Archiv für den Monat: Dezember 2017

Geniestreich

Hans Rosbaud dirigiert Bruckner (8 CDs): Sinfonien Nr. 2–9 (Südwestfunk-Orchester Baden-Baden)

Katalog-Nr.: SWR19043CD / EAN: 747313904389

Als eine ganze neue Serie mit Aufnahmen von Hans Rosbaud bei SWRmusic angekündigt wurde, war ich überrascht. In meiner persönlichen Einschätzung war Rosbaud nun nicht eben ein Dirigent, dem ich, wenn ich Verantwortlicher eines CD-Labels wäre, eine Edition gewidmet hätte: Seine Verdienste um die (damals) Neue Musik sind unbestritten, und auch als Uraufführungsdirigent (u.a. für Strawinsky) hat Rosbaud sich seine Meriten wohl verdient. Es fällt mir jedoch auch jetzt noch schwer, ihn als bedeutenden Dirigenten einzustufen. Vergleicht man ihn etwa mit Michael Gielen, dem SWRmusic ebenfalls eine Edition gewidmet hat, ist kaum bestreitbar, dass Gielen (egal, was man von diesem Dirigenten halten mag, ich persönlich halte auch Gielen für keinen der „Großen“) im historischen Rückblick weitaus prägender gewesen ist als Rosbaud.

Zu meiner Überraschung angesichts des Beginns der Serie gesellte sich die Überraschung angesichts eines (fast) kompletten Bruckner-Zyklus, den Rosbaud anhand der Partitur-Ausgaben letzter Hand (die „Wiederentdeckungen der Urfassungen der Bruckner-Partituren war damals noch kein Thema) als damaliger Chef des SWF Sinfonie-Orchesters Baden-Baden für den Rundfunk unter Studiobedingungen eingespielt hatte.

Die grundlegende Überraschung war erst einmal, dass jemand wie Rosbaud überhaupt einen Bruckner-Zyklus hinterlassen hat. Die größere Überraschung aber war, dass er sich dann auch noch als einer der allerbesten Bruckner-Zyklen entpuppte, die ich bis dato zu Ohren bekommen habe.

In wirklich äußerst wohltuender Weise hat Rosbaud ab Mitte der 1950er-Jahre einen quasi idealen Kompromiss gefunden zwischen der feierlichen Würde, die diese Musik braucht (auch will) und dem gänzlichen Verzicht auf jeglichen überflüssigen pompösen Ballast. Auf geradezu geniale Weise spielt Rosbaud dabei auch die wirklich vorzügliche Mono-Tontechnik der damaligen SWF-Tonmeister in die Hände. Sie sorgt für einen (meistens) glänzend durchhörbaren Raum, der fast ganz ohne Hall auskommt, aber interessanterweise überhaupt nicht künstlich wirkt. Die Partitur scheint offen vor einem zu liegen, viele Einspielungen aus der Box klingen beinahe wie (sehr üppig besetzte) Kammermusik. Selbst bei ausgesprochenen „Boliden“ wie der Vierten oder der Achten wirkt das Orchester bis in die hinterste Stimme durchleuchtet.

Das war noch echte Tonmeisterkunst! Und was ist das für ein frappierender Kontrast zu den häufig verwaschenen, halligen Bruckner-Aufnahmen von heute und aus der jüngeren Vergangenheit! In der Tat hat man den Eindruck: Genau so, wie in diesen Mono-Aufnahmen aus den Jahren 1955 bis 1962 sollte Bruckner klingen – sowohl was das Dirigat angeht, als auch in Dingen der Tontechnik. Und das überrascht einen im Jahr 2017 dann doch.

Rosbaud ist mit diesem Zyklus ein wirklicher Geniestreich gelungen, der in seinem sonst gar nicht immer überzeugenden Nachlass als Dirigent, einzig dasteht. Der gesamte Zyklus wirkt wie aus einem Guss und braucht sich selbst hinter einschlägigen Bruckner-Referenzen nicht zu verstecken. Im Gegenteil: Ich denke, er wird bald selbst zu ebenjenen Referenzen gehören. Das größte Verdienst dieser fesselnden Mitschnitte ist es, dass sie so selbstverständlich klingen: Rosbaud hat es geschafft, dass man hier nichts, aber auch wirklich gar nichts infrage stellen möchte. Die komplizierte Konstruktion ist unhörbar, alles wirkt ganz organisch, die Tempi erscheinen optimal gewählt, nichts klingt aufgesetzt, nichts klingt bemüht, alles erscheint ganz leicht und flüssig.

Und so kann man nur konstatieren, dass diese Box eine wichtige, lohnende Veröffentlichung ist, deren einziges Manko darin besteht, dass sie eben (leider) kein kompletter Zyklus ist: Die erste Sinfonie fehlt. Nebenbei ist sie ein klingendes Plädoyer für das ganz erstaunliche klangliche Niveau, das die Mono-Rundfunktontechnik der 1950er-Jahre zu erzielen im Stande war.

[Grete Catus, Dezember 2017]

Das Geheimnis hinter drei Saxophonen

Arthaus Musik, 109252; EAN: 4 058407 092520

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Adam Kahan beleuchtet Leben und Wirken von einer herausragenden Jazzgröße in seinem Film „Rahsaan Roland Kirk. The Case of the Three Sided Dream“.

Er war ein Träumer, ein Überzeugter, ein Rebell, ein Individualist: Rahsaan Roland Kirk. Sein ganzes Leben widmete er mit Hingabe der Musik, ohne Rast und Halt. Bis zum Tage vor seinem allzu frühen Tod 1977 mit lediglich 41 Jahren konzertierte er regelmäßig, ließ sich auch von einem Schlaganfall 1975 nicht daran hindern, der ihm die Funktionstüchtigkeit seiner rechten Hand raubte. Solche Hindernisse ließen ihn nur wachsen, beginnend mit seiner Erblindung im Alter von zwei Jahren waren sie schließlich stetige Begleiter, und so spielte er fortan eben mit einer Hand auf einem extra hierfür angefertigten Saxophon.

Von dieser Lebensgeschichte berichtet Adam Kahan in „Rahsaan Roland Kirk. The Case of the Three Sided Dream“ aus der Perspektive von Kirks Familie, seiner Freunde und Bandkollegen, sowie von Kirk selbst. Ohne kommentierende Stimme aus dem Off hat sich der Betrachter selbst das theoretische Grundgerüst aus verschiedenen Erzählungen zusammenzupuzzeln, dafür kann Kahan den Fokus auf das Wesentliche legen, was nicht durch einen Lexikoneintrag vermittelt werden kann. Er legt Gewicht auf die wichtigsten Aspekte im musikalischen Schaffen Kirks, seine Lebensumstände werden nebenher tangiert. Der Film thematisiert das Phänomen Multiinstrumentalismus und besonders das Spiel auf bis zu drei Saxophonen zeitgleich, Kirks auf nie dagewesenes Niveau gehobene Fähigkeit der Zirkuläratmung, seinen Glauben an den Traum und auch sein Rebellentum, Fernsehshows durch Pfeifen zu sabotieren, um auf den Jazz – die „Klassik der Schwarzen“, wie er ihn nannte – aufmerksam zu machen, der noch immer zu wenig beachtet und geschätzt war. Rahsaan Roland Kirk, den ersten Namen gab er sich nach einer Eingebung im Traum, war ein Freigeist und vertrat unerschütterlich seine Vision, dafür nutzte er alle Mittel. So stieg er weit auf, war nicht zuletzt aufgrund seiner rebellischen Haltung einer der ersten Jazzmusiker in Fernsehshows, und ließ sich auch dort nicht auf „gefälligen Geschmack“ ein, sondern trumpfte mit eigenwilligen Harmonien und Instrumentalkonstellationen und mit geräuschhaften Effekten auf. Dabei missbrauchte er keines seiner Gadgets für Show-Zwecke, ebenso wenig die Vielfalt seiner (oft zeitgleich) gespielten Instrumente. Dies alles diente ausschließlich dazu, seiner inneren Vorstellung gerecht zu werden und seinen Horizont immer weiter zu dehnen. Wir werden leider nie erfahren, zu was Rahsaan Roland Kirk noch allem fähig gewesen wäre, hätte er noch ein paar Jahrzehnte mehr auf dieser Erde verbracht.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Im leidenschaftlichen Wettstreit mit sich selbst

Stefan Tarara misst sich an den Solosonaten von Eugène Ysaÿe:

Der erste Preis beim George Enescu Violinwettbewerb markierte für den Geiger Stefan Tarara auch in persönlicher Hinsicht einen Meilenstein: Tarara, der im Jahr 2015 sein Studium in Zürich bei Zakhar Bron abschloss, fühlt sich durch seine rumänischen Eltern dem Namensgeber dieses international bedeutsamen Wettbewerbs seelenverwandt. Wenn er es auf seiner aktuellen CD mit den Sonaten des Belgiers Eugène Ysaÿe solistisch aufnimmt, tritt Tarara in einen leidenschaftlichen Wettstreit mit sich selbst.

