internationale Erfolg setzte gleich nach dem Kriege ein, 1947 war seine Oper Dantons Tod op. 6 die erste – triumphal aufgenommene – Opernuraufführung der Salzburger Festspiele, und sie ist bis heute sein bekanntestes Werk geblieben. Das Libretto des nach Georg Büchner konzipierten Werks stammt von Boris Blacher. Im Nachhinein sollte von Einem durch diesen Erfolg zum Opernkomponisten abgestempelt werden, und sieben großteils sehr erfolgreiche Folgewerke bestätigen dies. Gegen diese einseitige Zuordnung spricht allerdings eine gewaltige Zahl groß angelegter Instrumentalwerke wie Solokonzerte, Kantaten, Streichquartette, Lieder und nicht zuletzt vier Symphonien und andere Orchesterwerke. Von Einem war nicht weniger Instrumentalkomponist als Schöpfer von Bühnenmusik.

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Der Stil Gottfried von Einems beruht auf tonalen Strukturen und liebt die sehr individuell abgewandelten klassischen Großformen. Dies heißt allerdings keineswegs, von Einem sei rückwärtsgewandt gewesen, sein ureigener Stil fesselt fortwährend mit überraschenden Wendungen und unerhörten Klängen. Die permanente Dissonanzbildung und Dodekaphonie hat er zwar studiert, verweigerte diesen ‚Qualen’ jedoch (stets zu integrierbaren Ausnahmen bereit) den Einzug in sein Schaffen. Bezeichnend ist von Einems subtiler Umgang mit Chromatik, welche im Gegensatz zu unzähligen Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts bei ihm ausnahmslos nicht die Gesetzmäßigkeiten der Spannung aufweicht und verschwimmen lässt, sondern stets überraschend bereichert und erweitert. Sein ausgereifter Kontrapunkt ist nicht weniger charakteristisch, besonders pur in seinen Streichquartetten zu bewundern. Jedes Instrument kann jederzeit die Führung übernehmen und sich ebenso schnell wieder in den Hintergrund zurückziehen, von Einem spielt mit Einsätzen und Führungspositionen so frei wie ungezwungen. Traditionelle „harmonische“ Klänge stehen dabei neben grellen Reibungen und effektvollem Ausbrechen, das jedoch nie die Grenzen des Korrelierbaren überschreitet, sondern immer in einem spannungsvoll mitverfolgbaren Kontext steht. Unerschöpfliche Varianten des Rhythmus, gepaart mit leichtfüßiger Eleganz, verleihen seinen Werken Schwung und treibende Kraft, bezaubernd ist sein Einsatz von Pausenelementen und der Ruhe als Gegenpol zur Bewegtheit. Gottfried von Einem ist ein stets unverkennbares und unabhängiges künstlerisches Individuum des 20. Jahrhunderts, das sich keinen ästhetischen Mehrheitsdoktrinen beugte und unbeirrt seinem unvorhersehbaren Weg folgte. Nicht nur als Opernkomponist, sondern auch – und vielleicht vor allem – als Instrumentalmusikschöpfer hinterlässt er uns nach seinem Tod 1996 ein substanzielles Œuvre, das zu studieren, zu spielen und zu hören für alle lohnt und dabei tiefe Einblicke jenseits rationaler Ergründbarkeit in eine wahrhaftige Persönlichkeit gewährt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Copyright der Fotoquellen: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Anlässlich dieses Artikel gehörte CDs der Musik Gottfried von Einems:
– Klavierkonzert, Medusa-Suite, Wandlungen, Nachtstück [Orfeo C 764 091 A]
– Streichquartette Nr. 1-5 [Orfeo C 098 101 A und C 098 201 A]
– Philadelphia Symphony, Geistliche Sonate, Stundenlied [Orfeo C 929 181 A]
– Dantons Tod

Plädoyer für Czerny

Carl Czerny: Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll (Weltersteinspielung); Introduzione e Rondo Brillant in Es-Dur, Op. 233; Einleitung, Variation und Rondo über Webers Jägerchor aus der Oper Euryanthe, Op. 60

English Chamber Orchestra – Richard Bonynge; Klavier: Rosemary Tuck

Label: Naxos; Katalog-Nr.: 8.573688 / EAN: 747313368877

Der Beethoven-/Clementi-/Hummel-/Salieri-Schüler und Liszt-/Thalberg-Lehrer Carl Czerny ist seit Generationen der Schrecken vieler Klavierschüler. Seine „Schule der Geläufigkeit“ und seine „Kunst der Fingerfertigkeit“ haben schon so manchen in die Verzweiflung, respektive die Sehnenscheidenentzündung getrieben.

Dass Czerny aber ein vielfältigerer Komponist war, als viele angenommen hatten, bewiesen in den letzten Jahren mehrere Einspielungen von Labels wie Nimbus, Christophorus, hänssler/SWR und Naxos, die sich allesamt um ein ausgewogenes Bild des Komponisten Czerny verdient gemacht haben. Vor allem die Aufnahmen der Werke für Klavier und Orchester, die in loser Folge bei Naxos erscheinen, sind durch die Bank ganz ausgezeichnet.

Das English Chamber entfaltet unter der Leitung des Pultveteranen Richard Bonynge Potenziale, die jenen der großen Wiener Orchester in nichts nachstehen. Mit Rosemary Tuck hat man darüber hinaus eine wirklich bemerkenswerte Solistin gefunden, die Czernys in Fülle vorhandenen spieltechnischen Hürden offenbar völlig mühelos bewältigt und dazu noch einen individuellen Ton und eine Kantabilität an den Tag legt, dass es die helle Freude ist.

Die neueste Einspielung aus der Reihe bringt mit dem großen d-Moll-Klavierkonzert ein mehr als 40-minütiges Hauptwerk aus Czernys Feder zum ersten Mal auf Tonträger zu Gehör. Es ist ein beeindruckendes Stück, geschrieben von dem damals erst zwanzigjährigen Komponisten, dem man hier eindeutig seine Ausbildung bei Maestro Beethoven anhört. Das ganze Stück hat Feuer und Energie, sprudelt über vor Virtuosität und Lebensfreude. Es gibt manche Anleihen an das 1809 komponierte große fünfte Klavierkonzert Beethovens, bei dem Czerny in der Uraufführung den Solopart gespielt hatte. Gleichzeitig bezieht der junge Czerny die neuesten Moden seiner Zeit mit ein, manches klingt ein bisschen nach Rossini, auch Carl Maria von Weber könnte einflussreich gewesen sein.

Das Stück mit seinem sage und schreibe 25-minütigen Kopfsatz, einem kurzen, nur vierminütigen Adagio und einem rasant-tänzerischen „Kehraus“ im Allegro molto vivace ist einfach rundum herrlich! Ich halte es für eines der besten Klavierkonzerte, das zu Lebzeiten Beethovens neben dessen eigenem Werk geschrieben wurde, und diese Einspielung ist einfach sensationell gut – was auch für den ganz ausgezeichneten, ideal räumlichen Aufnahmeklang gilt.

Die beiden anderen Werke dieses Albums „Introduzione e Rondo Brillant in Es-Dur“ sowie „Einleitung, Variation und Rondo über Webers Jägerchor aus der Oper Euryanthe“ sind ebenfalls interessant, wenngleich ihnen ein gewisser „Schaustück“-Charakter nicht abzusprechen ist. Czerny war eben auch Klaviervirtuose und Solokünstler, der sich selbst effektvolles Repertoire zu komponieren verstand. Alles in allem ist dieses fast 80-minütige Album ein beredtes Plädoyer für die Musik Carl Czernys, dessen Hauptwerke viel mehr Beachtung verdient hätten. So exzellente Darbietungen wie diese sind hoffentlich ein Weg zur Beförderung von Czernys Ruf.

Im Vergleich zum anderen berühmten Beethoven-Schüler Ferdinand Ries, dessen Qualitäten im Gegensatz zu jenen Czernys oft auffällig gelobt werden, halte ich bei näherer Betrachtung Czerny für den eigentlich interessanteren Komponisten. Je mehr Musik von Czerny ans Tageslicht kommt, desto besser wird der Eindruck. Bei Ries, so erscheint es mir, müsste es genau umgekehrt sein.

[Grete Catus, Januar 2018]

Das 19. Jahrhundert auf der Bratsche

Naxos, 8.573730; EAN: 7 47313 37307 9

„Romantic Viola Sonatas“ führt uns ein in das vielfältige Repertoire für Bratsche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hiyoli Togawa und Lilit Grigoryan spielen die Sonate Op. 16/1 von George Onslow, ursprünglich für Klavier und Violoncello geschrieben, in der Viola-Fassung,sowie als Originalwerke die Sonate c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Sechs Nocturnes Op. 186 von Johann Wenzel Kalliwoda.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein konnte sich die Bratsche, wie im Übrigen auch der Kontrabass, nicht als großes Soloinstrument durchsetzen. Neben der Gefahr, dieses vor allem in der Mittellage beheimatete Instrument allzu leicht durch andere Orchesterstimmen zu überdecken, ist es auch die abgerundete Weichheit der Bratsche, die für solistische Höhenflüge vielen ungeeigneter erschien als die kantigere, leuchtendere Geigenstimme oder das prägnant-sonore Violoncello. Wohl doch ein vorschnelles Fehlurteil, wie die vorliegende CD beweist. Drei grundverschiedene Werke der 1820er- und 1850er-Jahre zeigen, welch großes Spektrum an Möglichkeiten der Bratsche innewohnt und wie vielseitig sich ihr zarter Klang doch einsetzen lässt.

