Archiv für den Monat: Mai 2017

GINASTERA und das Eldorado der Musik

Volker Tarnow – GINASTERA und das Eldorado der Musik

Boosey & Hawkes, Berlin 2017; ISBN 978-3-7931-4164-8

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Vor circa einem halben Jahr bekam ich Nicolas Slonimskys Autobiographie „Perfect Pitch“ in die Hände und las sie mit allergrößtem Vergnügen. Ich kannte vorher weder den Autor noch die Rolle, die er in der Musik des 20. Jahrhunderts spielte. Sein „zweites Bein“ als Verfasser verschiedenster lexikographischer Bücher bescherte mir kurze Zeit später sein „Music of Latin Amerika“. Es öffnete mir die Augen für die ungeheure Fülle mir bis auf Villa-Lobos und wenige andere unbekannter Musiker und ihrer Musik. Diese Tatsache teile ich vermutlich mit den meisten anderen Europäern.

Und da kam im April 2017 das Buch über den größten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. Von dem hatte ich bei einem Konzert hier in München von Hugo Schuler, dem jungen argentinischen Pianisten, die „Danzas Argentinas“ gehört. Der Name Ginastera war mir als Gitarrist durchaus geläufig, aber von seiner Musik hatte ich eben bislang wenig bis gar nichts gehört.

Welche Rolle Alberto Ginastera in der argentinischen und allgemein in der amerikanischen Musik spielte und spielt, das ist das große Thema in Volker Tarnows neuem Buch. Wie auch seine beiden anderen Bücher über „“Das romantische Schweden“ und über „Jean Sibelius“ liest es sich hervorragend.

Nimmt man es in die Hand, so wundert man sich zu allererst einmal über das Gewicht. Man ist bei heutigen Büchern selten überrascht, was das Papier angeht, aber bei Volker Tarnows neuem Buch hat der Verlag (Ginasteras Exklusivverlag Boosey & Hawkes) weder am Papier noch an der Aufmachung gespart. Hin und wieder denkt man, man hätte zwei Seiten umgeblättert, bis einem aufgeht, dass es wirklich so ein exquisites Papier ist. Das gelbe Lesebändchen als Orientierungsgeber gehört natürlich auch dazu.

Neben den „Äußerlichkeiten“ überzeugt das Buch aber vor allem durch seinen Inhalt, durch die Bilder und Fotografien, durch Lebenslauf, Werkverzeichnis und Anmerkungen. Bei allem ausgebreiteten Wissen über Leben, Werk, Werdegang und die einzelnen Kompositionen liest es sich flüssig und ist durchaus unverkennbar mit dem Tarnow’schen Humor gewürzt, der mir auch in seinen anderen beiden Büchern schon so gut gefallen hat. Natürlich kennt sich der Autor nicht nur in musikalischen Dingen hervorragend aus, er lässt vor uns den ganzen Reichtum der südamerikanischen Musikkultur entstehen, angefangen mit der präkolumbianischen über die peruanische bis zur aktuellen argentinischen. Ginasteras Leben wird im Zusammenhang mit der politischen Situation in Buenos Aires und dem ganzen Land geschildert, seine Aufs und Abs als Musiker, auch als Leiter der verschiedensten musikalischen Institutionen, seine Auslands-Aufenthalte und die Freundschaften mit den verschiedensten Musikern vor allem in den USA, später dann auch in Europa, wo er in Genf mit seiner zweiten Frau – der Cellistin Aurora Nátola – lebte.

All das wird mit leichten Ton geschildert, dazwischen natürlich die Beschreibung seiner einzelnen Kompositionen, seien sie für Orchester, seien sie kammermusikalisch, seien sie für die Bühne oder für den Film. Bei einem Lebenswerk von „nur“ 60 Opera ist die Verschiedenheit der Kompositionen doch erstaunlich, auch drei gewaltige Opern sind dabei, und das Werkverzeichnis listet sie natürlich alle chronologisch auf. Die Verbindung – mal mehr, mal weniger – zur ursprünglichen indianisch oder invasorisch gauchoesk gefärbten indigenen Musik und ihren Instrumenten wird ausführlich dargestellt, auch die Verbindung zu seinen Kollegen in Brasilien oder Mexiko, in Peru oder Kolumbien.
Und Tarnow räumt mit einem Vorurteil auf, welches die Musikwissenschaft lange immer wieder aufs Neue tradierte: Auch die Inkas kannten weit mehr als die in der Forschung aufgedeckte Pentatonik primitivster Art. Wobei wir natürlich leider ob der oftmals schlechten Quellenlage originale Inka-Musik nur in geringem Maß erkunden können. Zu barbarisch haben die Eroberer in Süd- und Mittelamerika gehaust und gewütet. Was heute an „Volksmusik“ aus den Andenregionen und von anderswoher zu uns kommt, ist weitestgehend bloßer Kommerz wie die nervenden Bläsergruppen vor den Kaufhäusern.