Ich habe gerade in einem Video Ihre irrwitzigen Arpeggiensprünge bei Paganini bewundert. Stimmen Sie damit überein, dass Paganinis Capricen eigentlich sehr angenehm zu spielen sind, weil sie so „geiger-gerecht“ gesetzt sind?

Es stimmt, aber es muss immer noch gründlich geübt werden und schwer bleibt es dennoch. Aber Sie haben recht, es gibt viel Musik, die noch deutlich gemeiner geschrieben ist.

Hat er die ganzen Sachen für sich selber geschrieben, damit er sich beim Spielen wohl fühlt?

Vieles hat Paganini gar nicht selber geschrieben. Die Capricen und andere großen Werke sind von ihm persönlich, aber vieles haben seine Schüler für ihn gemacht. Einiges ergab sich direkt aus seinem Spiel. Und er hatte immer eine panische Angst, dass es ihm jemand gleich tut und dass da jemand ist, der noch etwas virtuoser und fetziger spielt.

Geht es auch Ihnen heute darum, besser als andere zu sein?

Im Wettstreit liegt der Reiz, sein bestes zu geben und Anerkennung zu bekommen. Aber den stärksten Wettbewerb trägt man mit sich selber aus. Da geht es gegen sich selbst und nicht gegen andere. Der Erfolg hängt immer von der Tagesform ab. Alles kann sich im nächsten Moment schon wieder ändern. Es gibt so viele Variablen. Am wichtigsten ist es, sich selbst treu zu bleiben. Aber Musik ist ja nicht nur Wettstreit. Es geht in erster Linie darum, Menschen zu verbinden. Wer Kammermusik macht, profitiert immer von anderen Menschen.

Welche Erfahrungen haben Sie bei den Wettbewerben gemacht?

Sie haben in den letzten Jahren sehr viel Spaß gemacht. Man muss eine ganz bestimmtes Mindset mitbringen. Bei den großen Wettbewerben sind viele Medien involviert und vieles wird heute per Livestream übertragen, so dass man hier wahrgenommen wird. Ich will hier natürlich das beste geben  – und im Kopf bleibt der Wunsch, den ersten Preis zu bekommen!

Was unterscheidet ein Wettbewerbsvorspiel von einem Publikumskonzert?

Der Unterschied wird mir erst jetzt so richtig bewusst, wo ich auch viel als Pädagoge tätig bin und auch selber in der Jury sitze: Dort sitzen Leute, die vor allem die Fehler zählen. Die meisten Zuschauer wollen aber die schönen Momente erleben. Das sind unterschiedliche Ausgangssituationen. Also richte ich beim Wettbewerbsspiel ein besonderes Augenmerk auf Intonation, Rhythmus und Stabilität. Das gehört natürlich auch im Konzert unmittelbar dazu, aber hier steht noch mehr der Ausdruck und die musikalische Linie im Vordergrund.

Und dafür muss man auch mal einen Fehler zulassen dürfen. Ein Chirurg kann sofort einen Menschen umbringen, wenn er einen Fehler macht. Diese Gefahr besteht bei uns Musikern zum Glück nicht. Aber wir können Menschen zu Tode langweilen. Im Wettbewerb braucht es objektive Richtwerte, Intonation, Interpretation, Textgenauigkeit und Rhythmus. Trotzdem sollte niemand einen Wettbewerb gewinnen, der einfach nur richtige Töne spielt.

Was leisten Wettbewerbe überhaupt für die eigene Karriere?

Ich bekomme kostenlose Werbung. Das ist das, was für mich am wichtigsten als Interpret ist. Es haben mich mehrere Leute gehört. Vielleicht gibt es welche, denen es gefallen hat. Die Chance, woanders eingeladen zu werden, steigt immens. Das ist am wichtigsten. Es geht mir darum, die Leute zuhause hinter den Screens zu überzeugen – ebenso die 1000 bis 1500 Leute, die im Saal sind.

Es geht immer um Erfahrung. Wenn man gut vorbereitet ist und einen guten Tag hat, eröffnet dies die  Chance, sich einem riesigen Publikum zu präsentieren. Das Preisgeld ist sowas von egal.

Vor allem der erste Preis im Enescu Wettbewerb hat mich extrem nach oben katapultiert. Das hat auch etwas mit meiner persönlichen Prägung zu tun. Meine Eltern kommen aus Rumänien und ich bin zweisprachig aufwachsen. Ich bin mit der Musik Enescus wirklich groß geworden. Es war ein Traum für mich, Enescu in Rumänien zu spielen – eben dort, wo er herkommt. Ein anderer Wettbewerb, in dem ich „nur“ einen dritten Preis bekommen habe, hat fast ebenso viel für die Karriere geleistet, nämlich der Wieniawski-Wettbewerb in Polen. Die Polen lieben diesen Wettbewerb und unterstützen ihre Künstler ohnegleichen. Vor allem diese beiden Wettbewerbe haben sehr viel bewirkt. Auf einmal haben mich viele Labels angeschrieben. Vorher war ich es, der die Labels anschrieb, was nicht so viel gebracht hat.

Warum haben Sie sich für diese Solo-CD für Eugene Isayes Solosonaten entschieden?

Ich habe Ysayes Sonaten durchgängig seit meiner Jugend angehört. Vor allem die Einspielung von Frank Peter Zimmermann hat mich von klein auf stark inspiriert. Zimmermann war für mich ein Riesen-Idol. Es war ein ständiger Traum, sie mal selbst zu spielen.

Was fordert Sie in dieser Musik besonders heraus?

Es wird durchaus sämtliche Paganini-artige Virtuosentechnik abverlangt. Aber Isayes Virtuosität kommt viel „musikalischer“ daher.  Die Sonaten sind natürlich auch stark von Bach beeinflusst. Eine Nähe zu George Enescu ist ebenfalls stets präsent. Ysayes Sonaten sind verschiedenen Personen gewidmet. Er wollte gewissermaßen auf moderne Art eine „Bachsonate“ schreiben. Jede Sonate hat einen eigenen Charakter. Da lebt beispielsweise Fritz Kreislers Süßlichkeit in einer der Sonaten. Wir haben in der sechsten Sonate einen ausgeprägt spanischen Charakter, sogar mit einer Habanera. Aber bei allen vielfältigen Einflüssen kann man Isayes Stempel in jeder Note finden. Er hat seinen eigenen Stil, Polyphonie zu schreiben, den niemand sonst geschafft hat. Das hier ist eine andere, moderne, virtuose Polyphonie. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Isaye kann einen Tick besser mit  geigerischen Aspekten umgehen als Bach. Ysaye hat doch etwas besser gewusst, wo die Stärken der Geige liegen. Wenn ich mir Bachs wohltemperiertes Klavier anhöre, ist da eine vollendete Perfektion. Aber es bleibt eine Bachfuge für Geige, bei der zu vieles vom Klavier her gedacht ist mit allen sich daraus ergebenden Limitierungen. Ysaye ist doch vielmehr von den technischen Gegebenheiten der Geige ausgegangen.

Der berühmte „Dies Irae“ – Choral hat es Ysaye ja auch sehr angetan!

Er hat dieses Thema in der zweiten Sonate im Sinne von Bach paraphrasiert. Das wirkt hier oft richtig improvisatorisch. Die zweite Sonate ist die eingängigste von allen sechs. Wer bislang noch gar nicht mit Ysaye in Berührung kam, sollte als erstes die zweite Sonate hören!

Wie waren Ihre Konzerterfahrungen mit diesen Sonaten?

Ich habe schon öfter einzelne Sonaten in ein Programm eingabaut. Alle sechs in einem Programm zu spielen ist sehr schwer für ein Publikum. Das kann schnell ermüden. Da kommen mehrere unterschiedliche Farben viel besser beim Publikum an. Man muss an seine Zuhörer denken. Und klassische Musik hören ist immer viel Konzentrationsarbeit.

Sie erwähnten vorhin den Wettstreit mit sich selbst? Stehen diese Sonaten idealtypisch für dieses Prinzip?

Durchaus. Es geht darum, als eine Person Gefühle heraus zu bringen, die sonst ein ganzes Orchester freisetzt. Man ist als Solist viel freier, kann sich viel erlauben. Andererseits darf man sich auch nicht zu frei fühlen, das bekommt dann sehr schnell einen sagen wir mal zigeunerischen Charakter. Man will sich ja auch in einer klaren, präzisen Struktur präsentieren.

Hilft dafür auch die Kompetenz des Wettbewerbsspiels? 

Auf jeden Fall. Hier fließen zwanzig Jahre Hausaufgaben ein, die ich gemacht habe.