Der französische Komponist George Onslow, der neben Dusik (Dussek) und Cramer auch Anton Reicha zu seinen Lehrern zählen durfte, entwickelte sich auf den Bahnen Haydns und Beethovens weiter, spezialisierte sich als einer der wenigen Franzosen seiner Epoche auf die Kammermusik und schuf denkwürdige Werke, die als Anachronismus im Angesicht des Fortschrittsdenkens des 19. Jahrhunderts nach anfänglich großen Erfolgen schnell ins Hintertreffen gerieten. Die drei Sonaten Op. 16 waren ursprünglich für Klavier und Violoncello gesetzt, wobei die Reihenfolge maßgeblich ist, ist doch das Klavier – wie auch in etlichen Werken Beethovens und noch mehr Johann Nepomuk Hummels – zumindest gleichberechtigt, wenn nicht gar überwiegend führend, eingesetzt.

Felix Mendelssohn Bartholdys Violasonate ist wie zahlreiche seiner „Jugendwerke“ nahezu vergessen. Er komponierte sie 1824 mit gerade einmal 15 Jahren. Dabei ist sie bereits in ausgereiftem und geschliffenem Personalstil geschrieben und begeistert mit ihrer Inspiration, Anmut, Tiefe und Reife. Ebenso wie für seine Streichersymphonien und die frühen Instrumentalkonzerte ist ihre allgemeine Bekanntheit im Konzertsaal überfällig. Überragend gestaltet ist vor allem der finale Variationssatz, ganz im Zeichen Mozarts (vgl. z.B. dessen A-Dur-Sonate für Klavier), der das Thema subtil und mitverfolgbar entwickelt und dem Klavier über weite Strecken solistisch den Vortritt lässt. Mitreißend sind aber auch der brodelnd kompakte Kopfsatz mit kurzer, aber darum nicht minder intensiver Einleitung, und das Menuetto, ein Scherzocharakter von großem rhythmischen Reiz und treibender Energie.

Wie auch bei Onslow dörrte der zunächst blühende Erfolg Johann Wenzel Kalliwodas in der progressiveren Umgebung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich aus, lediglich einige leichte, salontaugliche Werke aus seinem über 250 Werke umfassenden Oeuvre blieben im Repertoire. Als überragender Violinist international gefragt, blieb Kalliwoda seinem Schirmherren und Fürsten Karl Egon II. in Donaueschingen treu und ließ die Stadt musikalisch aufblühen, veranlasste unter anderem die beiden Schumanns und Liszt zu längeren Besuchen. Die sechs Nocturnes sind mit durchschnittlich vier Minuten recht kurze, wunderbar ausbalancierte und feingliedrige Werke voll hinreißender Melodien auf einfachsten Formmustern und bezeugen, welche Meisterschaft aus Tonleiter- und Dreiklangsfiguren auch nach Beethoven gewonnen werden kann.

Einfühlsames Spüren macht die Darbietung von Hiyoli Togawa und Lilit Grigoryan vor allem aus. Die Musikerinnen lassen sich auf die grundverschiedenen Welten ein und erlauschen aufmerksam die spezifischen Gegebenheiten. Formal halten sie selbst das lange Mendelssohn-Finale trotz kleiner Temposchwankungen ordentlich zusammen, lassen den Zuhörer die kadenzierenden Kräfte mitempfinden und bezaubern mit feiner Abstimmung ihrer Instrumente. Hiyoli Togawa bringt ihre Bratsche förmlich zum Leuchten und entlockt ihr zarte, drängende und aufbrausende Töne in deren grundeigener Charakteristik. Lilit Grigoryan fliegt geschmeidig über die Tasten, bleibt glasklar in der Tongebung und hält sich vor allem in der Mittellage zurück, so dass Frau Togawa sich voll entfalten kann. Rundum ergiebig ist auch der ausgesprochen kenntnisreiche und effizient komprimierte Booklettext.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Anhaltende Kälte

Chandos, CHSA 5186; EAN: 0 95115 51862 5

Sir Andrew Davis dirigiert das Bergen Philharmonic Orchestra, den Bergen Philharmonic Choir und den Edvard Grieg Kor in einem Programm des Komponisten Ralph Vaughan Williams. Die Siebte Symphonie, Sinfonia Antartica, mit der Solistin Mari Eriksmoen eröffnet die CD. Darauf folgen die Vier letzten Lieder des Engländers in einer Orchestration von Anthony Payne mit dem Bariton Roderick Williams. Zuletzt ist das Klavierkonzert in der Version für zwei Klaviere und Orchester vom Komponisten und Joseph Cooper zu hören, Solisten sind Hélène Mercier und Louis Lortie.

Orchestermusik von Ralph Vaughan Willians ist oft kolossal und ausschweifend, pittoresk und effektvoll. So auch seine Sinfonia Antartica, nach langläufiger Zählung seine Siebte Symphonie. Ausgiebig hören wir antarktische Winde, sehen nicht enden wollende Weiten und fühlen uns geradezu in die Kälte hineingezogen. Es liegt viel Reiz in diesen umfangreichen Stimmungsbildern, wie sie Vaughan Williams in zahlreichen seiner großen Werke massiv instrumentiert präsentiert. Doch treten sie auch gerne einmal auf der Stelle, nur ungern löst sich der Komponist von den beschworenen Emotionen, sobald er sie einmal entfacht hat. Es scheint des öfteren, man müsse die Musik vorantragen, damit sich Neues tut – in konkretem Beispiel ja vielleicht sogar gewollt, denn wer friert schon gerne über 40 Minuten in eisigen Kälten und hofft dabei nicht zugleich, dass doch einmal die Wärme hervorkommt? Im früher entstandenen Klavierkonzert herrscht ebenfalls teils gewisses Auf-der-Stelle-Trappeln, bevor die Fuga chromatica con Finale alla Tedesca den Schmiss und Witz beweist, den Vaughan Williams eben auch haben kann, sofern er denn möchte. Es sind meist die kürzeren Werke, die mit Prägnanz und erlebend mitvollziehbarer Geschlossenheit bestechen, was besonders seinem Liedwerk Bedeutung verleiht. Die vier letzten Lieder, feinfühlig und Vaughan Williams’ Instrumentationskunst nahe stehend arrangiert von Anthony Payne, legen offen, wie viel Liebe zum Detail und unverfälschte Natürlichkeit dieser Komponist hervorbringt, wo er nicht im Pathos schwelgen will.

Die mitwirkenden Musiker agieren musikalisch und inspiriert. Sir Andrew Davis betont den für Vaughan Williams unentbehrlichen Effekt und Fokus auf den erregenden Moment, das Orchester folgt voluminös, präzise und stimmungsvoll. Die beiden Chöre strahlen eine herrliche innere Ruhe und Bodenständigkeit aus, bringen gemeinsam mit der Solistin Mari Eriksmoen den Klang aus der Tiefe heraus zum Entstehen. Roderick Williams erweist sich als feinfühliger und narrativer Bariton mit frischem Tonfall und abgeklärter Innigkeit. Nicht prätentiös hochtrabend, sondern zurückhaltend und gelassen gehen Hélène Mercier und Louis Lortie im Klavierkonzert ans Werk und verschmelzen mit dem Orchester zu einer geschmeidigen Einheit.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Aus dem Leben eines Bettlers – Masha Dimitrieva über Gordon Sherwood

 

Die russische Pianistin Masha Dimitrieva ist Pionierin der Erschließung der Werke von Gordon Sherwood, ihr ist auch sein Klavierkonzert gewidmet. Oliver Fraenzke traf sie zum Interview.

 

Gordon Sherwood ist nach wie vor ein vollkommen unbekannter Komponist, der nie nach Ruhm suchte und dessen Musik meist nur seinen Freunden bekannt war. Sie gelten als Entdeckerin seiner Musik, Frau Dimitrieva, und sind die Erste, die sie im großen Rahmen aufgeführt und auf CD eingespielt hat. Aber wie wurden Sie auf ihn aufmerksam und lernten ihn kennen? In einem kurzen Videoausschnitt auf der Homepage www.gordonsherwood.de heißt es während der Arbeit an seinem Klavierkonzert, dass auch Sie zu dem Zeitpunkt des Kennenlernens erst seit kurzem in Deutschland waren. Wo standen Sie zu dieser Zeit, wie gelangten Sie nach Deutschland und wie weit waren Sie damals auf Ihrem Weg zur Musik?

Nach dem Abschluss am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium im Jahr 1991 kam ich Anfang 1992 nach Hannover für ein weiteres Studium an der Hochschule für Musik und Theater, wo ich bei Prof. David Wild die Meisterklasse besuchte. Als großartiger englischer Pianist und Komponist war er derjenige, der mich mit modernen, zeitgenössischen westlichen  Werken wie etwa von György Ligeti, Hans Werner Henze oder Helmut Lachenmann vertraut machte und dadurch auch meinen musikalischen Horizont erweiterte.

Während meiner Studienzeit am Tschaikowsky-Konservatorium in der damaligen Sowjetunion waren in der Sparte der modernen Musik meistens nur russische Komponisten vertreten, so zum Beispiel: Georgi Swiridow, Mieczyslaw Weinberg, Galina Ustwolskaja oder auch Sofia Gubaidulina, um einige Namen zu nennen.

