Ernst Toch: Solo Piano Pieces – Anna Magdalena Kokits
Capriccio; Kat.-Nr. C5293 / EAN: 845221052939
Anna Magdalena Kokits hat für das österreichische Label Capriccio die zum Teil hoch virtuose Klaviermusik des gebürtigen Österreichers Ernst Toch eingespielt, der aber bis zum zweiten Weltkrieg überwiegend in Deutschland wirkte und als Komponist in dieser Zeit als Musterbeispiel für den musikalischen Expressionismus in der Zeit der Weimarer Republik gelten kann.
Ernst Toch ist ein Name, der polarisiert. Nicht selten wird seine Musik als spröde, exzentrisch oder sogar als unnahbar wahrgenommen. Die Frage stellt sich allerdings noch dem Genuss (ich möchte dieses Wort bewusst gebrauchen) der vorliegenden Einspielung von Tochs Klaviermusik, welches womöglich verzerrte Bild wir von diesem Komponisten bislang wahrgenommen haben. Denn in der Klaviermusik zeigt sich Toch als ein viel zugänglicherer musikalischer Geist als beispielsweise in seinen späten Sinfonien.
Das mag damit zusammenhängen, dass das gesamte Œuvre, das wir auf diesem schönen Album finden, noch in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg fällt (1923-1931), in eine Zeit also, in der in Deutschland der Expressionismus die bestimmende, richtungsgebende kreative Strömung war, und in der sich während der Zeit der Weimarer Republik ein enorm vielschichtiges, experimentierfreudiges Musikleben entwickelt hatte, das die Nationalsozialisten freilich mit ihrem Machtantritt so gründlich ausmerzten, dass man diese gar nicht so ferne Zeit bis heute nur mühsam und stückhaft rekonstruieren kann. Doch Namen von damals sehr erfolgreichen Komponisten wie Heinz Tiessen, Walter Braunfels, Ernst Krenek, Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann oder eben Ernst Toch werden in letzter Zeit glücklicherweise wieder häufiger genannt, was letzten Endes auch dazu führt, dass ihre Musik wieder häufiger zu hören ist.
CDs wie die vorliegende bilden dabei eine unschätzbare Bereicherung unserer kulturellen Diversität. Denn auch, wenn sie (zumindest laut Ausweisung auf dem Cover) wohl keine Welt-Ersteinspielungen enthält, so ist das eingespielte Repertoire doch so gut wie unbekannt geblieben.
Dabei finden sich hier wirkliche Preziosen und Überraschungen. So bekommt man unmittelbar den Eindruck, dass der Expressionist und Avantgardist Ernst Toch in seinen Burlesken op. 31 oder in seinen Capriccetti op. 36 ganz unzweifelhaft auch an romantische Traditionen anknüpft (und wie wir auf diesem Album feststellen sogar mit Gattungen wie Etüden und Sonaten kokettierte, wenngleich die „enthaltene“ Musik dem Gattungsbegriff nicht mehr folgt), wobei einem durchaus Namen wie Schumann oder auch Chopin in den Sinn kommen. Die Musik dazu ist freilich Expressionismus in Reinkultur: rebellisch, exaltiert, durchaus auch mit einem Augenzwinkern bis hin zum offenen Sarkasmus. Doch erstaunlich heiter und an sich freundlich klingt diese Klaviermusikwelt, ganz anders als die meist griesgrämig-verbitterten späten Orchesterwerke des Österreichers, die dieser in den USA schrieb, wo er zunächst ab 1935 als Komponist von in Nazideutschland als „entartet“ empfundener Musik im Exil lebte und sich dann dauerhaft bis zu seinem Tod 1964 dort niederließ.
Obwohl er in den USA mit einem Lehrauftrag, diversen Kompositionsaufträgen für u.a. Filmmusik und immerhin einer Grammy Award-Auszeichnung gar nicht so schlecht über die Runden kam (vergleicht man seine Laufbahn mit etlichen anderen Exilkomponisten, denen es meistens weitaus schlechter erging), entwickelte Toch, der offenbar immer mit einer inneren „Düsternis“ kämpfte, eine tiefe Verbitterung und bezeichnete sich selbst sogar als den „meistvergessenen Komponisten des 20. Jahrhunderts“, dies wohlgemerkt nur drei Jahre nachdem er den renommierten Grammy Award gewinnen konnte.
Toch ist in der Tat ein ambivalenter Charakter, und Ambivalenz ist auch ein naheliegendes Wort, um seine Musik zu umschreiben. Was steckt da nicht alles an Widersprüchlichem drin: Neoklassik trifft auf freie Atonalität, Exaltiertheit trifft auf Kontemplation und Selbstbezogenheit, Avantgarde trifft auf Traditionsgebundenheit, Virtuosität trifft auf Banalität als Stilmittel, Heiterkeit schlägt um in Sarkasmus. Interessante Musik ist das, im besten Sinne!
Anna Magdalena Kokits ist eine technisch perfekte Interpretin (geradezu atemberaubend in den irre virtuosen Etüden), und auch der äußerst gelungene, vollkommen natürliche Aufnahmeklang ist zu loben. Ihre Interpretation folgt insgesamt dem verbreiteten Leitbild, Tochs Musik nicht mit zu viel Emotionen aufzuladen, ihn als einen eher kühlen, vielleicht sogar analytischen Musikkonstrukteur zu präsentieren. Das klingt überzeugend, aber ob das richtig ist? Der Expressionismus war auch eine Zeit der Ausschweifungen, der Tabubrüche und der emotionalen Extreme. Als Kunstgattung wird er heute insgesamt nicht selten als Vorahnung zum Zweiten Weltkrieg verstanden, als eine Art „Tanz auf dem Vulkan“, und man hätte sich gewünscht, dass diese extremen Positionen, die in Tochs Klaviermusik zweifellos in großer Zahl zu finden sind, von Frau Kokits mit etwas weniger Zurückhaltung interpretiert würden. Es dürfte auf dieser CD ruhig noch etwas mehr „Enthemmtheit“ herrschen, doch das ist Mosern auf hohem Niveau. Dieses Album geht so wie es ist vollkommen in Ordnung und präsentiert neben einem Komponisten, dessen Klaviermusik mehr Gehör finden sollte auch eine interessante Interpretin, von der man hoffen darf, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird und dabei den Mut haben wird, noch mehr Persönlichkeit und Tiefe zu entwickeln, als sie es auf diesem beachtenswerten Album bereits zeigt.
[Grete Catus im Mai 2017]
Heinz Tiessen