[Interview geführt von: Stefan Pieper, Dezember 2017]

Kunst der Reduktion

Anders Eliasson: Complete Works for Piano and Harpsichord

Label: NEOS; Katalog-Nr.:NEOS10831 / EAN: 4260063108310

Anders Eliasson war einer der enorm bedeutenden, wenngleich nicht gerade einer der einflussreichsten Komponisten des 20. und 21. Jh. Nun fragt man sich: Wie kann einer bedeutend sein, wenn er nicht einflussreich war? Dabei ist die Musikgeschichte reich an „Fällen“ wie diesem. Egal wohin man sieht: Anton Bruckner, Gustav Mahler, Franz Schubert und viele viele mehr – sie alle wurden zu Lebzeiten eher als musikalische Sonderlinge betrachtet, und ihre musikhistorische Bedeutung wurde erst Jahrzehnte nach ihrem Tod verstanden. Somit waren sie in der Nachschau sehr bedeutend, waren aber zu ihren Lebzeiten wenig einflussreich.

Ebenso, davon bin nicht nur ich überzeugt, wird es Anders Eliasson gehen. Schon jetzt, wenige Jahre nach dem tragischen Tod des schwedischen Komponisten, mehren sich die CD-Einspielungen seiner Werke, mehren sich die Stimmen derer, die Eliasson für eine der großen „Entdeckungen“ in der Musik des letzten Jahrhunderts halten.

Beim Münchner Label NEOS ist nun eine faszinierende CD erschienen, die in Form von Eliassons Klavierwerk einen eigentlich optimalen Einstieg in das Werk des Schweden erlaubt. Eliasson war ein Komponist, der zwar auch für große, ja, gigantische Besetzungen geschrieben hat. Doch seine musikalischen Keimzellen beruhen auf einem System, das im Grunde durch eine Reduktion musikalischer Querbezüge nach festgelegten Regeln eine erstaunliche, im besten Sinne unerhörte harmonische Freiheit gibt, die ganz anders funktioniert als das System der Serialisten und Dodekaphonen aber ebenso modern, eigentlich wesentlich progressiver ist.

Eliasson hat lediglich ein schmales Œuvre für Klavier und Cembalo hinterlassen, das bequem auf ein CD-Album passt. Die Auseinandersetzung mit dieser „Musik im kinetischen Schwebezustand“, wie der Booklettext sehr eindrücklich formuliert, wird jedoch lang anhaltend sein. Traditionelle Formen sucht man in Eliassons Klavierschaffen vergebens. Stattdessen gruppierte der Komponist seine Klavierwerke überwiegend in von ihm so benannte „Disegnos“ („Zeichnungen“). Da kommen vom Titel her erst einmal Erinnerungen an Debussys „Images“ auf. Doch die musikalische Wirkung ist ganz anders. Konnte man Debussys „Images“ einerseits in Anlehnung an die impressionistischen Maler verstehen und hatte der Komponist andererseits unverhohlen programmatische Titel vergeben, betont der Begriff „Disegno“ im Werk Eliassons eher eine Art von Skizzenhaftigkeit. Das wiederum soll nicht bedeuten, dass es sich um musikalische Skizzen, gewissermaßen nicht auskomponierte Werke, handeln würde. Es ist vielmehr ein klanglicher Eindruck. Während man sich Debussys Musik als Ölgemälde vorstellt, ist Eliassons Klavierschaffen eher eine kunstvoll reduzierte Kohlezeichnung auf Büttenpapier.

Andreas Skouras, der Pianist dieser Aufnahme, ist neben seiner Betätigung im Bereich des sogenannten Standardrepertoires ein ausgesprochener Fachmann für Neue Musik und ein begehrter Uraufführungspianist, der schon Werke von u.a. Wuorinen, Bolcom und Eliasson aus der Taufe hob. Auf CD legte er u.a. Einspielungen der Musik von Neutönern wie Isang Yun, Bernd Alois Zimmermann oder Kalevi Aho vor, und bewies dadurch Geschmack.

Vorliegende, in einer leider etwas kühl und vor allem zu dünn klingenden Akustik eingefangene Aufnahme (der Kammermusiksaal des Deutschlandfunks hat auf anderen Aufnahmen schon einmal besser geklungen, muss man leider sagen) ist ein wichtiger Beitrag zur Neuen Musik und eine bedeutende Repertoireerweiterung. Ob Skouras auch immer den richtigen Zugriff zur Musik findet, da bin ich mir hingegen nicht immer sicher. Gerade die zweifellos vorhandenen lyrischen Aspekte in Eliassons Musik und die dynamischen Abstufungen würde zumindest ich mir feiner (darf man sagen: empfundener?) wünschen.

[Grete Catus, Dezember 2017]

Erstklassiges Orchester für Genzmer

Harald Genzmer: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 (1942); Konzert für Violoncello und Orchester (1950); Konzert für Posaune und Orchester (1999)

RSO Berlin, Leitung: Ariane Matiakh; Klavier: Oliver Triendl; Violoncello: Patrick Demenga; Posaune: Jörgen van Rijen

Label: Capriccio, Katalog-Nr.: C5330; EAN: 845221053301

Anlässlich des 10. Todestags des Komponisten Harald Genzmer gab es dieses Jahr viele Feierlichkeiten: Nicht nur gab es mehrere Neu-Aufnahmen seiner Werke, es wurden auch Konzert-Wochenenden, Wettbewerbe und Sonderveranstaltungen im Namen des Komponisten ausgerichtet, vor allem in München. In München lehrte Genzmer von 1957 bis 1974 Komposition an der Hochschule für Musik und blieb auch danach der Stadt verbunden.

Harald Genzmer ist der wohl bekannteste Schüler Paul Hindemiths, und seine Tonsprache ist der des späten Hindemith zum Teil so frappierend ähnlich, dass man sich wundern muss, warum Paul Hindemiths Musik von den Nazis als „entartet“ verfemt wurde, während Harald Genzmer es sogar in die sogenannte Gottbegnadeten-Liste schaffte, in der Goebbels und Hitler noch 1944 persönlich die ihrer Meinung nach „begnadetsten“ Kunstschaffenden des zu der Zeit schon dem Untergang geweihten „dritten Reichs“ auflisteten.

Unter den vielen Neuerscheinungen, die zu Genzmers 10. Todestag erschienen sind, ist die Einspielung dreier großer Instrumentalkonzerte des Komponisten durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wohl eine der ganz bedeutenden. Im Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 zeigt sich Genzmer ganz und gar seinem berühmten Mentor verpflichtet. Das ganze Stück wirkt wie eine Vorausschau auf Hindemiths eigenes spätes Klavierkonzert (1945). Dabei ist Genzmer stärker als Hindemith einer ganz lyrischen Moderne verpflichtet, wirkt insgesamt „zahmer“ als der Hindemith jener Jahre. Dabei darf man wohl nicht vergessen, dass Hindemith im US-Exil komponierte, während Genzmer im Kompositionsjahr des Klavierkonzerts zu den von der nationalsozialistischen Kulturpolitik tolerierten, gar geförderten Komponisten gehörte.

Das Cellokonzert aus dem Nachkriegsjahr 1950 zeigt einen moderneren, expressiveren Komponisten. Genzmer scheint hier auch dem Fahrwasser Hindemiths zunehmend zu entkommen, wenngleich vereinzelte harmonische Wendungen noch immer direkt „Mathis der Maler“ oder dem „Schwanendreher“ entsprungen sein könnten. Beeindruckend ist die Behandlung der tiefen Blechbläser in diesem Konzert, die immer wieder vollmundige Akzente im satt besetzten Orchester setzen. Der ganze Ensembleklang schwelgt in den mittleren und tiefen Registern und macht das Stück zu einem richtig fetten Sahnehappen.
Das abschließende Posaunenkonzert ist ein Spätwerk Genzmers, der im Kompositionsjahr 1999 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Wie vieles aus Genzmers spätem Schaffen wirkt einiges an diesem Stück (…mit seinem ausgesprochen „Honneger’schen“ Finale…) wesentlich weniger organisch und auch weniger überzeugend als die Werke aus der Zeit von den 1930er-Jahren bis Ende der 1950er. Ich habe den Eindruck, dass in den späten Werken Genzmers zuweilen die kompositorische Technik über die musikalische Erfindung obsiegt. Oder anders ausgedrückt: Komponieren ist in diesen Werken bisweilen zum Handwerk geworden, das technisch zwar einwandfreie Stücke hervorbringt, die „auf dem Papier“ als geradezu mustergültig durchgehen, während sie an Geschmack verlieren und bisweilen mehr „gewollt“ als „empfunden“ klingen, wenn man sie hört.

Insgesamt wird Genzmer auch in der historischen Rückschau wohl nie zu den „A-Liga“-Komponisten gehören. Dazu ist sein Œuvre zu wenig eigenständig und auch qualitativ zu wenig ausgewogen. Aber Genzmer ist doch in vielerlei Hinsicht auch eine sehr interessante Stimme des 20. Jh., die immer wieder hörenswerte Musik geschrieben hat, die vor allem bei den Fans von Hindemith, Strawinsky, Martinů oder Honegger auf offene Ohren stoßen müsste. Es ist schön, dass das Genzmer-Jubiläumsjahr 2017 zu einigen klingenden Würdigungen seines Schaffens geführt hat, wenngleich beim Label Thorofon fast das gesamte Werk des Komponisten in durchaus empfehlenswerten Einspielungen bereits seit langem vorlag.

