Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7
Mensch und Musik heißt Hans Erik Deckerts Anthologie von Aufsätzen aus den Jahren 1981 bis 2015. Der Cellist, Dirigent und Musiktheoretiker geht auf die Wirkung der Musik im Menschen, auf ihre Heiligkeit, auf die Folgen der aktuellen Musiknutzung, auf die Kammermusik und auf weitere Phänomene ein.
Ist die hörbare Kunst in ernsthafter Gefahr? Immer wieder tritt diese Frage, die Mahnung in den Aufsätzen von Hans Erik Deckert hervor. Es ist bei weitem nicht die einzige Frage, die diese umfassende wie weitreichende Anthologie umfasst, aber doch ist es die aktuellste – die, die einen jeden heute betrifft. Die Begründung dieser Befürchtung: mehr als frappierend und definitiv denkwürdig. Die Grundannahme, von der Deckert ausgeht, ist, dass es eine objektive Existenz der Musik gibt und dass sie in uns allen als eine Art Heiligtum prädisponiert ist. Deckert geht dabei auf die Sphärenharmonie Pythagoras‘ zurück, welche die Musik in Musica Mundana (Musik der Welt), Musica Humana (Musik im Menscheninneren) und Musica Instrumentalis (Stimme und Musikinstrument) unterteilt. Somit sind wir ständig umgeben von diesem kostbaren Gut, zudem ist es in uns selbst verankert – und erst in dritter Instanz können wir sie bewusst erzeugen. Doch wie hat sich die Musik durch die Möglichkeit der Tonaufnahme gewandelt, wie wird sie nun dargestellt und was macht sie mit uns? Wir werden belastet von einer Dauerbeschallung, ob in Film und Werbung, im Kaufhaus oder auf der Straße, in manchen Städten wie München gar in den U-Bahn-Stationen. Musik ist jederzeit wieder-abrufbar, die Einmaligkeit der Aufführung wird durch Reproduktion mit endloser Laufzeit ersetzt. Die Folgen für die Musiker unterminieren frühere Praxis und führen von der Gestaltung des unwiederbringbaren Moments hin zu einer Fixierung auf technische Brillanz und Makellosigkeit, die für eine ‚verewigte’ Aufnahme angeblich nötig sei. So wird auch im Konzertsaal versucht, an die Perfektion einer geschnittenen Aufnahme heranzukommen. Die Seele der Musik wird preisgegeben für einen schönen Körper. Nicht geringer, vielleicht sogar noch gravierender, sind die Konsequenzen für den Hörer. Er lernt das „Weghören“, gewöhnt sich an die stumpfe Hintergrundberieselung und nimmt diese irgendwann überhaupt nicht mehr wahr – entsprechend verlernt er das „Hinhören“, die Konzentration auf den erlebbaren Zusammenhang der Musik. Daraus resultiert, wie Deckert sagt, eine rein triebgebundene Musik, welche auf Zuständen statt auf entwickelnder Form basiert, die Musik zur Droge, zum vereinzelten Gefühl oder zum ’schönen Geräusch‘ abwertet. Auch wenn ich an dieser Stelle nachdrücklich eine generelle Verteufelung der so genannten ‚Unterhaltungs-Musik‘ fragwürdig finde und die Ablehnung für übertrieben halte, sollte sich der Hörer doch bewusst des musikalischen Gehalts und wahrhafter künstlerischer Leistungen bewusst werden, sollte sich nicht von Oberflächlichkeiten und schon gar nicht von Gewohnheiten blenden lassen, sondern lieber auf tieferen Ebenen suchen, um auch bei leichter Muse nicht vom wachen Zugang in einen benebelten Zustand abzugleiten.
Doch wie nun kommt man heraus aus diesem Teufelskreis der musikalischen Abstumpfung, die uns dieses Heiligtums zu berauben droht? Vollständig, so die ernüchternde Antwort, vermutlich gar nicht, denn zu stark werden wir bereits von außen mit Hintergrund- und Zustandsmusik beschallt, um nicht die natürlichen Abwehrreflexe im Sinne von bewusstem wie unbewusstem Weghören auszubilden. Verbessern können wir den Zustand zum einen natürlich durch veränderte Gepflogenheiten des Musikhörens, indem wir das „Hören“ zum Zentrum und nicht zum Hindergrund oder zum Teilaspekt eines Multitasking machen, vor allem aber wieder Konzerte hören anstelle von Aufnahmen. Denn nur live versprüht die Musik unverfälscht (ohne künstliche Membran etc.) ihre volle Lebendigkeit und die unwiederbringliche Einmaligkeit des Moments, das echte Erlebnis. Zum anderen ist es selbstverständlich das bewusste Musizieren selbst: Deckert nennt vor allem die Kammermusik als quasi heiligen Gral der Musik. Nur hier kann die „notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen“ stattfinden, kann der Mensch sich als gleichwertiger Teil eines Ganzen mit tragender Aufgabe finden. Aktives Hören ist in der Kammermusik unentbehrlich, um sich einfügen zu können. Über die Wege, wie nun eine musikalische Gemeinschaft gebildet und ausgebildet werden kann wie auch über das, was unbedingt beim Musizieren zu vermeiden ist, schreibt Deckert ausführlich. Vor allem dem Thema „Zu hoch, zu schnell, zu laut“ schenkt er notwendigerweise ein ganzes Kapitel, in welchem auf die verheerenden Auswirkungen unserer heutigen Musizierpraxis eingegangen wird: Auf den zu hohen Kammerton, der besonders den Sänger Überlastung der Stimmbänder beschert; auf zu schnelle Tempi, die all die herrlichen Details unhörbar machen; sowie auf zu heftige Lautstärke, die die Ohren der Musiker (wie auch des Publikums) belasten und schädigen.
Natürlich handelt es sich bei „Mensch und Musik“ nicht um ein Buch, welches ausschließlich auf Probleme eingeht und unsere heutige Praxis kritisiert – das Hauptanliegen ist viel eher, uns die besonderen Kräfte der erlebten Musik – gespielt wie gehört – nahezubringen, uns die „Heiligkeit“ der Musik zu vermitteln und uns dazu anzuregen, Musik wieder bewusst wahrzunehmen und sie als Teil von uns in uns aufzunehmen. Dies alles mit einer nun beinahe neunzigjährigen Lebenserfahrung, die so viele Veränderungen der Musikwahrnehmung und -ausführung aktiv mitbekommen hat, ergibt ein umfassendes Bild über das Wesen der Musik. Es lässt den Leser so einiges kritisch überdenken und kann helfen, die Liebe zur Musik noch weiter zu entfachen.
[Oliver Fraenzke, Januar 2017]