Was dieses neue Buch so spannend macht, ist die Tatsache, dass es einen Komponisten umfassend sichtbar und erlebbar macht in seinem ganzen Lebensumfeld und seinem Werdegang. Die nächste Stufe wird also sein, dass ich die Musik dieses bedeutendsten argentinischen Komponisten neben dem viel einfacheren Astor Piazzolla suchen und hören werde. Denn Volker Tarnows Buch hat das geschafft, was ein Buch über ein staunenswertes „Phänomen“ – einen bisher ziemlich unbekannten Musiker namens Alberto Ginastera – so lebendig werden lässt, dass das Anhören seiner Musik der zwangsläufig nächste Schritt sein muss.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Himmelfahrts-Konzert „Wilde Gungl“

Himmelfahrts-Konzert der „Wilden Gungl“ – 25. Mai 2017 im Prinzregententheater unter Leitung von Michele Carulli

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Von Johann Sebastian Bach bis Richard Wagner, welch ein Bogen! Und diesen musikalischen Bogen spannte das Orchester ”Wilde Gungl” unter seinem Dirigenten Michele Carulli am Vatertag im Münchner Prinzregenten-Theater in der Matinée um 11 Uhr.

Melodienzauber! hieß das Motto des Konzerts und dem entsprach das Programm, fast alle Melodien waren sogenannte ”Reißer”. Aber diese im Augenblick des Entstehens zu erleben, ist eben doch jedes Mal etwas ganz Anderes als sie zu Hause auf CD, im Radio oder bei einer Übertragung im Fernsehen zu hören. Lebendige Musik, „live“ ist durch nichts zu ersetzen, das wurde mir wieder einmal mit aller Deutlichkeit und Eindringlichkeit vor Augen und Ohren gebracht.

Solch einen Strauß aus vielen verschiedenen Melodien aus mehreren Jahrhunderten zu einem Programm zu verbinden, bedarf nicht zuletzt einer guten und ansprechenden Moderation. Sie ist und war bei Arnim Rosenbach – wie schon öfter – in allerbesten, charmanten Händen, auch dank seiner ebenso ansprechenden Stimme wie Art der Programmführung.

Von Bachs „Air“ aus der Orchestersuite BWV 1038 über Mozarts Klavierkonzert-Thema des zweiten Satzes  KV 467 , das durch den Film „Elvira Madigan“ weltbekannt wurde, über Verdi, Mascagni, Smetana hin zu Puccini, Mahler, Morricone, Böttcher, Tschaikowsky bis hin zu den beiden Zugaben von Nino Rota und der Ouvertüre zu „Rienzi“ von Wagner zog sich der Melodien-Zauber.

Die Konzerte der „Wilden Gungl“ verfolge ich nun schon seit ein paar Jahren, aber auch diesmal fiel mir besonders auf, dass die Gruppe der Streicher durch Michele Carulli noch homogener geworden ist, noch sensibler spielt, was man bei einigen Stücken, in denen die Streicher die Hauptrolle spielen, besonders hören konnte. Bei Mahlers „Adagietto“ aus seiner 5. Symphonie fiel das natürlich speziell auf. Aber auch die „Nichtstreicher“ – von denen mir besonders die Harfenistin und die Holzbläser gefielen – geben dem Orchesterklang die Farbigkeit, die diese Musik überhaupt so zum Klingen und Blühen bringt. Und das Publikum, jung und vor allem natürlich die älteren Semester, die der „Wilden Gungl“ – ihrer „Wilden Gungl“ –  schon seit Jahren die Treue halten,  war begeistert und brachte das entsprechend zum Ausdruck.

Dass Michele Carulli ein Dirigent mit Leib und Seele unter Einsatz voller Energie ist, der das Orchester befeuert und die Musik sich in melodische Höhenflüge aufschwingen lässt, ist bei jedem Konzert begeisternd zu erleben. Auch der Beifall, den er wie selbstverständlich den entsprechenden Solisten-Kollegen weitergibt, gehört dazu. Und nicht zuletzt seine eigene Moderation, mit der er die beiden Zugaben ansagt und das Publikum nach gewaltigem Beifall entlässt.

Ein Stück möchte ich allerdings gesondert erwähnen, nicht nur, weil es mir unbekannt war, sondern weil es als „Jugendstück“ von Giacomo Puccini schon alles erkennen und hören lässt, was uns später in seinen Opern so mitnimmt und beglückt. Das „Preludio sinfonico“ von 1882 – aus seiner Zeit am Mailänder Konservatorium – ist eine wunderbare Überraschung in diesem ambitionierten und doch so unterhaltenden Programm.

Ich freue mich schon auf das Sommerkonzert im Brunnenhof und auf das Wiederhören der „Wilden Gungl“.