Noch am Konservatorium hatte ich das Glück, der großen Sofia Gubaidulina ihre ‚Chaconne’ für Klavier vorzuspielen und daraufhin ihre Bemerkungen und Korrekturen zu bekommen. Dies machte mich neugierig auf weitere Begegnungen mit Komponisten und die Möglichkeit, gemeinsam an ihren Werken zu arbeiten. Ich habe mich mit Begeisterung auf das moderne und teilweise unbekannte musikalischen Terrain „gestürzt“, um mich dann später meinem künstlerischen Credo, „Unbekanntes bekannt zu machen“, zu widmen…

Erst ungefähr vier Jahre war ich in Deutschland, als ich zufällig auf Arte den Film „Bettler in Paris“ (von Heiner Sylvester und Erdmann Wingert) über den amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood gesehen habe. Die Geschichte und die Musik dieses ungewöhnlichen Mannes haben mich sehr beeindruckt. Ich wollte und musste ihn unbedingt kennenlernen. Also habe ich bei der Fernsehstation angerufen und nach Sherwoods Adresse gefragt. Sherwood hatte keine Adresse hinterlassen, dafür aber viele Telefonnummern von seinen Freunden, die über die ganze Welt verteilt waren. So konnte man ihn ausfindig machen. Über einen Freund, der Musiker in Paris war, habe ich Gordon Sherwood gefunden, der sich zur dieser Zeit in Frankreich befand. Telefonisch habe ich mich Sherwood vorgestellt und ihn zu mir nach Bremen eingeladen. Nach einiger Zeit kam er mich tatsächlich besuchen …

Unsere Begegnung war von Anfang an sehr intensiv. Als er zu mir nach Hause kam, bat er mich gleich nach der kurzen Begrüßung, ihm etwas vorzuspielen; es war etwa 10:30 Uhr morgens. Nach dem ersten Stück wollte er immer weitere Stücke aus meinem Repertoire hören, angefangen mit Sonaten von Domenico Scarlatti bis hin zu den späteren Werken von Alexander Scriabin. Wenn Gordon ein Werk nicht kannte, verlangte er nach den Noten, um das Werk zu studieren und um die kompositorischen Einfälle des Komponisten zu verinnerlichen. Nach diesem ‚Vorspielen’ kam es zu Diskussionen über die Entwicklung der Musik und seine Zielsetzung, in allen Stilen und Formen komponieren zu wollen. Um etwa 21:00 Uhr beendeten wir diesen außergewöhnlichen ‚Musikmarathon’. Damals schon 67 Jahre alt, kannte dieser Mann scheinbar keine Müdigkeit und Zeit, wenn es um Musik ging.

„Das Leben ist viel zu kurz und man kann und sollte in dieser Zeit so viel lernen wie möglich“, ist Gordon Sherwoods Motto gewesen.

Und noch etwas anderes war ihm wichtig – es war Gordons besondere Art, den Musiker und den Menschen, der dahinter steckt, kennen zu lernen. Er war immer neugierig: auf die Musik, auf die Menschen, die Länder und verschiedenen musikalischen Traditionen; er war offen für Neues, immer bereit, zu lernen, um schließlich all diese Eindrücke in sein Werk zu integrieren.

Als ein Mensch der Extrema wird Sherwood ja gerne bezeichnet, der feste Anstellungen trotz guter Bezahlung ausschlug, der sich zeitweise gar als Bettler verdingte und nachts komponierte, der als Buddhist und Veganer (noch bevor es wie heute zum regelrechten Trend wurde) die Welt bereiste und bei all dem an seiner Kunst feilte. So etwas prägt einen Menschen ja grundsätzlich in seinen menschlichen Intentionen und Ansichten, es erhöht den Fokus auf bestimmte Aspekte. Wie war Sherwood als Mensch? Was waren seine Ziele, musikalisch wie außermusikalisch? Was war ihm wichtig und was zeichnete ihn aus?

Gordon Sherwood war ein umtriebiger, umhertreibender Freigeist, der die Neugierde fürs Leben bis in seine letzten Jahre nicht verlor. Sein fast unstillbarer Wissens- und Erkenntnisdurst haben ihn als Wanderer über ganzen den Globus und durch unterschiedlichste Kulturen geführt. Diese Erfahrung diente einer stetigen musikalischen Weiterentwicklung, was sich spürbar in seiner stilistisch so unterschiedlichen Musik erkennen lässt. Man kann sagen, dass Sherwood musikalisch die Welt „umarmte“,  die Welt mit ihrem gesamten Reichtum an Klängen und Eindrücken. Sein Herz und Geist, seine kompositorischen Gefühle und Gedanken waren immer auf der Suche nach neuen Impulsen, um diese dann mit den klassischen Formen zu vereinen. „Die neuen Gedanken und Einfälle muss ich sofort notieren. Deshalb sind viele meiner Stücke noch unvollendet. Das macht mich ganz nervös. Wenn ich 200 Jahre leben könnte, dann könnte ich vielleicht alle meine Ideen verwirklichen“, sagte Gordon Sherwood oft. Tatsächlich liegen manchmal einige Jahre zwischen der ersten Idee und der Ausführung einer Komposition. Viele seine Gedanken ruhten Jahre, bis sie irgendwann wieder von ihm aufgenommen wurden. So war es auch mit dem Klavierkonzert op. 107, welches Gordon Sherwood mir gewidmet hat. Die Entwürfe für das Klavierkonzert entstanden in den späten 1950er Jahren. Erst in den 1990ern – kurz nach unserer ersten Begegnung – vollendete er das Konzert. Die klassische Form in drei Sätzen ist voll von harmonischem Reichtum und technischen Schwierigkeiten, für den Solisten wie auch für das Orchester. Gordon pflegte über das Konzert zu sagen, es sei eine „Schlacht“ zwischen Solist und Orchester. Die Arbeit an dem Klavierkonzert mit dem Komponisten und Menschen Sherwood war für mich extrem interessant und lehrreich. Gordon begann jeden Morgen um 7 Uhr zu komponieren, später ging er mit mir durch das Komponierte. Die Musik und die Sätze hatte er schon vollständig im Kopf, worauf er sie mit seiner kalligrafischen Handschrift rein niederschrieb. Nach dem Vorspielen hat er die nötigen Korrekturen in die Partitur eingetragen. Das Klavierkonzert ist reich an großen dramatischen Spannungen, Höhepunkten und düsteren Momenten, die dann schließlich durch eine Steigerung aufgelöst werden. Höchste Priorität hatte für Gordon beim Komponieren dieses Stückes die Schönheit der Musik.

Er hatte viele Freunde und Förderer, verteilt über die ganze Welt, die nicht nur seine Musik, sondern auch den Menschen Gordon Sherwood sehr geschätzt haben. Selber habe ich ihn als sehr umgänglichen, höflichen, aber auch zielstrebigen Mann erlebt, der an den langen Abenden bei mir zu Hause bei veganem Essen und einem Gläschen gutem Wein von seinen hochinteressanten Reisen erzählte oder über die Musik diskutierte. Sein Leben war voll von Abenteuern, die manchmal auch sehr brutal waren. Jedoch hat er den Optimismus bis zu seinem Tod nicht verloren, die Liebe zur Musik hat ihm immer die nötige Kraft gegeben. „Musik war für mich seit jeher ein Elixier für meinen Geist. Ich kann daran am besten meine Sehnsucht nach Schönheit und meine Abscheu vor Krankheit und Krieg ausdrücken. Aber Musik ist das eine, das andere ist Sprache, und es gibt eigentlich keine Worte, um die Wirkung, die Musik auf mich hat, zu beschreiben“…

Es existiert eine Biografie, die Sherwood selber verfasst hat und die ca. 1000 Seiten zählt, wo er sein – nicht immer leichtes – Leben an den verschiedensten Orten dieser Erde beschreibt. Die Kriterien seines Lebens und Werkes standen stets in einem Gegensatz zur ‚normalen’ bürgerlichen Welt. Unabhängigkeit und Freiheit, Flucht aus allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen waren neben der Musik die wichtigsten Merkmale seines Handelns.

Als junger Mann gewann er den Gershwin-Wettbewerb, den renommiertesten Komponistenwettbewerb in den USA. Am Anfang einer großen Karriere stehend, kehrte er plötzlich dem verhassten Kulturbetrieb den Rücken und entschied sich für ein Nomadenleben. Er lebte im Libanon, in Ägypten, Israel, Griechenland, Kenia, Costa Rica, China – um einige seine Stationen zu nennen. Wenn das Geld ausging, ging er nach Paris, um ein paar Jahre als Bettler Geld für die Reisen zu sammeln. Das nannte er „Self-Sponsoring“. Und dann verreiste er wieder… Überall auf der Welt fand er die Freunde und Förderer, die ihm eine Unterkunft und Unterstützung boten, damit er seine musikalischen Ideen auf das Papier bringen konnte…

Zentrales Thema für Sherwood war die Zeit. Seine Zeit war zu beschränkt, um die Neugier auf das Leben zu stillen.

„Ich hatte nie die Zeit, anderen Menschen nachzulaufen, Dirigenten zu suchen, um meine Werke aufführen zu lassen. Ich hatte nie die Zeit dafür, weil ich immer mit neuen Ideen beschäftigt war“, so Sherwood.

Seine Ausbildung genoss Gordon Sherwood bei zutiefst unterschiedlichen großen Lehrern: Aaron Copland, einer der Väter der modernen amerikanischen Musik; Philipp Jarnach – zwischen den beiden Weltkriegen einer der führenden Komponisten Deutschlands und als Mitglied der Novembergruppe mit einigen Größen der Zeit wie Kurt Weill, George Antheil, Max Butting, Hanns Eisler, Stefan Wolpe oder Heinz Tiessen (dem heute vergessenen Lehrer Celibidaches, der Tiessen nach eigenen Aussagen alles zu verdanken hatte) assoziiert; sowie Goffredo Petrassi, der nach Auseinandersetzungen mit dem Neoklassizismus und dem Serialismus einen vollkommen eigenen Stil schuf. Wie schlugen sich diese musikalischen Kontraste seiner Lehrjahre in seinem Werk nieder? Konnte er sie vereinen, und wenn ja, wie? Als weitere Einflüsse nannte Sherwood auch Schostakovitsch, Bartók sowie auch den Jazz und Blues – findet auch dies alles seinen Platz in Sherwoods Personalstil, und gilt gleiches für die Musik all der Länder, die Sherwood bereiste und erforschte?

