Musikgeschichte der 1920er Jahre aus erster Hand

UE – Die ersten 37 ½ Jahre – Eine Chronik des Verlags von Hans W. Heinsheimer (1975)
erstmals herausgegeben von Eric Marinitsch
Christoph0005
Universal Edition, Wien 2017 (UE 26333)
ISBN: 9783-7024-75130
Die Universal Edition, der legendärste Verlag neuer Musik im 20. Jahrhundert und bis zur nationalsozialistischen Gleichschaltung und ‚Säuberung’ Österreichs das Mekka der fortschrittlichen und der substanziellen konservativen Komponisten gleichermaßen, wurde im Jahr 1900 in Wien als Aktiengesellschaft gegründet. Nach eher gewöhnlichem Beginnen setzte sich ein Mann durch, der als Musikverleger das 20. Jahrhundert prägen sollte wie kein anderer: der in Budapest gebürtige Emil Hertzka (1869-1932), der eine unvergleichliche Fähigkeit besaß, Originalität und Qualität von Derivativem und Oberflächlichem zu unterscheiden – und dies, obwohl er gar keine solide musikalische Ausbildung genossen hatte. Bis zu seinem Tode 1932 leitete Hertzka die Geschicke des illustren Hauses und musste die Verhöhnung und Verhinderung weiterer Pionierarbeit durch Hitlers eifrige Schergen nicht mehr erleben. 1923 trat Hans Walter Heinsheimer (1900-93) in den Verlag ein und wirkte bis 1938 als Leiter der Bühnenabteilung. Daher sollte er später der wichtigste Zeitzeuge der stürmisch kreativen Jahre sein und wurde 1975 – längst nach New York ausgewandert und seit 1972 Vizepräsident des dortigen Musikverlags Schirmer – von der UE (so das allgemein verwendete Kürzel für Universal Edition) gebeten, eine Chronik zu schreiben. Diese wurde aus nicht bekannten Gründen nie fertig, wodurch es auch zu keiner Veröffentlichung kam. Doch immerhin: bis zum Tode Hertzkas erzählt Heinsheimer seine Geschichte, mit vielen Vorausblicken auf weitere Ereignisse der dreißiger Jahre, und mit dem Rückblick auf die frühen Jahre, wo mit der Inverlagnahme von Symphonien Gustav Mahlers und – postum – sämtlicher Bruckner-Symphonien das Qualitätsmaß gesetzt und der Grundstein zum Welterfolg gelegt wurde.
Heinsheimer war ein vorzüglicher Erzähler, mit Intellekt, Beobachtungsgabe und der Häme, ohne die sich viele von uns einen reüssierenden Wiener (Heimsheimer war Karlsruher!) gar nicht vorstellen können. Heinsheimers Stärke war auf jeden Fall auch seine fachliche Beschlagenheit und seine ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit. Seine Schwäche war ein nicht weniger ausgeprägter Zynismus, der sich darin niederschlug, dass er nicht die gleiche, erfolgsunabhängige Liebe zur Sache hatte wie sein legendärer Chef Hertzka – an welchem Heinsheimer den Riecher für das Richtige bewunderte, den er – aufgrund dessen nicht vorhandener Musikausbildung – als „instinktiv“ bezeichnete. Das würde ich dann doch eher als intuitiv und eben auch als Niederschlag eines hellwachen Bewusstseins beschreiben wollen! Natürlich konnte ein Heinsheimer Hertzkas zutiefste Schätzung für Heinrich Kaminski nicht verstehen, und entsprechend konnte er sich auch nicht aus Überzeugung dafür einsetzen. Ein Name wie Ottorino Respighi (immerhin ist das wunderschöne Concerto gregoriano bei der UE erschienen) kommt gar nicht vor, und auch der als Komponist gleichermaßen geniale Eduard Erdmann wird nur als Pianist Krenek’scher Werke erwähnt. Überhaupt schien Heinsheimer überall da die Überzeugung zu fehlen, wo es nicht wie am Schnürchen lief – aber das ist ja auch typisch für den Leiter einer Bühnen- (und eben nicht Konzert-) Abteilung.
Diese Chronik, von Herausgeber Eric Marinitsch liebevoll und sorgfältig mit vielen weiteren Zusatzdokumenten versehen, ist interessant und aufschlussreich für jeden, der sich mit der Musikgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen befasst, und auch für alle, die mehr über die Menschen hinter den Komponisten wissen wollen – man erfährt vieles über Schönberg, Alban Berg, Schreker, Schillings, Bartók, Janácek, Krenek, Eisler, Szymanowski, Webern, aber auch heute so unbekannte Figuren wie Julius Bittner oder Erwin Stein, der eine Schlüsselfigur im Verlag war und hinter der Zeitschrift ‚Pult & Taktstock’ stand, werden hier pittoresk und eingehend beschrieben. Herausgekommen ist ein erstrangiges Zeitdokument, das ich jedem empfehlen möchte, der gerne hinter die Kulissen des Musiklebens in der stürmischsten und kreativsten Zeit des Umbruchs im vergangenen Jahrhundert schauen möchte. Natürlich feiert sich damit der Verlag auch selbst, aber dazu besteht unstrittig nach wie vor Anlass, denn welches vergleichbare Haus hätte schon solch künstlerisch goldene Jahre in einer solchen Vielfalt vorzuweisen wie die Universal Edition. Nein, das ist keine Eigenwerbung, das ist ein substanzieller Beitrag zur Musikgeschichtsschreibung vor allem jener wilden, unsicheren, revolutionär aufrüttelnden Jahre, die in Deutschland als ‚Weimarer Republik’ in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Und es ist Musikgeschichte aus erster Hand, von einem, der sich, ohne sich selbst als Komponist, Aufführender oder Kritiker in der Öffentlichkeit behaupten zu müssen, mittendrin in dem Treiben befand und maßgeblichen Einfluss – insbesondere auch als Ratgeber in Libretto-Fragen – auf die Tonschaffenden ausübte. Zugleich ist es dadurch ein faszinierender, oftmals kaltschnäuziger, bei entsprechender Sympathie auch wieder liebevoll schildernder Blick hinter die Kulissen der mondän schillernden Musikwelt einer legendären Epoche.
[Christoph Schlüren, November 2017]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.