Ceterum censeo: Auch wenn es Perlen vor die Säue gleich zu sein scheint, ich werde nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Münchner Zeitungskritik, das sogenannte Feuilleton, gut daran täte, aufzuwachen und dieses Orchester – das schließlich schon seit 150 Jahren existiert – und seine wunderbaren Programme endlich zur Kenntnis zu nehmen. Ganz einfach.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Eine klingende Schatztruhe

Grand Piano, GP753-55; EAN: 7 47313 97532 7

Auf drei CDs stellt das Label Grand Piano eine große Auswahl an Klaviermusik aus drei Jahrhunderten im Schnelldurchlauf vor, vom 18. Jahrhundert bis zum heutigen Schaffen.

Ausschnitte aus 73 CDs sind auf der „Key Collection“ von Grand Piano zu hören, gleichsam ein klingender CD-Katalog für dieses Label, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, unbekannte Klaviermusik systematisch wiederzuentdecken. Meist ist „Complete Works for Piano“ auf den CDs zu lesen, womit diese einen allumfassenden Blick über das Klavierrepertoire von zu Unrecht nicht etablierten Komponisten liefern. Der Fokus liegt hauptsächlich auf Musik des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, doch auch einige Perlen aus früheren Zeiten konnten geborgen werden.

Die Key Collection lädt zum lockeren Entdecken ein, zu hören sind einzelne meist kurze Sätze oder Einzelstücke aus dem Repertoire des Labels. Die über dreieinhalb Stunden lange Reise geht von 1773 bis zu Werken der letzten fünf Jahre. Einige Komponisten waren mir bislang vollkommen unbekannt, was sich nach dem Hören als dringend zu schließende Lücke erwies. Auch von etablierten Komponisten gibt es Hörstoff, wenngleich ebenfalls kaum gespielte Lektüre wie etwa eine Sonate für Klavier vierhändig von Beethoven oder die Fragmente eines zweiten Klavierkonzerts von Edvard Grieg (sowie deren Ergänzung durch Evju). Quer durch sämtliche Sparten der Klaviermusik geht die von Grand Piano getroffene Auswahl bis hin zum Minimalismus und popmusikalisch anmutenden Stücken von Afshin Jaberi (geb. 1973).

Ein kompletter Überblick über die Sammlung würde den Rahmen einer Rezension sprengen und es fällt schwer, aus solch einer reichhaltigen Schatztruhe eine repräsentative Auswahl bedeutsamer Entdeckungen herauszugreifen. Persönlich freue ich mich besonders über das Erscheinen von Dimitar Nenov (1902-53), einem durch brutale Wildheit überrumpelnden bulgarischen Klaviervirtuosen, des großen Australiers Percy Grainger (1882-1961), der durch seine maßstabgebenden Welte-Mignon-Einspielungen unsterblich bleibt, des Dänen Per Nørgård (geb. 1932), der zu den bedeutendsten Symphonikern unserer Zeit gehört, des Armeniers Alexander Arutiunian (1920-2012), Komponist eines der beliebtesten Trompetenkonzerte des Repertoires, dessen Schaffen ansonsten überhaupt nicht im Bewusstsein verankert ist, des ebenfalls aus Armenien stammenden Arno Babadjanian (1921-83), dessen Kammermusik dringend auch außerhalb seines Heimatlandes aufgeführt werden sollte, und von Alfred Cortot (1877-1962), der hier als Meister des Klavierarrangements präsentiert wird.

Nach dem Durchhören dieses CD-Katalogs würde ich mir am liebsten direkt die gesamte Kollektion – die auch künstlerisch meist auf hohem Niveau ist – zulegen. Es steht jedenfalls außer Frage, dass eine möglichst große Auswahl der hier vorgestellten Titel bald meine CD-Regale schmücken wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]

 

Ideales Musizieren

Zwölf Jahre lang hat Lavard Skou Larsen als Chefdirigent die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein geleitet und in dieser Zeit aus einem Klangkörper auf gutem Regionalniveau ein Weltklasseorchester geformt. Nun dirigierte Skou Larsen sein letztes Konzert als Chefdirigent im Neusser Zeughaus mit Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre, dem Violinkonzert von Robert Schumann mit der britischen Solistin Priya Mitchell, der Uraufführung eines kleinen Streicherwerks des hochbegabten jungen rumänischen Komponisten Lucian Beschiu und der Symphonie in h-moll D 759, der ‚Unvollendeten’, von Franz Schubert.

Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre ist eines der heikelsten Werke der gesamten Orchesterliteratur, und nicht zufällig ist sie neben der Fledermaus-Ouvertüre von Johann Strauß jr. DAS Standardstück bei Probedirigaten. Lavard Skou Larsen ließ die langsame Einleitung sehr geschmeidig und mit verhaltener Kraft erstehen, der Allegro-Hauptsatz kam mit einer unglaublich fesselnden Mischung von prickelnder Brillanz, Leichtig- und Wendigkeit, erdverbundener Kraft und artikulatorisch so unvorhersehbarer wie unwiderstehlich bezwingender Eleganz zur Entfaltung. Das Stück entstand wie aus einem Guss unter Herausarbeitung all der Mannigfaltigkeit der Details, und auch nur der Anflug eines Gefühls für physikalische Länge konnte sich bei dem durchgehenden Spannungsbogen nicht einstellen. Die ganze Musik schien in einem einzigen Moment zu entstehen und ihren Bau zu errichten. So kann und sollte Mozart sein, und doch frage ich mich, wann ich ihn so gehört habe – auch übrigens, was die Auffächerung der überwältigend sinnlichen Farbenpracht betrifft. Das Stück allein hätte gereicht, um die Hörer, die nach einem tieferen Sinn in der Musik suchen, glücklich zu entlassen. Doch es ging natürlich weiter…

Das Violinkonzert von 1853 ist Robert Schumanns letztes großes Orchesterwerk, und der gravitätische Allegro-Kopfsatz gehört zum Überwältigendsten, was der bald darauf geistiger Umnachtung anheimgefallene Komponist an Symphonischem zu Papier brachte. Priya Mitchell fasst das Konzert sehr frei auf, im Agogischen insgesamt dann doch zu frei, wodurch sich eine durchtragende Spannung nicht einstellen kann und den Reizen unterschiedlicher Momente sehr eigentümlichen Ausdruckswillens geopfert wird. Freilich hatte ihr Spiel vor allem im äußerst zart realisierten langsamen Satz unbestreitbaren Zauber. Im Finale konnte von restloser technischer Beherrschung nicht die Rede sein, doch das ging auch schon berühmteren Solisten so bei diesem in der Schreibweise für die Geige extrem sperrigen und angesichts der gelegentlich halsbrecherischen Schwierigkeiten auch etwas undankbaren Konzert. Hier muss durch innere Substanz wettgemacht werden, was an äußerem Glanz nicht zu erzielen ist, und dafür braucht es nicht nur Poesie, sondern vor allem auch die Vision und Kraft zur Umsetzung des Ganzen. Und da wäre dann zu wünschen, dass die Solistin bei ihren Extravaganzen nicht nur ihre Stimme im Auge hätte, sondern auch das orchestrale Geflecht mit seiner herrlich durchbrochenen Polyphonie. Dass dies nicht wirklich durchgehend entstehen konnte, lag an den vielen Haken, die sie schlug, und bei denen ihr Lavard Skou Larsen und seine Truppe mit schier unfassbarer Behändigkeit folgte wie eine Raubkatze, die ihre Beute in jedem Moment fassen könnte – mit der Einschränkung, dass diese Katze sich hier als Beschützerin erweist, die die Solistin auch im extremen Pianissimo durchklingen lässt.

Nach der Pause kam das Lento rubato für Streichorchester des 1986 geborenen Rumänen Lucian Beschiu zur Uraufführung. Er hätte für sein im Kern und in allen Nuancen so zauberhaftes wie eigenständiges Werk keine liebevolleren und souveräneren Ausführenden finden können als die Deutsche Kammerakademie mit ihren Solisten Sebastian Casleanu (Violine), Danka Nikolic (Bratsche) und Milan Vrsajkov (Cello) unter der mit seinen Musikern zu vollendeter Einheit verschmelzenden Leitung Skou Larsens. Was für eine Musik schreibt Beschiu? Seine Harmonik hat ihren absolut unverkennbaren Eigenton, und sie bildet die Grundlage der ganzen Entfaltung melodischer Gestalten, rhythmisch-metrischer Finessen, feinsinnig kontrastierender Charaktere. Die Musik hat etwas wundervoll Schwereloses, Lichtes, Transparentes, Zerbrechliches und zugleich stets Fließendes, geradezu Engelhaftes, und sie spricht mit einem unschuldig beseelten Ton, als hätte sie es überhaupt nicht nötig, sich gegen die hochtrabende Konkurrenz zeitgenössischer Avantgarde und Populärklassik zu behaupten – etwa nach dem Motto: Macht ihr doch, was ihr wollt, ich bewege mich unsichtbar zwischen euren Mauern hindurch. Stilistisch könnte man Einflüsse von John Foulds zu erkennen meinen (in den raumgreifenden Quintparallelbewegungen und melodischen Spiegelungen, aber auch in der Luzidität des Tons und Ausdrucks überhaupt), und mancher mochte vielleicht an Ravel denken, vielleicht auch ein wenig an des Komponisten rumänische Heimat, deren Melancholie gegen Schluss ohne jede Wehleidigkeit für ein Tröpfchen mehr Dunkelheit sorgte, vielleicht sogar ein bisschen an Béla Bartók. Doch all das sagt eben nicht aus, wie die Musik von Beschiu ist – es mag höchstens als Orientierungshilfe dienen, um zu ahnen, ob sie einem gefallen könnte. Das Neusser Publikum war – wie auch das Orchester – restlos begeistert von dieser großen Überraschung, die statt imponierend auftrumpfen zu müssen ganz aus ihrer Tiefe der Substanz schöpft. Zweimal tritt der langsameren Grundbewegung eine Art walzernd beschleunigte Bewegung entgegen, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und beim zweiten Mal erwirkt diese den Übergang in die Schlussphase. Wir können jedenfalls berichten, dass hier ein großer Komponist auf den Plan getreten ist, von dem – vielleicht ja gerade für die symphonische Gattung – noch ganz Großes erwarten dürfen.