Nach Nennung solch eines Stilpluralismus sei noch allgemein gefragt: Wie ist die Musik von Sherwood eigentlich, wie lässt sie sich beschreiben, was macht sie aus?

Das Œuvre Gordon Sherwoods ist sehr umfangreich. Sein Werkverzeichnis zählt ca. 143 Einträge. Sie umfassen Orchesterwerke, Opern, Kantaten, Chorwerke, sehr umfangreiche Kammermusik (Klaviermusik, Werke für verschiedene Streich- und  Blasinstrumente), Ballettmusik, religiöse Werke, Vokalmusik (über acht Zyklen mit eigenen Texten), Filmmusik und anderes.

Stilistisch sind die Kompositionen von seinen amerikanischen Vorbildern – Gershwin, Copland, aber auch Strawinsky, Bartók, Hindemith – beeinflusst. Einen charakteristischen Stil seiner Musik erwirkt die Verschmelzung des Klassischen mit indischen und arabischen Elementen, aber auch mit Elementen des Jazz.

Dies ergibt den äußerst charakteristischen Musikstil von Sherwood. Trotz komplexen Strukturen und dichter Stimmführungen, wie z. B. in seinen Orchesterwerken, hat seine Musik eine persönliche, unverkennbare Sprache, was auch dem ungeschulten Zuhörer den Zugang erleichtert. Seine Musik ist kraftvoll, sehr rhythmisch, polyphon, öfter aber gesanglich und melancholisch. Tiefsinn, Klang- und Ausdrucksvielfalt, Gefühlsstärke, Ideenreichtum und originelle Einfälle sind charakteristische Merkmale seiner Musik.

Sie sprachen von langen musikerfüllten Tagen voll spannender Konversationen über sein Schaffen, über den Einfluss von Musik anderer Komponisten sowie über seine Reisen – ebenso über die intensive Zusammenarbeit an seinem Klavierkonzert. Wie hat Sie Gordon Sherwood beeinflusst und inspiriert? Hat der Kontakt zu ihm Sie verändert, als Mensch wie als Musikerin?

Sicherlich hat mir die Freundschaft mit Gordon, sowohl im musikalischen als auch im menschlichen Sinne, viel gegeben.

Es mag vielleicht pathetisch klingen, aber seine große, fanatische und sehr ehrliche Liebe zur Musik hat mich in höchstem Maße beeindruckt und inspiriert.

Er war für mich wie ein brennendes, unglaublich ehrliches Energiebündel, das niemals müde wurde, wenn es um Musik ging. Er konnte die Leute, die ihm nahe standen, mit diesem Feuer regelrecht infizieren.

Wir Musiker lieben Musik, üben unseren Beruf mit Hingabe aus, aber wir machen auch Pausen, beschäftigen uns mit anderen, alltäglicheren und manchmal vergleichsweise regelrecht profanen Dingen. Gordon kannte das nicht. Er war sozusagen ein „absoluter Musikpriester“; sein Gott war die Musik, der er leidenschaftlich jede Minute seines ganzen Lebens widmete. Diese unendliche, brennende und mitreißende Kraft seiner Kreativität, ungeachtet all den Gegebenheiten, in denen er lebte, diese unstillbare Neugier auf das Neue, Unbekannte erloschen erst mit seinem Tod.

Ebenso hat mich sein Blick auf die Welt und auf die Menschen beeindruckt. Gordon mochte keine Kompromisse. Er war sehr sensibel und tiefgründig, was die verschiedenen menschlichen Charaktere anging. Er wäre niemals, auch nicht für ein besseres Engagement oder einen Vorteil für sich, auf einen Kompromiss mit jemandem eingegangen, den er nicht mochte oder respektierte. Die Menschen, die ihm begegneten, liebte oder hasste er; und die Freunde, die er hatte, waren ehrliche, ihn liebende Menschen.

  

Sherwood war wie bereits erwähnt Buddhist, aber dennoch schrieb er unzählige Werke mit dezidiert christlichem Bezug wie die Three Sacred Pieces Op. 35 oder die Bettlerkantate. Wie ist es zu erklären, dass Gordon Sherwood geistliche Musik für eine bestimmte Religion schreibt und doch einer anderen zugehört? Gibt es auch Werke für andere Religionen in seinem Schaffen? Und wie zeichnet sich das Sakrale in seiner Musik ab?

Gordon Sherwoods Verhältnis zu Gott war schwierig. Es gab in Gordons jungen Jahren eine christliche Phase, später bekannte er sich zum Buddhismus. Als ich ihn vor fast 20 Jahren kennenlernte, war er Atheist geworden.

Gordons Glaube war mehr ein Glaube an das Leben, an die Natur – wie beispielsweise zu erfahren in den „Five Pieces Depicting the Beauty of the Jaranda Trees“ Op. 63, in denen er die Schönheit der Natur, der Bäume und Blüten preist.

Seine Anschauung vom Buddhismus spiegelt sich in „Hare Krishna Finca Hare Krishna“ op. 95 wieder. Jedoch sollte man dieses Werk nicht als das Werk eines fromm Gläubigen betrachten, sondern mehr als ein Werk des Suchenden, Experimentierfreudigen, der neugierig auf die neuen Klangfarben war.

In der „Bettlerkantate“ op.99 gibt es nichts, was als sakral bezeichnet werdn könnte. Die Kantate ist eher eine „Dokumentation“ einer Periode seines Lebens, als er das benötigte Geld als Bettler in Paris beschaffte.

Den Text für die „Bettlerkantate“, wie auch die Texte für die vielen verschiedenen anderen Vokalwerke und Vokalzyklen, hat er übrigens selbst geschrieben.

Alle diese Werke wurden bis jetzt leider noch nicht uraufgeführt.

Was die Three Sacred Pieces op.35 betrifft – die waren sicherlich beeinflusst durch seine große Liebe zu Bach – man könnte sie als ein sakrales „Experiment“, ein unglaublich gelungenes und auch ehrliches „Experiment“ mit einer Musik, die eine Gänsehaut hinterlässt, bezeichnen.

Bis jetzt wurde aus diesem Zyklus nur das „Ave Maria“ aufgeführt.

Sehr bezeichnend erschien mir ein Zitat unter seinem Op. 50, „Boogie Canonicus. Nine Boogie-Woogie and Blues Pieces in Canon Form for Piano Solo“. Dort steht: „There are nine canons in Bach’s ‚Goldberg Variations‘. Beethoven wrote nine symphonies. There are nine known planets in the solar system so I’ve stopped here“. Zwei musikalische Bezüge werden hier einem physikalisch-astronomischen gegenübergestellt, um die Neunzahl zu begründen. Gibt es solche Assoziationen häufiger in Sherwoods Schaffen, und bezog er vielleicht gar auch im Alltag grundverschiedene Elemente aufeinander und kombinierte sie?

Gordon hatte einen Hang zu Zahlenmystik, wie übrigens einige andere Komponisten auch. Es existieren circa 20 Notizbücher, wo er die verschiedensten Zahlen und deren Bezüge zueinander erforscht hat. Da sind z. B. die Entfernungen von einer Stadt in die andere in Kilometern, Zeit und Geschwindigkeit aufgeführt; oder auch Taktzahlen seiner Werke, Geldbeträge, imaginäre Zeitausrechnungen etc. Gordon liebte die Welt der Zahlen, sie beschäftigte ihn. Die Zahlen bedeuten Ordnung, sie gaben ihm ein Gefühl von Ordnung in dem chaotischen, unsteten Leben, das er führte…

 

Sie sagten, Sherwood habe auf der ganzen Welt Freunde und Förderer gewonnen. Zum einen kommt mir da die Frage, wie hat er so etwas gemacht, wie konnte er als unbekannter ‚Bettler’ wichtige Freunde und Förderer gewinnen, was machte diese Begabung aus? Und zum anderen, wie konnte er trotz internationaler Anhängerschaft bis heute so komplett unetabliert bleiben?

Gordon Sherwood hat sich als „weltweit berühmtester aller unbekannten Komponisten“ bezeichnet.

Ein wichtiger Grund für seinen geringen Bekanntheitsgrad als Komponist lag in ihm selbst. Er hatte die besten Voraussetzungen für eine Karriere. Als junger Mann gewann er mehrere bedeutende Kompositionspreise und Förderungen, u. a. 1957 den erwähnten Ersten Preis des renommierten George Gershwin-Komponistenwettbewerbs, ein Fulbright-Stipendium für ein weiteres Studium in Deutschland. Sein damaliger Lehrer an der Hamburger Musikhochschule – Philipp Jarnach – bezeichnete ihn als talentiertesten und vielversprechendsten Komponisten, der seit 20 Jahren an der Musikhochschule ausgebildet wurde.

Gordon suchte keine Vorteile für sich, er wusste das alles für sich monetär und reputationsmäßig nicht zu nutzen und verweigerte all die Positionen, die ihm sein Talent eröffnet hatte. Gordon verachtete den Musikbetrieb; er passte in keinen ‚normalen’ Rahmen, weder als Komponist noch als Mensch, und wollte sich auch um nichts auf der Welt in einen solchen hinein fügen.

Und die Tatsache, keinen mächtigen Manager oder Impressario zu haben, der aus ihm einen großen Namen machen würde, hat ihm ein ganz anderes Leben bereitet. Anstatt des geregelten Musikbetriebs entschied er sich für ein abenteuerliches und unglaublich bewegtes Leben.