Diese Aufnahmen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter der Leitung der ausgesprochen interessanten Dirigentin Ariane Matiakh kann man indes loben: Sie haben in Oliver Triendl, Patrick Demenga und Jörgen van Rijen nicht nur bemerkenswerte Solisten zu bieten, die sich in diesen großen Instrumentalkonzerten allesamt von ihrer besten Seite zeigen, sondern es gehen hier auch viele Pluspunkte auf das Konto des Orchesters. Zwar hat Genzmer eigentlich immer sehr orchesterdienlich geschrieben (wohl auch, um die Aufführung seiner Stücke für möglichst viele Ensembles (auch die weniger professionellen) zu ermöglichen), aber es ist ein Unterschied, ob solche Werke einfach „gespielt“ werden oder wirklich interpretiert. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin schafft eine echte Interpretation der Musik, und dabei eine sehr geschmackvolle.
Die Ausgewogenheit der Stimmen, die feinen Klangfarben, der insgesamt (auch von der hervorragenden Klangtechnik der Deutschlandfunk-Tonmeister im 1 A-Sound eingefangene) Orchesterklang mit seinen seidigen Streichern und wunderbaren Bläsern ist sehr zu loben. Das ist sicher, neben dem absolut erstklassigen Orchester, auch Dirigentin Ariane Matiakh zu verdanken, die man beim Label Capriccio schon öfters positiv wahrnehmen konnte.

Wenn es einen Kritikpunkt gibt, den man dieser Aufnahme anlasten könnte (und der auf eine zu kurze, der Aufnahme vorangegangene Probenzeit hindeutet), so ist es das häufige Missachten der „großen Linien“, die Genzmer in seine Partituren hineingeschrieben hat.
Wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit denkt Genzmer in großen Zusammenhängen, die über das bloße Phrasieren zum Teil weit hinausgehen. Bei Genzmer kann eine „Phrase“ minutenlang dauern. Dass dies in der vorliegenden Aufnahme oft nicht erkannt wurde (während es beim Hören ebenso oft auffällt), ist der in meinen Augen einzige wirkliche Minuspunkt, der zwar sehr schade aber (zumal mangels Alternativen) verschmerzbar ist.

[Grete Catus, Dezember 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Abgründe für vier

TYX Art, TXA17090; EAN: 4 250702 800903

Streichquartette des 1945 geborenen Roland Leistner-Mayer spielte das Sojka Quartett für TYX Art ein. Neben dem unbetitelten Fünften Quartett Op. 147 stehen das Sechste Quartett op. 148 „7 untapfere Bagatellen“ und das Siebte Op. 151, das „Ariadne-Quartett“; sie entstammen alle den Jahren 2014-16.

Suchen und Finden eines eigenen Tons, einer individuellen Klangsprache, wurde gerade in der Stilpluralität des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmend schwierigen Aufgabe, der sich zahllose Komponisten verweigerten und sich stattdessen herrschenden Strömungen anschlossen, oberflächliche Wirkung über musikalische Substanz stellten und Erfolg in einer Scheinwelt der vorgeblichen „Originalität“ suchten. Ein Widerläufer dieser Haltung ist der in Böhmen geborene Roland Leistner-Mayer, der sich stets fern hielt vom musikalischen Schubladendenken und nach Ursprünglichkeit und Eigenheit strebte. Leistner-Mayer setzte einen Schwerpunkt seines Schaffens auf die Gattung des Streichquartetts, drei in diesem Jahrzehnt entstandene Beiträge bietet vorliegende CD des Sojka Quartetts.

Schwermut durchzieht alle drei Werke, Dunkelheit und Abgründigkeit sind charakteristisch. Leistner-Mayer weiß, den Hörer in bestimmte Stimmungen zu versetzen, in die Tiefe zu ziehen und dort festzuhalten, wie besonders das über sechs Minuten andauernde, finale Presto precipitando aus dem Ariadne-Quartett beweist, welches immer unaufhaltsamer treibend und überwältigender aufbegehrt, ohne einen Moment der Ruhe. Unaufmerksamkeit oder Entspannung sind nicht mit dem Hören dieser Art eruptiver Musik zu vereinbaren. Der Komponist spielt mit Themen, die er lange Zeit auskosten kann und zwischen den Einsätzen der Musiker sich entwickeln lässt, und schroffen Kontrasten, die unvermittelt das Geschehen in neuem Licht erscheinen lassen. Dabei bleibt ein roter Faden durch das gesamte Werk hindurch erhalten und schweißt die Sätze zusammen, gibt eine unmissverständliche Richtung vor. Die Musik macht Sinn – ein heute viel zu selten beachtetes Qualitätskriterium, welches sich nur schwer verbal ergründen, aber sehr wohl erspüren lässt. Die Werke sind tonsprachlich eindeutig ihrem Komponisten zuzuordnen, wiederkehrende Ausdrucksmittel wie langes Tremolieren oder die treibenden rhythmischen Kontraste und Widersetzlichkeiten, die gegeneinander anspielenden Vierer- und Fünferrhythmen, lassen kein Zweifel daran, wer diese Musik geschrieben hat.

Das Sojka Quartett spielt mit großer Passion (im ursprünglichsten Sinn des Wortes) und entfaltet die aufrührende expressive und klangliche Dichte dieser Quartette in symphonischer Fülle. Kantabel und doch knackig fassen die vier Streicher die Musik an. Wünschenswert wäre lediglich noch eine größere Bandbreite an dynamischen Abstufungen, besonders im Pianissimo- und Fortissimobereich, sowie organischere Übergänge zwischen den Extremen, die so oft gefordert werden und in ihrer Gegensätzlichkeit ausgekostet werden sollen. Deutlich sind die einzelnen Stimmen voneinander abzuheben, die Verdopplungen könnten noch mehr als orchestral gesetzte Parallelität verwirklicht werden.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Authentische Melancholie

Roland Leistner-Mayer: Streichquartette Nr. 5 op. 147, Nr. 6 ‚Untapfere Bagatellen’ op. 148 & Nr. 7 op. 151 – Sojka Quartet
TyxArt CD TXA 17090; EAN: 4250702800903

Roland Leistner-Mayer, geboren im Februar 1945 zweieinhalb Monate vor Kriegsende im heute tschechischen Grenzort Graslitz im Vogtland und aufgewachsen bei Ingolstadt, studierte ab 1968 in München Komposition bei den lokalen Antipoden Harald Genzmer und Günter Bialas (Genzmer war der Statthalter der neusachlich-freitonalen Hindemith’schen Handwerkstradition, der einstige Max Trapp-Schüler Bialas hingegen bezog auch die freie Zwölftönigkeit in sein Schaffen ein und fürchtete den vielbeschworenen „Beifall von der falschen Seite“ – also von den Reaktionären – bis ans Ende seiner Tage). Zunächst fasziniert von den sensationellen Klangwirkungen der Avantgarde, entdeckte er Mitte der siebziger Jahre seine Liebe zu Leos Janácek (sein erstes Streichquartett ist eine Hommage an den böhmischen Meister) und wandte sich vom blinden Fortschrittsglauben, dem bis heute die meisten etablierten Tonsetzer seiner Generation anhängen, ab. Dies, seinem Gewissen wie seinem innersten Bedürfnis geschuldet, ruinierte allerdings seine Karriere nachhaltig. Fast alle Kritiker und Programmmacher, und auch viele charakter- und urteilsschwache Musiker, die immer zuerst nach rechts und links schauen, ob eine Kunstäußerung auch den allgemeinen Beifall der autorisierten Meinungsbildner erheischt, schließen aus Angst vor dem potenziellen Vorwurf, sie seien altmodischen Ködern auf den Leim gegangen, sowohl Sympathie als auch jegliche objektivierend offene Haltung gegenüber Abtrünnigen bis heute aus. Man könnte ja als „Reaktionär“ gebrandmarkt werden, was zwar harmloser als etwa der unabhängigen Freidenkern allgegenwärtig auflauernde Vorwurf des „Antisemitismus“ ist, aber doch den unsicheren Konjunkturzeitgenossen die Knie zittern lässt. Also gehen sie auf ‚Nummer sicher’ und nehmen lieber ein süßstoffhaltiges Schaumbad im ausrichtungslosen Allerlei der umherirrenden Postmoderne auf der unerfüllbaren Suche nach einer geilen Aufmerksamkeitsspritze – denn welcher seelisch korrupte Töneschmied träumte nicht klammheimlich davon, mal ähnlich skandalös ins Rampenlicht zu geraten wie einst Strawinsky oder Varèse. Auch wenn das Neue heute so ganz woanders liegt als auf der Linie des einst die Bürger dissonanzgeladen Erschreckenden.