Danach Schuberts Unvollendete, und hier möchte ich einfach nur sagen, dass sich eine großartigere Aufführung dieses so viel gespielten – und so oft unzulänglich langweilig oder überzogen schroff dargebotenen – Meisterwerks kaum vorstellen lässt. Mit innigster Gesanglichkeit umgarnten die lyrischen Themen, die dramatischen Umbrüche kamen mit einer elementaren Wucht so überraschend, dass es war, als erklänge die Musik zum ersten Mal. Also sozusagen noch eine Uraufführung, indem das scheinbar Bekannte so unvorhersehbar und dabei vollkommen logisch aus den innewohnenden Kräften entwickelt, das Ganze offenbarend entstand, dass einfach kein Platz war für den relativierenden Geist – denn: Egal, wie schnell oder langsam es gewesen sein mag, die Dimension der Zeit wurde aufgehoben, die Beteiligten gingen vollkommen im Dienst an der Musik Schuberts auf, die seelische Regionen eröffnet, von denen das heutige Musikleben in seiner Veräußerung in der Regel nicht einmal mehr träumt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass das Orchesterspiel in allen Belangen auch von grandioser Makellosigkeit war, dass das klein besetzte Orchester einen ungeheuer dichten, runden Klang entfaltete, und dass die Soli von Oboe und Klarinette uns unmittelbar ins Reich reinsten Zaubers entführten, das nicht den Streichern allein vorbehalten war. So kann also auch heute musiziert werden, als stünde hier ein Furtwängler, Talich, de Sabata oder Celibidache.

Als Zugabe brachte Skou Larsen ein ‚Gebet’ von seinem brasilianischen Landsmann Alberto Nepomuceno (1864-1920), das einst sein gleichfalls dirigierender Vater für Streichorchester gesetzt hat: eine wehmütige Kantilene der Violinen wird vom Tutti-Pizzicato begleitet, und im Schlussklang vereinigt man sich zum arco. Schöner, edler, verinnerlichter, aber auch innerlich belebter kann man das nicht spielen. Danach stimmte das Orchester in den Applaus hinein Piazzolla an, Lavard Skou Larsen entwand dem exzellenten Konzertmeister spontan die Geige und ging noch einmal völlig in seinem Element auf. Diesen Mann wird man vermissen, und wir können nur mutmaßen, was ihn bewogen hat, nach zwölf so einmalig erfolgreichen Jahren die Deutsche Kammerakademie zu verlassen und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Er hat Neuss zu einem idealen Ort der Musik werden lassen, und das Publikum dankte es ihm und seinem wunderbaren Orchester mit auch bei entlegensten Programmen ausverkauftem Saal in den Abonnementkonzerten. Immerhin: zum Abschied sagte Skou Larsen mit schelmischem Seitenblick auf einen weltweit prominenten kalifornischen Gouverneur ‚Hasta la vista’…

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Ein Schalk als Held

Capriccio, C9006; EAN: 8 45221 09006 1

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In einer Koproduktion von Capriccio und EntArte Opera wurde erstmalig Walter Braunfels‘ Oper Ulenspiegel eingespielt, wenngleich in reduzierter Orchesterfassung durch Werner Steinmetz. Das Israel Chamber Orchestra unter Martin Sieghart spielt gemeinsam mit dem von Franz Jochum einstudierten EntArteOpera Choir. Die Hauptpartien singen Marc Horus (Till Ulenspiegel), Christina Ratzenböck (Nele), Joachim Goltz (Profoss) und Hans Peter Scheidegger (Klas).

Knappe 100 Jahre lag diese Oper im Verborgenen. Walter Braunfels hatte sich nach dem ersten Weltkrieg von diesem antikatholischen Werk distanziert, da er selbst vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war. Erst 2011 wurde die 1913 komponierte Oper neu entdeckt und in Gera auf die Bühne gebracht. 2014 schließlich wurde Ulenspiegel in Linz erneut aufgeführt und anschließend aufgenommen, allerdings in einer Fassung für kleineres Orchester, die eigens von Werner Steinmetz angefertigt wurde. Dies kommt der Rezeption insofern zugute, als es die Sänger schwer hatten, sich gegen das vollbesetzte Orchester zu behaupten. Noch immer sind manche Partien durch die Dopplungen herausfordernd, allerdings durchaus im Bereich des Realisierbaren.