Seine kompromisslose Persönlichkeit war sehr eindrucksvoll, ja faszinierend. Diejenigen Menschen, die ihn getroffen haben, konnten ihn nicht so leicht vergessen.

Viele Musikerfreunde, die ihn und seine Musik unglaublich schätzten, haben versucht, nach ihren Möglichkeiten seinen Kompositionen ein öffentliches ‚Leben’ zu geben. Jedoch: ohne entsprechendes Management und PR-Vermarktung ist das gewiss eine eminent schwere Aufgabe.

Eine Aufgabe, die vielleicht nun nach seinem Ableben 2013 nachgeholt werden kann. Es ist wunderbar, zu sehen, dass sich exzellente Musiker wie Sie solch einem Meister widmen, der sich wohl auch für die Künstler weniger vermarkten lässt als beispielsweise eine Neueinspielung von Beethovensonaten. Es bleibt zu hoffen, dass der „Bekannteste der unbekannten Komponisten“ bald vielleicht schon der „unbekannteste der bekannten Komponisten“ sein wird. In diesem Sinne danke ich für das Gespräch und für Ihre Zeit.

 [Interview geführt von: Oliver Fraenzke, 2017]

Kommende Konzerttermine mit Musik Gordon Sherwoods und Masha Dimitrieva:
13.1.2018: München, Freies Musikzentrum
07.3.2018: München, Steinwayhaus

Zu Recht legendär? Gieseking spielt Debussy

Claude Debussy – The Piano Works; Walter Gieseking (Klavier)
Label: Warner Classics

Das, was die einstigen „Majorlabels“ wie EMI/Warner, RCA/Sony oder Deutsche Grammophon/Decca/Universal heute noch können, ist das eifrige Polieren der Schätze von gestern, respektive vorgestern. Während aktuelle Releases der zuvor genannten Labels immer belangloser und austauschbarer werden, verkaufen sich die Wiederveröffentlichungen aus dem Archiv offenbar bestens und anscheinend auch stetig und nachhaltig. Sonst würden wohl kaum immer mehr und mehr alte historische Aufnahmen in preisgünstigen bis direkt gesagt billigen Boxen von den „Majors“ serviert.
Warner Classics (der heutige Rechte-Inhaber des riesigen Katalogs der verblichenen EMI) hat nun eine ganze Reihe von sehr uneinheitlichen Aufnahmezyklen in Boxen zum fast schon unangenehm billigen Preis auf den Markt geworfen. Und so kommt man schon für um die neun oder zehn Euro neuerdings auch in den Besitz von Debussys mehr oder weniger vollständigem Klavierwerk in der legendären Gesamtaufnahme (bzw. was man damals dafür hielt) von Walter Gieseking aus den frühen bis mittleren 1950er-Jahren.

Auf 5 CDs ist der Pianist zu hören, dem man zu Lebzeiten (und auch heute noch) nachsagte, er habe wie kein Zweiter die Seele Debussys wiedergegeben, was so weit ging, dass Zeitgenossen Giesekings meinten, er sei ein so unvergleichlicher Debussy-Pianist, dass er einer pianistischen Reinkarnation des Komponisten gleichkäme. Dies ist insofern von Bedeutung, weil es zu Giesekings Lebzeiten durchaus noch Hörer gegeben haben mag, die imstande gewesen sein könnten, einen Vergleich mit dem eigenen Spiel des gut 30 Jahre älteren Komponisten Debussy anzustellen.

Wir Nachgeborenen können uns nur noch anhand von Tondokumenten orientieren: Dabei zeigen Debussys eigene „Aufnahmen“ für die Welte-Mignon-Selbstspiel-Klaviere in der Tat gewisse Parallelen zum Stil Giesekings: Eine gewissermaßen „trockenere“, weniger lyrische Herangehensweise an Debussys Kompositionen, als man das heute meistens gewohnt ist. Es ist außerdem sehr interessant zu hören, wie in diesen Interpretationen (sowohl in denen des Komponisten als auch in jenen Giesekings) doch häufig die deutsche Schule durchzuschimmern scheint, als deren eigentliche Antithese Debussy heute nicht selten gesehen wird (was man so schwarz-weiß-malerisch aber eben auch nicht sehen kann).

Witzigerweise sind Debussys eigene Lochstreifen-Aufnahmen für Welte-Mignon aus den 1910er-Jahren bis heute in makelloser Qualität reproduzier- und aufnehmbar, während Giesekings Einspielungen merklich und hörbar ihr Alter vermitteln (was vielleicht vermeidbar gewesen wäre, aber dazu kommen wir noch). Einst erschienen sie auf mehreren Labels zeitgleich: Angel Records in UK, Columbia in US und in vielen anderen Ländern, später wechselten sie einheitlich zum EMI-Label, heute bekommen wir sie von Warner Classics. Der kongeniale Plattenproduzent Walter Legge hatte Walter Gieseking, dem sein Ruf als „unvergleichlicher“ Debussy-Interpret vorauseilte, ab 1951 ins Studio gebeten, um mit ihm unvergängliche Referenzaufnahmen anzufertigen.

In gewisser Weise hat das auch geklappt: Jedenfalls sind die Gieseking-Einspielungen bis zum heutigen Tag in fast jeder „Referenz“-Liste zu finden, die sich mit Debussy auseinandersetzt. Und es hat auch wieder nicht geklappt, denn erstens setzte sich schon wenige Jahre nach den Aufnahmesessions mit Gieseking die Stereo-Technik durch, und die Mono-Einspielungen Giesekings wurden damit (in den Augen vieler Technikbegeisterter) für lange Zeit obsolet. Zweitens ist in dem beeindruckenden Debussy-Konvolut Giesekings eben auch einfach nicht alles „Referenz“, mal ganz abgesehen davon, ob man sich mit Giesekings vergleichsweise nüchternem Stil überhaupt anfreunden mag: Das fordert manchem heutzutage vielleicht etwas Eingewöhnung ab, wo wir es doch allzu oft gewohnt sind, Debussy anders, schwelgerischer, grenzgängerischer, avantgardistischer und ja, vielleicht auch kitschiger serviert zu bekommen.

Geht man objektiv an die Sache heran, fällt zunächst auf, dass Gieseking zwar ein fabelhafter Pianist mit wunderbaren Klangfarben und einem grandiosen Anschlag gewesen sein muss (die Tontechnik lässt allerdings nicht immer einwandfreie Schlüsse zu), dass es aber auch zu seiner Zeit schon bessere Techniker gegeben hat. Besonders fällt dies natürlich bei Debussys Études auf, die man definitiv anderswo nicht nur sauberer, sondern auch gehaltvoller gespielt bekommt als von Gieseking. Und so zeigt sich eigentlich der gesamte Zyklus der Aufnahmen Giesekings von uneinheitlicher Größe: Bei den Images, Estampes, Préludes und Children’s Corner in Giesekings Interpretation würde auch ich bei der Einstufung „Referenz“ nicht lange zögern, unter der Voraussetzung, dass es eine Referenz unter mehreren möglichen ist. Die Suite bergamasque, einige der einzelnen Solostücke, Pour le Piano und vor allem die 12 Études muss man meiner Meinung aber nicht unbedingt von Gieseking haben. Da gibt es genügend modernere Alternativen, die mindestens gleichwertig, wenn nicht überlegen sind. Ich finde vor allem Giesekings Pedalarbeit manchmal geradezu schludrig, was dann doch überrascht.

Kommen wir abschließend zum Ärgerlichsten an dieser Box: Dem Klang. Dieser mag bereits ab Original limitiert gewesen sein, aber die vielgelobten Restaurateure der Abbey Road-Studios haben sich hier auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die hier angewandte „Methode Holzhammer“, bei der einfach die Höhen rausgedreht werden, um wahlweise Bandrauschen oder Plattenknacksen zu eliminieren, war auch 2011, als dieses „Remastering“ entstand, eigentlich ein „No Go“. Wie fantastisch selbst deutlich frühere Mono-Aufnahmen bis in die 1930er-Jahre hinein klingen können, wenn man sich mit einem gewissen „Grundrauschen“ zufrieden gibt (was meistens wesentlich besser ist, als zu versuchen, jegliche Nebengeräusche, vor allem statische Nebengeräusche wie Bandrauschen oder Plattenknacksen, ganz auszuschalten), zeigen Archivveröffentlichungen anderer Labels oder auf die Restaurierung historischer Aufnahmen spezialisierter Firmen. Hier hätte definitiv mehr herausgeholt werden können und müssen: Der flache, dumpfe Klang dieser Box ist meiner Vermutung zufolge wohl eher eine Verschlechterung gegenüber den originalen LPs, was einen auch zum Preis von neun Euro einfach ärgert.

Fazit: Zweifellos interessante Aufnahmen von hohem Wert, die aber qualitativ durchaus Untiefen aufweisen, kommen hier zum Billigstpreis und in einem eher drittklassigen Remastering ins Haus. Ob man das braucht oder doch lieber zu moderneren Alternativen greift (selbst, wenn auf diesen dann nicht der Name Gieseking prangt), ist auf jeden Fall eine kritische Überlegung wert.

[Grete Catus, Januar 2018]

Eine Jahrhundertstimme

The Gift of Music, CCL CDG1291; EAN: 6 58592 12912 0

Auf der Anthologie „Anything Goes“ hören wir zwanzig Aufnahmen von Ella Fitzgerald aus dem 1950er-Jahren. Von Gershwin über Rodgers and Hart bis zu Porter und Ellington ist dies eine bunte Sammlung geläufiger Jazz-Hits. Die CD erschien bei The Gift of Music.