Roland Leistner-Mayers Streichquartette Nr. 5-7 entstanden in den Jahren 2014-2016. Sie bestechen vor allem durch die eindringliche Fantasie und den seelischen Reichtum der Harmonien und harmonischen Bezüge. Melodisch liebt Leistner-Mayer narrativ mäandernde Energie, die lange zusammenhängende Stimmungsgebilde ermöglicht. In metrischer Hinsicht verfährt er so einfach wie unmissverständlich und zieht fast immer den Taktwechsel der auch möglichen Verschiebung der Betonung innerhalb des Metrums vor. Dies sorgt für ausgesprochene Prägnanz des Moments und verleiht der Musik eine holzschnittartige Wirkung, zumal auch sein – durchaus handwerklich geschliffener – Kontrapunkt auch eher gemeinsame als gegeneinander versetzte Knotenpunkte des energetischen Verlaufs aufweist. Am schönsten ist seine Musik in jenen langsamen Sätzen, wo er eine maximale Einfachheit zulässt, also auch mit dem Kontrapunktieren sehr sparsam verfährt, wie vor allem im herrlichen ‚Ricordanza’-Larghetto des siebensätzig programmatischen 6. Quartetts. Hier vermag er in der gesanglichen Direktheit der Empfindungsübertragung, fern jeglichen Anflugs von Prätention, den Hörer ganz unmittelbar zu berühren und zu rühren, und erzählt ihm eine so persönlich authentische wie melancholisch hinreißende Geschichte. Leistner-Mayer ist zutiefst Melancholiker, seine Musik spricht eine überwiegend introvertierte, wehmütige Sprache, auch wenn der Gegenpol des ländlich Bukolischen, durchaus auch hemdsärmelig Zupackenden, immer wieder zum Zuge kommt und einen ursprünglichen Humor offenbart. Das ist keine Musik für gebildete Lackaffen, sondern für alle, insofern sie es zulassen können, sich auch intensiv schwermütig anrühren zu lassen. Und Leistner-Mayers Musik ist sehr dramatisch und arbeitet mit klar konturierten Kontrasten, hat ihr charakteristisches Pathos. Hier spricht einer von dem, was er erlebt, und niemals von etwas, das er sich und anderen vorgaukeln würde. Mangel an Ehrlichkeit wird man hier so wenig finden wie die kosmopolitisch glatte Eleganz mancher ganz im Trend liegenden jüngeren Kollegen, und so sehr seine Musik aus der Tradition gewachsen und unverbrüchlich in ihr verankert ist, so wenig lässt er sich auf selbstverliebte Recyclingspielchen mit der Musikgeschichte ein, weder im post-adornitisch gebrochenen noch im neopopulär naivistischen Sinne. Leistner-Mayer schreibt nur das, was ihm wesentlich erscheint, und das spürt man. Wer das mag und sich darauf einlässt, kann eine wohltuende Einfachheit hinter allem expressiven Drängen spüren, und eben – bei aller Abwendung vom modeschmuckträchtigen Glamour – eine Ausgerichtetheit, die ihr Maß aus dem ganz eigenen Bezug zu den Erscheinungen bezieht. Sehr schön sind insbesondere auch die lang gedehnten Entwicklungszüge der beiden anspruchsvollen langsamen Sätze des 7. Quartetts.

Das Sojka Quartet lässt sich ‚mit Leib, Seele und Verstand’ auf diese Musik ein und bezaubert mit angemessener Echtheit des Ausdrucks, agiert auch in sehr heiklen Passagen mit kerniger Kraft und Selbstbewusstsein. Bezüglich der Tempi, zumal der Tempowechsel und vieler agogischer Details bin ich zwar oftmals nicht so glücklich, doch das ist auch ein sehr diffiziles Feld. Auch wird immer wieder der Pianissimo-Bereich hin zu einem bequemeren ‚Mezzo’ nivelliert, was die gesangliche Phrasierung zwar für den Moment vereinfacht, jedoch die formbildenden Gegensätzlichkeiten abschwächt. Aufnahmeklang und der makellos wesentliche Booklettext sind durchaus zufriedenstellend, wenngleich die Graphik nicht gerade Bestnoten für die Leserlichkeit verdient.

[Christoph Schlüren, Dezember 2017]

Zum großen Ganzen zusammengefügt

Auch wenn wir auf die neue CD noch ein bisschen warten müssen, gab uns die junge italienische Meisterpianistin schon mal einen Vorgeschmack darauf. Der Publikumszuspruch war in Zahlen – wie bei kleineren Veranstaltern (zu welchen das Freie Musikzentrum gehört) im Überangebot der Starkulturstadt München ja leider üblich – sehr dürftig, aber die Zuhörer, die Maceratinis Kunst erlebten, können sagen: Wir waren dabei! Und welch ein Abend!

Zu Beginn das Adagio aus dem Oboen-Konzert in d-moll von Alessandro Marcello (1673-1747) in der Bearbeitung von Johann Sebastian Bach (BWV 974). (Wobei sich die Forschung bis heute nicht restlos einig ist, wer der eigentliche Verfasser war, Alessandro, der ältere, oder Benedetto, der jüngere der beiden Marcello-Brüder.)

Wie gesanglich die ursprüngliche Oboenstimme sich über der durchaus spannenden Begleitung erhob, sehr getragen und wie geschaffen als Einladung für ein sehr weit gespanntes Programm!

Denn schon als Nächstes folgte das gewichtigste Werk des Abends: Franz Schuberts Wanderer-Fantasie in C. Wie Ottavia Maria Maceratini abgesehen von der fulminanten technischen Meisterung dieses Mammutwerk sich entfalten ließ, die einzelnen, oft konträren Abschnitte zum einen großen Ganzen zusammenfügte, dabei jeder Nuance dieser Komposition Rechnung trug in Dynamik, Spannung, Melodik und Harmonik, ist rundweg höchst bewundernswert. Dabei strahlte sie eine überzeugende Ruhe aus, die dem sehr langen Atem dieses Stücks zu gute kam. Dass der Klang des Yamaha-Flügels auch bei den exponiertesten Stellen nie hart oder etwa metallisch dröhnend klang, war der noblen klanglichen Gestaltungskraft – und sicher auch dem jahrelangen Training in martial arts –zu verdanken. Jedenfalls wurde hörbar und zum großen Erlebnis, was der immer noch junge Schubert mit der Wanderer-Fantasie für eine ganz eigene Welt geschaffen hat.

Nach der Pause: Mozarts Rondo a-moll KV 511, eines der Klavierwerke, die in dieser für Mozart mit persönlichen Schicksalsschlägen verbundenen Tonart stehen. Und wirklich, von Beginn an lotete Maceratini diese Tiefen aus. Kein heiterer Mozart, wie so oft, heiter und unbeschwert, nein, dieser Komponist konnte mit seiner Musik weit in die Zukunft weisen, in die Bereiche der Romantik, in Gefühlstiefen, die man ihm oft vielleicht gar nicht so zutraut. Man denke nur an sein Lied „Die Engel Gottes weinen…“, das ebenso von Schubert sein könnte. In diese emotionale Tiefe nach dem Abschied eines seiner liebsten Freunde, des Grafen Hatzfeld, nahm uns die Pianistin mit all ihrer Kunst mit, die in Mozarts a-moll Tonart eben so oft zu spüren und zu vernehmen ist. (Die Sonate in a-moll KV 310 komponierte er unmittelbar nach dem Tod der Mutter 1778)

Nach Mozart folgte als Programm-Änderung Frederic Chopins Fantasie Impromptu op. 66.

Warum sie die beiden angekündigten Stücke des norwegischen Komponisten Harald Saeverud nicht spielte, sagte sie nicht, aber das Werk von Chopin ist bei Ottavia Maria Maceratini in besten Händen. Da jubelt die Melodie, da blühen die Chopin’schen Harmonien, das ist allerbeste Klavierkunst.

Der amerikanisch-französische Komponist Louis Moreau Gottschalk (1829-1869) gehört mit seinem Klavierwerk immer noch zu den Unbekannten – obwohl seine Musik zu ihrer Zeit ein absoluter Renner war, was wir gleich darauf überwältigend miterleben konnten. Sein Souvenir de Porto Rico op. 31 ist ein Reißer, den die Pianistin mit aller Unbekümmertheit und unter Einsatz ihres ganzen Körpers nicht nur spielte, sondern eigentlich tanz-spielte, was dieser Musik einen unerhörten Groove und Swing verleiht. Da ist die echte karibische Rhythmik und der ganze lebenslustige Spaß zu vernehmen, der auch heute noch diesem Stück eignet. Nicht nur solche Merkwürdigkeiten wie Kompositionen für 10 Flügel oder das Tristan-Vorspiel für 14 Klaviere, auch weitere Stücke wie „Le Banjo“ wären perfekte „Rausschmeißer“ für einen Abend wie diesen, der einen gehaltreichen Bogen spannte von Marcello bis Gottschalk, was die ganze Bandbreite der Kunst Ottavia Maria Maceratinis für die erlesene kleine Besucherschar zum großen Erlebnis werden ließ. Als Zugabe entließ sie uns mit dem zauberhaften Nocturne op. 9/ 2 von Chopin….