Das Libretto stammt von Braunfels selbst, basierend auf einem Roman von Charles de Coster. Die Geschichte des berühmten Schalks wird zum Kriegsdrama ausgebaut, Ulenspiegel erscheint als Widerstandskämpfer gegen die spanische Besetzung und kämpft trotz Folter und Gefangenschaft gegen die Unterdrücker. Die kollektiv blutrünstige Kriegslust vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs ist unverkennbar, das Werk ist politisch ambitioniert, preist patriotische Aufopferung und Heldentum.

Die Oper ist markant im Tonfall, bleibt streckenweise mit großem Wiedererkennungswert im Ohr und ist reich an Durchchromatisierung und raffinierten Details. Es gibt keine übermäßigen Neuerungen in dieser Musik, doch mangelt es nicht an interessanten Feinheiten und erlesener Liebe zum Detail.

Das trotz starker Reduzierung klangvoll erscheinende Orchester klingt im Tutti oft nicht gerade transparent, und nicht allzu oft gelingt es Martin Sieghart, die wünschenswerte Luzidität zu erreichen. Allgemein mangelt es an dynamischem Fluss und Breite des Spektrums. Die reinen Orchesterpassagen weisen mehr an bemerkenswerter musikalischer Ausgestaltung auf, und immer wieder gelingt es doch, den Hörer mit manch schönem Momente in den Bann zu ziehen. Inspiriert funkelnd ist die Partie der Nele mit Christa Ratzenböck besetzt, die sich in ihre Rolle förmlich eingelebt hat und die halsbrecherischen Partien mühelos meistert, obwohl einige tiefe Töne schon die Untergrenze ihrer Sopranlage sprengen. Marc Horus als Ulenspiegel kann im Pianobereich überzeugen, wirkt in aufbrausenden Momenten hingegen etwas gekünstelt, überbetont auch vieles; seine schauspielerische Leistung ist fesselnd und zweifellos eigenartig und ungewöhnlich. Klas, gesungen von Hans Peter Scheidegger, überzeugt in seiner recht kurzen Partie, und auch Joachim Goltz ist als Profoss keineswegs fehlbesetzt. Am überzeugendsten agiert jedoch der in der Oper oft erscheinende EntArteOpera Choir, einstudiert von Franz Jochum, der mit Einheit des Ausdrucks und Bündelung der Energie ergötzt, auch in Phrasierung und Tongebung zu gefallen weiß.

Wie auch die anderen kürzlich erschienen CDs mit Musik von Walzer Braunfels bei Capriccio ist vorliegendes Album eine Empfehlung wert. Zwar vermag die Darbietung nicht immer vollständig überzeugen, doch tut dies die Musik einer vernachlässigten Größe am Opernfirmament.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]

Unvollendbarkeit

Orfeo, C 922 171 A; EAN: 4 011790 922126

Die vierundzwanzig Études Frédéric Chopins, auf die beiden Opera 10 und 25 verteilt, sind in einer neuen Einspielung des israelischen Pianisten Amir Katz für Orfeo zu hören.

Zweifelsohne sind die 24 Etüden von Frédéric Chopin ein Meilenstein der Klavierliteratur. Nicht nur in technischer Hinsicht sind sie revolutionär, sondern auch hinsichtlich der Dichte des Ausdrucks und Klarheit der Aussage. Jede der Miniaturen ist für sich ein ganzes Universum, vereint Reduktion auf das Wesentlichste und Schlichtestes mit höchsten Anforderungen an die Finger- und vor allem auch Armtechnik. Dabei beschränkt sich jede der Etüden nur auf wenige Herausforderungen, und diese werden auf unterschiedlichste Weise beleuchtet, quer durch konträre Tonarten und Dynamikschattierungen geschleust, und verlangen somit Flexibilität, äußerste Präzision der Ausführung und nicht zuletzt physische Ausdauer. Obgleich natürlich ein zyklischer Zusammenhang besteht, müsste doch eigentlich jedes Stück für sich alleine betrachtet werden, auch hinsichtlich der pianistischen Darbietung.