Sie ist und bleibt eine der unverkennbaren und ergreifendsten Stimmen des letzten Jahrhunderts: Ella Fitzgerald. ’The First Lady of Song’ war einer der großen Ehrentitel, die sich die 1917 geborene US-Amerikanerin im Laufe ihrer 59-jährigen Karriere verdiente.

Alles begann mehr oder weniger durch einen Zufall: Ella Jane Fitzgerald, nach dem Tod ihrer Mutter auf sich allein gestellt, trat im Alter von 17 Jahren bei einer der Amateur Nights im Apollo Theater in Harlem, New York, auf. Sie plante, dort zu tanzen, doch entschied sie sich aufgrund der Konkurrenz und ihrer Nervosität spontan, im Stil von Connee Coswell vorzusingen, und gewann. Nur wenige Monate nach diesem Debüt wurde sie Chick Webb vorgestellt und tourte fortan mit seiner Band. Nach seinem Tod 1939 übernahm sie das Ensemble als „Ella and Her Famous Orchestra“, trat aber parallel auch mit dem Benny Goodman Orchestra auf und leitete eigene kleiner besetzte Projekte. 1942 verließ sie das Jazzorchester und startete eine Solokarriere bei Decca. Später gründete Norman Granz um sie als Leitfigur das Label Verve Records, dem sie bis zu dessen Verkauf 1963 treu blieb. Bis 1993, drei Jahre vor ihrem Tod, trat Ella Fitzgerald aktiv auf, machte 1991 ihre letzte Plattenproduktion und war in zahlreiche Film- und Fernsehproduktionen involviert.

Leichtigkeit und Klarheit sind Merkmale ihrer Stimme, deren Schönheit und empathischer Ausdruck bis heute berühren. Sie ist warm und emotional, lupenrein und absolut natürlich. Ihr Vibrato setzt sie nuanciert und kontextbezogen individuell ein, dekoriert damit nicht die ganze melodische Linie. Ella Fitzgerald vereint Zartheit mit Selbstbewusstsein und weiß, den Hörer mit ihrer Stimme „um den Finger zu wickeln“. Es gibt wohl nichts, was nicht „schön“ und angenehm klingt, wenn Ella es singt – treffliches Beispiel sind die Verse „I’ve been sitting on a fence and it doesn’t make much sense“ aus Sydney Robins und Charles Stavers‘ Standard Undecided, die bei vielen Sängern schlichtweg befremdlich wirken. So mag nicht verwundern, dass es Ella Fitzgerald war, die nach Aufkommen des Bebop wesentlich an der Entwicklung des ’Scat’ beteiligt war, worin sie mit ihrer drei Oktaven umfassenden Stimme instrumentengleich improvisieren konnte, ohne dazu sinnhafte Worte oder gar zusammenhängende Texte zu benötigen.

„Anything Goes“ ist eine Sammlung von 20 ikonischen Jazzsongs von 1950 bis 1959, viele in bekannten Aufnahmen. Sie sind allesamt tadellos remastered und klingen lebendig und frisch. Die Beschränkung auf die 1950er Jahre ergibt ein umfassendes Bild auf eine besondere Ära des Wandels. Weitere empfehlenswerte Sammlungen, die einen umfassenderen Überblick über Ellas gewaltiges Schaffen geben, sind „Ella Fitzgerald. Summertime. 40 Greatest Hits“ (2012, COIL Records) und „Ella Fitzgerald. Rhythm and Romance“ (2001, Black Box).

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Ferne Liebe, sehnsüchtige Lieder

Spektral, SRL4-16153; EAN: 4 260130 381530

Der Tenor Georg Poplutz singt Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven, am Klavier begleitet von Hilko Dumno. Von Beethoven erklingt „An die ferne Geliebte“ op. 98, von Schumann hören wir die „Dichterliebe“ op. 48. Zusammengehalten werden diese Zyklen durch ausgewählte Lieder Schuberts.

Zwei dieser drei Komponisten zählen zu den führenden Liedersetzern ihrer Epoche und zudem bis heute zu den namhaftesten und für dieses Genre exemplarischsten. Von Beethoven sind natürlich weniger Lieder überliefert. Lange bevor die auf der Höhe der Romantik wirkenden Liedschaffenden wie Hugo Wolf, Edvard Grieg, Gustav Mahler oder der junge Richard Strauss das Licht der Welt erblickten, fesselten diese drei wie auch Mendelssohn mit wahrer, verinnerlichter, romantischer Empfindung, Vollendung der Textumsetzung und Beherrschung der Miniaturform. Und dies, obgleich keiner von ihnen auf die Kurzform beschränkt war, sie alle drei waren epochale Symphoniker sowie Meister großformatiger Klavier- und Kammermusikwerke. Selbst über 200 Jahre nach ihrer Geburt halte ich es für bezeichnend, die kurze Form gleichberechtigt neben der „himmlische Länge“ zu betrachten und sie gleichermaßen zu beherrschen.

Aus einer großen Masse an Einspielungen dieser Lieder hervorzustechen, ist eine Herausforderung, aufgrund der sich nur zu viele durch Extravaganz und Ignoranz der musikalischen Substanz gegenüber profilieren. Nicht so Georg Poplutz und Hilko Dumno: Dieses eingespielte Duo fällt eben dadurch auf, nicht auffällig sein zu wollen. Sie stellen sich rein in den Dienst der Noten, denen sie neues Leben einhauchen. Besonderes Augenmerk legen sie auf Natürlichkeit und Schlichtheit, jedes prätentiöse oder wichtigtuerische Verhalten haben sie abgelegt. Aufrichtigkeit ist es, was ihre Darbietungen charakterisiert, und man kauft ihnen die musikalisch entfesselten Emotionen dieser Lieder als wahrhafte Empfindungen ab. Poplutz und Dumno überakzentuieren nicht und versuchen auch nicht krampfhaft, etwas Besonderes rüberzubringen, lassen die Musik einfach entstehen und wirken. Und diese Wirkung erreicht den Hörer!

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Entdeckung pur

Johann Peter Kellner: Geistliche Kantaten

 Anna Kellnhofer, Sopran – Christoph Dittmar, Altus – Mirko Ludwig, Tenor  – Ralf Grobe, Bass – Cantus Thuringia – Capella Thuringia: Bernhard Klapproth, Orgel und Leitung

 CPO, 555 159-2; EAN: 7 61203 51592 9

 

Wieder einmal eine wunderbare Entdeckung beim Label CPO: Diesmal geht es um die Kirchenkantaten von Johann Peter Kellner (1705-72). Vermutlich war er ein Schüler von Johann Sebastian Bach, jedenfalls hat er für die Überlieferung einiger Bach-Werke gesorgt.

Seine eigene Musik ist sehr ansprechend, die Tonsprache durchaus vertraut aber nie epigonal. Seine Kantaten sind kurz, maximal knapp 14 Minuten lang, meist mit Eingangschor, einem Rezitativ, einer Arie für Solisten oder Duett und einem Abschluss-Choral. Einige Stücke sind für diese Produktion tatsächlich erstmalig in neuerer Zeit aufgeführt, auch für die anderen Kantaten besteht noch Bedarf an Aufführungsmöglichkeiten und viele von Kellners Kompositionen harren noch heute der Übertragung in moderne Notation. Halbwegs ausreichend herausgegeben oder zugänglich sind nur einige seiner Orgelstücke.

Die Textvorlagen stammen von den verschiedensten Zeitgenossen, die Vertonungen des Komponisten sind sehr farbig, ziehen Instrumente aller Couleur hinzu und lassen trotz der Kürze der einzelnen Kantaten nie Routine oder Monotonie aufkommen. Im Gegenteil, die Aufnahmen sind mit spürbarem Vergnügen und dem Enthusiasmus der Wiederentdeckung eines vergessenen Meisters der Nach-Bach-Zeit eingespielt und realisiert. Das umfassende Booklet gibt erschöpfend Auskunft über Johann Peter Kellner, die Kompositionen und die Zeit. Auch wenn der Klang des Chores oder der Solisten zusammen mit Orgel und den anderen Instrumenten – drunter auch Pauken und Trompeten  – aufgenommen wird, sorgt die Abmischung für klare Durchhörbarkeit und Balance. Der Chor Cantus Thuringia verdient besondere Erwähnung: dass man den Text bei einem Chor so klar versteht, ist äußerst selten und könnte ein Maßstab für weitere Produktionen sein oder werden. Jedenfalls ist diese CD mit Musik von Johann Peter Kellner (oder seinem Sohn Johann Christoph, die Zuordnung ist teilweise sehr schwierig und noch nicht abschließend recherchiert) eine ausgesprochen lohnende Neuerscheinung und das Anhören ein berührendes Erlebnis.