[Ulrich Hermann, Dezember 2017]

Konzert wie Komponist

Am Nachmittag des 9. Dezember 2017 stellt Violina Petrychenko im Steinwayhaus München ihre CD „The Silent Voice of Vasyl Barvinsky“ vor. Abgesehen von drei Präludien ist es exakt das Programm ihrer CD inklusive des Klavierzyklus‘ ‚Liebe’ und der Ukrainischen Suite, außer den fünf Präludien spielt sie noch fünf Weihnachtsliederbearbeitungen als Zugabe.

Wie sich Vasyl Barvinsky als „Komponist als Noten“ bezeichnete, so lässt sich auch dieser Klaviernachmittag als „Konzert ohne Werbung“ betiteln. Dass zu Recitals oder Kammermusikveranstaltungen, die nicht durch die großen Veranstalter angeboten werden, nach wie vor nur eine Handvoll Zuhörer kommen – wovon sicherlich die Hälfte in persönlichem Kontakt zu den Musikern stehen –,wird mir immer schleierhaft bleiben. Hohe Qualität und bessere Sitzplätze zu vergleichsweise geringem Preis sind doch eigentlich mehr als verlockend! Vielleicht würde es ausreichen, genügend zu werben und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass überhaupt solche Veranstaltungen stattfinden. Denn davon war nichts zu sehen für dieses Konzert, und so musizierte Violina Petrychenko zu unrecht vor dem nicht einmal halb gefülltem kleinen Rubinsteinsaal des Steinwayhauses in München-Laim.

Konzerte sind intensivere Erlebnisse als CD-Aufnahmen, und so erfahre ich auch heute noch mehr als zuvor über die Musik des Ukrainers Vasyl Barvinsky, der bis Mitte der 1940er-Jahre hoch geschätzt und durch Auszeichnungen wie frühe Fernsehaufzeichnungen seines Schaffens geehrt, später allerdings durch Stalin geächtet und eingesperrt, dessen Werk verbrannt wurde. In der Musik wird seine Verwurzelung in der ukrainischen Tradition deutlich, doch auch das Böhmisch-Tschechische, der Einfluss durch seinen Lehrer Vítězslav Novák und dessen zu Antonín Dvořák zurückreichende Traditionslinie. Vielleicht lässt sich auch – wenngleich man es angesichts von Barvinskys Geschichte vielleicht nicht zu laut sagen sollte – eine dezent polnische und russische Färbung vernehmen, die mit der Musik Chopins  und Rachmaninoffs in Verbindung steht. Das Melancholische, Traurig-Süßliche ist charakteristisch für die heute zu hörenden Werke, wenngleich vor allem im Klavierzyklus „Liebe“ immer wieder auch Hoffnung durchschimmert und sogar ein „Triumph der Liebe“ nach den Stationen  „Einsamkeit“, „Leid“ und „Schmerz“ Einzug hält.

Petrychenkos Musizieren ist leidenschaftlich, aber doch gezügelt. Ein voluminöses Forte und eine nuancierte Pedaltechnik sind charakteristisch. Ihr Anschlag ist durch Präsenz und Kern gekennzeichnet, der Klang entsteht förmlich greifbar im Raum. Wo im Pianobereich größere Dynamikabstufungen gefordert sind, beweist sie ein breites Spektrum an Schattierungen im Mezzo und Forte, wobei sie nie blind drauf losprescht, selbst wenn die Musik durchaus dazu verleiten würde. Diese Mäßigung und Ruhe wirft einen angemessen edlen Glanz auf die Musik. Als Zugabe hören wir nach den Weihnachtsliedern noch die Karpatische Fantasie von Jurii Schamo, dessen raue Prägnanz einen angenehmen Kontrast zu der sanften Lieblichkeit Barvinskys schafft und den Hörer noch einmal besonders aufhorchen lässt. Schnell verstehen die Hörer, wie vielseitig doch die ukrainische Musiklandschaft ist, die uns, trotz Glière, Liatoschinsky und Stankowitsch heute beinahe vollkommen unbekannt ist – was, wenn nicht dieses Konzert, diente als vernehmbarer Appell, sie intensiver zu erkunden?

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Stalin sah es nicht gerne, dass es in der Ukraine eine eigene Kultur gibt

Violina Petrychenko verweigert sich dem Repertoire-Mainstream und reanimiert die Klaviermusik ihres Landsmannes Vasyl Barvinsky.

Violina Petrychenko lebt heute in Köln, hat aber noch einen starken Bezug zu ihrer ukrainischen Heimat. Vor allem liegt ihr die dortige Musikkultur am Herzen. Entsprechend tatkräftig engagiert sie sich für die Wiederentdeckung der Komponisten ihres Heimatlandes – und legt aktuell eine CD mit der lyrisch-intimen Klaviermusik von Vasyl Barvinsky vor. Tief berührt war sie vom Schicksal dieses Komponisten, der so ganz die stalinistische Willkür zu spüren bekam. So wurden sämtliche Noten seiner Werke öffentlich verbrannt. Schließlich kam Barvinsky selbst ins Straflager. Sein einziges „Verbrechen“?  Er hatte immer eine Lanze für die gewachsene ukrainische Musikkultur gebrochen.

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Auf dem Booklet-Foto halten Sie ein Notenblatt ins Feuer. Was für Empfindungen hatten Sie, als dieses Foto entstand?

Ich werfe die Noten nicht ins Feuer, sondern hole sie aus diesem Feuer wieder heraus, um sie der Welt zugänglich zu machen. Ich will auf das Schicksal dieses Komponisten hinweisen. Seine Noten wurden von den Stalinisten öffentlich verbrannt, glücklicherweise konnte ein Teil gerettet werden.

Wie sind Sie auf Vasyl Barvinskys Musik gestoßen?

Ich selbst komme aus der Ostukraine. Dort ist Barvinsky ganz unbekannt. Er wird auch in Konzerten bislang nicht gespielt und auch beim Studium in Kiew bin ich nicht auf ihn gestoßen. Vor drei Jahren habe ich meine zweite CD „Ukrainian Moods“ mit Werken ukrainischer Komponisten vorbereitet und dafür recherchiert. Dabei bin ich eher zufällig über den tragischen Lebenslauf von Barvinsky gestoßen und war schockiert. Ich beschloss, dass dieser Komponist eine eigene CD mit seiner Musik verdient. Vor einer Woche habe ich außerdem beschlossen, auch die restlichen seiner Klavierwerke aufzunehmen. Die Arbeiten an der nächsten CD beginnen im Februar.

Ich habe die Musik als romantisch, aber auch etwas introvertiert und zart modern empfunden. Die Spurenelemente ukrainischer Musik sind eher versteckt. Wie sehen Sie das?

Die ukrainische Suite ist voll von Elementen aus der Volksmusik, die anderen Zyklen auf der CD weniger. Es gibt auch eine deutliche Prägung durch tschechische Musiker, etwas Vítezslav Novák oder Antonín Dvorák. Die Zyklen sind sehr unterschiedlich von den Stimmungen. Der Liebeszyklus ist betont traurig, manchmal fast schon depressiv. Die Präludien sind eher leichtgängig. Jedes zeigt einer andere Stimmung und kompositorische Herausforderungen für den jungen Barvinsky.

Ist die Musikkultur der Ukraine generell nah an der tscheschischen Kultur?

Es herrschte damals ein lebendiger Austausch zwischen der Ukraine und Böhmen. Viele Musiker, die in Lemberg arbeiteten, haben in Prag studiert.

Das kulturelle Leben in Ihrem gemeinsamen Heimatland war zu seinen Lebzeiten ja wohl äußerst lebendig, rate ich.

Ja, vor allem in Lemberg. Anfang des 20.Jahrhundert war es eine sehr interessante und spannende Stadt. Die ganzen schlimmen Zeiten, der Holocaust und der Krieg waren noch sehr weit weg.

Barvinskys Musik hat eigentlich kaum etwas aufrührerisches oder neutönerisches. Warum ist er überhaupt so extrem vom sowjetischen Regime drangsaliert worden?

Stalin sah es nicht gerne, dass es in der Ukraine eine eigene Kultur gibt. Viele Menschen, die zur Intelligenz gehörten, durften nicht weitermachen. Vielen von Barvinskys Stücken hört man an, dass er aus der Ukraine kommt. Ein solcher Patriotismus hat Stalin nicht gepasst, vor allem nicht, wenn er von einem Rektor am Konservatorium kam. Also hat er es sich einfach gemacht und wollte ihn wegschieben. Deswegen mussten Barvinsky und seine Frau für zehn Jahre in den Gulag.