Amir Katz stellt sich für Orfeo der Herausforderung aller 24 Études. Zuhause ist der israelische Pianist besonders in filigranen und feingliedrigen Passagen. Leichtigkeit und Beschwingtheit liegen Katz im Blut, er brilliert durch feine melodische Gestaltungsgabe in den wüstesten Notenfluten, in sämtlichen von Chopin mit brillante oder leggiero gekennzeichneten Stellen. So fließen Nummern wie Op. 10 Nr. 5, Op. 25 Nr. 2 und vor allem die berüchtigte Terzenetüde Op. 25 Nr. 6 in herrlicher Ungezwungenheit und Mühelosigkeit dahin, beeindrucken dabei mit gehaltvoller Ausdruckskraft. Auch in der gespreizten Lage vermag Katz den Fluss aufrecht zu erhalten, sei es mit phänomenalem Legato (Op. 25 Nr. 10), im spielerischen Staccato-Marcato (Op. 25 Nr. 4) oder mit Hervorhebung der verschiedenen Stimmen (Op. 10 Nr. 10). Nun wäre noch wünschenswert, dass Amir Katz sich auch einmal den einfachsten Melodien in gleicher Subtilität nähert wie er es in den komplexen Passagen so eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die bloßen Melodien tragen nicht, haben kaum Volumen oder vokale Qualität, bleiben auf bloßer Tasten-Ebene. Wie herrlich wäre es, beispielsweise die Melodiestimme von Op. 25 Nr. 1 wirklich in ihrem sängerischen Ausdrucksspektrum zu vernehmen oder den Lento-Beginn von Op. 25 Nr. 7 als zarte Kantilene erfassen zu können. Besonders deutlich wird der Kontrast in der „Winterwind“-Etüde Op. 25 Nr. 11: Während die virtuose Hand fein und in bestechender musikalischer Qualität brilliert, bleiben die anderen Stimmen blass und fahl, der Choral wird in keiner Weise entfaltet. In den langsameren Etüden kompensiert Katz diese Schwäche mit schnellerem Tempo, hier wird sein Manko besonders  augenfällig. Ebenso in der „Schmetterlings-Etüde“ Op. 25 Nr. 9: da fehlt die Leichtigkeit und das „Torkeln“ des Daumens, da wäre leisere Grunddynamik und größere Verspieltheit erforderlich.

Auch bei Amir Katz wird einmal mehr ersichtlich, wie umfassend die 24 Etüden Chopins den Pianisten herausfordern, bei den allerwenigsten gelingen alle Etüden in einigermaßen gleichbleibender Qualität, kaum einer wird allen diametral entgegengesetzten Schwierigkeiten musikalischer Natur gleichermaßen gerecht. Auch bei technischer Perfektion und reflektierter Darbietung wird im Laufe des Zyklus ersichtlich, wo persönliche Stärken liegen und wo noch intensivere Erarbeitung von Subtilitäten vonnöten ist. Die Arbeit an solchen musikalischen Kristallen hört sicherlich niemals auf und genau das zeichnet diese Werke eben auch aus: die schiere Unmöglichkeit einer vollendeten Aufführung.

[Oliver Fraenzke, April 2017]

Einer der ganz großen Dirigenten – Jiří Bĕlohlávek und die BR-Symphoniker in tschechischen Gefilden

Warum eigentlich so selten, und warum immer mit tschechischem Programm? Nach sechs Jahren gastierte Jiří Bĕlohlávek, der Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, erstmals wieder am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. Natürlich gibt es heute keinen, der wie er die Werke von Dvořák, Janáček oder Martinů meisterhaft einzustudieren vermag (nicht einmal sein einstiger Schüler Jakub Hrůsa, der neue Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ist ihm hier ebenbürtig, aber er hat ja auch noch einige Jahre Zeit…), doch Bĕlohlávek ist heute ein so überragender Musiker, dass es mehr als bedauerlich und de facto ein Fehler ist, ihn international als Spezialisten zu konsultieren, wie dies auch seine Plattenfirma Decca sehr erfolgreich tut. Denn er ist nicht weniger großartig als Dirigent der Klassiker Mozart, Beethoven oder Schubert, und im romantischen Repertoire kennen wir ihn hier bis auf ein bisschen Mendelssohn, Brahms und Tschaikowsky überhaupt nicht. Dort er mutmaßlich ebenso Wesentliches zu sagen. Also gebt ihm doch zumindest nächstes Mal eine Mozart- oder Beethoven-Symphonie, dass er das kein wie kaum ein anderer, hat er vor allem beim Aufbau der Prager Philharmonie schlagend bewiesen.