[Ulrich Hermann Dezember 2017]

Klebstoff der Denunziation

‚Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null’ von Joachim Reiber
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien; ISBN: 97832180010870

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Am 24. Januar 2018 wird der 100. Geburtstag von Gottfried von Einem (1918-96) begangen. Einem war Österreicher, geboren in Bern, aufgewachsen nahe Plön in Schleswig-Holstein, ausgebildet in Berlin und nach dem Kriege Mitglied der Direktion der Salzburger Festspiele, und wirkte nach seinem politisch motivierten Rauswurf aufgrund des Eintretens für den ‚Kommunisten’ Bertolt Brecht bis zu seinem Lebensende in Wien, dem Waldviertel und Niederösterreich, aber auch ein Leben lang auf Reisen. Es passt zu seinem illustren Lebenslauf, dass sein erster Mentor Heinz Tietjen, Generalintendant der Preußischen Staatstheater, im marokkanischen Tanger, und sein entscheidender Lehrer in Berlin, der große Komponist Boris Blacher, im chinesischen Newchwang (heute Yingkou) geboren wurde. Dem Meister Blacher verdankte Einem gewissermaßen alles, er gab ihm Halt sowohl hinsichtlich der kompositorischen Technik als auch der Einstellung zu politischen Fragen. Später studierte Einem auch noch kurz Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David, was Blacher mit bedingtem Enthusiasmus zur Kenntnis nahm. Blacher sagte über Einem, der bei seiner offiziellen Bewerbung fürs Kompositionsstudium in Berlin von Heinz Tiessen als fast schon hoffnungslos erscheinender Fall abgelehnt wurde, sinngemäß, er habe als blutiger Anfänger eigentlich schon alles besessen, was seine künstlerische Persönlichkeit ausmachte. Die Privatstunden in den Jahren 1941-43 begannen immer mit der rituellen Einnahme eines ‚Leichenschnapses’ (also in Ermangelung besserer Alternativen verdünnter reiner Alkohol aus der heutigen Charité) und dem Abhören der verbotenen Auslands-Rundfunksender. Blacher ist – wie übrigens auch Tiessen, der andere große Berliner Mentor – legendär dafür, dass er jeden jungen Komponisten maximal darin förderte, seinen ureigenen Ausdruck zu finden, was sich ja auch an der so unterschiedlichen Prägung seiner Schüler ablesen lässt, zu welchen neben Einem u. a. Heimo Erbse, Isang Yun, Fritz Geißler, George Crumb, Claude Ballif, Günter Kochan, Giselher Klebe, Francis Burt, Noam Sheriff, Rudolf Kelterborn, Kalevi Aho, Peter Ronnefeld, Aribert Reimann oder Klaus Huber zählten. Auch Einem unterrichtete später an der Wiener Musikhochschule, auch er brachte bemerkenswerte Schüler hervor – HK Gruber ist der prominenteste unter ihnen – und zeichnete sich in seinem Unterricht durch ausgesprochene Freizügigkeit aus, sofern die Studenten bereit waren, seine praktischen Ratschläge zu befolgen, zu welchen vor allem das aufmerksame Verfolgen von Proben gehörte. Er zog sich sehr plötzlich vom Hochschulbetrieb zurück, als ihm infolge eines absurden Prüfungstribunals das ganze Ausmaß des akademischen Schwachsinns klar wurde.

Gottfried von Einem gehörte, obwohl noch ganz jung, aufgrund seiner familiären Situation zu den privilegierteren Künstlern des Dritten Reichs. Seine Mutter bewegte sich virtuos auf dem Parkett von Hochfinanz und Politik und machte große Gewinne in risikoreichen Geschäften, über die sie nichts durchblicken ließ. Als sie dann aber von der Gestapo verhaftet wurde, erfuhr Gottfried im Verhör von dem Beamten, dass der Vater, dem er sich so fremd fühlte, gar nicht sein Vater war. Er war der Spross des ungarischen Grafen László Hunyady, den er zwei Mal in seinem Leben gesehen hatte. Dieser wurde auf einer gemeinsamen Reise mit der Mutter in Ägypten während einer Großwildjagd von einem Löwen getötet, und Jahrzehnte später fand Gottfried bei Aufräumarbeiten in Ramsau eine alte, blutige, zerrissene Hose – mutmaßlich das letzte Kleidungsstück seines leiblichen Vaters, dessen Geschlecht im Magen des Löwen gelandet war.

In Blacher also fand Einem 1941 seinen wahren Lehrer für die Musik und fürs Leben (Blacher verfasste dann auch die Libretti für Einems Opern ‚Dantons Tod’ nach Büchner, ‚Der Prozess’ nach Kafka, ‚Der Zerrissene’ nach Nestroy und ‚Kabale und Liebe’ nach Schiller, teils in Kollaboration und durchweg in genial verknappender Weise, wobei Blacher stets betonte, er habe „nur gekürzt“). Durch ihn dürfte Einem mit dem Dirigenten Leo Borchard in Kontakt gekommen sein, einem messerscharfen Gegner des Nationalsozialismus, der in Deutschland kaum noch dirigieren durfte, jedoch im März 1943 mit den Berliner Philharmonikern die erste Einem-Uraufführung, das Capriccio für Orchester, herausbrachte und dem 23jährigen einen Sensationserfolg bescherte (Borchard wurde dann nach dem Kriege zum Stellvertreter des gesperrten Furtwängler ernannt, jedoch bald darauf von einem amerikanischen Soldaten bei einer Kontrolle ermordet). So knüpfte Einem, zeitlebens ein brillanter Kommunikator und Netzwerker, seine Bande in die Widerstandsbewegung in Berlin, und unter hohem persönlichen Risiko verschaffte er dem jüdischen Musiker Konrad Latte falsche Papiere und rettete so sein Leben, was man ihm posthum in Yad Vashem mit der Ernennung zum ‚Gerechten der Völker’ vergalt. Nun wissen wir aber auch, dass, wer in einem totalitären System etwas bewirken will, dafür auf gute Kontakte, also auf ein gewisses Maß an Einfluss und Macht angewiesen ist. Die reine, weiße Weste ist eine Illusion, und hier kann man die neu erschienene Biographie wohl nur als entweder naiv oder hinterhältig kritisieren.

Wer Joachim Reibers neue Einem-Biographie ‚Komponist der Stunde null’ liest, sollte vorher zumindest die ‚Einem-Chronik’ von Friedrich Saathen und die Autobiographie des Komponisten ‚Ich hab’ unendlich viel erlebt’ gelesen haben, um nicht allen Bären auf den Leim zu gehen, die ihm aufgebunden werden. Und Reibers Buch ist undenkbar ohne Thomas Eickhoffs besser recherchiertes Kompendium ‚Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert – Gottfried von Einem’, wobei wir eben auch gerade hier bereits die große kollektive Charakterschwäche der heutigen ‚Forschung’ feststellen müssen: Eickhoff wurde nach einem Symposion unterstellt, er sei ein Apologet von Einems, und nichts fürchten die vielen Feiglinge des wissenschaftlichen wie journalistischen Milieus mehr als den Vorwurf, sie seien womöglich nicht objektiv, sie seien von Sympathie korrumpiert. Also muss der Gegenstand der Verehrung wenigstens angepinkelt werden! So hat es Eickhoff dann auch in beschämender Weise gemacht, indem er die Vorwürfe der von Einem kritisierten ‚Avantgardisten’ als ästhetische Selbstverständlichkeit übernahm und damit in selbstverleugnender Art Zuflucht beim Zeitgeist suchte, also in der schützenden Masse der Mehrheitsmeinung der Musikintellektuellen der 1960er bis 80er Jahre. Man traue nur den Ohren nicht und vertraue auf das, was zwischen ihnen nicht vorhanden ist!

Joachim Reiber treibt dieses feige Spiel noch viel weiter. Natürlich hat Einem auch viel laviert, wenn es um Politisches ging, er hat aber stets klar und couragiert Position bezogen, wenn er schreiende Ungerechtigkeit erkannte, und dafür sehenden Auges schwere Nachteile, Rückschläge und Ächtung in Kauf genommen. Wie hätte man im Dritten Reich in relativ hervorgehobener Stellung offen opponieren können? Hinter den Kulissen konnte man desto mehr bewirken, je mehr Vertrauensvorschuss man sich erworben hatte. Und in einem sind sich alle einig: Einem hat sich nie als Denunziant betätigt, hat keinen ans Messer geliefert, sondern ist immer für seine Überzeugungen eingestanden, die aber nicht in blindem Fanatismus ein für allemal feststehen mussten. Er war eine zutiefst menschliche, wandelbare, auch kapriziöse und sehr feurige Persönlichkeit, und er war ausgesprochen mutig und gewandt. Es ist wohl auch einfach Neid im Spiel, wenn man nur mal kurz auf die eigenen ‚Meriten’ schaut, und dann wieder auf ihn… Reiber, der nunmehr fast ein Vierteljahrhundert im Wiener Establishment-Sumpf mitmischt, betreibt nun eben öffentlich Hobbypsychologie. Er prätendiert, als wisse er über Einem besser Bescheid als dieser selbst und seine lebenslangen Freunde. Und er hat darüber hinaus musikalisch so gar keine Ahnung, ist nicht ansatzweise imstande, den qualitativen Unterschied zwischen Furtwängler und Karajan nachzuvollziehen, auch die scharfe Trennlinie zwischen dem, was einen ausgezeichneten Dirigenten und oberflächlichen Musiker in Personalunion (also Karajan) ausmacht. Und da er so gar nichts von Musik versteht, schreibt Reiber auch nur über das Leben, die ‚Psychologie’ (mit triumphierender Holzhammerlogik) und die Opern und Kantaten, denn da gibt es ja Gottseidank den Text, an dem man sich entlang hangeln kann. Das Instrumentalwerk, das alleine Einem als Komponisten unsterblich macht, wird so grundlegend ignoriert, dass man den Eindruck haben könnte, er habe hier fast nichts geschrieben (man denke nur an den Reichtum vielfältigster Orchesterwerke inkl. 4 Symphonien oder an die 5 Streichquartette, die in subtilster Meisterschaft die große Tradition weiterentwickeln). Na ja, man sollte eben, wenn man eine Musiker-Biographie schreibt, ein Minimum an musikalischem Interesse und fachlicher Bildung aufweisen. Wenigstens das, wenn schon keine Intuition vorhanden ist.

