Orfeo, C 922 171 A; EAN: 4 011790 922126
Die vierundzwanzig Études Frédéric Chopins, auf die beiden Opera 10 und 25 verteilt, sind in einer neuen Einspielung des israelischen Pianisten Amir Katz für Orfeo zu hören.
Zweifelsohne sind die 24 Etüden von Frédéric Chopin ein Meilenstein der Klavierliteratur. Nicht nur in technischer Hinsicht sind sie revolutionär, sondern auch hinsichtlich der Dichte des Ausdrucks und Klarheit der Aussage. Jede der Miniaturen ist für sich ein ganzes Universum, vereint Reduktion auf das Wesentlichste und Schlichtestes mit höchsten Anforderungen an die Finger- und vor allem auch Armtechnik. Dabei beschränkt sich jede der Etüden nur auf wenige Herausforderungen, und diese werden auf unterschiedlichste Weise beleuchtet, quer durch konträre Tonarten und Dynamikschattierungen geschleust, und verlangen somit Flexibilität, äußerste Präzision der Ausführung und nicht zuletzt physische Ausdauer. Obgleich natürlich ein zyklischer Zusammenhang besteht, müsste doch eigentlich jedes Stück für sich alleine betrachtet werden, auch hinsichtlich der pianistischen Darbietung.
Amir Katz stellt sich für Orfeo der Herausforderung aller 24 Études. Zuhause ist der israelische Pianist besonders in filigranen und feingliedrigen Passagen. Leichtigkeit und Beschwingtheit liegen Katz im Blut, er brilliert durch feine melodische Gestaltungsgabe in den wüstesten Notenfluten, in sämtlichen von Chopin mit brillante oder leggiero gekennzeichneten Stellen. So fließen Nummern wie Op. 10 Nr. 5, Op. 25 Nr. 2 und vor allem die berüchtigte Terzenetüde Op. 25 Nr. 6 in herrlicher Ungezwungenheit und Mühelosigkeit dahin, beeindrucken dabei mit gehaltvoller Ausdruckskraft. Auch in der gespreizten Lage vermag Katz den Fluss aufrecht zu erhalten, sei es mit phänomenalem Legato (Op. 25 Nr. 10), im spielerischen Staccato-Marcato (Op. 25 Nr. 4) oder mit Hervorhebung der verschiedenen Stimmen (Op. 10 Nr. 10). Nun wäre noch wünschenswert, dass Amir Katz sich auch einmal den einfachsten Melodien in gleicher Subtilität nähert wie er es in den komplexen Passagen so eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die bloßen Melodien tragen nicht, haben kaum Volumen oder vokale Qualität, bleiben auf bloßer Tasten-Ebene. Wie herrlich wäre es, beispielsweise die Melodiestimme von Op. 25 Nr. 1 wirklich in ihrem sängerischen Ausdrucksspektrum zu vernehmen oder den Lento-Beginn von Op. 25 Nr. 7 als zarte Kantilene erfassen zu können. Besonders deutlich wird der Kontrast in der „Winterwind“-Etüde Op. 25 Nr. 11: Während die virtuose Hand fein und in bestechender musikalischer Qualität brilliert, bleiben die anderen Stimmen blass und fahl, der Choral wird in keiner Weise entfaltet. In den langsameren Etüden kompensiert Katz diese Schwäche mit schnellerem Tempo, hier wird sein Manko besonders augenfällig. Ebenso in der „Schmetterlings-Etüde“ Op. 25 Nr. 9: da fehlt die Leichtigkeit und das „Torkeln“ des Daumens, da wäre leisere Grunddynamik und größere Verspieltheit erforderlich.
Auch bei Amir Katz wird einmal mehr ersichtlich, wie umfassend die 24 Etüden Chopins den Pianisten herausfordern, bei den allerwenigsten gelingen alle Etüden in einigermaßen gleichbleibender Qualität, kaum einer wird allen diametral entgegengesetzten Schwierigkeiten musikalischer Natur gleichermaßen gerecht. Auch bei technischer Perfektion und reflektierter Darbietung wird im Laufe des Zyklus ersichtlich, wo persönliche Stärken liegen und wo noch intensivere Erarbeitung von Subtilitäten vonnöten ist. Die Arbeit an solchen musikalischen Kristallen hört sicherlich niemals auf und genau das zeichnet diese Werke eben auch aus: die schiere Unmöglichkeit einer vollendeten Aufführung.
[Oliver Fraenzke, April 2017]