Gab es einen konkreten Anlass für seine Verhaftung?

Ihm wurde vorgeworfen, Spion im Dienste Englands oder der Gestapo zu sein, was völlig absurd war, denn das hatte wirklich nichts mit seinem Leben zu tun. All dies wurde ihm angedichtet. Auch war er kein Mitglied der Union ukrainischer Sozialisten. Trotzdem musste er nach einer erfolgreichen Karriere als alter Mann ins Gefängnis gehen. Das war eine sehr böse Überraschung nach den Kriegsjahren, als er dachte, es beginne nun eine ruhigere Zeit …

Wie weit ist die Musik von Vasyl Barvinsky heute in der Ukraine selbst bekannt?

In einer großen, kulturell lebendigen Stadt wie Lemberg kennt man diesen Komponisten. Aber auch hier wird seine Musik allenfalls mal in kleinen Hochschulzirkeln, aber nicht in großen Konzertsälen aufgeführt, was ich sehr schade finde. Wenn wir weiter Richtung Osten gehen, ist er völlig unbekannt. Andere Komponisten sind etwas populärer. Insgesamt verhält es sich so wie in Deutschland. Überall wird das bekannte Repertoire rauf und runter gespielt, aber niemand traut sich, mal was neues zu präsentieren. Dabei gibt es doch so viel unentdeckte Musik.

Wie ist die Stimmung heute in der Ukraine angesichts der aktuellen Drangsalierung durch  Russland. Nährt dies einen Patriotismus in der Kultur?

Die Situation ist etwas schwierig. Ich spiele viel in der Westukraine und da herrscht ein positives Klima. Wenn ich in der Ostukraine spiele, agiere ich vorsichtiger. Da ziehe ich im Konzert dann einen Vergleich etwa zwischen Rachmaninoff und Barvinsky und will zeigen, dass wir in der Ukraine einen ähnlich bedeutenden Komponisten hatten. Vor allem auf Barvinskys Ukrainische Suite wurde sehr positiv reagiert – sie findet Zugang zu jedem Herzen. Aber Barvinskys Tonsprache ist eigentlich sehr international, ebenso verhielt es sich mit seinem Ruf zu Lebzeiten. Seine Noten wurden damals auch in Japan und England veröffentlicht.

Wie hat sich Ihr Wechsel nach Deutschland vollzogen und was war der Anlass?

Es ist extrem schwierig in der Ukraine als Musikerin zu leben, man verdient fast nichts. Man muss immer noch etwas nebenbei machen.

Weil es wenig Auftrittsmöglichkeiten gibt?

Die Konzerte sind zwar voll, aber es gibt nur die großen Philharmonien in einigen Großstädten, aber überhaupt nicht die ganze Vielfalt an kleineren Spielstätten. Ich wohne in Köln und allein in dieser Stadt kann ich in vielen kleinen Sälen spielen. In Lemberg gibt es nur die Philharmonie und vielleicht noch die Oper und das war es. Man kann vielleicht zwei bis dreimal im Jahr ein Konzert geben, mehr nicht. Der Staat will heute überhaupt keine Musiker mehr unterstützen. Der durchschnittliche Lohn für einen klassischen Musiker ist vielleicht 100 Euro.

Was gab den Ausschlag, bislang nur CDs mit ukrainischen Komponisten zu produzieren? Da gehört doch viel mehr Selbstbewusstsein zu, als neue Einspielungen bekannter Komponisten auf den Markt zu werfen.

Ich spiele natürlich auch gerne Chopin oder Schubert. Wenn ich mir Aufnahmen solcher Komponisten anhöre, greife ich aber meist zu Aufnahmen alter Meister. Jeder Pianist sollte sich fragen, ob er zu Chopin oder Schubert wirklich noch Neues sagen kann. Bei der ersten CD war ich noch vorsichtig und habe den unbekannten ukrainischen Komponisten Viktor Kosenko mit Werken von Alexander Skriabin kombiniert. Die gute Resonanz auf diesen Tonträger hat mich bestärkt, noch mehr ukrainische Musik heraus zu bringen, so entstand dann die bereits erwähnte CD »Ukrainian Moods« mit Werken von Revutsky, Kosenko, Kolessa und Schamo. Da bin ich schließlich auf Barvinsky gestoßen und ich muss sagen: Dieser Mensch inspiriert mich. Er muss so eine helle, ehrliche Natur gewesen sein, die nur für die Musik gelebt hat. Und dann hat er so ein tragisches Schicksal erlitten. Das nährte meinen Wunsch, wenigstens heute etwas für ihn zu machen.

Ihr Mut zu einem eigenständigen künstlerischen Weg, verdient höchste Anerkennung!

Danke! Und es macht Spaß, Vasyl Barvinskys Musik zu spielen. Ich freue mich auf die bevorstehende nächste CD-Aufnahme seines Klavierkonzertes mit Orchester. Dieses Werk galt sehr lange als verschollen. Das Konzert wurde 1937 geschrieben und war bis 1993 verloren. Das Manuskript kam schließlich in Buenos Aires wieder zum Vorschein. Barvinsky selbst muss am Ende seines Lebens geglaubt haben, dass alle seine Werke verbrannt wurden. Aber im Ausland wussten viele, dass es noch einiges von ihm geben musste. Es ist schon eine erstaunliche Geschichte mit diesem Repertoire – umso mehr freue ich mich, es jetzt aufnehmen zu können.

[Interview geführt von Stefan Pieper, 30. November 2017]

Ein Komponist ohne Noten

Accelerando, ACC 03; EAN: 4 251383 400048

„The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ heißt das neue Album der ukrainischen Pianistin Violina Petrychenko, auf dem sie sich ihrem vergessenen Landsmann widmet. Dessen Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen sind hier zu hören.

Vasyl Barvinsky ist eine der tragischen Figuren des ukrainischen Musiklebens. Nach großen Erfolgen in seinen früheren Lebensjahren wurde er von der sowjetischen Staatsmacht abgeurteilt und ins Straflager verbannt, wo er zehn Jahre verbrachte. Seine Noten wurden öffentlich auf den Stufen jenes Konservatoriums verbrannt, welches er mehrere Jahrzehnte leitete. Als Komponist ohne Noten bezeichnete sich Barvinsky gegen Ende seines Lebens. Erst nach seinem Tod in den 1960er-Jahren wurde er öffentlich rehabilitiert und erhaltene Notendrucke wurden aus aller Welt zusammengetragen, so dass nun ungefähr zwei Drittel seines Schaffens gerettet werden konnten. Drei frühe Hauptwerke des Ukrainers sind auf „The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ zu hören: Der Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen.

Der Komponist kann als Spätromantiker bezeichnet werden, welcher dem tonalen Denken treu blieb und mit erweiterten Harmoniebildungen arbeitete. Einflüsse zog er vor allem aus ukrainischer Volksmusik, aber auch vom Impressionismus war er stark angeregt. Vasyl Barvinsky war zweifelsohne auf der Höhe seiner Zeit in seinem stilistischen Metier. Wir hören auf Violina Petrychenkos Album hauptsächlich Werke kleinen Formats; diese wusste Barvinsky mit farbenreichem musikalischem Inhalt und formalem Bewusstsein zu erfüllen. Es handelt sich um brillante Charakterstücke von unverkennbarem Wert, die in Suiten oder Zyklen zusammengefasst wurden. Abenteuerliche Neuerungen sind nicht zu erwarten, doch scheint dies auch nicht die Intention des Komponisten gewesen zu sein. Träumerische und schwärmerische Stimmungsbilder mit epischen Elementen waren eher seine Stärke. Der einzige längere Einzelsatz ist das Finale der Suite über ukrainische Themen, ein ausgeklügeltes und reiches Variationswerk mit abschließender Fuge, die ausgiebige Kenntnis der Barockmeister und früheren Romantiker bezeugt.

Violina Petrychenkos Spiel ist durch ihren weichen und runden Anschlag ausgezeichnet, dem eine Leichtigkeit und sanfte Sensitivität innewohnt. Große innere Ruhe charakterisiert ihre Darbietungen, die selbst in den aufbrausendsten Passagen ihre zusammenhangstiftende Konzentration behalten. Unprätentiös stellt sie sich in den Dienst der Musik, als Entdeckerin wie als ihre Entdeckungen präsentierende Musikerin.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Geteilte Intimitäten

Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes tritt am 3. Dezember 2017 im Münchner Prinzregententheater auf. Auf dem Programm seines Rezitals stehen Klavierwerke von Jean Sibelius (Op. 75/4, Op. 97/5; Op. 68/2; Op. 58/4; Op. 24/9), „Idyll und Abgrund – Sechs Schubert-Reminiszenzen“ für Klavier von Jörg Widmann, die späten Drei Klavierstücke D 946 von Franz Schubert, die „Sturm“-Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31/2 Ludwig van Beethovens sowie Nocturne H-Dur op. 62/1 und Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 von Frédéric Chopin.