Reiber hat, wie ja immer wieder mal völlig unabhängig von Fragen der charakterlichen und fachlichen Qualifikation der eine oder andere Autor, ganz grundsätzlich davon profitiert, dass ihm ein riesiger Schatz an Quellen (im Einem-Archiv im Wiener Musikverein) zugänglich gemacht wurde, und er hat geflissentlich darauf gesehen, auch noch die beiläufigste flüchtigste Notiz gegen den Verdächtigen, den er allmählich wie einen Angeklagten aussehen lässt, zu verwenden. Dass dies, wenn schon, kein fairer Indizienprozess ist, kann man unschwer erkennen, indem das Negative plakativ herausgestrichen und das Positive meist abgewertet oder unterschlagen wird. Das heuchlerische Moralin des Biographen stinkt nach Sensationsgosse, und letztlich gelingt es ihm damit nur, einen schlechten Geschmack über das ganze Leben seines längst verstorbenen Opfers auszubreiten, ohne dass ihm irgendein triftiger Nachweis gelänge, der die posthume Demütigungsaktion rechtfertigte. Ein kleiner Mensch, zu feige, es mit den Lebenden aufzunehmen (an die Witwe Lotte Ingrisch, die Textdichterin der geistlichen Oper ‚Jesu Hochzeit’, traut er sich nicht heran…), aber immerhin noch ‚mutig’ genug für Leichenschändung. Dies ist ein grauenhaft schlechtes Buch, das der Verlag mutmaßlich unbesehen aufgrund der kulturell privilegierten Stellung des Täters herausgebracht hat. Man muss sich auch fragen, wie es passieren konnte, dass vom Komponisten ausgerechnet ein Photo aufs Cover gelangte, das ihm mittels eines kräftigen Schlagschattens auf den ersten Blick die verdächtige Anmutung eines Hitler-Bärtchens unterstellt (oder sollen wir hier an Charlie Chaplin denken…?). Und damit man sich möglichst schwer mit der Überprüfung der Fakten tut, sind weder die Fußnoten unten auf den Seiten zu finden noch gibt es ein Schlagwortverzeichnis. Natürlich auch kein Werkverzeichnis, aber dafür jede Menge selbstverliebte Amateururteile über das Leben, die Gesinnung, die verdrängten Motive, die ästhetische Haltung, das musikalische Können, den nirgendwo ansatzweise beschriebenen Personalstil eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Denn das ist Gottfried von Einem, und das wäre er auch ganz ohne seine Opern, und um dies zu erkennen, bedürfte es unvoreingenommener Wahrnehmung, ehrlicher Beschreibung des Beobachteten und eines gewissen Mindestmaßes an Wachheit, Anstand, Empathie und Menschlichkeit.

All das findet sich bei Gottfried von Einem, und nichts davon bei Joachim Reiber. Und so gerät eine schillernde Dame, die schon in den kafkaesken Fängen opponierender politischen Interessen fast aufgerieben worden wäre (das gegen sie in Frankreich in Abwesenheit erlassene Todesurteil wurde nach dem Kriege, nach langer Haft, in einen Freispruch umgewandelt), posthum in die Mühlen der pseudophilosophisch dilettantischen Demontage-Kampagne des profilierungsbesessenen Deuters: Gerta Louise von Einem, die Mutter des Komponisten, der viele Menschen verdankten, dem Zugriff der Nazi-Schergen entkommen zu sein, wird – als Erscheinung mit primitivem Moralismus nicht fassbar – der Nachwelt als eine willkürlich böse Frau präsentiert. Als wäre Herr Reiber dabei gewesen. Dabei hat er nur, bar jeglicher Selbstreflektion, im Nachlass – oder dem, was davon übrig geblieben ist – herumgewühlt und aus den Puzzlestücken seine willkürlich schlussfolgernde Version zusammengestellt. Die öffentlich-rechtliche Tagespresse, die so gern den selbsternannten Experten, die sie anscheinend von der Notwendigkeit der unvoreingenommenen Überprüfung der Faktenlage im Licht der Geschichte freistellen, glaubt, übernimmt dann meist in ihrer oberflächlichen Schnelllebigkeit nur zu gerne vorschnell solche Urteile, wie bereits bedauerlicherweise geschehen in der Buchbesprechung im Deutschlandfunk. Von Hinterfragung, von Achtung vor einem Menschenleben, das wie jedes gewiss außer Licht auch Schatten beinhaltete, keine Spur. Der Leser wird zur geistigen Komplizenschaft eingeladen. Wenn er nicht hellwach ist, bleibt der Klebstoff der Denunziation haften. Vielleicht ist in Wahrheit diese Art der raffiniert eloquenten Anschwärzung ja, über das offenbar tiefsitzende Ressentiment von Herrn Reibers Frauenfeindlichkeit hinaus, ein Ausdruck dessen, was wir als ‚das Böse’ zu benennen versuchen. Im Gewand des ‚Guten’, wie so oft. Und möglicherweise weiß der Täter gar nicht, was er tut. Vor den Folgen bewahrt uns solche Unschuldsvermutung nicht. Man möchte weinen vor Beschämung.

[Annabelle Leskov, Dezember 2017]

Das Wiederaufblühen einer Größe

EDA, 042; EAN: 8 40387 10042 5

Eine Hommage an den polnisch-ukrainischen Komponisten Józef Koffler bringt das Label EDA heraus, das für die Reihe „Poland Abroad“ bereits Kammermusik Kofflers aufnahm. Erstmalig ist symphonisches Schaffen des Komponisten auf CD erhältlich, und zwar Livemitschnitte des Klavierkonzerts op. 13 und der Zweiten Symphonie op. 17. Von diesen Kolossen eingerahmt werden Zwei Lieder op. 1, Quatre poèmes op. 22 und das Zweite Streichquartett op. 27 „Ukrainische Skizzen“. Es spielt das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra unter Christoph Slowinski, im Klavierkonzert mit Daniel Wnukowski als Solisten, das Polish String Quartet Berlin, und es singt Frederika Brillembourg, am Klavier begleitet vom Dirigenten.

Wenn man die großartigen Künstler aufzählen würde, die von den Nazis aus dem öffentlichen Bewusstsein gefegt wurden, so wäre die Liste endlos. Immer wieder treten größere oder kleinere Namen auf die Bildfläche, die Opfer der Verfolgungen wurden. Viele davon sind es wert, wieder entdeckt zu werden, und einige davon stechen ganz besonders hervor. Zu diesen gehört, woran ich keinen Zweifel offen lassen möchte, Józef Koffler, der nach jahrelanger Unterbringung im Ghetto 1944 mit seiner ganzen Familie ermordet wurde. Sein Schaffen ist von geringem Umfang, doch von hoher Substanz. Sein Lebenslauf war durchwachsen: 1896 im galizischen Stryj geboren, musste er sich erst gegen den Wunsch der Familie, Jura zu studiere, durchsetzen, und ließ sich zunächst in Lemberg (Lwiw), später in Wien von Egon Wellesz, Robert Lach und Guido Adler ausbilden und promovierte bei letzterem über Felix Mendelssohn Bartholdy. Während seines Studiums wurde er im Ersten Weltkrieg in die Armee eingezogen. 1924 kehrte er nach Lemberg zurück Dort erhielt er eine Professur für Harmonielehre und atonale Komposition, eine absolute Neuerung in Polen. Neben vielfältigem Lob zog er als „Erster polnischer Dodekaphoniker“ auch regelmäßig Spott auf sich. Als Jude wurden Koffler bereits in den 1930er-Jahren Anfeindungen zu Teil, die sich nach dem Überfall auf Polen drastisch verschärften und schließlich auch seinen Tod in einer öffentlichen Massenexekution zur Folge haben sollten.

So sehr Koffler die Musik der Zweiten Wiener Schule inhaliert hatte, machte sie doch nur einen Teil seines Stil aus. Charakterisiert wird dieser hauptsächlich durch eine durchgehende und ausgeklügelte Kontrapunktik, durch dissonant angereicherte und bis an die Grenzen der Verständlichkeit geführte Harmonien, polnisches und ukrainisches Kolorit und durch ausgewogene thematische Arbeit, die zu festen und strikt eingehaltenen Formkonstrukten führte, welche aber nicht rein akademisch erdacht, sondern innerlich erspürt klingen. In den Kurzformen wagte sich Koffler auch an neuartige Strukturen, im symphonisch ausgedehnten Format hingegen hielt er sich an bewährte Formen wie dem Rondo oder einer bogenartigen Struktur. Kofflers Musik wirkt teils befremdlich und eigenwillig, gelegentlich gar sperrig, und besitzt doch immer wieder geradezu Ohrwurmcharakter. Diese Werke lassen den Hörer nicht so schnell wieder los und klingen noch lange nach.

Das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra unter Christoph Slowinski hebt die Kontrapunktik deutlich und verständlich hervor und lässt, wenngleich teils gehetzt wirkend, viel von der musikalischen Struktur durchscheinen, geht gefühlvoll auf die Thematik ein und all dies mit eine adäquaten Dichte von Klang und Ausdruck. Mit virtuoser Sicherheit und Glanz fesselt Daniel Wnukowski als Solist im Klavierkonzert, sichtlich Spaß hat er vor allem im dritten Satz, der freudig leicht und doch mit unterschwelligem Ernst erklingt. Wohl artikuliert, mit wuchtiger Kraft begleitet Slowinski die opernhaft schmetternde Frederika Brillembourg in den Liedern op. 1 und 27. Lyrisch durchzogen und von zarter Sehnsucht erfüllt betören die Ukrainischen Skizzen in der musikalisch ausgewogenen Darbietung des Polish String Quartet Berlin. Ausgezeichnet auch der vorbildlich informierende Booklettext.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]