Der Abend in der Münchner Philharmonie am Gasteig beginnt mit einem chorischen Arrangement der 2. Serenade für 2 Geigen und Bratsche von Bohuslav Martinů, einer für den Komponisten typischen, zwischen geistreichem Klassizismus und innig böhmischem Musikantentum angesiedelten kurzen Dreisätzer der dreißiger Jahre. Nach sieben Minuten ist das grazile Vergnügen vorbei, und da bleibt keine Zeit für ein Warm up der Ohren. Bĕlohlávek hat sich äußerlich verändert, ist von schwerer Krankheit gezeichnet, die zu überleben wir nicht nur ihm, sondern ganz dringend auch der ganzen Musikwelt wünschen müssen! Fein, zart, durchscheinend, mit unbestechlichem Sinn für die kontrastierenden Charaktere, absoluter Liebe und Meisterschaft in den Details, und absolut ohne jede Pose. Dieser Mann dient in seinem ganzen Wirken ausschließlich der Musik und hat in der völligen Hingabe keinen Platz für Selbstdarstellung – um den Preis, nicht zu den modischen Superstars zu gehören, denen er als Musiker ohnehin überlegen ist. Zugleich ist auch eine Veränderung in seinem Musizieren zu spüren – mit zunehmender Reifung ist das nicht zu erfassen, es hat sicher mit dem Leiden und der Krankheit zu tun, dass Bĕlohláveks Musizieren eine Gelöstheit und Luzidität vermittelt, die jenseits des geschäftigen Betriebs steht. Hier steht ein Mann, der niemandem mehr etwas beweisen will und muss, der ganz im kreativen Akt aufgeht, dessen Führung bei aller Sicherheit und Klarheit mit einer heroischen Fragilität und filigranen Natürlichkeit einnimmt, wie sie nur bei den ganz Großen zu finden sind.

Es folgt eine 1999 von Jaroslav Smolka zusammengestellte, sechssätzig umfangreiche Suite aus Leoš Janáčeks skurriler Oper ‚Die Ausflüge des Herrn Brouček’. Ein wirkliches Korrelieren zu geschlossener Ganzheit ist hier nicht möglich, da die ausgewählten Passagen nun doch zu episodisch aufeinanderfolgen. Freilich ist insbesondere der vorletzte Satz, der unter Attacken sich vorwärtsbewegende Hussiten-Choral, von herrlicher Wirkung. Und das Orchester spielt unter Bĕlohlávek großartig, mit höchster Durchsichtigkeit auch in komplexeren Fortissimo-Bereichen und dort, wo die Orchestration nicht optimal angelegt ist, um alles deutlich hervorzubringen, werden immer wieder echte Wunder vollbracht. Auch hier hat jede Einzelheit ein klares Gesicht, der Tonfall ist erstaunlich idiomatisch getroffen. Besser dürfte das unter den gegebenen Umständen nicht zu machen sein!

Nach der Pause singt Magdalena Kožená die Biblischen Lieder von Antonín Dvořák. Leider hat sie für diese zehn herrlich schlichten Lieder eine exklusiv für sie angefertigte Instrumentation mitgebracht, und man frag sich nun wirklich, was das soll. Warum spielen hier Klarinetten statt Geigen, und dort Geigen statt Flöten, und warum werden immer wieder auch konkret Töne geändert? Das alles ist zwar keine Katastrophe, aber auf jeden Fall das Gegenteil einer Verbesserung, und ich verstehe nicht so recht, warum man heute noch so etwas macht. Sicher singt sie wunderbar, sie hat einfach eine hinreißende Stimme. Ich finde aber auch, dass sie die Musik dramatischer auffasst als dem Gehalt angemessen, eher Richtung Wagner’schen Dramas als biblischer Würde. Der Erfolg beim Publikum ist freilich groß, und dass der volkstümlich sakrale Charakter der Lieder sich nicht wirklich einstellen kann, merkt dann doch nur, wer die Musik kennt oder eine klare Vorstellung davon hat. Und das ist fast niemand. Es ist auch nicht ganz einfach, Magdalena Koženás subtilen agogischen Eigenwilligkeiten zu folgen, doch hier beweits Bĕlohlávek eine souverän ruhige und reaktionsschnelle Hand. Und singen kann sie ja nun doch fraglos auf herausragendem Niveau.

Zum Schluss der grandiose Höhepunkt des Konzerts: Leoš Janáčeks dreisätzige tragische symphonische Dichtung ‚Taras Bulba’ nach Gogol. Es ist atemberaubend, wie sich selbst im dichtesten eruptiv aufgipfelnden Geflecht immer die entscheidenden Stimmen durchsetzen können, und ebenso frappierend ist, wie es Bĕlohlávek gelingt, mit klarer Vorstellung die extremen Kontraste zu sinnfällig sich entfaltendem Zusammenhang zu bündeln. Das Orchester beweist wieder einmal seine ganz große Klasse, die Aufführung wird zu einem Triumph der Musik, wie er ganz selten zu erleben ist. Schade nur, dass sich das Publikum in München für tschechische Musik des 20. Jahrhunderts nur bedingt zu interessieren scheint, der Saal also mit vielen Lücken glänzte. Dem Dirigenten lag freilich am Schluss nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum zu Füßen. Seit Václav Talich hat Tschechien keinen solch umfassenden Meisterdirigenten hervorgebracht. Seinen einstigen Lehrmeistern Josef Vlách und Sergiu Celibidache macht Jiří Bĕlohlávek alle Ehre. Und so überwältigend kann Leoš Janáček sein.

[Christoph Schlüren, April 2017]