Ein Pianist bringt die Zeit zum Stillstehen: Schon bei den ersten Tönen von Leif Ove Andsnes kommt eine ganz eigene Atmosphäre auf, eine fokussierte Ruhe und vom Rezensenten ersehnte Freiheit. Es scheint, als würde der Norweger nur für sich alleine spielen, unbekümmert und rein. Was Andsnes spielt, das meint er auch, er ist absolut ehrlich und aufrichtig in seinem Ausdruck. Er stellt sich selbst nicht in den Vordergrund, bleibt stets unprätentiös. Die Musik alleine steht im Fokus. Andsnes teilt sein Innerstes mit dem Hörer, man wird hineingelassen in die phantastische Welt dieses Pianisten und möchte auch nicht so schnell wieder heraus.

Ein seltenes Merkmal Andsnes‘ ist, dass er nie aufhört, in der Musik zu suchen: Auch wenn er die meisten der heute erklingenden Werke sicherlich dutzende Male öffentlich vortrug, scheinen sie vollkommen frisch zu sein trotz aller Gesetztheit. Dies manifestiert sich nicht alleine auf innermusikalischer Ebene, sondern ebenso in der Werkauswahl, die stets auch unbekannte oder neue Werke beinhaltet und ganz selbstverständlich neben die Klassiker des Konzertprogramms stellt. Vor vielen Jahren hörte ich Andsnes mit Klavierkonzerten von Kurtág und Beethoven – und ich weiß bis heute nicht, von welchem ich ergriffener war.

Den Symphoniker Sibelius lernen wir heute als Miniaturisten kennen, sein umfangreiches Klaviermusik-Œuvre wird von der Öffentlichkeit nach wie vor nicht adäquat wahrgenommen (nicht einmal die frühe große Klaviersonate!), was ein echtes Versäumnis ist. Fünf kurze Stücke bietet Andsnes dar, kehrt die nordische Rauhheit, säuselnde und flirrende Figuren und Prägnanz der Kürze hervor, die ihnen innewohnt. Jedes Stück für sich ist ein abgeschlossener Kosmos und Andsnes vermittelt diesen durch größtmögliche Beherrschung der Form, die keinen Ton mehr oder weniger zulassen würde. Selbst den recht belanglosen, wenngleich – nicht zu ernst genommen – äußerst unterhaltsamen, Schubert-Reminiszenzen des gehypten Komponisten, Dirigenten und Klarinettisten Jörg Widmann verleiht der Norweger einen ansprechenden Flair und bündelt die fragmentarischen Formteile zu einem Ausdrucksbogen. Am meisten „beweisen“ (was niemals seine Intention sein dürfte, so ungezwungen wie er musiziert) als wahrer Musiker kann Andsnes sich in Schuberts Drei Klavierstücken D 946, die neben technischen Raffinessen vor allem harmonisches Verständnis fordern. Wie urplötzlich kann Andsnes die Stimmung kippen lassen, durch Bewusstheit und subtile Umsetzung der harmonischen Kontraste den Boden wegreißen oder den Hörer in überirdische Höhen katapultieren. Er weiß um natürliche Spannung und Entspannung, um wohl gesetzte Unterstreichungen und um Deutlichmachen mancher unorthodoxen Passage. Rund und voll klingen die Akkorde, jeder Ton findet darin seine Funktion und seinen Platz. Dabei weist Leif Ove Andsnes’ Spiel ein enormes Spektrum an Dynamikstufen auf, zwischen denen er organisch changieren kann.

Nach der Pause bricht der Sturm los, Beethovens berühmte Klaviersonate d-Moll op. 31/2. Doch ist es kein äußerlicher Sturm, kein oberflächlich polterndes Aufbegehren, sondern innerliches Rumoren und Bangen. Leif Ove Andsnes bringt Beethovens Spiel mit Erwartungen so unverbraucht zum Ausdruck und überträgt dieses Gefühl auch auf den Hörer, dass selbst das tausendmal gehörte wiederkehrende Innehalten im Kopfsatz noch überraschend erscheint. Mit Chopins H-Dur Nocturne op. 62/1 kehrt wieder Ruhe ein, selbst in der unerhört kantabel vorgetragenen Trillerpassage, und dies wird zu Beginn der f-Moll-Ballade op. 52 fortgesetzt. So leicht beginnt sie, langsam erst bahnt sich der Sturz an, bis die Katastrophe über die Köpfe der Hörer hereinbricht und unglaubliche Beherrschung und Emotionskraft vom Pianisten fordert – was mit größter Brillanz und Musikalität auch eingelöst wird.

Als Zugabe gibt es die ursprünglich im Programm vorgesehene g-Moll-Ballade Chopins, die Andsnes recht rasch, aber nicht weniger bewusst gestaltet. Überwältigt war ich vor allem vom più mosso-Mittelteil, der unter seinen Fingern noch losgelöster und scherzandohafter wirkt als üblich. Eine zweite Zugabe führt zurück zum Beginn des Programms, eine weitere Miniatur Sibelius‘, ein Impromptu. Und siehe da, es eint sich fantastisch mit der Musik Chopins, eine mir bislang nicht bekannte Verbindung wird deutlich – wenngleich natürlich die nordische Rauhheit mehr herausschlägt als bei seinem französischen Vorgänger.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Musik für triste Herbsttage

Genraut, CRC 3605; EAN: 0 44747-3605-2 2

Nach seinem erfolgreichen Debut in der Carnegie Hall lässt der in Deutschland lebende weißrussische Pianist und Komponist Leon Gurvitch nun eine Einspielung folgen: Poetic Whispers. Neben eigenen Werken, die auch in London erklangen, und Improvisationen stehen auf dem Programm die Pavane Gabriel Faurés, die Gymnopédie No. 1 von Erik Satie sowie Oblivion und Milonga del Ángel aus der Feder von Astor Piazzolla.

Es ist die Art Musik, die man wohl an stürmischen Herbsttagen hören möchte, wenn man unter einer warmen Decke im Bett liegt und eine warme Tasse Tees trinkt. Diese süßliche Melancholie, Zartheit, Schlichtheit, das einfache Gefühl. Man muss sich nicht anstrengen, die Musik zu verfolgen, sie treibt einfach dahin.

Leon Gurvitch bezieht die Schönheit seiner Musik aus der Einfachheit heraus, reflektiert sehr subjektiv die Zeit, in der sie entstand. Es sind klingende Stimmungsbilder, Charakterstücke, die irgendwie beinahe der Epoche der Romantik entstammen könnten. Sie haben einen simplen Aufbau und beziehen ihren Reiz aus melodiöser Erfindung und mancher harmonisch unerwarteten Wendung. Die Improvisationen sind den geschriebenen Stücken nicht allzu unähnlich, wenngleich Gurvitch hier teils auch andere Elemente einfließen lässt, jazzigere Akkorde und unvermitteltere Brüche. Inspiration holt sich Gurvitch auch von existierenden Werken, so ist seine Hommage à Stravinsky klar an dessen Petrouchka angelehnt und eines seiner Stücke heißt bereits Impressions after Adagio from Concierto de Aranjuez (by Joaquín Rodrigo).

Gurvitch besitzt einen warmen und runden Anschlag, dem ein intensives Gefühl innewohnt. Es handelt sich nicht um eine innerlich erspürte und vollständig dem innermusikalischen Kontext dienende, sondern eher eine sehr wirkungsvoll auf den Hörer ausgerichtete Emotion, die unglaublich mitreißend wirkt und sich durch Nachdruck auf der Taste ins Gedächtnis einprägt. Es liegt viel Persönlichkeit in der Spielweise Gurvitchs, sie überzeugt zumal in seinen eigenen Kompositionen mit schlagendem Effekt. Überragend ist sein Spiel auf der Melodica, die bei Piazzolla tatsächlich beinahe wie ein Bandoneon anmutet. Er phrasiert sanglich und spielerisch frei, überzeugt durch Natürlichkeit des Ausdrucks. Von den vier Kompositionen anderer Autoren gelingt ihm besonders Saties Gymnopédie No. 1, welche auch am ehesten dem Stil von Gurvitchs Werken nahesteht. Faurés Pavane klingt noch zu sehr nach ange-„schlagen“ und verliert so ihre schwebende Immaterialität; hier sollte der Hörer eigentlich vergessen dürfen, dass es nur ein Klavier und kein Orchester mit großem Chor ist, das diese wundervolle Miniatur vorträgt. Piazzolla swingt und groovt, Gurvitch lässt lebendige Kontraste entstehen und geht förmlich auf in der Musik.

Es ist ein vielseitiges Album ungeachtet eines übergeordneten Stimmungsbildes, das Gurvitch vorlegt. Die Einheit in der Vielfalt, wenn man diesen Begriff so für musikalische Zwecke verwenden darf…

[Oliver Fraenzke, November 2017]